Kapitel 6

Charlotte schlug die Morgenzeitung mehr aus Einsamkeit als aus Interesse an den Einzelheiten über die bevorstehende Unterhauswahl auf. Man ging sehr hart mit dem Premierminister Gladstone ins Gericht und warf ihm vor, mit Ausnahme der Selbstverwaltung Irlands alle politischen Fragen zu vernachlässigen und keinerlei Bemühungen zur Einführung des achtstündigen Arbeitstages zu unternehmen. Aber Charlotte rechnete ohnehin nicht damit, dass den Zeitungen daran lag, jemandem gerecht zu werden.

Als Nächstes kam die Nachricht von einem tragischen Eisenbahnunglück bei Guiseley im Norden. Zwei Menschen waren ums Leben gekommen und mehrere schwer verletzt worden.

Die New Oriental Bank Corporation hatte sich gezwungen gesehen, ihre Zahlungen einzuschränken. Der Silberpreis war stark gesunken, und die Bank hatte beträchtliche Verluste an den Märkten von Melbourne und Singapur erlitten. Auch die Liquidation der Waffenfabrik Gatling Gun hatte sich negativ auf sie ausgewirkt. Den entscheidenden Stoß aber hatte ihr ein Wirbelsturm auf Mauritius versetzt.

Charlotte sparte sich den Rest. Ihr Blick wanderte über die Seite abwärts und blieb an der Mitteilung hängen, dass John Adinett um acht Uhr an jenem Vormittag hingerichtet werden sollte.

Unwillkürlich sah sie auf die Küchenuhr. Es war Viertel vor acht. Hätte sie die Zeitung doch erst später aufgeschlagen – schon eine halbe Stunde hätte genügt. Warum hatte sie nicht daran gedacht, die Tage abgezählt und heute einfach nicht in die Zeitung gesehen?

Adinett hatte nicht gezögert, Martin Fetters zu töten, und je mehr Charlotte über Fetters erfuhr, desto mehr war sie überzeugt, dass er ihr sympathisch gewesen wäre. Er war begeisterungsfähig gewesen, hatte das Leben mutig beim Schopf gepackt, seine bunte Vielfalt geliebt. Stets hatte er sich bemüht, möglichst viel über andere Menschen in Erfahrung zu bringen, und seinen Schriften hatte sie entnommen, dass er großen Wert darauf legte, sein Wissen mit anderen zu teilen, damit möglichst niemand von dem ausgeschlossen blieb, was ihn so fesselte. Sein Tod bedeutete nicht nur für seine Frau, die Archäologie und die Altertumskunde einen Verlust, sondern auch für jeden, der ihn kannte.

Trotzdem machte Adinetts Hinrichtung nichts besser. Charlotte zweifelte, dass sich andere dadurch künftig von Verbrechen abschrecken lassen würden. Das Einzige, was einen Menschen von einem Verbrechen abhalten konnte, war die Gewissheit, bestraft zu werden, nicht aber die Schwere der Strafe. Da aber jeder Straftäter annahm, er werde davonkommen, hatte die lediglich angedrohte Strafe keinerlei Wirkung.

Gracie kam durch die Spülküche herein. Sie hatte dem Fischhändler an der Hintertür Heringe abgekauft.

»Die gibt es zum Abendessen«, sagte sie munter, während sie durch die Küche in die Speisekammer eilte und den Topf dort abstellte. In Gedanken verloren redete sie mit sich selbst, überlegte laut, was sie zu welcher Mahlzeit auf den Tisch bringen wollte, wie viel Mehl und Kartoffeln sie noch im Hause hatten und ob noch genug Zwiebeln da waren. Sie verbrauchten zurzeit viele davon, um die sehr einfachen Speisen geschmacklich zu verbessern.

Charlotte, der es so vorkam, als ob sich Gracie in letzter Zeit oft Sorgen machte, nahm an, dass es mit Tellman zu tun hatte. Auch wenn sie ihn nicht selbst gesehen hatte, wusste sie, dass er vor einigen Tagen abends da gewesen war. Sie hatte seine Stimme gehört und nicht stören wollen. Das Bewusstsein, dass Tellman in der Küche saß, ganz so, als wäre Pitt noch zu Hause, verstärkte ihr Gefühl der Einsamkeit.

Sie freute sich für Gracie, und ihr war bewusst, wahrscheinlich mehr als Gracie selbst, dass Tellman vergeblich gegen seine Gefühle für sie ankämpfte. Gegenwärtig fiel es ihr schwer, sich über etwas zu freuen. Pitts Abwesenheit setzte ihr sehr zu. Die Abende, an denen sie im Bewusstsein dasaß, dass sie seine Schritte nicht hören würde, kamen ihr endlos vor. Niemand war da, dem sie von ihrem Tag berichten konnte. Natürlich gab es nicht immer aufregende Ereignisse, doch hatte sie auch über unwichtige Dinge sprechen können – eine neue Blume im Garten, Klatsch, den sie gehört hatte, vielleicht einen Scherz. War etwas nicht so abgelaufen, wie es sollte, hätte sie vielleicht auch nicht darüber geredet, doch das Bewusstsein, dass sie es hätte tun können, hatte ihren Ärger erträglicher gemacht, ihn als etwas erscheinen lassen, was man nicht so ernst zu nehmen brauchte. Es war sonderbar, aber sie hatte stets den Eindruck gehabt, als sei eine Freude, die man nicht mit einem anderen teilen konnte, nur halb so beglückend und jedes Missgeschick, das man allein ertragen musste, doppelt so schlimm.

Doch weit mehr als ihre Einsamkeit quälte sie die Angst um Pitt, die tägliche Sorge, ob er genug aß, nicht fror, ob es jemanden gab, der für ihn wusch. Hatte er wenigstens eine einigermaßen behagliche Unterkunft gefunden? Ihre wirkliche Sorge galt seiner Sicherheit, nicht nur vor den Anarchisten, Bombenwerfern oder hinter was für Leuten auch immer er da her sein mochte, sondern in erster Linie vor seinen verborgenen und weit mächtigeren Feinden im Inneren Kreis.

Die Uhr schlug. Sie nahm es unterschwellig wahr. Gracie kratzte mit dem Schürhaken die Asche vom Ofenrost und legte mehr Kohlen auf.

Charlotte bemühte sich, möglichst nicht an all das zu denken, sich nichts vorzustellen. Tagsüber gelang ihr das auch recht gut, doch sobald sie im Bett lag, suchten die Ängste sie heim. Sie war körperlich nicht müde genug und seelisch völlig erschöpft. Noch nie war sie in Spitalfields gewesen, dennoch stellte sie sich das Leben dort recht plastisch vor: ungesunde enge Straßen mit Gestalten, die in finsteren Eingängen lauerten, ein Leben voller Gefahren.

Nachts wachte sie häufig auf, hörte jedes Knarren im Haus, spürte die Leere neben sich im Bett, fragte sich, wo Thomas sein mochte, ob er auch wach war und unter seiner Einsamkeit litt.

Manchmal schien es ihr unmöglich, um der Kinder willen so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, dann wieder war es eine Pflicht, für die sie dankbar war. Wie viele Frauen hatten sich im Laufe von Jahrhunderten tapferer gebärdet, als sie waren, wenn ihre Männer in den Krieg mussten, auf schwankenden Schiffsplanken Waren über die Meere transportierten oder davongelaufen waren, weil sie sich der Verantwortung entziehen oder von Frau und Kindern einfach nichts mehr wissen wollten? Zumindest durfte sie sicher sein, dass Thomas nichts von all dem war und zurückkehren würde, sobald er eine Möglichkeit dazu hatte – oder sobald sie eine so überzeugende Antwort auf die Frage fand, warum Adinett Martin Fetters ermordet hatte, dass die Öffentlichkeit nicht daran zweifeln und nicht einmal die Angehörigen des Inneren Kreises die Augen davor verschließen konnten.

Sie legte die Zeitung beiseite und stand gerade in dem Augenblick vom Stuhl auf, als Daniel und Jemima hereingestürmt kamen und ihr Frühstück haben wollten. Sollte es nicht genug zu tun geben, wenn die Kinder in der Schule waren, würde sie etwas finden oder sich etwas ausdenken.

Die Küchenuhr schlug – Viertel nach acht. Bei den acht Schlägen der vollen Stunde hatte sie nicht daran gedacht. Jetzt war John Adinett wohl tot, sein Hals gebrochen, ganz wie bei Martin Fetters. Man würde ihn in einem Grab beisetzen, das nicht in geweihter Erde lag, und seine Seele würde sich vor dem Weltenrichter verantworten müssen.

Sie lächelte den Kindern zu und ging daran, ihnen Frühstück zu machen.

Während Charlotte schon zum zweiten Mal in dieser Woche den Wäscheschrank neu einräumte, kam Gracie kurz nach zehn herauf, um ihr mitzuteilen, dass Mrs. Radley da sei. Eigentlich war das unnötig, denn Emily folgte ihr auf dem Fuße. In ihrem dunkelgrünen Reitkleid mit einem dunklen hohen Hut und einer Jacke, die so erstklassig geschnitten war, dass sie jede Linie ihrer schlanken Figur betonte, sah sie umwerfend elegant aus. Ihre Wangen waren von der Anstrengung des Treppensteigens leicht gerötet. Das blonde Haar, das sich unter der festen kleinen Hutkrempe gelöst hatte, drehte sich in der feuchten Luft zu Löckchen.

»Was tust du da?«, fragte Emily mit einem Blick auf die Berge von Laken und Kissenbezügen.

»Ich suche heraus, was geflickt werden muss«, teilte ihr Charlotte mit. Mit einem Mal kam ihr der Gedanke, dass sie im Vergleich zu ihrer Schwester unansehnlich und unordentlich aussah. »Hast du vergessen, wie man das macht?«

»Ich bin nicht sicher, dass ich es je gewusst habe«, gab Emily von oben herab zu verstehen. Sie hatte finanziell und gesellschaftlich ebenso weit über ihrem Stand geheiratet wie Charlotte darunter. Ihr erster Mann, ein vermögender Aristokrat, lebte schon eine ganze Weile nicht mehr, und Emily hatte nach einer angemessenen Trauerzeit ihre Einsamkeit durch eine neue Ehe beendet. Ihr zweiter Gatte sah gut aus und war charmant. Zwar war er nahezu besitzlos, hatte sich aber durch Emilys Ehrgeiz dazu bringen lassen, für das Unterhaus zu kandidieren und war inzwischen Abgeordneter.

Gracie verschwand wieder nach unten.

Charlotte kehrte ihrer Schwester den Rücken und machte sich erneut daran, Kissenbezüge zusammenzulegen und sauber in den Schrank zu räumen.

»Ist Thomas noch fort?«, erkundigte sich Emily. Sie sprach unwillkürlich leiser.

»Was glaubst du denn?«, gab Charlotte mit einer gewissen Schärfe in der Stimme zurück. »Ich habe dir ja gesagt, dass es länger dauern wird. Niemand hat eine Ahnung, wie lange.«

»Genau genommen, hast du mir sehr wenig gesagt«, erklärte Emily, nahm ihrerseits einen Kissenbezug zur Hand und legte ihn ordentlich zusammen. »Das klang alles ziemlich geheimnisvoll, und du kamst mir auch ziemlich verstört vor. Ich wollte einfach mal nachsehen, ob es dir gut geht.«

»Und was wirst du tun, wenn das nicht der Fall ist?« Charlotte nahm sich eins der Laken vor.

Emily ergriff das andere Ende. »Ich gebe dir Gelegenheit, einen Streit mit mir vom Zaun zu brechen, damit du so richtig auf jemandem rumhacken kannst. Es sieht ganz so aus, als ob du im Augenblick genau das brauchst.«

Charlotte sah sie an, ohne weiter auf das Laken zu achten. Zwar gab sich Emily Mühe, munter zu wirken, doch sah sie in den Augen der Schwester Besorgnis, und ihre kesse Antwort war in keiner Weise lustig gemeint.

»Ich komme zurecht«, sagte Charlotte etwas freundlicher. »Um Thomas mache ich mir allerdings Sorgen.« Die beiden Schwestern hatten an vielen seiner Fälle mitgewirkt, und so konnte sich auch Emily gut in die Situation einfühlen. Außerdem wusste sie, was Angst war, und sie hatte gelegentlich etwas über den Inneren Kreis gehört. Charlotte konnte ihr nicht sagen, wo sich Pitt aufhielt, wohl aber, warum.

»Und was steckt dahinter?« Emily spürte, dass es mehr gab, als ihr Charlotte anvertraut hatte, und in ihrer Stimme schwang Sorge mit.

»Der Innere Kreis«, sagte sie leise. »Ich glaube, Adinett hat zu ihnen gehört. Eigentlich bin ich meiner Sache sogar sicher. Die werden Thomas nie verzeihen, dass er den Mann überführt hat.« Sie zitterte ein wenig. »Gerade heute Morgen hat man ihn gehängt.«

»Ich weiß. Einige Zeitungen haben wieder einmal über die Schuldfrage spekuliert: ob er es überhaupt getan hat. Offenbar kann sich niemand ein Motiv für einen solchen Mord denken. Hat Thomas auch keine Vorstellung?«, fragte sie mit düsterer Stimme.

»Nein.«

»Versucht er, es denn festzustellen?«

»Das kann er nicht«, sagte Charlotte und sah zu den Wäschestücken, die auf dem Fußboden lagen. »Man hat ihn von seinem Posten in der Bow Street abgelöst und … und ihn ins East End geschickt … wo er Jagd auf Anarchisten machen soll.«

»Was?« Emily war entsetzt. »Das ist ja ungeheuerlich! Und an wen habt ihr euch gewandt?«

»Niemand kann etwas dagegen unternehmen. Cornwallis hat bereits alles versucht, was in seinen Kräften steht. Im East End ist Thomas vor denen sicher, soweit das möglich ist, denn niemand weiß, wo er sich dort aufhält.«

»Im East End, und man weiß nicht, wo?« An Emilys entsetztem Gesicht ließ sich nur allzu deutlich ablesen, welche Gefahren sie sich ausmalte.

Charlotte sah beiseite. »Ich weiß. Alles Mögliche könnte ihm passieren, und es würde Tage dauern, bevor ich es wüsste.«

»Nichts wird ihm passieren«, sagte Emily rasch. »Und mir leuchtet ein, dass er dort immer noch sicherer ist als an einem Ort, wo sie ihn aufspüren könnten.« In ihrer Stimme lag mehr gespielter Mut als Überzeugung. Rasch fuhr sie fort: »Was können wir tun, um zu helfen?«

»Ich war bei der Witwe Fetters«, sagte Charlotte und sprach in ebenso zuversichtlichem Ton wie ihre Schwester. »Aber sie weiß nichts. Ich versuche gerade, mir zu überlegen, was ich als Nächstes tun könnte. Es muss etwas geben, worüber die beiden Männer in Streit geraten sind, aber je mehr ich über Martin Fetters erfahre, desto überzeugter bin ich, dass er ein ungewöhnlich friedliebender Mensch war, der niemandem etwas zuleide getan hat.«

»Dann suchst du eben nicht an den richtigen Stellen«, sagte Emily offen heraus. »Vermutlich hast du an all die Motive gedacht, auf die man üblicherweise verfällt: Geld, Erpressung, eine Frau, Rivalität um eine Anstellung oder dergleichen?« Sie sah verwirrt drein. »Was war eigentlich die Basis ihrer Freundschaft?«

»Reisen in ferne Länder und politische Reformen, soweit seine Frau weiß.« Charlotte legte das letzte Laken zusammen. »Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Nicht unbedingt. Aber ich würde lieber in der Küche sitzen, als hier vor dem Wäscheschrank herumzustehen«, gab Emily zurück. »Kann man sich über Reisen eigentlich ernsthaft in die Haare geraten?«

»Das bezweifle ich. Außerdem sind sie nicht einmal in dieselben Länder gereist. Mr. Fetters war im Nahen Osten und Adinett in Frankreich, außerdem hatte er sich früher einmal in Kanada aufgehalten.«

»Dann steckt bestimmt die Politik dahinter.« Emily folgte ihr die Treppe hinunter und durch den Flur in die Küche. Sie beglückwünschte Gracie zu ihrem Kuchen, dessen Duft den Raum füllte. Normalerweise hätte sie nie im Leben das Wort an ein Dienstmädchen gerichtet, doch sie wusste, dass die Beziehung zwischen ihrer Schwester und Gracie anders war als üblich.

Charlotte setzte den Wasserkessel auf. »Beide waren Befürworter von Reformen«, fuhr sie fort.

Emily setzte sich, wobei sie die Schöße ihrer Jacke so ausbreitete, dass sie nicht knittern konnten. »Ist das nicht jeder? Jack sagt, dass die Situation allmählich zum Auswachsen ist.« Sie sah auf ihre eleganten und bei aller Kleinheit erstaunlich kräftigen Hände, die auf dem Tisch lagen. »Im Lande hat immer eine gewisse Unruhe geherrscht, aber zurzeit ist es viel schlimmer als noch vor zehn Jahren. So viele Ausländer kommen nach London, und es gibt nicht genug Arbeit. Vermutlich treiben die Anarchisten schon seit Jahren ihr Unwesen, doch inzwischen sind es mehr denn je, und sie sind ausgesprochen gewalttätig.«

All das war Charlotte bekannt. Die Zeitungen hatten oft genug darüber berichtet, vor allem im Zusammenhang mit dem Prozess gegen einen französischen Anarchisten namens Ravechol, der versucht hatte, ein Restaurant in die Luft zu sprengen. Sie wusste auch, dass solche Leute in London vorwiegend im East End tätig waren, wo die Armut am deutlichsten zutage trat und die Unzufriedenheit der Menschen am größten war. Genau das war ja der Vorwand gewesen, unter dem man Pitt dorthin geschickt hatte.

»Was ist?«, fragte Emily rasch, als sie Charlottes Gesichtsausdruck sah.

»Sind die deiner Meinung nach wirklich gefährlich? Ich meine, gefährlicher als einzelne Verrückte?«

Emily überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete. Charlotte fragte sich, ob sie das tat, um nachzudenken, was sie wusste, die richtigen Worte zu finden, oder, schlimmer noch, ob sie taktvoll sein wollte. Falls das der Fall war, konnte sie sich denken, wie verheerend ihre spontane Antwort ausgefallen wäre. Es gehörte nicht zu Emilys Art, um den heißen Brei herumzureden, was nicht ausschloss, dass sie mitunter unaufrichtig war – offen gestanden war sie auf dem Gebiet eine Meisterin.

»Ehrlich gesagt, macht sich Jack, glaube ich, ziemliche Sorgen«, begann sie, als Gracie den Tee serviert hatte. »Nicht wegen der Anarchisten, denn das sind nur Einzelne, wohl aber wegen der allgemeinen Situation. Die Monarchie ist zurzeit ausgesprochen unbeliebt, wie du weißt, und das nicht nur bei Menschen, von denen man das erwarten würde, sondern auch bei solchen, die ausgesprochen wichtige Ämter bekleiden und von denen du es womöglich nicht glauben würdest.«

»Unbeliebt?« Charlotte war verblüfft. »Wieso das? Ich kenne zwar Leute, die der Ansicht sind, dass die Königin weit mehr tun sollte, aber das sagen die seit dreißig Jahren. Meint Jack, dass sich das sehr geändert hat?«

»Geändert vielleicht nicht.« Emily sprach in sehr ernsthaftem Ton und wog ihre Worte sorgfältig ab. »Aber er sagt, es ist sehr viel schlimmer geworden. Bekanntlich wirft der Kronprinz mit Geld nur so um sich, und dabei ist das meiste davon geliehen. Er hat enorme Schulden bei allen möglichen Leuten. Es sieht so aus, als könnte er nicht damit aufhören, und falls ihm bewusst sein sollte, welchen Schaden er damit anrichtet, scheint ihm das nichts auszumachen.«

»Sprichst du von politischem Schaden? «, fragte Charlotte.

»Auf lange Sicht bestimmt.« Emily senkte die Stimme. »Manche glauben, dass es mit der Monarchie hier im Lande aus ist, wenn die Königin stirbt.«

Erstaunt fragte Charlotte: »Wirklich?« Es war ein überraschend unangenehmer Gedanke. Sie wusste selbst nicht recht, warum er ihr nicht gefiel. Mit der Monarchie würde ein Teil des Glanzes dahingehen, hätte das Leben weniger Farbe. Auch wenn man selbst die Gräfinnen und Herzoginnen nie zu sehen bekam und es für sie keinerlei Möglichkeit gab, je als Dame von Adel oder gar als Prinzessin aufzutreten, müsste doch durch deren Abwesenheit alles in einheitlichem Grau erscheinen. Sie war überzeugt, dass die Menschen immer Helden brauchen würden, ob wirkliche oder falsche. Nichts an der Aristokratie war wesensgemäß besonders edel, doch würde man die Helden, die dann deren Stelle einnehmen würden, nicht unbedingt wegen ihrer Tugendhaftigkeit oder ihrer Leistungen auswählen. Es war ohne weiteres möglich, dass man dabei nach ihrer Schönheit oder ihrem Reichtum vorging. Dann wäre der Zauber grundlos dahin – und ohne dass damit etwas gewonnen wäre.

All diese Erwägungen waren ziemlich töricht, und das war ihr auch klar. Entscheidend war, dass ein Wechsel eintrat, aber Veränderungen, die auf Hass gründeten, erregten Furcht, denn häufig kam es dazu, ohne dass man richtig begriff, aus welchem Grunde, und ohne dass man darüber nachgedacht hatte. Es gab so vieles, was sich nicht vorhersehen ließ.

»Jedenfalls sagt Jack das.« Emily sah aufmerksam zu ihr her. Ihren Tee schien sie vergessen zu haben. »Am meisten macht ihm Sorge, dass es starke royalistische Interessengruppen gibt, die alles tun werden, um zu erreichen, dass alles bleibt, wie es ist – ›Und damit meine ich wirklich alles‹, hat er gesagt!« Sie biss sich auf die Lippe. »Als ich ihn gefragt habe, wie man das verstehen müsse, wollte er zuerst nicht mit der Sprache herausrücken. Er hat sich, wie soll ich sagen, in sich selbst zurückgezogen, wie immer, wenn er sich nicht wohl in seiner Haut fühlt. Es klingt sonderbar, doch es schien mir, als hätte er Angst.« Sie hörte unvermittelt auf, sah wieder auf ihre Hände hinab, als hätte sie etwas gesagt, wofür sie sich schämte. Vielleicht hatte sie nicht so viel von Dingen preisgeben wollen, die der Privatsphäre angehörten.

Ein kalter Schauer überlief Charlotte. Es gab ohnehin schon zu vieles, wovor man sich fürchten musste. Sie wollte mehr erfahren, aber es war sinnlos, weiter in Emily zu dringen. Bestimmt hätte sie ihr mehr gesagt, wenn sie eine Möglichkeit dazu gesehen hätte. Dieser Gedanke verstärkte Charlottes Gefühl der Einsamkeit.

»Wie wichtig einem trotz aller Schwierigkeiten das ist, was man hat, merkt man erst so richtig, wenn andere es zu zerstören versuchen und ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen wollen«, sagte sie betrübt. »Ich habe nichts gegen Veränderungen, aber bitte nicht zu viele auf einmal. Was meinst du – sind kleine Veränderungen möglich, oder ist das eine Frage von alles oder nichts? Muss man alles in Stücke schlagen, um einen Wandel zu bewirken?«

»Das kommt auf die Menschen an«, gab Emily mit betrübtem Lächeln zurück. »Wenn man sich anpasst, ist es vielleicht nicht nötig, doch wenn man wie Marie Antoinette stolz den Kopf reckt, heißt die Entscheidung unter Umständen tatsächlich: Krone oder Guillotine.«

»War sie wirklich so dumm?«

»Das weiß ich nicht. Es ist nur ein Beispiel. Niemand wird unserer Königin den Kopf abschlagen, jedenfalls nehme ich das nicht an.«

»Vermutlich haben die Franzosen das auch nicht angenommen«, sagte Charlotte trocken.

»Wir sind hier nicht in Frankreich.« Emilys Stimme klang entschieden, sogar ein wenig ärgerlich.

»Sag das unserem König Karl I.«, gab Charlotte zurück und dachte an das traurige und zugleich herrliche Porträt, das Van Dyck von diesem Unglückseligen gemalt hatte, der noch auf dem Schafott nicht von seinen Überzeugungen lassen wollte.

»Das war damals keine Revolution«, wandte Emily ein.

»Aber ein Bürgerkrieg. Ist das etwa besser?«, hielt Charlotte dagegen.

»Das sind doch alles nur Worte! Politiker haben Angstträume, und wenn es nicht um das Thema ginge, wäre es ein anderes – Irland, die Steuern, der Achtstundentag oder die Stadtentwässerung.« Sie zuckte elegant die Schultern. »Wozu würden wir diese Männer brauchen, wenn es keine Probleme zu lösen gäbe.«

»Wahrscheinlich brauchen wir sie gar nicht … jedenfalls meistens.«

»Genau davor haben sie Angst.« Emily erhob sich. »Möchtest du mit uns in die Nationalgalerie kommen und dir die Ausstellung ansehen?«

»Nein danke. Ich werde noch einmal Juno Fetters aufsuchen. Vielleicht hast du Recht – wahrscheinlich ist es eine Frage der Politik.«

Charlotte traf kurz nach elf in der Coram Street ein. Zwar war das eine äußerst unpassende Stunde, aber hier ging es nicht um einen Höflichkeitsbesuch, und außerdem durfte sie sicher sein, dass sie auf niemanden anders treffen würde und ihre Gegenwart erklären musste. Das sah sie als entscheidenden Vorteil an.

Juno Fetters war entzückt, sie zu sehen, und gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Man sah ihr an, wie froh sie war, Gesellschaft zu haben.

»Kommen Sie herein!«, sagte sie erfreut. »Bringen Sie irgendwelche Neuigkeiten?«

»Leider nicht.« Charlotte hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nichts erreicht hatte. Immerhin wog der Verlust dieser Frau deutlich schwerer als ihr eigener. »Ich habe viel hin und her überlegt, aber außer weiteren Gedanken, in welcher Richtung man suchen könnte, ist dabei nichts herausgekommen.«

»Kann ich etwas tun?«

»Vielleicht.« Charlotte nahm in dem angebotenen Sessel Platz. Sie befanden sich im selben wunderschönen Gartenzimmer wie beim vorigen Mal, doch da es heute kühler war, blieb die Tür geschlossen. »Es sieht ganz so aus, als hätten Ihr Gatte und Mr. Adinett in erster Linie das Bestreben gemeinsam gehabt, eine politische Reform herbeizuführen, die beiden gleichermaßen am Herzen zu liegen schien.«

»Ja, das war Martin sehr wichtig«, stimmte Juno zu. »Er hat über das Thema viele Aufsätze verfasst und sich bei jeder Gelegenheit dazu geäußert. Seiner festen Überzeugung nach dachten viele wie er, und er war sicher, dass es eines Tages so weit kommen würde.«

»Haben Sie noch Aufsätze von ihm?«, erkundigte sich Charlotte. Sie war nicht sicher, wozu ihr die nützlich sein könnten, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

»Sie müssten sich unter seinen Papieren befinden.« Juno erhob sich. »Die Polizei hat sie natürlich durchsucht, aber sie sind nach wie vor alle in seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Ich … ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie noch einmal zu lesen.« Sie sagte das leise, dann verließ sie, von Charlotte gefolgt, den Raum und ging quer durch das Vestibül ins Arbeitszimmer.

Es war kleiner als die Bibliothek, und da der Raum auch keine hohen Fenster hatte, war er nicht besonders hell. Dennoch wirkte er angenehm und war allem Anschein nach häufig benutzt worden. An einer Wand stand ein Regal voller Bücher; einige weitere Bände lagen auf der ledernen Schreibunterlage des Schreibtischs. Weitere Regale waren mit Papieren und Mappen voll gestopft.

Juno blieb stehen. Der Glanz auf ihrem Gesicht war erloschen. »Ich weiß nicht, was wir hier finden könnten«, sagte sie hilflos. »Der Polizei ist lediglich die eine oder andere Notiz mit Bezug auf eine Zusammenkunft aufgefallen und zwei oder drei Mitteilungen, die John … Mr. Adinett aus Frankreich geschickt hat. Sie waren nicht im Geringsten persönlich, nur ausgesprochen lebendige Beschreibungen bestimmter Orte in Paris. Das meiste hatte mit der Revolution zu tun. Martin hatte einige Artikel über eben diese Orte verfasst, und Adinett hat geschrieben, wie viel stärker sie ihn mit diesen Bildern vor Augen beeindruckten als früher.« Ihre Stimme begann zu zittern. Vermutlich dachte sie daran, dass noch vor kurzem alles anders gewesen war.

Sie trat an das Regal hinter dem Schreibtisch und nahm einige Zeitschriften heraus, die sie durchblätterte. »Hier drin stehen die verschiedensten Artikel. Wollen Sie sie lesen?«

»Ja, gern«, sagte Charlotte, wieder, weil sie nicht recht gewusst hätte, wo sie anfangen sollte. Sie hatte die Absicht, sie einfach zu überfliegen.

Juno schob ihr die Zeitschriften hinüber. Auf dem Umschlag sah Charlotte, dass sie bei Thorold Dismore erschienen waren. Sie schlug das erste Heft auf und begann zu lesen. In dem Artikel beschrieb Martin Fetters, wie er bei einem Rundgang durch Wien die Stellen aufgesucht hatte, an denen die Revolutionäre des 48er Aufstandes gekämpft hatten, um die Regierung des recht einfältigen Kaisers Ferdinand zu einer Gesetzesreform zu bewegen, deren Ziel es war, die drückende Steuerlast zu vermindern und die krassen gesellschaftlichen Unterschiede abzumildern.

Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, sich lediglich einen flüchtigen Eindruck von Fetters’ Vorstellungen zu machen, las sie den Text Wort für Wort. Vor ihrem inneren Auge erstand ein so lebhaftes Bild von Leid und Kummer, dass sie ganz vergaß, wo sie sich befand. Sie hörte in ihrem inneren Ohr Martin Fetters’ Stimme, sah die Begeisterung auf seinen Zügen, als er die Männer und Frauen beschrieb, die da gekämpft hatten. Sie spürte seine Empörung über ihre schließliche Niederlage und die Sehnsucht, dass man ihre Ziele eines Tages erreichen möge.

Sie wandte sich dem nächsten Artikel zu, den er in Berlin verfasst hatte. Im Wesentlichen enthielt er die gleichen Gedanken. Der ganze Artikel atmete seine Liebe zur Schönheit der Stadt und zur Besonderheit ihrer Bewohner, deren Versuche, die uneingeschränkte Macht des preußischen Militärs ein wenig einzuschränken, und am Schluss erneut das Scheitern.

In einem dritten Artikel berichtete er aus Paris. Möglicherweise war es der, auf den sich Adinett in den von Pitt aufgefundenen Briefen bezog. Er war deutlich länger als die beiden vorigen. Aus jedem der gedruckten Worte sprach die tiefe Liebe zu einer herrlichen Stadt, die unter einer Schreckensherrschaft litt, eine Hoffnung, die so lebendig war, dass es schmerzte. Fetters hatte alle entscheidenden Orte besucht: Er hatte Dantons Haus aufgesucht, dessen letzten Weg auf dem Schinderkarren zur Guillotine verfolgt, nachgezeichnet, wie er in dem Augenblick zu wahrer Größe emporwuchs, in dem er bereits alles verloren hatte und mit ansehen musste, wie die Revolution ihre Kinder fraß, und zwar nicht nur deren Leib, sondern, weit schrecklicher, auch deren Geist.

Er hatte in der Rue St. Honoré vor dem Haus gestanden, in dem Robespierre bei einem Tischler gewohnt hatte, eben jener Robespierre, der tausende in den Tod geschickt, aber das Werkzeug der Vernichtung zum ersten Mal gesehen hatte, als er selbst auf seinem letzten Weg der Guillotine entgegenfuhr.

Fetters war durch die Straßen gezogen, in denen die Studenten im Zuge der Revolution des Jahres 1848, die einen so hohen Blutzoll gefordert und so wenig bewirkt hatte, auf die Barrikaden gestiegen waren. Charlotte war den Tränen nahe, als sie den Bericht zu Ende gelesen hatte, und musste sich überwinden, den nächsten zur Hand zu nehmen. Doch hätte Juno sie in ihrer Lektüre unterbrochen und die Hefte zurückverlangt, sie wäre sich beraubt und mit einem Mal allein vorgekommen.

Fetters schrieb aus Venedig, das ihm selbst unter dem Joch der Habsburger als schönste Stadt der Welt erschien, und aus Athen, einst die bedeutendste aller Stadtrepubliken, Wiege der Vorstellung von Demokratie. Nur noch ein Abklatsch des alten Ruhmes war geblieben und nichts vom Geist jener Zeit.

Schließlich schrieb er aus Rom, wieder über die 48er Revolution, den kurzen Glanz einer aufs Neue erweckten römischen Republik, den die Heere Napoleons III. und die Rückkehr des Papstes ausgelöscht hatten. Die leidenschaftliche Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit war ebenso unterdrückt worden wie die Hoffnung, man werde der Stimme des Volkes Gehör verschaffen. Er schrieb, wie das Haupt des Kampfes für eine Republik, Giuseppe Mazzini, in einem Raum des Vatikanpalasts lebte und Rosinen aß, berichtete, dass er jeden Tag frische Blumen haben musste. Er schrieb über die Taten Garibaldis und dessen von Leidenschaft glühende Frau, die am Ende der Belagerung gestorben war, wie auch über den Vorkämpfer der republikanischen Idee, Mario Corena, der bereit gewesen war, alles für das Wohl der Allgemeinheit hinzugeben: sein Geld, seine Ländereien und, sofern es nötig war, auch sein Leben. Hätte es doch nur mehr Leute wie ihn gegeben – der Kampf wäre nicht verloren gegangen.

Als Charlotte den letzten Artikel auf den Schreibtisch zurücklegte, waren ihre Gedanken angefüllt mit Heldentum und Tragödie, waren Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmolzen, vor allem aber glaubte sie, Martin Fetters’ Stimme zu hören, sah seine Überzeugungen vor sich, seine Persönlichkeit, seine lebensbejahende, leidenschaftliche Liebe zur Freiheit des Einzelnen im Rahmen eines zivilisierten Ganzen.

Sofern ihn John Adinett tatsächlich so gut gekannt hatte, wie allgemein behauptet wurde, musste er einen mehr als triftigen Grund gehabt haben, einen solchen Mann zu töten. Es musste etwas so Übermächtiges gewesen sein, dass es sich über Freundschaft, Bewunderung und die gemeinsame Liebe zu Idealen hinwegzusetzen vermochte. Sie konnte sich nicht denken, was das hätte sein können.

Dann kam ihr ein Gedanke, flüchtig wie ein Schatten, der über die Sonne dahinzieht: War es möglicherweise gar kein Mord gewesen? Hatte Adinett womöglich die Wahrheit gesagt?

Sie hielt den Blick gesenkt, damit Juno nichts von ihrem Verdacht merkte. Es kam ihr vor, als habe sie Pitt mit diesem Gedanken betrogen.

»Einzigartig«, sagte sie. »Es kommt mir nicht nur so vor, als wäre ich selbst dabei gewesen und hätte mitbekommen, was auf den Straßen jener Städte geschehen ist, es ist mir auch fast ebenso zu Herzen gegangen wie ihm selbst.«

Der Anflug eines Lächelns trat auf Junos Züge. »Ja, so war er – so voller Leben, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, er könnte wirklich sterben.« Sie sagte das mit leiser Stimme, wie von ferne. Es klang beinahe überrascht. »Es kommt einem irgendwie lächerlich vor, dass um einen herum alles so weitergeht wie immer. Ich bin selbst gespalten – teils möchte ich Stroh auf die Straße streuen und allen Leuten sagen, sie sollen langsam fahren, teils möchte ich so tun, als wäre es nie geschehen, als wäre er wieder auf einer Reise und würde in wenigen Tagen zurückkehren.«

Charlotte hob den Blick zu ihr und erkannte, wie es in ihrem Gesicht arbeitete. Wie gut sie das verstehen konnte! Ihre eigene Einsamkeit bedeutete nur einen Bruchteil dessen, was diese Frau litt. Pitt lebte, hielt sich nur wenige Kilometer entfernt in Spitalfields auf. Falls er sich dazu entschloss, die Arbeit bei der Polizei aufzugeben, könnte er nach Hause kommen, wann es ihm beliebte. Das aber wäre keine Lösung. Charlotte musste unbedingt den Beweis dafür finden, dass er mit seiner Beschuldigung Adinetts Recht hatte, musste den Grund dafür nennen können und alle von der Richtigkeit dieses Beweises überzeugen.

Unter Umständen empfand auch Juno dies dringende Bedürfnis, vielleicht waren die Schatten auf ihrem Gesicht Ergebnis der Furcht vor dem, was sich über ihren Mann herausstellen würde. Es musste unfassbar … und zumindest für Adinett unerträglich gewesen sein.

Und geheim! Lieber hatte sich Adinett hängen lassen, als darüber zu sprechen, nicht einmal, um sich zu verteidigen.

»Ich glaube nicht, dass die Lösung hier liegt«, sagte Charlotte schließlich. »Trotzdem fangen wir wohl am besten in diesem Zimmer an.« Einen anderen Ort dafür hätte sie ohnehin nicht gewusst.

Bereitwillig öffnete Juno eine Schublade des Schreibtischs nach der anderen. Da bei einer der Schlüssel fehlte, ließ sie ein Messer aus der Küche bringen, um sie öffnen zu können, wobei ein Stück Holz absplitterte.

»Ärgerlich«, sagte sie und biss sich auf die Lippe. »Wahrscheinlich kann man das nicht reparieren.«

Sie begannen mit dem Inhalt jener Schublade, weil Mr. Fetters sie als Einzige gesichert zu haben schien.

Nachdem Charlotte drei Briefe gelesen hatte, begann sich allmählich ein Muster abzuzeichnen. In jedem waren die Worte sorgfältig gewählt, ein flüchtiger Blick hätte nichts Bemerkenswertes darin entdeckt – offen gestanden waren sie eher trocken. Es ging darin um die politische Reform eines nicht namentlich bezeichneten Landes, dessen Führer mit ihren Namen und nicht mit ihren Amtsbezeichnungen genannt wurden. Es waren theoretische Erwägungen, ohne jede Leidenschaft, reine Ideale. Man hätte das für die Art von gedanklicher Übung halten können, die man in einer Prüfung niederschreibt.

Der erste Brief stammte von Charles Voisey, Richter der Berufungsinstanz.

Mein lieber Fetters!

Ich habe Ihren Aufsatz mit größtem Interesse gelesen. Sie sprechen darin zahlreiche Punkte an, denen ich zustimme. Über andere hatte ich bisher nicht nachgedacht, doch muss ich sagen, dass Sie mit Ihren Schlussfolgerungen Recht haben.

Auf anderen Gebieten kann ich mich Ihnen nicht rückhaltlos anschließen, verstehe aber, warum Sie zu ihren Ergebnissen gelangt sind. Ich an Ihrer Stelle würde die Dinge möglicherweise genauso sehen, wenn auch nicht ganz so extrem.

Danke für das Fundstück, das heil angekommen ist und jetzt mein häusliches Arbeitszimmer schmückt. Es ist einfach herrlich und erinnert mich beständig an die Großtaten der Vergangenheit und den Geist bedeutender Männer, denen wir so viel verdanken … Ganz wie Sie gesagt haben, ist es etwas, wofür wir der Geschichte Rechenschaft schulden, auch wenn wir selbst das nicht so sehen mögen.

Ich freue mich auf weiteren Gedankenaustausch mit Ihnen.

In alter Verbundenheit

Charles Voisey

Das nächste Schreiben, das einen ähnlichen Ton anschlug, stammte von Thorold Dismore, dem Zeitungsverleger. Auch er war voll Bewunderung für Fetters’ Arbeit und ermutigte ihn, eine weitere Reihe von Artikeln zu verfassen. Der Brief war recht jungen Datums, sodass die Artikel vermutlich nicht mehr geschrieben worden waren. Dabei lag der Rohentwurf von Fetters’ Antwortbrief, mit dem er das Angebot des Verlegers annahm. Es ließ sich unmöglich sagen, ob er ihn abgeschickt hatte.

Mit bekümmertem Blick hielt Juno einen Brief hoch, den sie aus dem Stapel herausgenommen hatte. Sein Verfasser war Adinett. Charlotte las:

Lieber Martin,

was für ein großartiger Artikel! Kein Lob ist zu hoch für die Leidenschaftlichkeit, die daraus spricht. Nur jemand, der nichts von dem empfindet, was den zivilisierten Menschen vom Barbaren unterscheidet, wäre imstande, sich nicht an deinen Worten zu begeistern. Sie feuern wohl jeden an, mit aller Kraft an der Schaffung einer besseren Welt mitzuwirken.

Ich habe ihn mehreren Leuten gezeigt, die ich aus Gründen, die du dir denken kannst, hier nicht nenne, und sie sind ebenso voller Bewunderung dafür wie ich.

Ich denke, wir haben allen Grund zur Hoffnung. Die Zeit, in der wir nur träumen durften, ist wohl vorbei.

Bis Samstag.

John

Charlotte hob den Blick.

Juno sah sie mit großen schmerzerfüllten Augen an. Dann suchte sie in einem anderen Papierstapel nach weiteren Artikeln.

Charlotte las sie mit immer größerer Unruhe. Die Hinweise auf Reformen wurden von Mal zu Mal deutlicher. Mit geradezu jubilierender Leidenschaft wurde die römische Revolution des Jahres ’48 hervorgehoben, die Republik der römischen Antike als Ideal gepriesen und wurden Könige als Leitbilder der Tyrannei verteufelt. Die Aufforderung, nach dem Sturz der Monarchie eine neuzeitliche Republik zu gründen, war unüberhörbar.

Es gab ungenaue Hinweise auf eine Geheimgesellschaft, deren Mitglieder kein anderes Ziel kannten, als die Vorrechte und den Reichtum des Königshauses mit allen Mitteln zu bewahren. Man konnte zwischen den Zeilen lesen, dass diese Männer durchaus bereit seien, bei einer ernsthaften Bedrohung der Monarchie Blut zu vergießen.

Charlotte legte das letzte Blatt aus der Hand und sah zu Juno hinüber, die mit bleichem Gesicht und gesenkten Schultern dasaß und kaum hörbar fragte: »Halten Sie das für möglich? Könnten die wirklich geplant haben, hier in England eine Republik zu errichten?«

»Ja …« Es war Charlotte klar, dass ihre Antwort schroff wirkte, aber es zu bestreiten hätte eine Lüge bedeutet, die weder sie noch Juno geglaubt hätten.

Juno saß reglos da und beugte sich ein wenig vor, als müsse sie sich auf den Tisch stützen. »Nach … nach dem Tod der Königin?«

» Vielleicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zu früh. Sie kann doch jeden Tag sterben, immerhin ist sie über siebzig. Und was haben diese Leute mit dem Kronprinzen vor?«

»Darüber steht hier nichts«, sagte Charlotte ganz leise. »Ich vermute, dass sie sich gehütet haben, das schriftlich niederzulegen, sofern es sich um einen konkreten Plan und nicht nur um Träume handelt. Vor allem, wenn es eine Geheimgesellschaft ist, wie es heißt.«

»Ich habe durchaus Verständnis für eine Reform«, sagte Juno und suchte nach Worten. »Auch ich bin dafür. Es gibt entsetzliche Armut und Ungerechtigkeit. Sonderbar, dass sie nichts über Frauen sagen!« Sie versuchte zu lächeln, doch misslang ihr das. »Sie sagen nichts darüber, dass Frauen mehr Rechte oder eine gewisse Mitsprache haben sollen, nicht einmal dann, wenn es um ihre leiblichen Kinder geht.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bebten. »Aber das will ich nicht!« Sie wies mit einer Hand auf die Papiere, als wolle sie sie von sich schieben. »Ich weiß, dass Martin voller Bewunderung für die Ideale einer Republik war, für die Gleichheit, die dort herrscht, aber ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass er damit unser Land meinen könnte! Ich will nicht … ich will eine so große Veränderung nicht.« Sie schluckte. »Nicht mit Gewalt. Mir liegt sehr viel an dem, was wir haben. Es macht unser Wesen aus … immerhin waren wir schon immer so.« Sie sah bittend auf Charlotte, wollte, dass diese sie verstand.

»Aber uns geht es auch gut«, sagte Charlotte. »Und wir sind eine sehr kleine Minderheit.«

»Musste er deshalb sterben?« Juno stellte die Frage, die zwischen ihnen im Raum hing. »Dann hat Adinett wohl dieser Geheimgesellschaft angehört und Martin wegen seines … wegen seines Planes umgebracht, eine Republik zu gründen?«

»Das würde erklären, warum er nicht einmal dann etwas gesagt hat, als es darum ging, sich zu verteidigen.« Charlottes Gedanken jagten sich. Waren die Angehörigen des Inneren Kreises monarchistisch gesinnt? Steckte das dahinter, und war Adinett hinter die Pläne seines Freundes gekommen, hatte er entdeckt, dass sich dessen hoher Gedankenflug nicht nur auf den Glanz der Vergangenheit oder die Tragödien des Jahres ’48 bezog, sondern auch die unmittelbar bevorstehende Zukunft meinte?

Doch selbst wenn das stimmte – inwiefern könnte das Thomas helfen?

Nach wie vor saß Juno da und starrte ausdruckslos vor sich hin. Irgendetwas in ihr war zerstört. Sie hatte an dem Mann, den sie so viele Jahre geliebt hatte, mit einem Mal eine völlig andere Seite erkannt, die alles infrage stellte und in einem neuen, gefährlichen Licht erscheinen ließ.

Sie tat Charlotte zutiefst Leid, und das hätte sie auch gern gesagt. Doch das konnte als Herablassung aufgefasst werden, als wollte sie sagen, sie allein habe diese Entdeckung gemacht und Juno sei daran nicht beteiligt gewesen, sondern habe lediglich die passive Rolle einer Zuschauerin gespielt.

»Haben Sie einen Tresor?«, fragte sie.

»Nein. Meinen Sie, dass darin noch mehr zu finden wäre?«, fragte Juno mit kläglicher Stimme.

»Ich weiß nicht. Auf jeden Fall denke ich, dass Sie diese Briefe und Papiere in einem Tresor aufbewahren sollten, da sich diese Schublade nicht mehr verschließen lässt. Vernichten würde ich sie einstweilen nicht, weil wir im Augenblick noch mutmaßen, was sie wirklich bedeuten. Wir können uns irren.«

Junos Augen blieben glanzlos. »Was Sie da sagen, entspricht nicht Ihrer Überzeugung und auch nicht meiner. Martin hat die Reform sehr am Herzen gelegen. Ich kann mich gut erinnern, was er über die Unterschiede zwischen Republiken und Monarchien gesagt hat. Er hat den Kronprinzen und die Königin kritisiert und erklärt, wenn die Königin dem englischen Volk auf gleiche Weise verantwortlich wäre wie andere Amtsinhaber, hätte man sie schon vor Jahren entlassen. Wer außer ihr könne es sich leisten, seine Pflichten nur deshalb zu vernachlässigen, weil er seinen Ehegatten verloren habe?«

»Niemand«, stimmte Charlotte zu. »Viele sagen das. Auch ich bin dieser Ansicht. Das bedeutet aber nicht, dass mir eine Republik lieber wäre … und selbst dann noch würde ich nicht unbedingt jedes Mittel gutheißen, sie durchzusetzen.«

Mit ernstem Gesicht legte Juno die Papiere zusammen. »Hier findet sich kein Beweis«, sagte sie leise, als schmerze es sie, diese Worte von sich zu geben.

Charlotte wartete unsicher, während sie sich vorsichtig an die nächste Folgerung herantastete. Bevor sie so weit war, sprach Juno.

»Bestimmt gibt es irgendwo noch weitere Papiere, die Genaueres aussagen. Ich muss sie finden, muss wissen, was er vorhatte … man könnte glauben, er habe kein anderes Ziel gehabt.«

Charlotte fragte angespannt: »Sind Sie sicher?«

»Würden Sie es nicht wissen wollen?«, entgegnete Juno.

»Doch … ich denke schon. Aber was ich meinte, war, sind Sie sicher, dass es noch weitere gibt?«

»Aber ja.« In ihrer Stimme lag kein Zweifel. »Das hier sind nur Schnipsel und Notizen. Schon möglich, dass ich nicht genau weiß, woran Martin gearbeitet hat, aber ich weiß, wie er gearbeitet hat. Er war äußerst genau. Er hat sich nie auf sein Gedächtnis verlassen.«

»Und wo könnte das sein?«

»Ich weiß – « Das Mädchen kam herein, um zu melden, dass Mr. Reginald Gleave da sei und um Entschuldigung für die unpassende Stunde bitte, doch müsse er sie unbedingt sprechen und könne wegen dringender Verpflichtungen die übliche Besuchszeit nicht einhalten.

Juno sah verblüfft drein. Sie wandte sich Charlotte zu.

»Ich warte, wo es Ihnen recht ist«, sagte Charlotte rasch.

Juno schluckte. »Ich werde ihn im Gesellschaftszimmer empfangen«, sagte sie dem Mädchen. »Lassen Sie mir fünf Minuten Zeit, dann können Sie ihn hineinführen.« Sobald das Mädchen gegangen war, fragte sie Charlotte: »Was um Himmels willen kann er wollen? Er war Adinetts Verteidiger.«

»Sie sind nicht gezwungen, ihn zu empfangen«, sagte Charlotte voll Mitgefühl, doch war ihr klar, dass sie sich damit eine Gelegenheit entgehen ließe, mehr zu erfahren. Juno war erschöpft, hatte Angst vor dem, was sie womöglich entdecken würde, und fühlte sich völlig allein. »Wenn Sie wollen, gehe ich zu ihm und sage, dass Sie sich nicht wohl fühlen.«

»Nein … nein. Aber ich wäre dankbar, wenn Sie bei mir bleiben könnten. Meinen Sie nicht auch, dass das durchaus schicklich ist?«

Charlotte lächelte. »Selbstverständlich.«

Gleave machte ein verblüfftes Gesicht, als er sich unversehens zwei Damen gegenübersah. Da er Juno nicht kannte, war er einen Augenblick lang unsicher, wer die Hausherrin war.

»Ich bin Mrs. Fetters«, stellte sich Juno kühl vor. »Das ist meine gute Freundin, Mrs. Pitt.« Ihre Stimme klang trotzig, und sie hatte das Kinn herausfordernd gereckt. Bestimmt würde Gleave die Beziehung zu Thomas Pitt erkennen.

An dem Ärger, der in seinen Augen aufflammte, sah Charlotte, dass er verstanden hatte.

»Wie geht es Ihnen, Mrs. Fetters? Mrs. Pitt? Ich wusste gar nicht, dass Sie miteinander bekannt sind.« Er deutete eine Verbeugung an.

Charlotte betrachtete ihn aufmerksam. Seine breiten Schultern und sein Stiernacken ließen ihn größer erscheinen, als er war. Zwar war ihr sein Gesicht nicht sympathisch, doch lag darauf unverkennbar der Ausdruck von Intelligenz und einem unbeugsamen Willen. War dieser Mann lediglich ein leidenschaftlicher Strafverteidiger, der einen Fall – seiner festen Überzeugung nach zu Unrecht – verloren hatte, oder gehörte er einer gewalttätigen Geheimgesellschaft an, die weder vor Mord noch vor öffentlichem Aufruhr zurückschreckte, um ihre Ziele durchzusetzen?

Sie musterte sein Gesicht, sah ihm in die Augen, kam aber zu keinem Ergebnis.

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Gleave?«, fragte Juno mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Gleaves Blick wanderte zwischen ihr und Charlotte hin und her. »Zuallererst möchte ich Ihnen mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Ihr Gatte war in jeder Hinsicht ein großartiger Mensch. Natürlich lässt sich der Kummer keines anderen mit dem Ihren vergleichen, dennoch darf ich sagen, dass sein Tod uns alle ärmer gemacht hat. Er war ein Mann von großen geistigen Gaben und von hoher Moral.«

»Danke«, sagte sie höflich, doch klang es fast ungehalten. Beiden war klar, dass er nicht gekommen war, um der Witwe das mitzuteilen, ganz davon abgesehen, dass es besser gewesen wäre, zu schreiben. Das wäre nicht nur eindrucksvoller gewesen, sondern auch weniger lästig.

Gleave senkte den Blick, als fühle er sich unbehaglich.

»Mrs. Fetters, mir liegt daran, Ihnen klarzumachen, dass ich John Adinett verteidigt habe, weil ich von seiner Schuldlosigkeit überzeugt war, und nicht etwa, weil ich mir für den Fall seiner Schuld irgendeine Rechtfertigung seiner Tat zurechtgelegt hätte.« Er hob rasch den Blick. »Es ist mir nach wie vor nahezu unmöglich, mir vorstellen, dass er einer solchen Tat fähig gewesen sein sollte, denn es gab dafür … keinen … Grund!«

Schaudernd merkte Charlotte, dass er Juno bei diesen Worten eindringlich musterte. Seine Augen tasteten ihr Gesicht so genau ab, dass ihm vermutlich nicht der leiseste Atemzug entging, kein noch so winziges Zucken ihrer Wimpern. Er beobachtete sie wie ein Raubtier seine Beute. Er war gekommen, um zu erfahren, wie viel sie wusste, wollte offenbar sehen, ob sie etwas herausbekommen, erraten oder vermutet hatte.

Charlotte hoffte, dass ihm Juno auf keinen Fall etwas sagte, sich unwissend und notfalls dumm stellte. Ob es besser wäre, einzugreifen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen? Oder würde er daraus schließen, dass sie Angst hatte, was die Vermutung nahe legte, dass sie etwas wusste? Sie atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus.

»Nein«, sagte Juno gedehnt. »Natürlich nicht. Ich muss gestehen, ich begreife es selbst nicht.« Es kostete sie Mühe, sich zu entspannen. Ihre verkrampften Hände lösten sich, und sie lächelte sogar ein wenig. »Ich habe die beiden immer nur als die besten Freunde erlebt.« Sie sagte nichts weiter, überließ es ihm, den Faden aufzunehmen.

Damit hatte er sichtlich nicht gerechnet. Einen Augenblick lang trat der Ausdruck von Unsicherheit auf seine Züge, verschwand aber sofort wieder. Gelöst fragte er: »Sie also auch?« Er erwiderte ihr Lächeln und vermied es, Charlotte anzusehen. »Ich wüsste gern, ob Sie irgendeine Vorstellung davon haben, was sich in so tragischer Weise auf die Beziehung der beiden Männer ausgewirkt haben könnte. Mir ist klar, dass es dabei nicht um Beweismaterial geht«, fügte er eilig hinzu, »sonst hätten Sie das den zuständigen Stellen mitgeteilt. Aber vielleicht vermuten Sie etwas, aus der Kenntnis Ihres Mannes heraus.«

Juno schwieg.

Gleaves Stimme klang glatt, aber erneut sah Charlotte den Anflug von Unsicherheit auf seinen Zügen. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass das Gespräch eine solche Wendung nehmen könnte. Er konnte es nicht steuern, wie es wohl seine Absicht gewesen war. Juno brachte ihn dazu, mehr zu sagen, als er gewollt hatte, weil sie selbst fast nichts sagte. Jetzt musste er sein Interesse erklären.

»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich der Sache weiter nachgehe, Mrs. Fetters. Der Fall lässt mir keine Ruhe, weil er so … ungelöst erscheint. Ich …« Er schüttelte den Kopf. »Es kommt mir vor, als hätte ich versagt.«

»Ich glaube, niemand hat das wirklich verstanden, Mr. Gleave«, gab Juno zur Antwort. »Ich würde die Sache gern für Sie aufklären, kann das aber leider nicht.«

»Auch für Sie muss das sehr betrüblich sein.« Mitgefühl schwang in seiner Stimme. »Der Wunsch zu verstehen ist Teil des Kummers.«

»Sehr gütig«, sagte sie schlicht.

Jetzt flammte der Funke wieder in ihm auf, wenn auch so schwach, dass man es kaum merken konnte. Charlotte begriff, dass Juno ein Fehler unterlaufen war. Sie hatte sich zurückhaltend statt offen gezeigt. Ob sie nicht doch eingreifen sollte? Oder würde sie damit alles nur schlimmer machen? Wieder konnte sie den Impuls, etwas zu sagen, nur mit Mühe unterdrücken. War dieser Gleave wirklich nur ein Strafverteidiger, der den Prozess um einen seiner Ansicht nach schuldlosen Mandanten verloren hatte, was ihm seine Kollegen möglicherweise verübelten? Oder gehörte er einer mächtigen und schrecklichen Geheimgesellschaft an und war gekommen, um festzustellen, wie viel die Witwe wusste, ob es Papiere gab – Beweismaterial, das unter allen Umständen vernichtet werden musste?

»Ich muss gestehen«, sagte Juno mit einem Mal, »dass ich gern wüsste, warum … was …« Sie schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihr in die Augen. »Warum Martin gestorben ist. Und ich weiß es nicht! Es ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Gleave antwortete auf die einzige ihm mögliche Art. »Ich bedaure außerordentlich, Mrs. Fetters. Es war nicht meine Absicht, Sie zu bekümmern. Wie ungeschickt von mir, das Thema überhaupt anzusprechen. Bitte vergeben Sie mir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe durchaus, Mr. Gleave. Sie haben an Ihren Mandanten geglaubt und sind gewiss ebenfalls bekümmert. Ich habe nichts zu vergeben. Offen gesagt, hätte ich Sie gern gefragt, ob Ihnen das Motiv für die Tat bekannt ist, aber natürlich dürften Sie das nicht einmal dann sagen, wenn Sie es wüssten. Nun haben Sie zumindest deutlich gemacht, dass Sie nicht mehr wissen als ich, und dafür danke ich Ihnen. Vielleicht kann ich die Sache jetzt doch auf sich beruhen lassen und mich anderen Dingen zuwenden.«

»Ja … ja, das wäre am besten«, stimmte er zu und sah Charlotte zum ersten Mal offen an. Mit seinen klug wirkenden dunklen Augen schien er ihre Gedanken lesen zu wollen. Möglicherweise lag in ihnen sogar eine Warnung.

»Es war sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Pitt.« Obwohl er nichts weiter sagte, schwang in den Worten unverkennbar eine Botschaft mit.

»Ganz meinerseits, Mr. Gleave«, antwortete sie freundlich.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als sich Juno mit bleichem Gesicht und am ganzen Leibe zitternd Charlotte zuwandte.

»Er wollte wissen, was wir gefunden haben!«, sagte sie mit belegter Stimme. »Deswegen ist er doch gekommen, nicht wahr?«

»Ich denke schon«, stimmte ihr Charlotte zu. »Das bedeutet, dass Sie mit Ihrer Annahme, es müsse etwas geben, Recht haben. Ich weiß zwar nicht, wo, aber es ist wichtig!«

Ein Schauer überlief Juno. »Dann müssen wir es finden! Wollen Sie mir helfen?«

»Selbstverständlich.«

»Vielen Dank. Ich werde überlegen, wo wir suchen können. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Ich brauche jetzt unbedingt eine!«

 

Bisher hatte Charlotte Tante Vespasia nichts von dem gesagt, was Pitt widerfahren war. Es war ihr peinlich. Auch wenn der Grund nicht etwa in einem Dienstversäumnis lag, eher ganz im Gegenteil, hielt sie es für besser, wenn andere nichts von dieser unangenehmen Geschichte erfuhren, vor allem Menschen, an deren guter Meinung Pitt viel lag, und zu denen gehörte Vespasia auf jeden Fall.

Doch mittlerweile belastete das Ganze Charlotte so sehr, dass sie es nicht mehr allein ertragen konnte. Da sie sonst niemandem traute und auch bei keinem anderen Menschen die Fähigkeit voraussetzte, die Zusammenhänge zu erfassen und ihr zu raten, suchte sie Vespasia am Tag nach ihrem Besuch bei Juno Fetters auf. Das Mädchen ließ sie ein. Vespasia saß noch im ganz in Gelb und Gold gehaltenen Frühstückszimmer und forderte Charlotte auf, zumindest eine Tasse Tee mit ihr zu trinken.

»Du siehst ziemlich mitgenommen aus, meine Liebe«, sagte sie freundlich, während sie eine hauchdünne Toastscheibe mit ein wenig Butter und reichlich Aprikosenkonfitüre bestrich. »Vermutlich bist du gekommen, um mit mir über den Grund dafür zu sprechen?«

Charlotte war froh, dass sie sich nicht zu verstellen brauchte. »Ja. Eigentlich geht das schon seit drei Wochen so, aber erst gestern habe ich gemerkt, wie schwerwiegend das Ganze ist. Ich weiß nicht mehr ein noch aus.«

»Hat Thomas keine Meinung dazu?«, fragte Vespasia mit gerunzelter Stirn und vergaß ganz ihren Toast.

»Man hat ihm das Kommando über die Wache in der Bow Street genommen und ihn zum Sicherheitsdienst nach Spitalfields geschickt«, stieß Charlotte hervor. In ihren Worten schwang all der Kummer mit, den sie empfand, all die Angst und Unsicherheit, die sie vor den Kindern und zum Teil sogar vor Gracie verbergen musste.

»Das Allerschlimmste ist, dass er dort auch leben muss. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Ich kann ihm nicht einmal schreiben, weil ich nicht weiß, wo er sich aufhält! Er schreibt mir zwar, aber ich habe keine Möglichkeit, ihm zu antworten!«

»Das tut mir sehr Leid, meine Liebe«, sagte Vespasia mit bekümmertem Gesicht. Sofern sie außerdem Zorn empfand, war das zweitrangig. Sie hatte im Laufe ihres Lebens zu viel Ungerechtigkeit erlebt, als dass es irgendetwas gab, was sie hätte überraschen können.

»Es handelt sich um einen Racheakt der Oberen wegen seiner Aussage im Prozess gegen John Adinett«, erklärte Charlotte.

»Aha.« Vespasia biss ein wenig von ihrer Toastscheibe ab. Das Mädchen brachte frischen Tee und goss Charlotte eine Tasse ein.

Als sie gegangen war, setzte Charlotte ihren Bericht fort. Sie erklärte, dass sie entschlossen sei, das Motiv für den Mord an Martin Fetters zu finden, und aus diesem Grund dessen Witwe aufgesucht hatte. Dann berichtete sie, so genau sie konnte, über den Inhalt der in Fetters’ Schreibtisch gefundenen Papiere und Gleaves Besuch.

Nach längerem Schweigen sagte Vespasia: »Das ist eine äußerst unangenehme Geschichte. Du hast durchaus Grund, dich zu fürchten, denn die Sache ist höchst gefährlich. Ich neige dazu, deine Ansicht zu teilen, was den Zweck von Reginald Gleaves Besuch bei Mrs. Fetters angeht. Wir müssen annehmen, dass er persönliche Interessen damit verfolgt und unter Umständen bereit ist, rücksichtslos vorzugehen, um sein Ziel zu erreichen.«

»Du meinst, er würde vor Gewalttätigkeit nicht zurückschrecken?«, fragte Charlotte in einem Ton, dem anzuhören war, dass sie es selbst vermutete.

Vespasia ließ sie nicht im Unklaren. »Sofern ihm keine andere Möglichkeit bleibt. Es ist unerlässlich, dass du mit größter Vorsicht zu Werke gehst.«

Unwillkürlich musste Charlotte lächeln. »Jeder andere hätte gesagt, ich solle die Finger davon lassen.«

In Vespasias silbernen Augen blitzte es auf. »Und hättest du dich daran gehalten?«

»Nein.«

»Gut. Wenn du jetzt ›Ja‹ gesagt hättest, wäre das entweder die Unwahrheit gewesen, und ich kann es gar nicht leiden, wenn man mich belügt, oder es hätte gestimmt, und dann wäre ich von dir fürchterlich enttäuscht gewesen.« Sie beugte sich ein wenig über den polierten Tisch vor. »Aber meine Warnung meine ich sehr ernst, Charlotte. Ich weiß nicht, was auf dem Spiel steht, nehme aber an, dass es sehr viel ist. Der Kronprinz ist günstigstenfalls das Opfer schlechter Berater, unter Umständen aber auch ein Verschwender, dem es gleichgültig ist, ob er damit seinen guten Ruf aufs Spiel setzt. Viktoria nimmt ihre Pflichten schon lange nicht mehr ernst. Mit dieser Haltung haben die beiden der Verbreitung von republikanischem Gedankengut Vorschub geleistet. Mir war bisher allerdings weder klar, dass sich auch Männer wie Martin Fetters bereits davon haben anstecken lassen, noch dass die Dinge so weit gediehen sind, wie das der Fall zu sein scheint. Was du da entdeckt hast, dürfte darauf hinweisen, dass die Bereitschaft, gewalttätig vorzugehen, schon ziemlich weit fortgeschritten ist.«

Charlotte merkte, dass sie mehr oder weniger gehofft hatte, Vespasia werde ihr sagen, sie irre sich und es gebe eine andere Lösung, die eher auf der persönlichen Ebene lag. Es wäre ihr lieber, wenn sie gesagt hätte, für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung bestehe keine Gefahr. Jetzt war auch diese Hoffnung dahin.

»Muss man die Männer, die entschlossen sind, die Monarchie um jeden Preis am Leben zu erhalten, unter den Angehörigen des Inneren Kreises suchen?«, fragte Charlotte. Sie hatte unwillkürlich leise gesprochen, obwohl nicht zu befürchten stand, dass jemand zuhören konnte.

»Das ahne ich nicht«, gab Vespasia zu. »Ich weiß nicht, welche Ziele die Leute verfolgen, zweifle aber nicht, dass sie bereit sind, sie rücksichtslos durchzusetzen. Auf jeden Fall scheint es mir das Beste zu sein, wenn du mit niemandem darüber sprichst. Zwar halte ich Cornwallis für einen Ehrenmann, doch kann ich letzten Endes auch bei ihm nicht wissen, was für ein Mensch er wirklich ist. Wenn die Dinge so liegen, wie du vermutest, haben wir es mit einer überaus mächtigen Clique zu tun, der es auf einen Mord mehr oder weniger nicht ankommt. Ich hoffe, auch Mrs. Fetters hält sich an das, was ich gesagt habe, und schweigt jedem gegenüber.«

Charlotte fühlte sich benommen. Die Sache, der sie anfangs lediglich aus persönlicher Empörung über die Pitt angetane Ungerechtigkeit nachgegangen war, hatte sich mit einem Mal zu einer Verschwörung entwickelt, die ohne weiteres alles bedrohen konnte, was sie kannte.

»Was sollen wir tun? «, fragte sie besorgt und sah Vespasia an.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand diese. »Jedenfalls noch nicht.«

Nachdem Charlotte verwirrt und zutiefst unglücklich gegangen war, blieb Vespasia lange in ihrem Frühstückszimmer sitzen und sah durch das Fenster hinaus auf den Rasen. Sie hatte Königin Viktorias gesamte Regierungszeit miterlebt. Vierzig Jahre zuvor schien kein Land auf der Welt stabiler zu sein als England. Allein dort waren alle Werte unerschütterlich und behielt das Geld seinen Wert. Sonntag für Sonntag läuteten die Kirchenglocken, predigten die Geistlichen über Gut und Böse, und nur wenige zweifelten an deren Worten. Jeder wusste, wohin er gehörte, und nahm das als gegeben hin. Die Zukunft dehnte sich endlos vor den Menschen.

Diese Welt war dahingegangen wie die Pracht von Sommerblumen.

Sie wunderte sich, wie sehr es sie entrüstete, dass man Pitt seine Stellung und sein Familienleben genommen und ihn nach Spitalfields geschickt hatte, wo er höchstwahrscheinlich von nicht besonders großem Nutzen war. Sofern Cornwallis der Mann war, für den sie ihn hielt, war Pitt dort zumindest vor der Rache des Inneren Kreises so sicher, wie das überhaupt möglich war. Das zumindest war beruhigend.

Aber was konnte sie tun? Zwar bekam sie nicht mehr so unendlich viele Einladungen wie früher, doch waren es immer noch genug, dass sie daraus auswählen konnte. Heute hatte sie die Möglichkeit, zu einem Gartenfest in Astbury House zu gehen, sofern ihr der Sinn danach stand. Eigentlich hatte sie absagen wollen und das am Vortag auch Lady Weston schon angekündigt. Aber sie wusste, dass sich unter den Gästen Randolph Churchill und Ardal Juster befanden. Sie würde die Einladung wohl doch annehmen. Vielleicht war ja auch Somerset Carlisle da. Er war der Einzige, dem sie trauen konnte.

 

Der Nachmittag war angenehm warm, und die Gärten standen in voller Blüte. Es konnte keinen schöneren Tag für eine Gesellschaft im Freien geben. Als Vespasia ziemlich spät eintraf, wie das ihrer Gewohnheit entsprach, belebten den Rasen bereits herrliche Kleider aus Seide und Musselin sowie mit Blumen, Gaze und Tüll verzierte Hüte, groß wie Wagenräder. Wie alle anderen musste auch sie Acht geben, um nicht von einem der vielen nachlässig geschwungenen Sonnenschirme aufgespießt zu werden.

Sie trug ein mit Grau abgesetztes lavendelfarbenes Kleid und einen Hut, dessen Krempe sich auf einer Seite, einem Vogel gleich, zum Himmel emporschwang und auf der anderen kokett nach unten neigte. Eine solche Kreation vorzuführen durfte nur eine Frau wagen, die sich nicht das Geringste aus der Meinung anderer machte.

»Großartig, meine Liebe!«, sagte Lady Weston kalt. »Dieser Hut ist bestimmt einmalig.« Damit meinte sie, dass er aus der Mode war und sich außer ihr bestimmt keine andere Frau damit zeigen würde.

»Danke«, gab Vespasia mit einem hinreißenden Lächeln zurück. »Wie großzügig von Ihnen.« Abfällig ließ sie den Blick an Lady Westons einfallslosem blauen Kleid auf und ab wandern. »Eine herrliche Gabe.«

»Wie bitte?«, erkundigte sich Lady Weston verwirrt.

»Die Bescheidenheit, die darin liegt, andere zu bewundern«, erklärte Vespasia, raffte mit erneutem Lächeln die Röcke und verließ Lady Weston, die erst jetzt merkte, dass sie unterlegen war, und sich darüber grün und blau ärgerte.

Sie sah den Zeitungsverleger Thorold Dismore mit dem Zuckerfabrikanten Sissons. Die Unterhaltung schien Dismore außerordentlich zu interessieren. Sissons war kaum wiederzuerkennen. Während er im Gespräch mit dem Kronprinzen tölpelhaft, geistlos und von tödlicher Langeweile gewesen war, sah er jetzt geradezu von Begeisterung beflügelt aus.

Einen Augenblick lang sah Vespasia interessiert hin und fragte sich, welches Thema die beiden wohl so sehr fesseln mochte. Zwar war Dismore, dem Wohlstand und gesellschaftliche Position in die Wiege gelegt worden waren, ein Exzentriker, doch setzte er sich für bestimmte Ziele leidenschaftlich ein, wenn dazu auch nicht gerade politische Reformen gehörten. Er war ein glänzender Redner und konnte mitunter recht witzig sein.

Sissons hatte sich sein Vermögen selbst erarbeitet. Vielleicht gehörte er zu den Menschen, die in Gegenwart von Berühmtheiten förmlich erstarren, sei es ein Genie, eine hinreißende Schönheit oder, wie bei der Königlichen Hoheit, eine Persönlichkeit von hohem Rang.

So gern sie gewusst hätte, was die beiden zusammengeführt hatte, sie sollte es nie erfahren, denn unvermittelt sah sie sich Charles Voisey gegenüber. Er sah belustigt zu ihr her, wobei er die Augen gegen die Sonne zusammenkniff. Sie konnte seinem Gesicht nicht entnehmen, was er empfand, hatte keine Vorstellung, ob ihm ihre Anwesenheit angenehm oder unangenehm war, ob er sie bewunderte oder verachtete oder sie gar aus seinen Gedanken strich, sobald er sie nicht mehr sah. Dieser Gedanke behagte ihr ganz und gar nicht.

»Guten Tag, Lady Vespasia«, sagte er höflich. »Ein wunderschöner Garten.« Er sah sich in der Fülle von Formen und Farben um, ließ den Blick zu den sauber gestutzten Hecken wandern, den bunten Beeten, dem glatten Rasen und verweilte schließlich bei einigen leuchtend lila Iris, durch deren geschwungene Kelchblätter das Licht schimmerte. Ihr Duft lag schwer in der warmen Luft. »Richtig englisch«, fügte er hinzu.

Damit hatte er Recht. Unwillkürlich musste sie an die Hitze Roms denken, die dunklen Zypressen, das Geräusch, mit dem das Wasser der Fontänen herabplätscherte, wie Musik auf Steinen. Tagsüber hatte sie die Augen vor der grellen Sonne schließen müssen, doch abends wurde das Licht sanft, ocker- und rosenfarben, tauchte alles in eine Schönheit, unter der die Wunden von Gewalttat und Vernachlässigung heilten.

Das aber hatte mit Mario Corena zu tun, nicht mit dem Mann, der ihr jetzt gegenüberstand. Hier ging es um eine andere Schlacht, um andere Ideale. Jetzt musste sie an Pitt und die beispiellose Verschwörung denken, deren Opfer er geworden war.

»Da haben Sie Recht«, gab sie mit ebenso distanzierter Höflichkeit zurück. »Diese wenigen Wochen des Hochsommers haben etwas ganz besonders Üppiges. Vielleicht liegt es daran, dass sie so kurz sind und man ihrer nicht sicher sein darf. Schon morgen kann es regnen.«

Sein Blick glitt zur Seite. »Das klingt schwermütig, Lady Vespasia, und auch ein wenig traurig.«

Sie sah auf sein Gesicht. Das scharfe Sonnenlicht ließ jeden Makel deutlich werden, jede Spur von Leidenschaft, Unbeherrschtheit oder Schmerz. Wie nahe es ihm wohl gegangen war, dass man Adinett gehängt hatte? Damals bei dem Empfang, bevor der Fall in die Berufung gegangen war, hatte in seiner Stimme unverhüllte Wut gelegen. Trotzdem hatte er mit der Mehrheit jener Richter gestimmt, die sich für eine Verurteilung ausgesprochen hatten. Allerdings war das Abstimmungsergebnis vier zu eins gewesen. Angenommen, er stand auf der anderen Seite, dann wäre, wenn er anders gestimmt hätte, seine wahre Haltung ans Licht gekommen, ohne dass sich am Ergebnis etwas geändert hätte. So etwas würde einen Menschen wie ihn zutiefst erbittern.

War er einfach von der Schuldlosigkeit des Mannes überzeugt, war es ein Fall persönlicher Freundschaft, oder ging es um gemeinsame politische Überzeugungen? Die Anklage hatte zu keinem Zeitpunkt ein Motiv nennen, geschweige denn beweisen können.

»Ist das so schwer zu verstehen?«, gab sie zur Antwort. »Ein Teil der Freude, die wir an den Dingen empfinden, geht doch auf das Bewusstsein zurück, dass alles nur allzu rasch vorüber sein wird, sowie auf die Gewissheit, dass es wiederkommt, auch wenn wir es nicht alle miterleben werden.«

Er sah sie jetzt aufmerksam an. Die Maske beiläufiger Höflichkeit war gefallen. »Auch jetzt erleben wir es nicht alle mit, Lady Vespasia.«

Sie dachte an Pitt in Spitalfields, an Adinett in seinem Grab sowie an die namenlosen Millionen, die nicht von Blumen umgeben im Licht der Sonne standen. Sie befand, dass keine Zeit für Nettigkeiten war, und stimmte ihm mit den Worten zu: »Im Gegenteil, Mr. Voisey, nur die wenigsten. Aber zumindest ist es da, und das bedeutet Hoffnung. Es ist besser, die Blumen blühen für wenige als überhaupt nicht.«

»Solange wir zu den wenigen gehören!«, gab er umgehend zurück. Diesmal war die Leidenschaft auf seinen Zügen unverkennbar.

Ohne sich durch seine Ruppigkeit verstimmen zu lassen, antwortete sie mit einem Lächeln. Ihr war klar, dass in seinen Worten eine Anschuldigung mitschwang.

In seinen Augen flackerte Zweifel auf. Vielleicht hatte er einen Fehler begangen. Sie hatte sehen wollen, auf welcher Seite er stand, und er hatte es ihr gezeigt. Dann aber entspannten sich seine Züge, und er lächelte ihr breit zu, wobei er seine blendend weißen Zähne entblößte.

»Natürlich, wie könnten wir sonst davon sprechen, außer in Träumen? Doch ich weiß, dass Sie sich gleich mir um Reformen bemüht haben und Ungerechtigkeit auch Ihnen zuwider ist.«

Jetzt war die Reihe an ihr, unsicher zu sein. Er war nicht leicht zu durchschauen, aber vielleicht machte ihn seine Integrität so vielschichtig. Unmöglich war das nicht.

Hatte Adinett Martin Fetters getötet, um zu verhindern, dass es in England zu einer republikanischen Revolution kam? Das wäre etwas völlig anderes als eine Reform mittels einer Gesetzesänderung durch die dazu bevollmächtigten Volksvertreter.

Vespasia erwiderte das Lächeln, und diesmal meinte sie es aufrichtig.

Kurz darauf trat Lord Randolph Churchill zu ihnen, und das Gespräch verließ die persönliche Ebene. Angesichts der so kurz bevorstehenden Unterhauswahl kam natürlich die Politik zur Sprache: Gladstone und der ganze Ärger mit der Selbstbestimmung Irlands, das Anwachsen anarchistischer Tendenzen auf dem europäischen Festland und die Bombenwerfer in London.

»Das East End ist das reinste Pulverfass«, sagte Churchill leise zu Voisey. Augenscheinlich hatte er vergessen, dass Vespasia ebenfalls hören konnte, was er sagte. »Da braucht nur jemand den zündenden Funken hineinzuwerfen, und alles geht in die Luft.«

»Und was unternehmen Sie?«, erkundigte sich Voisey mit besorgter Stimme.

»Ich muss wissen, wem ich trauen kann und wem nicht«, gab Churchill voll Verbitterung zurück.

Vorsichtig sagte Voisey: »Die Königin muss aus ihrer Zurückgezogenheit herauskommen und sich dem Volk erneut zuwenden. Außerdem muss der Kronprinz seine Schulden zahlen und aufhören, so verantwortungslos zu leben, als gäbe es kein Morgen.«

»Wenn das alles wäre, hätte ich keine Probleme«, gab Churchill zurück. »Ich kannte Warren und Abberline auch bis zu einem gewissen Grade, aber was Narraway angeht, habe ich meine Zweifel. Gewiss, er ist klug, doch ich weiß nicht, auf welcher Seite er stehen würde, wenn es zum Schwur kommt.«

Voisey lächelte.

Einige hübsche junge Frauen in spitzenbesetzten pastellfarbenen Kleidern kamen mit schwingenden Röcken lachend vorüber und bemühten sich beim Anblick der Gruppe um ein geziemenderes Verhalten.

Vespasia beneidete sie nicht um ihre hoffnungsvolle und unschuldige Jugend. Sie hatte ein erfülltes Leben geführt und bedauerte nur wenig. Sie mochte gelegentlich selbstsüchtig gewesen sein oder töricht gehandelt haben, doch Feigheit hatte sie sich trotz aller Widrigkeiten nie vorzuwerfen brauchen, sie hatte sich immer allem gestellt.

Zu ihrer Enttäuschung konnte sie Somerset Carlisle nicht unter den Anwesenden entdecken. Als sie merkte, dass sie schon ziemlich lange dort gestanden hatte und sich gerade entschuldigen und weitergehen wollte, hörte sie erneut Churchills Stimme hinter einer Rosenlaube. Er sprach in drängendem Ton. Nur mit Mühe konnte sie verstehen, was er sagte.

»… nicht wieder zur Sprache kommen! Die Sache ist erledigt. So etwas passiert nicht wieder.«

»Das will ich hoffen!«, sagte eine andere Stimme im Flüsterton. Sie war so verzerrt, dass Vespasia sie nicht erkennen konnte. »Noch eine solche Verschwörung könnte das Ende bedeuten – und das sage ich nicht so einfach dahin.«

»Sie sind alle tot, Gott steh uns bei«, sagte Churchill mit belegter Stimme. »Was haben Sie denn geglaubt, was wir tun würden – etwa uns erpressen lassen? Wo würde das enden?«

»Im Grab«, kam die Antwort, »und dort gehört es auch hin.«

Schließlich wandte sich Vespasia ab. Sie verstand nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten.

Einige Schritte vor ihr berichtete Lady Weston einem Bewunderer von Oscar Wildes jüngstem Stück Lady Windermeres Fächer. Beide lachten.

Vespasia trat ins Sonnenlicht hinaus zu ihnen. Diesmal drängte sie sich bewusst in die Unterhaltung anderer hinein. Sie war banal, witzig und alltäglich, und sie sehnte sich danach, daran teilzunehmen. Solange das möglich war, wollte sie an Dingen festhalten, die ihr vertraut waren.