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Traurig betrachtete Sampsa Ronkainen die morsche Kultfigur. Er überlegte, was er damit anfangen sollte und wo er sie hinstellen könnte. Am besten wäre es, die Figur mit Holzschutzfarbe zu versehen, damit der alte Fischgott nicht endgültig vermoderte, aber war eine solche Behandlung angemessen?

In den Zimmern des Obergeschosses stand jede Menge alter Plunder herum: ein halbes Dutzend Spinnräder, unzählige rissig gewordene Rockenaufsätze, alte Möbel, Stühle, an denen ein Bein oder die Lehne fehlten, zerbrochene Wiegen, Butterfässer ohne Boden, Vasen, die einen Sprung hatten…. allerlei alter Krempel, der darauf wartete, instand gesetzt zu werden. Sampsa kümmerte sich persönlich um den Zustand der angeschlagenen Gegenstände. Jedesmal wenn er einige Stücke restauriert hatte, lud er sie in den Lieferwagen und fuhr nach Helsinki, wo Frau Moisander versuchte, sie zu verkaufen. Möbel aus herrschaftlichen Häusern, die neu bezogen werden mußten, brachte Sampsa zum Polsterer nach Olari. Er selbst konnte nicht polstern, erledigte aber die Vorarbeiten, entfernte die alte Lackierung und verblichenen Bezüge und leimte lose Teile wieder an.

Grinsend betrachtete die Kultfigur Sampsa und seine alten, wackligen Möbel. Irgendwie paßte sie nicht so recht zu den Sachen, die verkauft werden sollten. Dafür sah sie zu menschlich aus. Durch ihr Grinsen schien sie Sampsa davon überzeugen zu wollen, sich nicht mehr um Frau Moisander, Anelma, Sirkka und deren »Bruder« zu scheren. Kultfiguren waren so, sie spürten, mit was sich ihre Besitzer beschäftigten. Was sollte man auch mit ihnen anfangen, hätten sie dieses Feingefühl nicht? Schließlich lohnte es sich nicht, eine Kultfigur zu schnitzen, die kein Verständnis für die Sorgen des Menschen hatte.

Sampsas Leben war in mancherlei Hinsicht kompliziert. Im Herbst würde er das Antiquitätengeschäft aufgeben müssen. Damit würden alle Einkünfte ausbleiben, und das bedeutete, daß der Ronkaila-Hof verkauft werden müßte. Wenn auch nicht der ganze Hof, so doch zumindest viele weitläufige Waldparzellen. Übrigbleiben würden das Haupthaus, der neue Teil des Hofs, Anelma, Sirkka… Sampsa seufzte schwer. Er blickte auf den Flieder vor seinem Fenster. Manchmal konnte er stundenlang das Fliederlaub betrachten, wie es sich leise raschelnd bewegte.

Vom neuen Gebäude her klang das schrille Läuten der Essensglocke. Sampsa wurde nie von ihr zur Mahlzeit gerufen. Er verpflegte sich selbst, aß wie ein typischer Junggeselle, was er gerade im Kühlschrank fand. Anelma hatte die Angewohnheit, die Essensglocke immer dann zu läuten, wenn sie mit Sampsa sprechen wollte. Sie kam so gut wie nie in das alte Haus hinüber, denn sie behauptete, dort spuke es. Daher zerrte sie so lange am Glockenschwengel, bis es Sampsa nicht mehr aushielt und das Fenster öffnete. Anelma rief:

»Am nächsten Sonntag veranstalten wir ein Gartenfest! Ich habe die Einkaufsliste fertig, du kannst die Sachen besorgen, wenn du das nächste Mal in die Stadt kommst.«

Anelma legte einen Zettel auf das Verandageländer. Als Beschwerer stellte sie einen kleinen Teller darauf.

Sampsa rief hinunter, er wolle kein Fest, und außerdem könne er sich so etwas auch nicht mehr leisten.

»Verkauf Wald! Ich habe schon die Einladungen geschrieben und alles. Sei jetzt so lieb und erledige das, schließlich hast du ein Auto.«

Sampsa schloß das Fenster. So ging das jedesmal. Man überschüttete ihn mit abscheulichen Anweisungen und erwartete, daß er sie immer und auf der Stelle befolgte. Auch diesmal konnte er sich schon ausmalen, was ihn das Gartenfest wieder kosten würde. Fünfzehn Flaschen Rotwein, Bier, Stangenweißbrot, Salate, Käse, Wurst… Fünfhundert Finnmark würden da kaum reichen. Das schlimmste war, daß auch noch das ganze Wochenende im Eimer war. Es würde laut werden auf dem Hof, Türen knallen, betrunkene Idioten lauthals unter den Bäumen im Garten lachen und die Musik Tag und Nacht spielen.

Sampsa beschloß, möglichst schlechten Rotwein zu kaufen. Oder vielleicht sollte er es sogar mit alkoholfreiem versuchen? Wenn man den dann noch mit ein paar Löffeln Rhizinusöl versetzte, müßten Anelmas und Sirkkas Gäste das ganze Wochenende auf einem verkackten Weg zur Toilette rennen.

In diesem Moment kam Sampsa auf die Idee, die Kultfigur mit in den Wald zu nehmen, zu demselben Felsen, wo ihn sein Vater einst gelehrt hatte, vor dem Donnergott auf die Knie zu gehen. Sampsa hatte die Stelle seinen Opferstein genannt, und er pflegte von Zeit zu Zeit, wenn ihn die Welt mal wieder recht prüfte, einen kleinen Gottesdienst für den Donnergott abzuhalten. Ein Feuer auf der Felsplatte, ein bißchen Eßbares ins Feuer, vielleicht noch einen Schuß Schnaps in die Flammen… das wirkte Wunder.

Sampsa wickelte den Fischgott wieder in das Papier, schob eine kleine Flasche Whisky in die Brusttasche seiner Jacke und ging hinaus. Mit der Absicht, den Weg bis zum Waldrand entlang der Ackerraine abzukürzen, betrat er das Feld. Dort brummte ein roter Traktor. Nyberg, der benachbarte Bauer, arbeitete auf einem Ronkaila-Acker. Er schien Unkrautvernichtungsmittel auszubringen: Hinter dem Traktor befand sich ein großer Kunststoffbehälter, der einen Nebel giftiger Flüssigkeit auf das Feld sprühte. Schon seit Jahren war Sampsa gezwungen, Land an Nyberg zu verpachten, der darüber verfügte, als ob es sein Eigentum wäre. Nyberg war ein sechzigjähriger Mann mit rotem Gesicht und einer bösen Zunge. Man erzählte sich, er habe einige Menschenleben auf dem Gewissen, da er während des Krieges Aufseher in einem Gefangenenlager gewesen war.

Nyberg handelte die Pacht immer weiter hinunter. Er beklagte sich, die Böden seien noch von den Zeiten des alten Ronkainen ausgelaugt. Trotzdem hatte er es als Sampsas Pächter im Lauf der Jahre zu Wohlstand gebracht und war der vermögendste Mann im ganzen Dorf. Sampsa hätte sein Land immer wieder einmal gerne auch an andere Bauern verpachtet, aber Nyberg ließ es nicht zu: »Das Land, das ich in Ordnung gebracht habe, verpachtest du an keinen anderen als mich. Wenn du es selbst bestellst, dann ist das deine Sache, aber wenn du’s an Fremde verpachtest, treffen wir uns auf dem Amtsgericht.«

Sampsa hatte überhaupt keine Lust, Nyberg zu treffen und wollte gerade mit großen Schritten im Wald verschwinden, als der Nachbar ihn bemerkte und mit dem Traktor auf ihn zufuhr. Sampsa blieb nichts anderes übrig, als am Ackerrand zu warten, bis Nyberg den Motor ausschaltete und sich forsch vom Fahrersitz schwang.

»Mensch, der Sampsa! Wie läuft das Geschäft mit den Rockenaufsätzen?« fragte der Nachbar lachend. »Hör mal, ich habe mir überlegt, wie wär’s, wenn du für den Acker hier auch einen Entwässerungsgraben anlegen würdest? Heutzutage lohnt es sich sonst eigentlich nicht mehr, mit den großen Maschinen und der ganzen Technik.«

Sampsa wußte, daß er nicht die Mittel hatte, alle seine Felder zu drainieren. Mit leiser Stimme sagte er, wenn ein gewöhnlicher Acker nicht gut genug sei, müsse Nyberg seine Felder eben bei jemand anderem pachten.

»Jetzt werd doch nicht gleich böse. Ich meine ja nur, als guter Nachbar. Wenn das hier so bleibt, wird das Brachland, glaube mir.«

»Bestimmt«, gab Sampsa zu. »Aber ich kann mir die Entwässerung nun mal nicht leisten.«

Nyberg wechselte das Thema. Er erzählte, was er für den Herbst geplant hatte, gleich nach der Ernte.

»Ich werde die Felder am Fluß dazunehmen und bepflanzen. Und beim Kanal legen wir im Herbst einen neuen Durchlaß an, oder was meinst du? Du zahlst die Rohre, und ich verlege sie. Und noch etwas. Ich bin ein bißchen in deinem Wald herumspaziert. Könnte man da nicht ein paar Bäume anzeichnen? Ich brauche Holz, weil ich mit dem Schweinestall weitermachen will. Ich hole die Stämme zum Stockpreis raus, wir können bei Gelegenheit ja mal hingehen, dann zeige ich’s dir.«

»Ich habe eigentlich nicht daran gedacht, Wald zu verkaufen.«

Nyberg lachte, als hätte Sampsa einen guten Witz zum besten gegeben.

»Das hat doch nichts mit Verkaufen zu tun! Den Herren vom Finanzamt braucht man da gar nichts zu erzählen, ich ziehe die Stämme heimlich zur Säge. Ich denke dann bei der Pacht daran, oder wir können von mir aus gegen Kartoffeln tauschen. Immer wenn du welche brauchst, holst du sie dir bei uns aus dem Keller, wann du willst, von mir aus mitten in der Nacht. Für einen Nachbarn mache ich immer einen guten Kartoffelpreis!«

Sampsa vermutete, daß Nyberg wieder einmal versuchte, das Baumaterial für seinen Schweinestall mit ein paar Kilo halbverfaulter Kartoffeln zu begleichen. Das war vielleicht ein frecher Hund! Kein Wunder, daß solche Typen Aufseher in Gefangenenlager wurden und dann hinterm Stacheldraht Menschen totschlugen.

Sampsa erinnerte sich an Nybergs Vater, einen sympathischen Menschen, der in den dreißiger Jahren seinen schwedischen Namen in die wörtlich übersetzte finnische Version Uusimäki umgeändert hatte. Sein Sohn hatte trotzdem wieder den alten Namen verwendet. Ob der Enkel aus Nyberg wieder Uusimäki machen würde?

Nyberg wurde auf das Paket unter Sampsas Arm aufmerksam.

»Was hast du denn da drin? Doch nicht etwa Rockenaufsätze? «

Sampsa dachte kurz nach. Wenn er sagte, daß es sich nur um ein Stück Kiefernholz handelte, würde das jede Menge Fragen aufwerfen. Was für ein Stück Kiefernholz? Wozu? Wo willst du hin mit einem Stück Kiefernholz? Wenn er behauptete, in dem Paket stecke ein Stück Drainagenrohr, käme Nyberg sofort auf die Idee, zu fragen, warum Sampsa das Rohr in Papier gewickelt hatte. War das Rohr so geheim, daß man es seinem Nachbarn nicht bei Tageslicht zeigen konnte?

»Das ist bloß eine Kultfigur, unbehandelt, aber sonst in gutem Zustand.«

Nyberg dachte ein Weilchen nach. Dann murmelte er einsilbig und ein bißchen verärgert:

»Na dann, wenn’s eine Kultfigur ist. In einem großen Haus muß es ja schließlich Kultfiguren geben.

Denk über die Sache mit dem Wald nach, und die Drainagearbeit muß spätestens im nächsten Sommer erledigt werden! Ich bin stur, da brauchst du gar nicht erst zu protestieren.«

Nyberg stieg wieder auf den Traktor, ließ ihn an und setzte seine Giftverteilung fort. Sampsa huschte in den Wald, wo er eine Weile im Unterholz herumirrte, bis er den Platz fand, an dem er als Kind gespielt hatte. Verärgert setzte er sich auf den Opferstein. Er entfernte das Papier von der Kultfigur, knüllte es zu einer Kugel zusammen und legte es auf die Felsplatte. Dann schichtete er trockene Zweige zu einem kleinen Holzstoß auf, zündete das Papier an und sah geistesabwesend in die Flammen. Als das Feuer gut brannte, stellte Sampsa die Kultfigur zwei Meter daneben auf den Fels, zog die Whiskyflasche aus der Tasche und goß die gelbbraune Flüssigkeit in die Flammen. Es zischte, als der Whisky verbrannte. Den Rest der Flasche vergoß er auf dem heiß gewordenen Stein, wo der Whisky in kleinen, eiszeitlichen Furchen brennend davonrann. Sampsa ließ sich auf alle viere nieder, führte den Mund an den brennenden Whisky, holte tief Luft und befeuchtete die Zunge mit der starken Flüssigkeit. Zwischendurch blickte er auf die Kultfigur und dachte, daß dort wohl sein einziger Freund stand. Wenigstens war das jemand, der nicht in einem fort irgendwelche Dienste oder Geld von ihm verlangte.

Bald erlosch das Feuer, der Whisky wurde vom Moos aufgesaugt, und damit endete das Ritual. Sampsa setzte sich ins Gras. Wieder kam ihm Nyberg in den Sinn. Wenn der Nachbar seine Arbeit beendet hatte, würde er zum Laden fahren, ein paar Flaschen Bier kaufen und eine davon noch an Ort und Stelle trinken. Dabei würde er dann mit lauter Stimme erzählen, daß er wieder mal den Rocken-Ronkainen getroffen habe, ha ha! »Hat irgend so eine verdammte Kultfigur in den Wald getragen, ob ihr’s glaubt oder nicht. Ist überhaupt ein komischer Kerl. Wenn ich so einen Hof hätte wie der, würde ich doch nicht mit diesen dämlichen Rockenaufsätzen handeln! Aber was geht’s mich an, soll er doch machen, was ihm gefällt. Ich rede nicht hintenrum über andere Leute, ich sage nur, verdammt noch mal, daß das schöne Land einem jämmerlichen Nichtsnutz in die Hände gegeben worden ist.«

Anschließend würden sie im Laden ausführlich die Situation des Ronkaila-Hofs analysieren. Man würde Stellung beziehen zu Anelmas Morgenrock, sich über Sampsas Unfähigkeit auslassen, sich über die ständigen Gartenfeste wundern und über alles andere, was sie sonst noch erstaunte und wurmte. »Bei normalen Leuten wie uns besteht so ein Gartenfest bestenfalls aus Gießen und Jäten«, würde eines der Weiber aus dem Dorf sagen. Zum Schluß würden sie noch Sampsas Frauengeschichten unter die Lupe nehmen und mit Tränen in den Augen über seine Lebensgefährtin lachen. »Wer weiß, ob die Künstlerin ihren Herrn Lebensgefährten überhaupt schon mal rangelassen hat.«

Solche Worte drangen unaufhörlich an Sampsas Ohr. Obwohl sie ihn nicht sonderlich interessierten, bedrückten sie ihn doch, zumal ihm das Leben auch sonst ziemlich beschwerlich vorkam. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, was passieren würde, wenn eine Neutronenbombe über dem Dorf Pentele abgeworfen würde. Sie würde alle Dorfbewohner auf der Stelle töten, jeden einzelnen würde es erwischen, Anelma genauso wie Sirkka, jedes lebende Wesen in ganz Pentele. Die Häuser und Gegenstände blieben unversehrt, nur die Leichen der Einwohner müßte man einsammeln und wegbringen. Fünfzig Leichenwagen führen gleichzeitig ins Dorf, und jeder bekäme einen Toten ab. In einer geräuschlosen Kolonne würde die Trauerprozession durch die Dorfstraßen führen, die schwarzen Autos schwankten unter dem Gewicht der Bauerntölpel. Langsam und respektvoll entfernte sich der Trauerzug, und eine vollkommene und glückliche Stille legte sich über das Dorf. Nur Sampsa und die Kultfigur blieben übrig, denn ihnen konnte die Neutronenbombe nichts anhaben.

Spann man die Geschichte noch ein bißchen weiter, wäre es nicht schlecht, auch über dem Helsinkier Stadtviertel Punavuori Bomben abzuwerfen, und warum eigentlich nicht gleich über ganz Finnland. Dieses gemeine Volk hatte nichts anderes verdient! Nur die verlassenen Städte und Dörfer zeugten dann noch von einem Volk, das hier einmal gelebt hatte, das es aber zum Glück nicht mehr gab. Und die sowieso unbedeutende Kultur wäre mit den Toten im Grab versunken. Die Welt würde sich an keinen einzigen sportlichen Erfolg erinnern, den Finnen errungen hätten, und das wäre verdammt gut so.

Sampsa streichelte das graue Kieferngesicht der Kultfigur und die Astbeule auf ihrem Kopf. Die Skulptur war noch warm vom Feuer. In dem kühlen Fichtenwald fühlte sie sich vertraut an, wie ein guter Kamerad. Sampsa sagte zu ihr:

»Bleib dort stehen und hilf mir, wann immer du kannst.« Die Figur grinste. Sie gab keinen Laut von sich, aber am Gesicht konnten man deutlich ablesen, daß man sich auf sie verlassen konnte.

In Gedanken versunken begann Sampsa, einen Vers zu sprechen, den er einmal aus dem Mund seines Vaters gehört hatte und der ihm in Erinnerung geblieben war.

 

He ho, Ukko Obergott,

Donnerer am Wolkenrand…

 

Plötzlich bebte der Fels, die Kultfigur fiel um, aus der Erde, aus dem Reich der Erdgeister, tönte das tiefe Brummen des brechenden Steins, und von oben, vom sommerlichen Himmel, schlug donnernd ein flammender Blitz hinab. Der zischende Kugelblitz raste zwischen den Fichten hindurch, als suchte er sich eine Stelle, an der er explodieren könnte. Als er Sampsa erreichte, fauchte er noch ein paar Mal und zerbarst dann in tausend Stücke.

Wo gerade noch ein brennender gelber Ball gezischt hatte, stand nun ein hünenhafter Mann mit dunkler Gesichtsfarbe, der mit einem dicken Bärenfell bekleidet war.

Rutja, der Sohn des Donnergottes, war vom Himmel hinabgestiegen. Er hatte in Finnland zu tun.