Erster Teil

Ende des Planetenumlaufs in Landing -
1.1.31 Gegenwärtige Annäherungsphase
Akki - Planetenumlauf 2553 nach der Zeitrechnung des Akki

Da ein Drachenreiter, der in den weitläufigen Akki-Archiven über dicken Wälzern brütete, ganz und gar kein ungewohnter Anblick war, wunderte sich F'lessan, der Reiter des bronzenen Golanth, keineswegs, ein in ihre Studien vertieftes Mädchen zu sehen, deren Schulterknoten sie als grüne Reiterin von der Monaco Bucht kennzeichnete. Merkwürdig kam ihm vor, dass sie sich während der Festlichkeiten zum Ende des Planetenumlaufs im Lesezimmer des Hauptarchivs verschanzte.

In dieser Nacht feierte der gesamte Planet, der Nord- wie der Südkontinent, den Beginn der zweiunddreißigsten und hoffentlich letzten Saison des Fädenfalls. Selbst durch die dicken Mauern des Gebäudes hörte man die Trommeln und gelegentlich die Blasinstrumente von Landings zentralem Versammlungsplatz.

Wieso war das Mädchen, noch dazu eine grüne Reiterin, nicht draußen und tanzte? Warum machte er nicht bei den Lustbarkeiten mit? Er schnitt eine Grimasse. Noch immer arbeitete er daran, sich von dem Ruf zu befreien, den er sich zu Anfang dieser Fädensaison erworben hatte. Allgemein galt er als leichtsinnig und verwegen. Nicht, dass er sich dadurch von den meisten bronzenen und braunen Drachenreitern unterschieden hätte. »Du hast nur ein bisschen übertrieben«, hatte Mirrim ihm in ihrer unverblümten Art auf den Kopf zu gesagt. Mirrim, die zu jedermanns - nicht zuletzt zu ihrer eigenen - Überraschung beim Gegenüberstellungszeremoniell in Benden den grünen Drachen Path für sich gewonnen hatte. Als T'gellans Weyr-Gefährtin hatte sie nach und nach ihr anmaßendes Auftreten abgelegt, doch aus ihrer Meinung machte sie immer noch kein Hehl.

Das Mädchen im Archiv beugte sich über eine Sternenkarte, die Rubkats Planetensystem zeigte. Ein Sachgebiet, für das sich gewiss nicht jeder interessierte, dachte F'lessan.

Viele der jüngeren Reiter, deren Karriere mit dem Ausklingen des derzeitigen Fädenfalls in sechzehn Planetenumläufen zu Ende ging, lernten bereits jetzt neue Berufe. Auf diese Weise konnten sie für sich selbst sorgen, wenn die traditionellen Abgaben an die Weyr ausblieben. Solange es Fäden regnete, unterstützten die Burgen und Hallen die Drachenreiter, die sie im Gegenzug vor den gefräßigen Organismen schützten, die außer Metall und Stein alles vertilgten. Doch diese Quelle versiegte, wenn die Heimsuchung aus dem Weltall an Pern vorbeigezogen war.

Die Reiter, deren Familien Burgen oder Gewerbehallen besaßen, wurden problemlos in die heimischen Stätten integriert, doch Drachenreiter, die in einem Weyr groß geworden waren, wie F'lessan, mussten sich eine völlig neue Existenz aufbauen. Er konnte von Glück sagen, dass er in den Vorbergen der großen südlichen Gebirgskette Honshu entdeckt hatte. Und da die Weyr dem Rat, der den Planeten informell regierte, das Zugeständnis abgerungen hatten, Drachenreiter auf dem Südkontinent siedeln zu lassen, konnte F'lessan Honshu als seinen Privatbesitz deklarieren.

Um seine Ansprüche zu untermauern, hatte er angeführt, er wolle diesen Wohnsitz der ersten Kolonisten, die auf Pern landeten, komplett restaurieren und seine architektonischen und künstlerischen Schätze jedem zugänglich machen. Er hatte seinen nicht unbeträchtlichen Charme eingesetzt und war vor keiner List zurückgeschreckt, als er die anderen Weyr-Führer, Gildemeister und Burgherren dazu überredete, ihm den Titel zuzusprechen. Und sowie das Akki - das Akustische System einer Künstlichen Intelligenz - es den Drachenreitern ermöglicht hatte, die Bahn des Tod und Verderbnis bringenden Roten Sterns zu verändern, schickte er sich an, die imposante Felsenfestung Honshu zu restaurieren. Seine Pflichten als Geschwaderführer des Benden-Weyr ließen ihm nicht viel Zeit, doch wann immer es sich einrichten ließ, begab er sich nach Honshu.

Als junger Bursche hatte F'lessan kein Interesse an akademischer Bildung gezeigt. Er schwänzte die Schule, konnte sich nicht aufs Studieren konzentrieren und war nur auf sein Vergnügen aus. Nachdem er den bronzenen Golanth für sich gewonnen hatte, lernte er endlich Disziplin, denn um nichts in der Welt hätte er seinen Drachen vernachlässigt. Seine Zielstrebigkeit und Entschlusskraft machten ihn zu einem überaus geschickten Reiter, der seinen Kameraden als Vorbild dienen konnte - das meinten zumindest die Weyrling-Meister.

Honshu war seine zweite große Leidenschaft. Von Anfang an übte die uralte Festung mit ihren herrlichen Wandmalereien in der Haupthalle eine eigentümliche Faszination auf ihn aus. Er war besessen von dem Wunsch, dieses Kulturerbe zu erhalten und so viel wie möglich über seine Gründer und Bewohner herauszufinden. Mit dem für ihn typischen Enthusiasmus ernannte er sich selbst zum Hüter dieser Felsenburg.

Er schuftete mehr als alle anderen, um den Ort zu säubern und seine ehemalige Pracht wiederherzustellen. Und heute trachtete er danach, ein Geheimnis zu lüften. Für seinen Besuch der Akki-Einrichtungen hatte er speziell diesen Zeitpunkt gewählt, weil er hoffte, der einzige Besucher zu sein. An seinen Recherchen ließ er niemanden teilnehmen, da diese Obsession, die er für Honshu entwickelte, bei den meisten Menschen auf Unverständnis stieß.

Du bist der Beschützer von Honshu. Ich halte mich gern dort auf, sagte Golanth, der sich zusammen mit den anderen Drachen, die ihre Reiter zum Fest nach Landing gebracht hatten, in der heißen Mittagssonne aalte. Es gibt schöne Stellen, an denen ich mich sonnen kann, sauberes Wasser und viele fette Herdentiere.

F'lessan, der immer noch an der Schwelle zum Lesesaal stand, grinste. Du hast Honshu entdeckt. Es ist unsere Heimstatt.

Ja, stimmte Golanth freudig zu.

F'lessan stopfte seine Reithandschuhe in einen hübschen Packsack, ein Geschenk, das er zum Ende des Planetenumlaufs bekommen hatte. Auch die Handschuhe waren neu, und das Leder aus Wherhaut blieb trotz intensiven Einölens zäh. Der Packsack stammte von Lessa und F'lar. Für ihn waren sie weniger seine Eltern, sondern in erster Linie seine Weyr-Führer, ein Umstand, der ihm wichtiger schien als die Blutsbande.

Zu seinem Geburtstag, am Tag seiner Prägung auf Golanth, und zum Ende eines Planetenumlaufs machten sie ihm jedes Mal ein Geschenk. F'lessan wusste nicht recht, ob sie ihn durch diese Aufmerksamkeiten daran erinnern wollten, dass er Eltern hatte, oder ob sie selbst ein Ritual brauchten, um an ihren Sohn zu denken. In einem Weyr war es gang und gäbe, dass Kinder in Pflegefamilien aufwuchsen und somit viele Bezugspersonen kannten. Es mussten nicht notgedrungen die leiblichen Eltern sein, die Interesse an einem jungen Menschen bekundeten. Als F'lessan älter wurde, erkannte er, wie unbeschwert es sich in einem Weyr lebte. Von den Jugendlichen, die in einer Burg groß wurden, verlangte man Angepasstheit und Konformität, und er war froh, dass ihm dieser Zwang erspart blieb.

Nachdem er die derben Handschuhe im Packsack verstaut hatte, zögerte er, den Raum zu betreten. Er wollte die junge Frau nicht stören, die so in ihre Studien versunken war, dass sie seine Anwesenheit nicht bemerkte.

An deiner Gesellschaft hatte noch nie jemand etwas auszusetzen, meinte sein Drache.

Es widerstrebt mir, jemanden aus seiner Konzentration zu reißen, gab F'lessan zurück. Vielleicht lernt sie ja für einen Beruf, den sie nach dem Ende des Fädenfalls ausüben möchte.

Auf Pern wird man immer Drachen brauchen, behauptete Golanth zuversichtlich.

Golanth wurde nicht müde, auf diesen Umstand hinzuweisen. Fast schien es, als wolle er sich damit selbst Mut zusprechen. Vielleicht lag es an der Denkweise der bronzenen Drachen - oder er ließ sich von Mnementh beeinflussen. Denn F'lars großer Bronzedrache legte Wert darauf, jeden einzelnen Bronzenen, der in Bendens Brutstätte schlüpfte, subtil zu unterrichten.

F'lessan plante indessen nicht, nach F'lar der nächste Weyr-Führer von Benden zu werden. F'lessan hoffte, F'lar möge seinen Status bis zum Ende des Fädenfalls beibehalten. Der Posten des Geschwaderführers behagte F'lessan am meisten, vor allen Dingen jetzt, da er Honshu als seinen Privatbesitz beanspruchte. Wenn F'lar und Lessa später möglicherweise Honshu zu ihrem Ruhesitz auserkoren, käme niemand mehr auf den Gedanken, ihm den Titel streitig zu machen.

Im Gegensatz zur Stellung eines Burgherrn war das Amt des Weyr-Führers nicht erblich. Zum Beispiel waren erst kürzlich R'mart und Bedella aus Telgar abgesetzt worden. Um neuer Weyr-Führer zu werden, musste der Bronzedrache eines Reiters die paarungswillige Jungkönigin befliegen. J'fery, der Reiter des bronzenen Willerth, hatte die Herausforderung bestanden, und Palla, die Reiterin der goldenen Talmanth, war seine Weyr-Herrin. F'lessan kannte die beiden gut und wusste, dass sie dem Telgar-Weyr hervorragend dienen würden, bis es keine Fäden mehr gab, die Pern bedrohten.

Wir dürfen nur nicht übermütig werden und in denselben Fehler verfallen wie unsere Ahnen, dachte F'lessan bei sich. Sowie die Gefahr durch die Fäden endgültig ausgemerzt ist, müssen wir freiwillig auf unsere Privilegien verzichten.

Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Die Stiefel der jungen Frau scharrten über den Steinfußboden, als sie die Knöchel übereinander kreuzte. Mit aufgestützten Ellbogen beugte sie sich über das Lesepult. Das weiche Licht beleuchtete ihr Profil, und er sah, wie sie mit höchster Anspannung die Sternenkarte studierte. Einmal seufzte sie und furchte die Stirn.

Sie war eine ungemein aparte junge Frau. Das mittelbraune, leicht rötlich schimmernde Haar war am Oberkopf kurz getrimmt, um zu vermeiden, dass sie unter der eng anliegenden Reitkappe schwitzte. Das lange, gewellte Nackenhaar reichte bis auf den Rücken und war unten in einer geraden Linie gestutzt. Wohlwollend betrachtete er ihre schmale Nase und die zart geschwungenen Augenbrauen.

Jählings kehrte sie ihm ihr Gesicht zu und merkte, dass sie beobachtet wurde.

»Entschuldige bitte. Ich hatte nicht damit gerechnet, um diese Zeit jemanden hier anzutreffen«, gab F'lessan munter von sich und betrat den Raum. Seine Schuhe aus weichem Leder verursachten auf den Steinplatten kaum ein Geräusch.

Ihre erschrockene Reaktion verriet ihm, dass auch sie gehofft hatte, allein und in Ruhe studieren zu können. Sie stand im Begriff, ihren Stuhl zurückzuschieben, und ehe sie aufstehen konnte, hob er abwehrend die Hand. Die meisten Reiter kannten ihn. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit den beiden südlichen Weyrn gemeinsam gegen die Fäden zu kämpfen, und er fehlte bei kaum einer Gegenüberstellungszeremonie. Er war dabei, weil ihm dieses Prägungsritual gefiel, und bei jeder dieser Gelegenheiten festigten er und Golanth ihre lebenslange Bindung aufs Neue.

Jetzt, da er dem Mädchen direkt ins Gesicht sah, erkannte er sie.

»Du bist Tai, Zaranths Reiterin, nicht wahr?«, fragte er sie und hoffte, dass er sich nicht irrte.

Auf dein Gedächtnis kannst du dich doch verlassen, murmelte Golanth.

Unverhofft hatte sie vor ungefähr fünf Planetenumläufen im Weyr der Monaco Bucht einen grünen Drachen für sich gewonnen. Sie war in den Süden gereist, doch woher sie kam, wusste er nicht mehr. Seit man das Akki damals, im Jahre 2538 nach alter perneser Zeitrechnung, entdeckt hatte, strömten die Menschen in Scharen nach Landing, aber nicht immer, um dort zu bleiben. Er schätzte das Mädchen auf Mitte Zwanzig, und er fragte sich, ob sie wohl während der fünf denkwürdigen Planetenumläufe, in denen das Akki aktiv war, zu einer der Arbeitsgruppen gehört hatte. Immerhin legte das Akki eine ganz besondere Vorliebe für grüne Drachen und deren Reiterinnen an den Tag.

F'lessan streckte ihr zum Gruß die Hand entgegen. Sie blickte verlegen drein und schlug die Augen nieder, sowie sich ihre Finger berührten. Sie hatte einen kräftigen Händedruck, und er spürte, dass ihr Handrücken mit kleinen Schnittwunden übersät war, als hätte sie ihn bei einem Sturz aufgeschürft. Eine Schönheit im klassischen Sinne war sie nicht, sie verströmte auch keine Aura von Sinnlichkeit, wie so viele grüne Reiterinnen, und sie war nur um einen halben Kopf kleiner als er. Außerdem erschien sie ihm zu dünn, doch ihre knabenhafte Figur verlieh ihr einen ganz eigenen Reiz.

»Ich bin F'lessan von Benden, Golanths Reiter.«

»Ja«, gab sie kurz angebunden zurück und maß ihn mit einem durchdringenden Blick. Sie hatte mandelförmige, schräg gestellte Augen, doch da sie gleich darauf wieder die Lider senkte, konnte er ihre Farbe nicht feststellen. Zu seinem Erstaunen errötete sie. »Ich weiß.« Sie schien erst Luft zu holen, ehe sie fortfuhr: »Zaranth erzählt mir, Golanth würde sich bei ihr entschuldigen, weil er ihre Mittagsruhe gestört hat.« Sie bedachte ihn mit einem weiteren verstohlenen Blick, während sie linkisch ihre Hände so fest ineinander verschränkte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

F'lessan setzte sein strahlendstes Lächeln auf. »Golanth ist immer sehr rücksichtsvoll.« Er verbeugte sich und zeigte auf das Buch auf dem Lesepult. »Lass dich von mir nicht stören. Ich verziehe mich nach dort hinten.« Er deutete auf eine entfernte Ecke.

Er konnte ebenso gut in einem Alkoven arbeiten und brauchte den Hauptlesesaal gar nicht zu benutzen. Im Nu hatte er sich drei der Berichte besorgt, in denen er die Informationen, auf die es ihm ankam, zu finden hoffte, und schleppte sie an einen Tisch im Alkoven. Ein schmales Fenster gewährte einen Blick auf die Hügel im Osten und das im Sonnenglast schimmernde Meer. Er nahm Platz, legte den Stapel Dokumente auf das Pult und begann in den alten COM-Tower-Aufzeichnungen zu blättern. Er suchte nach einem ganz bestimmten Namen: Stev Kimmer, der in den Personallisten der Kolonie als Verwalter der Insel Bitkim aufgeführt wurde, wo sich nun Burg Ista befand. F'lessan interessierte sich, welche Beziehung zwischen Kimmer und Kenjo Fusaiyuki bestanden hatte, der als Erster in Honshu gesiedelt hatte.

Während er den urtümlichen Siedlungsplatz von Schutt und Gerümpel reinigte, entdeckte er an mehreren Stellen die eingeritzten Initialen SK. Sie fanden sich auf dem metallenen Arbeitstisch in der Garage, die den alten Flugschlitten beherbergte und auf etlichen Schubfächern. Kein anderer Bewohner der Felsenburg hatte sich mit seinen Initialen verewigt. Die einzige Person, zu der die Buchstaben passten, war Stev Kimmer. Er war nicht bei der Zweiten Überfahrt mit nach Norden gezogen, als die von den Fäden bedrohten Kolonisten sich in Fort niederließen. Recherchen hatten ergeben, dass sich der Mann mit einem Flugschlitten auf und davon machte, nachdem Ted Tubberman einen nicht autorisierten Notruf an die Erde abschickte. Von Stev Kimmer hatte man nie wieder etwas gehört oder gesehen. Der Verlust eines funktionsfähigen Flugschlittens wurde offiziell bedauert, Kimmer selbst schien niemandem zu fehlen.

Interessanterweise hatten F'lessans Nachforschungen ergeben, dass Ita Fusaiyuki in Honshu geblieben war und sich weigerte, mit ihren Kindern in den Norden auszuwandern. Auch andere Kolonisten, wie die Bewohner der Insel Ierne und ein paar Siedler in Dorado, harrten so lange wie möglich im Süden aus. Letzten Endes zogen jedoch alle fort, bis auf die Leute von Honshu. In den frühen Aufzeichnungen von Burg Fort wurde weder der Name Honshu noch die Familie Fusaiyuki erwähnt.

Die Buchstaben S und K waren akkurat eingeritzt oder eingekerbt. F'lessan wollte Proben von Stev Kimmers Handschrift finden, um ganz sicher zu gehen, dass die Initialen ihn betrafen. Ihm war das wichtig. Mit einem Eifer, der ihm gar nicht ähnlich sah, studierte F'lessan die Geschichte von Honshu. Alles interessierte ihn: wer dort gelebt hatte, wann die Bewohner fortzogen, warum sie ihre Heimstatt verließen und wohin es sie trieb.

Honshu war ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie eine neu gegründete Siedlung sich aus eigener Kraft versorgen konnte. Eine Menge Leute hatten dort gelebt, und der Platz hätte noch für viel mehr Menschen gereicht. Etliche Räume waren nie bezogen worden. Doch dann hatten alle ganz plötzlich den Ort verlassen. Der Exodus musste überstürzt stattgefunden haben, das ließ sich aus vielen Einzelheiten schließen. Selbst Kleidungsstücke ließ man zurück, in Schränken hängend oder säuberlich zusammengefaltet in Kommoden.

Nicht einmal Küchenutensilien hatte man mitgenommen. Entweder, weil die Zeit zu knapp wurde, um sie einzupacken, oder weil man sie dort, wohin man ging, nicht brauchte. In Behältnissen fanden sich die üblichen Haushaltsartikel wie Nähnadeln, Scheren und weitere Dinge für den täglichen Gebrauch. Doch nichts deutete darauf hin, dass die Bewohner von außerhalb angegriffen wurden oder an einer jählings über sie hereinbrechenden Krankheit verschieden.

Sämtliche Eingänge zur Festung waren versperrt gewesen, nur das große Tor zur Viehbehausung stand offen. Die Leute von Honshu hatte vor ihrem Abzug die Tiere in Freiheit gesetzt, ihnen aber eine Rückzugsmöglichkeit gelassen.

Seite um Seite las F'lessan die Eintragungen der Tower-Besatzung, die gewissenhaft das Kommen und Gehen der Luftfahrzeuge in Landing notiert hatten. Abermals stieß er auf den Vermerk, dass Kimmer mit einem dringend gebrauchen Flugschlitten getürmt war.

S.K. war an Tubbermans heimlicher Aktion, einen Notruf abzusetzen, beteiligt. Zuletzt wurde er beobachtet, wie er sich nach Nordwesten auf und davon machte. Vermutlich werden wir weder ihn noch den Flugschlitten je wiedersehen. ZO.

F'lessan hatte bereits versucht, Proben von Kimmers Handschrift aus der Zeit zu finden, als er einen Verwaltungsposten in Bitkim bekleidete. Doch weder von ihm noch von Avril Bitra fanden sich schriftliche Notizen über die bergbaulichen Tätigkeiten, obschon man bis auf den heutigen Tag an dieser Stelle nach kostbaren Edelsteinen schürfte.

Resigniert klappte er den letzten Wälzer zu und blickte um Entschuldigung heischend über die Schulter, weil er die Ruhe gestört hatte. Dabei bemerkte er, dass sich auf Tais Lesepult die Bücher stapelten. Er fragte sich, ob sie mit ihren wie auch immer gearteten Recherchen mehr Glück hatte als er. Wenn er den Hals reckte, konnte er die Signatur auf einem Bücherrücken erkennen: Band 35-YOKO 13.20-28. Die letzten vier Ziffern, die den relevanten Planetenumlauf angaben, waren mit rotem Stift auf 2520 abgeändert worden. Eine so penible Korrektur konnte man nur Meister Esselin zutrauen.

Er steckte den Zettel mit den kopierten Initialen S.K. wieder in seine Gürteltasche und stand auf, wobei er Obacht gab, dass der Stuhl nicht geräuschvoll über den Steinboden scharrte. Dann nahm er die Bücher und stellte sie an ihre Plätze auf den Regalen zurück. Einen Augenblick lang verharrte er, die Hände auf die Hüften gestützt, und musterte die Reihen von Bänden mit historischen Aufzeichnungen, die ihm hartnäckig die Lösung für sein Rätsel vorenthielten. Wieso ließ ihm die Frage, was genau es mit Stev Kimmer auf sich hatte, einfach keine Ruhe? Was ging ihn diese längst verstorbene Person an? Doch er hatte sich in dieses Thema verbissen und konnte nicht aufhören zu forschen. Den Grund für seine Hartnäckigkeit verstand er selbst nicht. Er überzeugte sich davon, dass die Bücher auf dem Regalbord säuberlich in Reih und Glied standen. Meister Esselin war sehr eigen und duldete nicht die geringste Nachlässigkeit.

Als F'lessan hörte, dass Tai aufstand und ihren Stuhl zurückschob, drehte er sich um. Er sah, wie sie die monströse Schwarte hochhob, in der sie gelesen hatte. Mit einer eleganten Bewegung wollte sie das Buch auf seinen korrekten Platz im Regal stellen.

»Hoffentlich hattest du mehr Glück als ich«, sagte F'lessan schmunzelnd.

Erschrocken lockerte sie den Griff um den unförmigen Wälzer. Die untere Kante des Buchs verkeilte sich am Regalbrett. Vergebens mühte sie sich ab, es in die Lücke zu schieben. F'lessan dachte daran, wie wütend Meister Esselin werden konnte, wenn jemand seine kostbaren Bücher beschädigte, und eilte dem Mädchen zu Hilfe. Gerade noch rechtzeitig verhinderte er, dass ihr der klobige Foliant aus den Händen glitt und auf dem harten Fußboden landete.

»Ich finde, die Rettungsoperation ist mir geglückt«, meinte er grinsend. Wieso sah sie ihn an, als sei er ein Schurke? Sie fürchtete sich doch nicht etwa vor ihm? »Ich habe das Buch. Darf ich?« Mit einem, wie er hoffte, betont freundlichen Lächeln nahm er ihr das Buch ab und wuchtete es auf das Bord.

In diesem Augenblick sah er die frischen Schürfwunden auf dem Rücken ihrer linken Hand.

»Das sieht ja schlimm aus. Warst du schon bei einem Heiler?«, erkundigte er sich. Er griff nach ihrer Hand, um sich die Verletzung genauer anzuschauen, während er gleichzeitig in seiner Gürteltasche nach dem Fläschchen mit Taubkraut kramte.

Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.

»Tai, habe ich dir wehgetan?« Sofort ließ er sie los. Dann zückte er das grüne Glasfläschchen, in dem Taubkraut aufbewahrt wurde.

»Es ist nichts.«

»Das kannst du mit mir nicht machen«, tadelte er sie in gespieltem Ernst. »Wenn du mich anschwindelst, sage ich Golanth, er soll dich bei Zaranth verpetzen.«

Sie blinzelte nervös. »Aber es ist doch nur ein Kratzer.«

»Wir befinden uns hier im Süden, Tai, und du müsstest wissen, dass sich in diesem warmen Klima selbst die kleinste Wunde entzünden kann.« Er legte den Kopf schräg und überlegte, ob er sich ein einschmeichelndes Lächeln gestatten sollte. Er hielt ihr das geöffnete Fläschchen unter die Nase. »Riechst du das? Gutes, altbewährtes Taubkraut. In diesem Frühling frisch angesetzt. Einen kleinen Vorrat führe ich immer bei mir.« Er sprach in dem Tonfall, den er bei seinen Söhnen angewendet hatte, als sie noch klein waren. Dann streckte er die Hand aus und wackelte auffordernd mit den Fingern, um ihre Schüchternheit zu zerstreuen. »Später, beim Tanzen, packt vielleicht jemand deine Hand ein bisschen zu fest, und dann tut es wirklich weh.« Als hätten die Musikanten auf dieses Stichwort gewartet, steigerte sich die flotte Weise draußen zu einem furiosen Tusch.

Sie gab nach und reichte ihm beinahe demütig ihre Hand. Behutsam ließ er das zähflüssige Taubkraut auf die verletzten Stellen tropfen. Die Schrammen waren nicht besonders tief, verliefen jedoch von den Fingerknöcheln bis zum Handgelenk. Es war leichtsinnig von ihr gewesen, die Kratzer nicht unverzüglich zu versorgen. Dem verkrusteten Blut nach zu urteilen hatte sie sich die Wunden bereits vor mehreren Stunden zugezogen. Wieso hatte sie sie ignoriert?

Sie schnappte nach Luft, als das kühlende Taubkraut über den Handrücken floss. Geschickt drehte F'lessan ihre Hand hin und her, damit die heilende Flüssigkeit sich überallhin verteilte.

»Bei den Feiern zum Ende eines Planetenumlaufs benötigen die meisten Leute eher Fellis-Saft als Taubkraut, um ihren Kater zu lindern«, probierte er einen kleinen Scherz. Gleich darauf hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen, weil ihm diese taktlose Bemerkung entschlüpft war. »So, das hätten wir. Jetzt kann sich die Wunde nicht mehr entzünden.«

»Ich hatte die Verletzung nicht beachtet, weil ich ziemlich in Eile war.« Ihr Blick wanderte durch den Lesesaal.

»Du wolltest wohl ungestört deinen Studien nachgehen.« Er schmunzelte. »Das Gleiche kann ich von mir behaupten. Einen Augenblick noch«, hielt er sie zurück, als sie sich zum Gehen wandte. »Lass das Taubkraut erst ein Weilchen einwirken.«

Er rückte ihr einen Stuhl zurecht und bedeutete ihr, sie möge Platz nehmen. Für sich selbst drehte er einen Stuhl um, sodass er sich rittlings darauf setzen und die Arme auf der Lehne abstützen konnte. Tai legte die Hand auf eine Tischplatte und sah zu, wie sich die klare Flüssigkeit auf ihrem Handrücken zu einem milchigen Weiß verfärbte. Derweil überlegte F'lessan, wie er ein Gespräch mit dem Mädchen in Gang halten konnte, ohne sie misstrauisch zu machen oder sie zu verprellen. Normalerweise fiel es ihm leicht, mit anderen Menschen Kontakte zu knüpfen. Er fing an, sich zu fragen, ob er einen Fehler begangen hatte, als er sie im Lesesaal angesprochen hatte. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, er hätte ihr keine Beachtung geschenkt und sich in aller Stille seinen Büchern gewidmet.

Dann fiel bei ihm der Groschen. Auf einmal verstand er, wieso sie sich in die Aufzeichnungen der Yoko vertieft hatte.

»Darf ich fragen, warum du dich für die Geister interessierst?«

Vor Verblüffung klappte sie den Mund auf.

Er zuckte beiläufig die Achseln. »Aus welchem anderen Grund sollte sich jemand am Ende des Planetenumlaufs diese alten Sternenkarten ansehen? Zu dieser Zeit erscheinen die Geister scharenweise am Himmel.«

Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen, und dann platzte sie heraus: »Meister Wansor beauftragt mich oft mit Nachforschungen. Er hatte gehört, dass die Geister - die wir von hier aus zwar nicht beobachten können - aber das weißt du ja, weil du aus Benden stammst …« Sie brach ab und schluckte hart, als hätte sie etwas Ungehöriges gesagt.

»Ja, mir ist bekannt, dass man sie auf der südlichen Halbkugel nicht sehen kann. Und ich weiß auch, dass sie zurzeit besonders zahlreich und ungewöhnlich hell sind. Beim Beobachten des Himmels ist es mir selbst aufgefallen«, erzählte er, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen. »Aber da ich mein Leben lang im Benden-Weyr wohnte, kann ich mich erinnern, dass sie auch früher schon in regelrechten Schauern vom Himmel regneten und dabei einen ungemein grellen Glanz abstrahlten. Ich habe mich mit Astronomie befasst. Was meinst du, könnte ein Drachenreiter aus Benden, der in Himmelskunde nicht ganz unbewandert ist, dir eventuell helfen?«

»Persönliche Beobachtungen kommen immer gelegen«, gab sie geziert zurück. »Manche Leute haben festgestellt«, fuhr sie fort und deutete auf die Bücher, die noch auf dem Lesepult lagen, »dass die Geisterschwärme ungefähr alle sieben Planetenumläufe den nördlichen Himmel beherrschen. Sie erscheinen zu Hunderten und leuchten unglaublich hell. Offenbar handelt es sich um ein zyklisch wiederkehrendes Phänomen.«

»Das stimmt. Als ich drei war, sah ich die hübschen Lichter zum ersten Mal und fragte, was das für Sterne seien, die vom Himmel fielen. Und jetzt beobachte ich dieses Naturschauspiel zum fünften Mal. Warte, ich sortiere die schweren Bücher für dich ein. Du solltest deine verletzte Hand schonen.«

Als er merkte, dass sie zögerte, stapelte er fünf Bände aufeinander und trug sie zu dem Regal, in das sie hineingehörten. Hastig sammelte sie die restlichen Wälzer ein.

»Hattest du mit deinen Nachforschungen Erfolg?«, fragte sie, nachdem alle Bücher wieder an ihrem Platz standen.

»Leider nein«, erwiderte er. »Aber vielleicht gibt es keine Quelle, wo ich fündig werden könnte.«

»Bei so vielen Büchern müsste es doch Hinweise geben.« Sie deutete auf die vollen Regalwände, die sie umgaben.

»Das Akki war auch nicht allwissend«, erwiderte er. Sie prallte sichtlich zurück. »Das ist keine ketzerische Bemerkung«, wiegelte er ab. »Denn alles, was nach der Zweiten Überfahrt geschah, konnte ja nicht mehr in die Datenspeicher eingegeben werden.«

»Natürlich. Da hast du Recht.«

In ihrer Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit, den er nicht zu deuten vermochte.

»Möglicherweise gibt es auf meine Frage keine Antwort.«

»Um welche Frage handelt es sich denn?«

Er freute sich über ihr Interesse. »Ich suche Auskünfte über bestimmte Initialen.« Rasch zog er den Zettel mit den beiden kopierten Lettern aus seiner Gürteltasche. »S.K.« Vorsichtig strich er das Papier glatt und zeigte es ihr. Sie fürchte die Stirn und starrte auf die Buchstaben. »Ich glaube, sie stehen für Stev Kimmer.«

Sie blinzelte verdutzt. »Wer soll das gewesen sein?«

»Der Mann war ein richtiger Schuft …«

»Ach so! Du meinst den Stev Kimmer, der mit einem Flugschlitten abhaute, nachdem Tubberman die Sonde mit dem Notruf zur Erde schickte?«

»In Geschichte kennst du dich gut aus.«

Sie errötete und senkte den Kopf. »Ich hatte das Glück, in der Schule von Landing aufgenommen zu werden.«

»Tatsächlich? Vermutlich hatten die Lehrer mehr Freude an dir als an mir. Ich war ein lausiger Student.«

»Damals warst du doch schon ein Drachenreiter«, hielt sie ihm entgegen und hob den Blick. Dabei sah er, dass sie wunderschöne grüne Augen hatte.

Er schmunzelte. »Das bedeutet nicht, dass man automatisch wissbegierig ist. Wenn du jetzt noch in alten Wälzern herumstöberst, musst du den Wunsch haben, dich ständig weiterzubilden. Bist du nach dem Schulabschluss in Landing geblieben?«

»Ja«, antwortete sie. »Ich hatte in jeder Hinsicht Glück. Das kam nämlich so«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort. »Mein Vater brachte uns alle von Keroon hierher. Er war Schmiedegeselle und fand hier Arbeit.«

»Aha!«

»Meine Brüder gingen bei ihm in die Lehre, und meine Mutter meldete mich und meine Schwester in der Schule an. Wir bestanden beide die Aufnahmeprüfung. Aber meine Schwester hielt nicht viel vom Lernen.«

»Da ist sie nicht die Einzige«, murmelte F'lessan. Der verständnislose Blick, den sie ihm zuwarf, ließ ihn vermuten, dass ihr das Lernen leicht fiel. »Und wie ging es weiter?«, hakte er nach.

»Später nahm Meister Samvel mich unter seine Fittiche und machte mich zu seiner Assistentin. Mein Vater suchte nach einem guten Platz zum Siedeln und zum Aufbau einer eigenen Werkstatt und zog mit der gesamten Familie von Landing fort.«

Sie ließ die Schultern hängen und blickte so bekümmert drein, dass F'lessan mutmaßte, sie habe von ihren Angehörigen seitdem nichts mehr gehört.

»Hat man nach deinen Leuten gesucht?«

»Und wie!« gab sie vehement zurück. »T'gellan schickte ein ganzes Geschwader los, um nach ihrem Verbleib zu forschen.« Abermals senkte sie die Lider.

»Vermutlich ohne Ergebnis, wie?«, fragte er teilnahmsvoll.

»Man entdeckte von ihnen nicht die geringste Spur. Alle waren damals sehr freundlich zu mir. Bei Meister Wansor ging ich in die Lehre. Ich lese ihm immer noch vor. Er mag meine Stimme.«

»Das kann ich verstehen«, räumte F'lessan ein. Ihm war bereits aufgefallen, dass Tai eine ausdrucksvolle, melodische Stimme besaß.

»Deshalb hielt ich mich bei der Gegenüberstellungszeremonie im Weyr der Monaco Bucht auf und gewann Zaranth für mich.«

»Hast du Wansor während der Feierlichkeiten vorgelesen?«, zog er sie schmunzelnd auf.

Sie lachte. »Nein. Ich sollte ihm schildern, was sich in der Brutstätte abspielte. Und damit ich alles mitbekam, hatten wir Plätze dicht am Gelege.«

F'lessan grinste. »Ja, daran kann ich mich erinnern. Meister Wansor musste dich in Zaranths Richtung schubsen. Du wusstest nicht, wie du dich verhalten solltest - auf den Jungdrachen zugehen oder Meister Wansor erzählen, was sich da abspielte.«

Ihre Augen strahlten, als sie an den freudigen Augenblick dachte, da Zaranth sie zu ihrer Partnerin erwählte. Jeder, der einen Drachen auf sich prägen konnte, fasste diesen Vorgang als ein unfassbares, ungemein beglückendes Wunder auf. Beide lächelten einander an, jeder seinen Erinnerungen nachhängend.

»Und du gehst weiterhin deinen Studien nach?«, erkundigte sich F'lessan.

»Warum auch nicht?«, antwortete sie. »Studieren und sich Wissen aneignen ist eine gute Beschäftigung für eine Drachenreiterin.«

Nach einer Pause fragte sie übergangslos: »Hast du es schon mal mit der Charta versucht?«

»Wie bitte?«

Sie zeigte auf den Kasten, in dem die Originalcharta der Kolonie von Pern aufbewahrt wurde.

»Kimmer gehörte doch zu den Siedlern, die die Kolonie gründeten, nicht wahr?«, fuhr sie fort. »In diesem Fall muss seine Unterschrift irgendwo zu finden sein, auch wenn er lediglich den Status eines Konzessionärs oder Unternehmers einnahm.«

F'lessan sprang so hastig auf die Füße, dass sein Stuhl beinahe umkippte.

»Wieso bin ich nicht von selbst darauf gekommen?«, rief er aus. Er eilte zu dem luftdicht verschlossenen Schrank, der das älteste und wichtigste Dokument auf ganz Pern beherbergte.

In einer feierlichen Zeremonie hatte Burg Fort die Charta nach Landing zurückgebracht. Bevor das Akki sich selbst wieder aktivierte, hatte niemand geahnt, was sich in dem wuchtigen Kasten befand, der in einer abgelegenen Felsenkammer der Burg verstaubte. Und nur das Akki kannte die richtige Zahlenkombination des Schlosses. Als man den Behälter öffnete, entdeckte man die Charta, die keinerlei Spuren von Alter oder Zerfall aufwies. Meisterholzschnitzer Benelek hatte nach gründlicher Untersuchung erklärt, die mit einer durchsichtigen Kunststoffschicht überzogenen Seiten seien praktisch unverwüstlich und nur durch mechanische Gewalteinwirkung zu zerstören. Nun bewahrte man die Charta hinter dicken, durchsichtigen Glasscheiben auf, die Meister Morilton hergestellt hatte. Ein vom Akki entworfener Mechanismus blätterte die einzelnen Seiten bis zu der vom Betrachter gewünschten Textstelle um.

»Die Anfangsbuchstaben des Namens müssten sich gewiss wiedererkennen lassen, egal, ob sie nun in Blockschrift irgendwo eingeritzt oder handschriftlich verzeichnet sind«, sinnierte F'lessan. »Ich danke dir, Tai. In Punkto Recherchieren bist du mir allemal überlegen.« Er bedachte sie mit einem anerkennenden Lächeln. »Am Besten, ich sehe mal auf den letzten Seiten nach. Ah, da haben wir's ja … Konzessionäre …« Er biss sich auf die Unterlippe, während die Blätter mit den Unterschriften auftauchten, viele von ihnen ein nahezu unleserliches Gekritzel. Es gab drei separate Listen: Eine mit den Namen der Konzessionäre, eine zweite, längere, enthielt die Namen der Unternehmer, und die dritte führte sämtliche Kinder über fünf Jahren auf, die mit ihren Eltern auf den Kolonistenschiffen nach Pern gereist waren.

»Da!«, rief Tai und tippte mit dem Zeigefinger gegen das Glas, sodass er auf Anhieb den kühn geschwungenen Namenszug fand: Stev Kimmer, Ing.

F'lessan verglich die Handschrift mit den Initialen auf seinem Zettel.

»Das muss er sein«, meinte Tai und las die Namensliste vollständig durch. »Es findet sich kein zweiter S.K. darunter.«

»Du hast Recht! Du hast Recht! Endlich habe ich die Gewissheit!« In seiner Begeisterung fasste F'lessan Tai um die Taille und wirbelte sie herum. »Entschuldige, ich hab mich wohl etwas zu sehr gehen lassen«, murmelte er dann verschämt und stellte sie wieder auf die Füße.

Sie taumelte ein wenig, und stützend legte er ihr einen Arm um die Schultern.

»Danke. Du warst mir eine große Hilfe. Offenbar hatte ich mich so in mein Problem verrannt, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah.« Er verbeugte sich andeutungsweise.

Sie lächelte stolz und zeigte ihre weißen, ebenmäßigen Zähne, die sich vorteilhaft gegen ihren bräunlichen Teint abhoben.

»Wieso war es für dich so wichtig, herauszufinden, wer sich hinter den Initialen S.K. verbarg?«

»Willst du das wirklich wissen?«

Ihr Lächeln zog sich in die Breite, und in ihren Wangen bildeten sich zwei entzückende Grübchen.

»Wenn es einem Drachenreiter wichtiger ist als …« - mit dem Kinn deutete sie in die Richtung, aus der laute Tanzmusik erklang - »die Festlichkeiten zum Ende des Planetenumlaufs, dann muss es wohl von sehr großer Bedeutung sein.«

Er schmunzelte. »Du bist doch auch eine Drachenreiterin. Warum bist du dann hier?«

»Du bist aber F'lessan und ein Bronzereiter.«

»Und du bist Tai und eine grüne Reiterin«, konterte er.

Die Grübchen verschwanden, und sie wandte den Blick von ihm ab.

Du bist ein Bronzereiter und du bist F'lessan. Sie ist in erster Linie schüchtern, hörte er Golanths Stimme in seinem Kopf. Zaranth sagt, sie möchte einen Beruf erlernen, den sie ausüben kann, wenn die Fäden nicht mehr fallen. Sie will nie wieder von jemandem abhängig sein.

In dieser Hinsicht denkt sie wie alle Drachenreiter. Wir sind halt ein selbstständiges Völkchen, gab F'lessan zurück.

Aber sie möchte auch nicht auf andere Drachenreiter angewiesen sein. Wie es in einem Weyr notgedrungen der Fall ist, ergänzte Golanth. Er klang ein bisschen pikiert. Offenbar passte Tais Freiheitsdrang ihm nicht.

»Ich glaube, das Taubkraut hat jetzt seine Wirkung getan«, meinte F'lessan, um das Thema zu wechseln. »Ich für meinen Teil bin hungrig und durstig. Zwar möchte ich viel lieber nach Honshu zurück, aber ich muss mich draußen bei den anderen Gästen blicken lassen.«

»Ist das nicht der Ort, an den sich Stev Kimmer zurückzog? Honshu? Wieso ließ er sich ausgerechnet dort nieder?«

»Das ist ja ein Teil des Rätsels, das ich zu lösen versuche«, erwiderte F'lessan. »In Honshu fand ich an vielen Stellen seine Initialen, doch in den Aufzeichnungen, die Ita Fusaiyuki noch einige Monate nach Kenjos Tod weiterführte, wird sein Name kein einziges Mal erwähnt.«

»Starb Ita Fusaiyuki in Honshu?«

Er schüttelte den Kopf, und gemeinsam schlenderten sie langsam zur Tür.

»Das weiß ich nicht. Die Akki-Dateien enthielten Botschaften, die an sie abgeschickt wurden. Man legte ihr dringend nahe, nach Landing zurückzukehren und zusammen mit den anderen Kolonisten nach Norden auszuwandern. Also war sie während der Zweiten Überfahrt noch am Leben.«

»Warte, ich habe versprochen, die Tür zu verriegeln.« Tai blieb in der Eingangshalle stehen und aktivierte die Alarmvorrichtung.

F'lessan nickte. Sämtliche Archive, gleichgültig, ob sie sich in einer Festung oder einer Zunfthalle befanden, waren gegen unbefugte Eindringlinge gesichert. Man wollte nicht riskieren, dass das kostbare Material, das dort aufbewahrt wurde, irgendwelchen unabsichtlichen oder gar absichtlichen ›Unglücksfällen‹, zum Opfer fiel.

Draußen, auf dem obersten Treppenabsatz, blieben sie stehen. Sie hatten so lange im Archiv verweilt, dass die tropische Nacht herabgesunken war. Unter ihnen war das Fest in vollem Gange. Lichter glänzten, Menschen in ihrem besten Feiertagsstaat tanzten, flanierten oder plauderten miteinander, die Musiker spielten voller Enthusiasmus. Von den Kochgruben her wehte ein köstliches Aroma herüber. Auf den Zinnen und Klippen funkelten Drachenaugen wie Lampions, und die bläuliche Farbe verriet dem Betrachter, dass auch sie die Festlichkeiten genossen. Die Kapelle schmetterte ein mitreißendes Finale, und in der eintretenden musikalischen Pause vernahm man das Lachen und Scherzen der Feiernden.

»Die Harfner schicken sich an, das Podium zu verlassen«, erklärte F'lessan. Er rieb sich die Hände. »Also bleibt uns genügend Zeit, um in aller Ruhe zu speisen.«

Prüfend fasste er Tai ins Auge. Der Größe nach wäre sie die ideale Tanzpartnerin für ihn. Er fürchtete nur, sie könnte ihm einen Korb geben, wenn er sie um einen Tanz bat.

»Ich bin ebenfalls hungrig«, räumte sie ein.

Ihn ritt der Übermut, und ihm kam eine Idee. »Ich mache dir einen Vorschlag, Tai. Wir veranstalten ein Wettrennen. Wer als Erster bei den Kochgruben ist, hat gewonnen.« Und schon flitzte er los. Er hörte, wie sie ihm lachend hinterhersetzte.

Tai, die wesentlich mehr über den Geschwaderführer F'lessan wusste, als er ahnte, staunte über sich selbst, als sie die Herausforderung annahm. Obwohl er den Ruf genoss, ein Bruder Leichtfuß und ein Taugenichts zu sein - es war nicht zuletzt Mirrim, die diese abträglichen Gerüchte schürte -, hatte er sich ihr gegenüber sehr rücksichtsvoll und höflich verhalten. Sie hatte sich gewundert, dass er sich in der Bibliothek so gut auskannte. Und ihm verdankte sie es, dass sie keinen Rüffel von Meister Esselin fürchten musste, der seine eigenen Vorstellungen von der richtigen Lektüre für Drachenreiter pflegte. Besonders auf grüne Reiterinnen hatte er einen Pik.

Nachdem Tai zum ersten Mal mit dem selbstherrlichen Archivar aneinander geraten war, erzählte Mirrim ihr, wie gemein er sich ihr gegenüber benommen hatte. Der unschöne Vorfall ereignete sich kurz nach der Entdeckung des Akki, und Meisterharfner Robinton fühlte sich damals bemüßigt, den Streit zu schlichten und für Mirrim Partei zu ergreifen. Hauptsächlich, um dem großspurigen, pedantischen Meister Esselin nicht zu begegnen, suchte sich Tai die ungewöhnlichsten Zeiten für ihre Studien aus.

Vom Archiv führte ein breiter Weg zum Festplatz. Die Anlage war gut beleuchtet, sodass man nicht sonderlich Acht geben musste, wohin man trat. F'lessan erreichte als Erster das Akki-Gebäude; unwillkürlich verlangsamte er sein Tempo und blickte geradezu ehrfurchtsvoll in diese Richtung. Tai wusste, dass er sich von Anfang an intensiv mit dem Akki beschäftigt hatte, deshalb war seine Nostalgie verständlich. Auch sie kam nicht umhin, das Bauwerk, das das Akki beherbergte, mit einer Art frommer Scheu zu betrachten. Dann sprintete F'lessan erneut los, und sie bemühte sich, ihn einzuholen. Sie war eine gute Läuferin. Alle Drachenreiter hielten sich durch Sport fit, und um die Wette zu rennen war eine ausgezeichnete Übung.

Unverhofft prallte sie gegen F'lessan, der hinter einer Wegbiegung jählings stehen geblieben war, weil vor ihm ein Liebespaar so hingebungsvoll schmuste, dass die beiden von ihrer Umwelt nichts mehr wahrnahmen. Tai verlor die Balance und wäre gestolpert, hätte F'lessan sie nicht geistesgegenwärtig festgehalten.

Mirrims dunklen Andeutungen zum Trotz, F'lessan sei ein Frauenheld und jage jedem Weiberrock hinterher, hielt er Tai nicht länger in seinen Armen als unbedingt nötig. Mit schalkhaft blitzenden Augen deutete er auf das eng umschlungene Paar, das selbstvergessen Zärtlichkeiten austauschte.

»Liebende soll man nicht stören«, flüsterte er Tai zu, und sie machten einen großen Bogen um das turtelnde Pärchen. Den Wettlauf vergessend, marschierten sie einträchtig Seite an Seite zu den Kochgruben, über denen ganze Herdentiere an wuchtigen Spießen brieten.

In Landing wehte immer eine Brise, und das linde Lüftchen trocknete die Schweißperlen auf Tais Stirn, während sie mit F'lessan vor einer Kochstelle stand, um ihr Essen in Empfang zu nehmen. Die Menschen, die sich kurz zuvor noch auf der Tanzfläche getummelt hatten, reihten sich hinter ihnen in die Schlange. Als Tai und F'lessan ihre Teller mit Rostbraten, gegrilltem Geflügel und Gemüse füllten, drängten sich die Gäste in Scharen um die Kochgruben.

»Wo möchtest du sitzen?«, fragte F'lessan und blickte in die Runde.

»Ich nehme an, du wirst dich zu deinen Freunden setzen.«

»Im Augenblick sehe ich niemanden hier, auf dessen Gesellschaft ich besonderen Wert lege. Im Übrigen kam ich allein hierher, weil ich noch in der Bibliothek stöbern wollte. Sieh mal, da drüben ist ein freier Tisch.« Mit lauter Stimme rief er: »He, Geger!« Ein Weinschenk schaute in ihre Richtung. »Könntest du uns bitte bedienen?« F'lessan zeigte auf den Tisch, den er ausgesucht hatte, umfasste mit der freien Hand Tais Ellbogen und bugsierte sie an den Tisch.

Gleichzeitig mit ihnen kam der Weinschenk dort an.

»Was möchtest du trinken? Weißwein oder Rotwein?«, erkundigte sich F'lessan bei Tai, ehe er sich an den Weinschenk wandte. »Gibt es Wein aus Benden, Geger?«

»Für dich kann ich welchen besorgen, F'lessan.« Der Weinschenk stieß einen schrillen Pfiff aus. Auf der anderen Seite des Platzes, wo an einem Stand die Weinschläuche zur Begutachtung aushingen, hob ein anderer Weinschenk den Kopf und blickte aufmerksam zu ihnen herüber. Geger gab ihm ein paar Handzeichen, die mit einem verstehenden Wink zur Kenntnis genommen wurden. »Das macht dann drei Marken, Bronzereiter.«

»Was?«, platzte F'lessan heraus.

»Ich zahle für mich selbst«, warf Tai hastig ein und angelte nach ihrer Geldtasche.

»Das ist glatter Raub, Geger. Vom Erzeuger hätte ich den Wein für den halben Preis bekommen.«

»Dann hättest du dir welchen mitbringen sollen, F'lessan. Im Übrigen sind drei Marken für gekühlten Weißwein aus Benden kein zu hoher Preis«, näselte der Weinschenk herablassend.

»Drei Marken sind drei Marken!«

»Ich bezahle …« setzte Tai von Neuem an, doch F'lessan winkte ab.

»Geger und ich sind alte Freunde«, erklärte er lachend. »Nicht wahr, alter Freund?«

»Selbst einem alten Freund verkaufe ich einen gekühlten Benden-Wein - und das noch auf einem großen Fest - nicht unter Preis. Drei Marken sind nicht zu viel verlangt«, erwiderte Geger ungerührt.

»Nimmst du Benden-Marken?«, erkundigte sich F'lessan mit vorgerecktem Kinn.

»Benden-Marken sind die besten. Fast so gut wie die Währung der Harfnerhalle.«

F'lessan reichte Geger die drei Marken, als der andere Weinschenk mit dem Weinschlauch anrückte.

»Amüsiert euch gut«, wünschte Geger ihnen, salutierte lässig vor F'lessan und zwinkerte Tai verschmitzt zu.

»Nun ja«, meinte F'lessan, den großen Weinschlauch mit Kennermiene betastend, »die richtige Temperatur hat er ja.« Er zog den Stöpsel und bedeutete Tai, zwei von den Gläsern, die auf dem Tisch standen, bereit zu stellen. Geschickt goss er den Wein ein, steckte den Stöpsel in die Öffnung zurück und legte den Schlauch unter den Tisch. »Auf dass die Himmel von Pern sicher sein mögen!«, prostete er Tai mit dem traditionellen Trinkspruch zu. Rasch stieß sie mit ihm an.

»Ich glaube, das ist tatsächlich ein Dreißiger«, mutmaßte er nach dem ersten vorsichtigen Schluck. Dann grinste er breit. »Weißt du, für diesen Jahrgang sind drei Marken wirklich angemessen.«

Er machte seine Bemerkung, als sie zum ersten Mal an dem Wein nippte, und vor Verblüffung hätte sie sich beinahe verschluckt. Drei Marken waren für sie ungeheuer viel Geld, und allein hätte sie sich einen so teuren Wein niemals leisten können. Eigentlich hatte sie sich überhaupt nicht lange auf dem Fest aufhalten wollen. Ursprünglich war nur ein kleiner Imbiss zur Stärkung eingeplant, dann wollte sie ein Weilchen der Musik zuhören und früh mit Zaranth in ihren eigenen Weyr drunten an der Monaco Bucht zurückkehren. Auf gar keinen Fall durfte sie viel Geld ausgeben, denn sie war immer knapp bei Kasse, obwohl sie als grüne Reiterin Briefe und kleine Pakete an fast jeden Ort auf dem Südkontinent liefern durfte. Damit konnte sie sich ein kleines Zubrot verdienen, wenn sie nicht gerade mit ihren Pflichten im Weyr beschäftigt war oder für Meister Wansor, der auf dem Landsitz an der Meeresbucht wohnte, wissenschaftliche Recherchen durchführen musste.

»Vielen Dank für die Einladung, Bronzereiter«, sagte sie.

»Für dich bin ich F'lessan«, stellte er richtig.

Sie wusste nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte.

»Lass uns jetzt essen«, schlug er vor und zog sein Gürtelmesser aus der Scheide. »Dem appetitlichen Duft nach haben die Köche aus Landing ihre ganz spezielle Sauce angerichtet. Etwas Köstlicheres gibt es gar nicht.«

Tai schwieg, nahm sich eine Gabel und begann mit den gerösteten Erdknollen, ihrer Leibspeise.

Einen so guten Wein hatte sie noch nie getrunken, und auch das Essen war das Beste, das sie je gekostet hatte.

»Wie geht es eigentlich deiner Hand?«, fragte F'lessan nach einer Weile.

»Meiner Hand?« Tai blickt darauf. »Ach, von der Verletzung merke ich gar nichts mehr. Noch einmal vielen Dank für das Taubkraut. Normalerweise habe ich auch welches bei mir. Nur heute nicht …« Sie verwahrte einen großen Krug mit der schmerzstillenden und heilenden Salbe in ihrem Weyr, doch sie besaß kein Fläschchen, das klein genug war, um in ihre Gürteltasche zu passen.

»Wie hast du dir die Schrammen denn zugezogen?«

»Ach, das wird passiert sein, als ich Zaranth heute Nachmittag abschrubbte. Sie hatte Beute geschlagen und benötigte ein ausgiebiges Bad.« Die Jagd und das Baden hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als Tai ursprünglich eingeplant hatte. Und da in den Archiven an einem so bedeutenden Fest wie diesem vermutlich niemand saß und studierte, war sie ganz erpicht darauf gewesen, in die Bibliothek zu gelangen. In ihrer Eile hatte sie nicht Obacht gegeben, als sie die harte Bürste, mit der sie Zaranth abschrubbte, im klaren Wasser ausspülte, und sich an einem mit Entenmuscheln überwucherten Felsen die Hand verletzt.

»Wo befindet sich dein Weyr?«, erkundigte sich F'lessan. »Direkt an der Küste oder weiter im Binnenland?«

Tai versuchte, auf die Frage nicht verschnupft zu reagieren. Bronzereiter, die Zaranth als mögliche Partnerin für ihren Drachen ins Auge fassten, wollten immer wissen, wo sie wohnte. Aber bei Zaranth würde es noch eine Weile dauern, bis sie wieder in Hitze kam. »An der Küste«, antwortete sie obenhin und versuchte sogleich, vom Thema abzulenken. »Verbringst du viel Zeit in Honshu?«

»An der Küste?«, hakte er nach. »Dann siehst du sicher oft die Delfine von Monaco.«

Sie entspannte sich wieder. Vielleicht war sie zu misstrauisch. »Ja, allerdings.« Sie lächelte. Immer, wenn sie an die Delfine, ihre Freunde, dachte, hob sich ihre Laune. Auch F'lessan blickte vergnügt drein. Mirrim hatte Recht, wenn er lächelte, sah er ungemein sympathisch aus.

»Natua hat ein Junges. Ein männliches Tier. Sie stellte ihren Nachwuchs Zaranth und mir vor«, erzählte sie bereitwillig.

»Na so was.« F'lessan schien aufrichtig erfreut. »Golanth und ich müssen uns die Zeit nehmen, das Junge zu bewundern.«

»Sie wird ihn euch gern vorführen. Sie ist sehr stolz auf ihren Nachkommen.«

»Die Delfinschulen von Readis und vom Landsitz an der Meeresbucht sind mir besser vertraut«, erklärte er.

»Das weiß ich«, erwiderte sie.

»Kein Wunder.« Er fasste sie listig ins Auge. »Delfine sind die zuverlässigsten Verbreiter von Klatschgeschichten. Und in Punkto Schnelligkeit übertreffen sie den flinksten Kurier. Auf diesem Planeten gibt es zu viele Tiere, die mit uns Menschen kommunizieren.«

Sie kicherte. »Wir haben Glück, dass die Feuerechsen nicht sprechen können.«

»Ein wahrer Segen«, pflichtete er ihr bei. »Schlimm genug, dass sie singen.«

»Aber sie trällern doch in einem wunderbaren Diskant.«

»Wenn du meinst«, erwiderte er großzügig.

Sie wusste, dass Lessa, F'lessans Mutter, eine Abneigung gegen Feuerechsen hegte. Mirrim zufolge lag das daran, dass anfangs niemand die Kreaturen zu zähmen vermochte, als sie nach Benden kamen. Ob er die Antipathie seiner Mutter teilte? Sie überlegte sich eine passende Entgegnung, doch abrupt schnitt er ein neues Thema an.

»Warum interessierst du dich für die Sternkarten des Rubkat-Systems?«

»Nun ja, ich werde oft losgeschickt, um bestimmte Daten anhand der Originalkarten zu überprüfen. Dieses Kartenmaterial ist viel zu wertvoll, um ausgeliehen zu werden. Also muss ich mich hierhin begeben.«

»Ach ja, der gute Meister Esselin …«

Sie errötete. »Er mag mich nicht, obwohl Meister Stinar mich damit betraut, die neuesten Informationen von der Yoko zum Landsitz an der Meeresbucht zu befördern. Ich übernehme häufig Botenflüge, da ich nur eine grüne Reiterin bin.«

»Sag so etwas nicht, Tai. Du bist nicht geringer als die anderen Drachenreiter.« Sie erschrak ein bisschen über seinen leidenschaftlichen Ton. »Ich spreche jetzt als Geschwaderführer zu dir, Tai. Ein Drachenkontingent kann gar nicht genug grüne Reiterinnen haben. Außerdem ist Meister Esselin ein aufgeblasener alter Wicht. Ignoriere ihn einfach.«

»Das geht nicht. Aber wie ist es mit dir? Hattest du nicht auch gehofft, ihn heute nicht im Archiv anzutreffen?«

»Recht hast du.« Er beugte sich vor und flüsterte komplizenhaft: »Für mich hat er auch nichts übrig. Er missbilligt, dass Honshu jetzt mir gehört.«

»Du hast Honshu doch entdeckt.«

»Allerdings.« Er nickte zufrieden. »Und ich verstehe mich als Hüter seiner Schätze.«

»Das habe ich gehört.«

»Dann spricht man zur Abwechslung auch mal etwas Gutes über mich?«, neckte er sie.

Sie merkte, dass er sie aufzog, und ihr war gleichfalls bewusst, dass sie viel zu ernst war. Selbst Mirrim ermunterte sie, mehr aus sich herauszugehen, doch sie beherrschte nicht die Kunst der leichtherzigen Plauderei. Derweil holte F'lessan den Weinschlauch unter dem Tisch hervor.

»Noch einen Schluck Wein?«, schlug er vor.

Sie hielt ihm ihr leeres Glas hin.

»Teilt Erragon dich auch zu Nachtwachen im Landsitz an der Meeresbucht ein?«, erkundigte sich F'lessan.

»Ja. Ich besitze ein gutes Gespür für Zeit.« Erragon und Mirrim lobten beide ihre penible Gewissenhaftigkeit.

»In der Astronomie ist die Zeit ein entscheidender Faktor.«

Sie staunte, dass er das wusste.

»Hast du dich viel mit Astronomie befasst?«

»Leider nein. Aber ich bemühe mich, so viel Wissen wie möglich zu sammeln.« Seine übermütige Stimmung war verflogen und hatte einer ernsthaften Haltung Platz gemacht. »Nicht zuletzt, weil wir Drachenreiter uns für die Zukunft eine Beschäftigung suchen müssen, die unseren Lebensunterhalt sichert. Man muss schon jetzt Vorsorge treffen für die Zeiten, wenn es keinen Fädenfall mehr gibt.«

»Als Besitzer von Honshu wirst du immer genug zu tun haben.«

»Ja. Ich verfolge große Pläne mit dieser Festung.« Er schwieg eine Weile und blickte versonnen auf einen imaginären Punkt in der Ferne. Dann stand er abrupt auf. »Ich hole uns jetzt noch etwas zu essen, ehe vom Rostbraten nichts mehr übrig ist.«

Sie selbst hätte nie die Courage aufgebracht, einen Nachschlag zu verlangen, doch ehe sie einen Einwand erheben konnte, nahm F'lessan ihren Teller und zog in Richtung der Kochstellen los. Tai sah zu, wie er munter mit dem Koch plauderte, der große Bratenscheiben auf die Teller legte.

An sämtlichen Tischen drängten sich nun aufgeräumt lärmende Gäste und genossen das köstliche Festmahl. Obwohl mehrere Leute F'lessan freundliche Grüße zuriefen, als er zu Tai zurückkehrte, blieb er kein einziges Mal stehen, um mit einem Bekannten zu schwatzen. Er war ganz anders, als Mirrim ihn Tai gegenüber dargestellt hatte. Ihr zufolge war F'lessan in Benden für seine wilden Streiche berüchtigt gewesen. Nun ja, dies lag schon eine Weile zurück, und nachdem er Drachenreiter wurde, schien er ohnehin viel umgänglicher geworden zu sein.

In seinem Naturell gab es auch eine ernsthafte Seite, das stand für Tai fest, trotz des übermütigen Funkelns seiner Augen. Vor diesen blitzenden Augen müsse sie sich hüten, hatte Mirrim sie gewarnt, in mancher Hinsicht sei F'lessan halt der typische Bronzereiter. Tai spielte mit dem Gedanken, einfach vom Tisch aufzustehen und sich davon zu machen. Doch das wäre sehr unhöflich gewesen. Das zweite Glas Wein hatte sie kaum angerührt.

Ein paar mitreißende Akkorde übertönten die Gesprächsfetzen, und Tai sah, dass die Harfner wieder auf dem Podium Platz genommen hatten, bereit, die Gäste zu unterhalten. Zu jedem Ende eines Planetenumlaufs wurden neue Stücke aufgeführt, und auf den musikalischen Teil des Abends hatte sie sich gefreut. In Gedanken versuchte sie, Zaranth zu erreichen, doch der grüne Drache reagierte nicht. Vermutlich amüsierte er sich auf den Klippen mit seinen Artgenossen.

Geschickt platzierte F'lessan den frisch gefüllten Teller vor Tai. Sie fragte sich, wie sie den Berg an Essen verputzen sollte.

»Gleich beginnen die Harfner zu spielen. Wunderbar!« Er füllte die Gläser nach.

Er hatte keine Mühe, den Nachschlag mit herzhaftem Appetit zu vertilgen. Auch sie aß ihre Portion auf, denn ihre Eltern hatten ihr beigebracht, alles zu essen, was auf den Tisch kam, und dankbar für jede Mahlzeit zu sein. Als sie sich an ihr Zuhause erinnerte, stärkte sie sich rasch mit einem Schluck Wein. Schon lange hatte sie nicht mehr an ihre Eltern gedacht. Das Leben in ihrer Familie war völlig anders verlaufen als ihre jetzige Existenz. Nun waren Zaranth und die Leute vom Monaco-Weyr ihre Sippe, und sie standen ihr näher, als es bei ihren Blutsverwandten je der Fall gewesen war.

Entschlossen lenkte sie ihre Gedanken in andere Bahnen, und dann konzentrierte sie sich auf die Musik. Die Bedienung räumte die Teller ab und stellte einen Korb mit Südfrüchten, Nüssen aus dem Norden und süßem Gebäck auf den Tisch. Auch Klah wurde gereicht. F'lessan sprach dem anregenden Getränk fleißig zu und nippte nur noch sparsam an dem Wein.

Von den Gästen erwartete man, dass sie die Refrains der Balladen mitsangen. Als F'lessan den Mund öffnete und losschmetterte, war sie schockiert. Ausgerechnet er beklagte sich über das misstönende Organ der Feuerechsen. Diese Kreaturen sangen immerhin einen melodischen Diskant, während er keinen Ton richtig traf. Peinlich berührt hoffte sie, die Stimmen der neben ihnen sitzenden Gäste würden sein Gebell übertrumpfen. Er selbst jodelte völlig unbefangen die Liedertexte, als wüsste er nicht um sein Handikap. Wenn ihre Tischnachbarn ihn wütend anfunkelten und Grimassen schnitten, wedelte er nur lässig mit der Hand.

Sollte sie versuchen, ihn mit ihrer Stimme zu übertönen? Sie sang einen schönen Alt und war recht musikalisch. Nun bedeutete er ihr mit überschwänglichen Gesten, in den Gesang einzustimmen. Seine Augen blitzten schelmisch, und sie erkannte, dass er sehr wohl wusste, wie falsch er sang, doch es machte ihm nicht das Geringste aus. Dass er keine Hemmungen besaß, sein Manko in aller Öffentlichkeit zu präsentieren, und das in einer Gesellschaft, die Musik geradezu verherrlichte, erstaunte sie. Mirrim betonte ständig seinen Wankelmut und seine Oberflächlichkeit, aber wieso hatte sie mit keiner Silbe seinen Mangel an Musikalität erwähnt?

Während er aus voller Kehle die falschesten Töne von sich gab, hielt er sich ostentativ eine Hand an die Ohrmuschel, um anzudeuten, dass er sie immer noch nicht singen hörte. Tai fasste sich ein Herz, holte tief Luft und fiel in den Refrain ein - möglichst laut, um seine Stimme zu übertreffen. Begeistert nickte er ihr zu und klatschte mit den Händen den Takt. Dabei stellte sie fest, dass er ein gutes Gefühl für Rhythmus besaß. Als das Lied endete, klatschte er wie besessen Beifall.

»Warum singst du mit, wenn du keine Stimme hast?«, fragte sie ihn leise.

»Weil ich alle Texte auswendig kenne«, entgegnete er ungerührt.

Lachend winkte sie ab. Die Harfner legten eine Pause ein, und F'lessan stand auf, um sich suchend in der Menge umzusehen. Mit einigen Leuten tauschte er Grüße aus, doch er machte keine Anstalten, den Tisch zu verlassen. Plötzlich rief jemand seinen Namen.

»Dein Gegröle hat man bis hierher gehört, F'lessan!«

Tai sah, wie T'gellan und Mirrim auf sie zu kamen. Es passte ihr ganz und gar nicht, von ihnen in F'lessans Gesellschaft gesehen zu werden. Sie erhob sich, griff nach ihrem Weinglas - der Benden-Wein war zu köstlich, um verschmäht zu werden - und huschte davon.

Sie hörte, wie F'lessan den Bronzereiter und die grüne Reiterin begrüßte.

»T'gellan, Mirrim, ratet mal, wen ich im Archiv getroffen habe …«

Er verstummte, als er merkte, dass Tai sich entfernt hatte. Die lungerte ein Stück abseits im Schatten und wartete nur darauf, dass ihr Name fiel. Mirrim würde ihr gehörig den Kopf waschen.

»Geger«, donnerte F'lessan kurz darauf. »Gibt es noch mehr von dem Weißwein aus Benden?«

Tai suchte endgültig das Weite.

Das war sehr töricht von dir, schalt Zaranth ihre Reiterin.

Du weißt doch, wie Mirrim sich manchmal anstellt.

Was hat sie eigentlich gegen F'lessan?

Ach, du kennst doch Mirrim, beharrte Tai.

Du bist blöd. Dann erkundigte sich Zaranth bedauernd: Müssen wir gleich nach Hause zurück?

Nein, meine Liebe. Ich bleibe noch hier und genieße die Musik. Das kann ich an jedem anderen Ort des Festplatzes.

Aber du wirst stehen müssen. Ich glaube, es sind keine Plätze mehr frei. Jeder, der es einrichten konnte, befindet sich jetzt in Landing.

Es macht mir nichts aus zu stehen. Aber verrate bitte nicht Golanth, wo ich bin.

Warum nicht?

Weil ich es nicht möchte.

Ach so. Ich verspreche dir, ich sage nichts. Zaranth klang ein wenig verwirrt.

Es ist das Beste so. Glaub mir.

Tai suchte sich einen Stehplatz am Rand der Menge und lauschte der herrlichen Musik. Das Glas Weißwein reichte bis zum Ende des Konzerts. Es war wirklich der beste Wein, den sie je getrunken hatte.

Auf ihrem Rückweg zu den Klippen hörte sie ein Klirren und Scheppern wie von berstendem Glas. Dem irrsinnigen Lärm nach zu urteilen, musste es schon eine Menge Glas sein, das da zu Bruch ging. Hatte es einen Unfall gegeben? Sie wollte lieber nachschauen, was passiert war. Es klang nicht nach einem simplen kleinen Malheur.

Benden-Weyr - 1.1.31

Lessa, Ramoths Reiterin und Weyr-Herrin von Benden, trat hinaus in die klirrend kalte Winternacht. Sie fröstelte, als der eisige Lufthauch sie traf. Zum Glück hatte der Schneesturm, der im Hochland wütete und auch Burg Tillek heimsuchte, die Feiern zum Ende des Planetenumlaufs in Benden nicht beeinträchtigt. Sie wickelte sich fester in den langen, mit Pelz gefütterten Mantel und wünschte sich, sie hätte auch Handschuhe angezogen, obwohl der Korb mit dem heißen Gebäck, den Manora ihr beim Abschied aufgedrängt hatte, ihre rechte Hand wärmte. Als F'lar zu ihr aufschloss, schob sie ihre linke Hand unter seinen Ellbogen. Das raue Leder seiner Jacke fühlte sich gut an. Er schulterte den Weinschlauch, umfasste ihre Hand und drückte sie herzlich.

Aus Gewohnheit spähten beide über den Kraterkessel, auf dem eine unheimliche Stille lastete. Ihnen gegenüber, auf dem Felsgesimsen, die das Quartier der Weyr-Herrin markierten, dräuten im Mondlicht die riesigen Gestalten ihrer Drachen. Zwei Paar blaugrüne Drachenaugen öffneten sich zu schmalen Schlitzen und beobachteten aufmerksam die Menschen, die über den ebenen, hart gefrorenen Boden des Weyr-Kessels marschierten.

Beliors strahlender Glanz beleuchtete den östlichen Ring des gewaltigen Doppelkraters und tauchte die Eingänge zu den verschiedenen Weyrn in tiefste Schwärze. Das Mondlicht schimmerte auf dem Wachdrachen und seinen Reiter, der mit stampfenden Schritten den Kraterrand entlangstapfte, um sich warm zu halten.

»Nicht trödeln, Mädchen«, murmelte F'lar, verkroch sich Wärme suchend in seine Jacke und schritt energischer aus.

»Eine Harfnermarke für jede Durchquerung des Kraterkessels«, seufzte Lessa.

»Dann wären wir so reich wie Toric«, sagte F'lar.

Lessa schnaubte verächtlich durch die Nase, und ihr Atem gefror zu einer weißen Wolke. Auch sie legte Tempo zu. Vielleicht hätten sie sich in den Süden begeben sollen, wo man das Ende des Planetenumlaufs an von der Sonne durchglühten Stränden feiern und die milden Nächte genießen konnte. Doch seit fünfunddreißig Planetenumläufen wohnte sie nun im Benden-Weyr, und F'lar hatte sein ganzes Leben hier zugebracht. Er war dreiundsechzig Planetenumdrehungen alt. Wie es die Tradition verlangte, hatten sie an einem Abend in Burg Benden gefeiert und einen Tag später die musikalischen Aufführungen in Ruatha besucht. Doch zum Ausklang der Festlichkeiten hielten sie sich am liebsten im Weyr auf. Nach der Hektik der vergangenen Tage sehnte sich Lessa nach Ruhe.

Sie fragte sich, ob F'lar nach dem Ende der Fädenschauer Benden verlassen würde. Wenn er es nicht über sich brächte, sich von den luftigen Höhen des Weyrs zu trennen, ließe er sich vielleicht dazu überreden, zumindest die kältesten Monate im Süden zu verbringen. Es musste ja nicht unbedingt Honshu sein, obwohl F'lessan sie wiederholt in seine Festung eingeladen hatte.

Sie konnte verstehen, warum F'lar sich über die Zeit Danach keine großen Gedanken machte. Seine Pflicht war es, für eine sichere Gegenwart zu sorgen. Er hatte sich vorgenommen, Pern durch die Fährnisse der Fädenfälle zu geleiten, die hoffentlich die letzten sein würden. Doch sowohl er als auch sie ermahnten die jungen Drachenreiter, einen Beruf zu erlernen. Wie nebenbei flocht Lessa immer wieder in die Gespräche mit ihrem Gemahl ein, auch er solle sich beizeiten um eine sinnvolle Beschäftigung für die kommenden fädenfreien Zeiten kümmern. Sie hielt dies für wichtig, denn F'lar war kein Mann, der sich damit zufrieden gäbe, irgendwo in südlichen Gefilden dem Müßiggang zu frönen. Dazu war er zeitlebens viel zu aktiv gewesen. Insgeheim bereitete sie sich darauf vor, für sie beide eine Entscheidung treffen zu müssen. Sie brauchten einen Wohnsitz außerhalb des Weyrs. Es fragte sich nur, wohin sie ziehen sollten.

Plötzlich reckten die beiden Drachen beunruhigt den Hals und starrten angestrengt in den nächtlichen Himmel. Ihre Augen glitzerten in einem feurigen Orange, weil sie sich aus irgendeinem Grund bedroht fühlten. Erschrocken blickte Lessa über die Schulter und umklammerte F'lars Arm.

»Oooh, sieh doch nur!«, rief sie. Die nächtliche Kälte war nichts verglichen mit der Furcht, die ihr eisige Schauer über den Rücken jagte. Ihr Herz hämmerte wie rasend, während sie die Flammenspuren am samtschwarzen Firmament beobachtete. Gleich darauf ärgerte sie sich über ihre Ängstlichkeit, denn sie wusste, dass die Leuchterscheinungen von Meteoriten stammten, die in der Atmosphäre verglühten. Als Kind hatte sie das Ammenmärchen geglaubt, dass die am Himmel lodernden Fackeln die Geister der Drachen seien, die zum ersten Mal die Fäden bekämpften.

»Erragon erzählte mir, zurzeit gäbe es am Himmel besonders viele Geister.« F'lar gluckste vergnügt über diese Erklärung und stieß den Atem in weißen Dampfwölkchen aus. »Hauptsache, sie kommen uns nicht zu nahe.« Ein heller Schein, der über das nördliche Himmelsgewölbe flackerte, erregte seine Aufmerksamkeit. Sein Seufzen kondensierte in der arktischen Kälte zu einem hellen Streifen.

»In diesem Planetenumlauf häufen sie sich tatsächlich, das hat auch schon Toronas bemerkt. Und ihr Licht strahlt immer heller. Schau doch!« Mit hochgerecktem Finger verfolgte sie die Bahn eines Meteoriten, ehe sein Funkeln erlosch. »Dieser da sah aus, als würde er hier landen.«

»Bis jetzt ist noch keiner bei uns eingeschlagen.«

»Nun, du hast selbst gehört, was Toronas sagte. Er behauptet, die Geister würden uns in Scharen heimsuchen, weil wir es dem Akki gestatteten, die Bahn des Roten Sterns zu ändern. Wir hätten der Natur nicht ins Handwerk pfuschen dürfen.« Dabei ahmte sie gekonnt die näselnde Sprechweise des Burgherrn von Benden nach.

F'lar lachte über diese Imitation. »Das Akki hat diese Operation doch bewusst so lange hinausgezögert, bis feststand, dass die Bahnverschiebung des Roten Sterns keine Konsequenzen für die anderen Planeten dieses Systems nach sich zöge. Die mathematischen Gleichungen stimmten bis auf die zehnte Stelle hinter dem Komma. Jedenfalls hat Wansor mir das damals so erklärt. Du kannst auch F'lessan fragen. In Honshu beobachtet er durch dieses alte Teleskop fleißig die Sterne. Er interessiert sich sehr für Astronomie.«

»Ich denke, ich sollte ihn wirklich auf dieses Phänomen mit den Geistern ansprechen«, erwiderte sie. »Durch dieses Schauspiel am Himmel fühlen sich die Reaktionäre nur in ihrem destruktiven Treiben bestärkt. Es wäre verhängnisvoll, wenn sie noch mehr Schaden anrichteten.«

»Glaubst du, dass sie hinter dem Vandalismus stecken, von dem Sebell uns berichtete?«

»Wer außer diesen Fanatikern würde auf die Idee kommen, neu entwickelte Medikamente zu vernichten oder Händler zu überfallen, die moderne Gerätschaften zu den Schmiedehallen transportieren?«

»Lass uns im Weyr weiterdiskutieren. Hier draußen ist es mir zu kalt, Frau.«

Er trabte los und zog sie mit sich, einen Arm um ihre Schultern gelegt, damit sie auf dem überfrorenen Boden nicht ausglitt. Bald hatten sie die Treppe zu ihrem Quartier erreicht.

Kommt ihr zwei auch herein? fragte er die Drachen, die reglos auf ihren Felssimsen hockten.

Wir beobachten die Geister, bis sie verschwinden, erklärte Mnementh vergnügt.

Wie ihr wollt, gab F'lar zurück.

»Dumme Tiere«, murmelte Lessa, als sie den Türvorhang zur Seite schob. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre gegen die Kälte ebenso unempfindlich wie die Drachen. Oder war dieser Winter einfach nur ungewöhnlich kalt?

Im Dazwischen ist es noch viel kälter, bemerkte Ramoth.

Drinnen schaltete Lessa als Erstes das Heizgerät ein. Dann stellte sie Manoras Korb mit dem immer noch warmen Gebäck auf den Tisch, ehe sie ihren langen Pelz abstreifte und an einen Haken neben der Schlafzimmertür hängte.

»Ich hätte nie gedacht, dass die Reaktionäre uns noch einmal Schwierigkeiten machen würden«, seufzte sie.

»N'ton hat sich auf der Insel umgesehen, auf die wir die Verbrecher verbannten, die damals Meister Robinton entführten.« F'lars Miene verdüsterte sich, und er kniff die Lippen zusammen. Heftiger als nötig trat er nach dem schweren Vorhang, um die Falten so zu ordnen, dass sie keine Zugluft durchließen. »Sie haben sogar Nachkommenschaft gezeugt, weil einige der Kerle ihre Frauen mitnahmen.«

»Was du nicht sagst!«, staunte Lessa. »Und was wurde aus dem Gesindel, das die Zunfthallen demolierte? Hat man die Kerle nicht in die Minen von Crom gesteckt?«

»Tja, da bringst du mich auf einen Gedanken.« Er schlüpfte aus seiner Jacke und wollte sie auf einem Stuhl ablegen, doch Lessa deutete streng auf die Kleiderhaken. Schmunzelnd nahm er die Jacke und hängte sie mit demonstrativer Sorgfalt an den für sie vorgesehenen Platz.

»Erzähl schon. Was geht dir durch den Kopf?«, drängte sie ihn, wohl wissend, dass er sie eine Weile zappeln lassen würde, um sie zu necken.

Er holte zwei Gläser und schenkte aus einer von Moriltons elegant geschliffenen Glaskaraffen Wein ein. Galant reichte er ihr ein Glas, dann stellte er sich dicht vor das Heizgerät, um seine Waden zu wärmen.

»Dieser Meteorit - der metallhaltige Brocken, von dem die gesamte Schmiedehalle schwärmt - schlug ein ziemlich großes Loch in die Gefangenenunterkunft und zertrümmerte einem Mann das Bein. Es dauerte eine Weile, ehe man die Häftlinge zählte. Einer hatte die Chance genutzt und war geflohen. Er gehörte zu der Bande, die das Akki attackierte. Bei dem Angriff verlor er sein Gehör. Ein großer, kräftiger Mann. Dürfte nicht schwer zu finden sein. Am Zeigefinger seiner linken Hand fehlt die Spitze.«

Er nahm einen Schluck Wein und ließ ihn genüsslich über die Zunge rollen. Lessa gönnte ihm das Vergnügen.

»Aber noch ist er flüchtig?«, vergewisserte sie sich.

F'lar schwenkte das Weinglas, als sei dieses Problem nicht der Rede wert. »Die Weyr von Telgar, dem Hochland, und von Fort wurden alarmiert. Kuriere trugen die Nachricht weiter und informierten unterwegs die Händler.«

Verächtlich zog Lessa die Nase hoch. »Ein paar dieser Händler sind nicht darüber erhaben, einem Heimatlosen Schutz zu gewähren.«

»Der Minenmeister hat erklärt, dieser Sträfling sei äußerst ungesellig und hielte sich immer abseits. Er verabscheut alles Neue und Moderne.«

»Also Dinge, die vom Akki stammen«, ergänzte sie bissig.

F'lar hob die Augenbrauen. »Natürlich. Das versteht sich von selbst.«

»Könnte dieser Mann die Diebstähle und Verwüstungen begangen haben? Höchst unwahrscheinlich, denn die jeweiligen Tatorte lagen sehr weit voneinander entfernt. Er kann nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein Unwesen treiben.«

»Du hast Recht, aber es gibt genug Leute, die einen Groll gegen Burgen und Zünfte hegen und keinerlei Hemmungen hätten, Unruhe zu stiften.« Er wippte auf seinen Fersen, die Wärme, die das Heizgerät abstrahlte, genießend. »Doch offen gestanden stufe ich das Problem mit den Reaktionären als gering ein. Viel wichtiger ist es, zu entscheiden, welche Neuerungen wir noch einführen sollten.«

»Gegen eine bessere Beleuchtung und Beheizung der Quartiere hat sich niemand gewehrt«, meinte Lessa. »Außerdem besaßen bereits unsere Ahnen Solarzellen. Sie benutzten Generatoren und kannten die Vorzüge von hydraulischer Technik. Uns obliegt es vor allen Dingen, den Menschen das neue Wissen nahe zu bringen. Sie müssen begreifen, dass die moderne Technik ein Segen ist, die menschliche Arbeitskraft ersetzt. Die Zeiten, in denen Knechte und Mägde sich halb zu Tode schufteten, sind vorbei.«

»Ich finde, man darf sich das Leben auch nicht zu leicht machen«, warnte F'lar.

»Weil du nie als Knecht malocht hast«, erwiderte sie giftig. Sie selbst hatte zehn Planetenumläufe lang die niedrigsten Arbeiten verrichten müssen.

»Vergiss nicht, dass man in diesem Weyr alles andere als luxuriös gelebt hat, bevor die Fädenschauer wieder einsetzten.«

»Als ob ich das je vergessen könnte.« Sie lächelte ihn an. »Im Übrigen bedeutet ein gewisses Maß an Komfort keineswegs, dass man wahllos jede neue Technik übernimmt. Die Zunfthallen sündigen in dieser Hinsicht am meisten. Manchmal könnte man glauben, sie billigen alles, Hauptsache, es ist modern.«

»Bist du etwa dagegen, dass Meister Oldive chirurgische Eingriffe vornimmt, an die früher im Traum niemand gedacht hätte, und neue Medikamente anwendet?«

»Natürlich nicht«, widersprach sie und zog die Stirn kraus. »Obwohl nicht alle mit diesen Operationen einverstanden sind.« Sie schüttelte sich ein wenig.

»Mit diesen neumodischen Techniken lassen sich Menschenleben retten. Früher starben die Leute, wenn ihre Bauchdecke platzte und die Eingeweide hervorquollen«, gab F'lar zu bedenken.

»Das nennt man einen Leistenbruch, und der endet nicht unbedingt tödlich«, klärte sie ihn auf. Dann holte sie tief Luft. »Das Wichtigste scheint mir zu sein, die Perneser darüber aufzuklären, welche Vorteile das neue Wissen mit sich bringt.«

»Genau. Und wir müssen dafür sorgen, dass unsere jungen Drachenreiter Berufe erlernen, mit denen sie sich nach dem Ende des Fädenfalls ihren Lebensunterhalt verdienen.«

»Ein paar von ihnen werden den Übergang problemlos schaffen« meinte sie. »Sie halten es nicht für unter ihrer Würde, Botschaften zu befördern oder Waren zu transportieren. Tagetarl schickte uns eine Kopie des Lexikons, in dem technische Begriffe definiert werden. Dieses Wörterbuch stammt aus den Akki-Dateien und ist besser als die Sammlung, die die Harfnerhalle herausgegeben hat. Sebell erzählte mir, sämtliche größeren Burgen, die meisten der kleineren Festungen und nahezu alle Zunfthallen haben bereits dieses Nachschlagewerk bestellt.«

»Das ist gut so. Auf diese Weise wird das Verständnis für moderne Technik gefördert.«

»Etwas mehr an Bildung hat noch niemandem geschadet«, sinnierte F'lar. »Um ehrlich zu sein, bereiten mir die älteren Drachenreiter Sorgen. Sie zeigen absolut kein Interesse daran, sich auf ein Leben nach dem Fädenfall vorzubereiten. Offenbar sind sie sich zu schade dafür, bürgerliche Berufe zu erlernen. Manche stellen sich so stur, dass sie den Viehzüchtern nicht einmal helfen, ihre Herden vor den großen Raubkatzen zu schützen, die mitunter Stampeden verursachen, bei denen viele Tiere zu Tode kommen. Dabei wäre es für die Drachen ein Leichtes, diese schädlichen Biester zu vertreiben. Drachen verstehen sich auf die Jagd.«

»Aber sie fressen keine Raubkatzen.«

»Sogar du würdest gebratene Katze nicht verschmähen, wenn du am Verhungern wärest.« F'lar gluckste in sich hinein.

»Sharra sagt, ihr Fleisch sei zäh und hätte einen Beigeschmack nach Fisch.«

»Nun ja, noch ungefähr sechzehn Planetenumläufe lang werden die Fäden auf Pern herniederregnen«, meinte er seufzend und füllte Lessas Weinglas auf.

»Wenn ich mir eine Frage erlauben darf«, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf und fasste ihren Gemahl listig ins Auge, »was gedenkt denn der Weyr-Führer von Benden zu tun, sowie die Fädenschauer für immer aufhören?«

Er schmunzelte nachsichtig und hielt ihr den Korb mit Leckereien hin. Das Gebäck duftete köstlich.

»Mal sehen, womit Manora uns dieses Mal in Versuchung führt«, freute sich Lessa und schlug die Serviette zurück.

»Dem Duft nach muss es eine Delikatesse sein. Bediene du dich zuerst.«

Sie nahm sich ein Stück Blätterteiggebäck mit einer pikanten Füllung. »Ich glaube«, erklärte Lessa mit vollem Mund, »Manora probiert sämtliche Rezepte aus, die wir ihr aus den Akki-Dateien kopieren mussten.«

»Schade, dass sie selbst nie mit dem Akki gesprochen hat.«

Lessa wiegte den Kopf. »Vergiss bitte nicht, dass wir ihr mehr als einmal anboten, sie mitzunehmen, und sie hat sich immer geweigert. Für einen Ausflug nach Landing fand sie nie Zeit.« Sie leckte sich die Krümel von den Fingern.

F'lar setzte sich in einen Sessel, und Lessa entging nicht, wie steif er sich dabei bewegte. Nur in ihrer Gegenwart gestattete er sich, Schwäche zu zeigen. Und wenn sie es nicht bemerkte, dass seine Knochen schmerzten, machte Mnementh sie darauf aufmerksam. Dann behandelte sie ihn mit der Medizin, die Oldive ihr gegeben hatte.

»Aus irgendeinem Grund scheint die Zeit nie für alles zu reichen, das man sich vorgenommen hat.«

»Das liegt nur an uns selbst«, gab er zurück und strich sich das silbergraue Haar aus der Stirn. »Aber sowie wir uns nicht mehr um die Fäden kümmern müssen, haben wir Zeit genug für unsere privaten Belange.«

»Hast du schon entschieden, wohin wir dann ziehen?«

Er runzelte die Stirn und winkte ab. Seine zögerliche Haltung ärgerte sie. Sie hätten längst bereden müssen, wo sie sich zur Ruhe setzen wollten. Ihr kam ein erschreckender Gedanke. Was würde passieren, wenn Ramoth einmal nicht zum Paarungsflug aufstieg? Erst kürzlich hatte Bedellas Solth gezeigt, dass sie nicht mehr paarungswillig war. R'mart und seine Weyr-Herrin zogen daraufhin in den Süden, dankbar, ihre Pflichten jüngeren Drachenreitern zu übertragen.

Lessa war immer davon ausgegangen, dass sie und F'lar den Weyr bis zum Schluss führen würden. Doch einmal musste der Zeitpunkt kommen, an dem Ramoth unfruchtbar wurde und nicht mehr in Hitze geriet. Doch Lessa verscheuchte diese trübsinnigen und beängstigenden Gedanken. Sie dachte daran, wie Ramoth das letzte Mal in goldenem Glanz erstrahlte, die Bronzedrachen zur Paarung aufforderte und sich schließlich von Mnementh erobern ließ. Sie lächelte, als sie spürte, dass Ramoth ihre Gedanken aufgriff. Aber sie konnte nicht leugnen, dass Mnementh ständig Gefahr lief, während eines Kampfeinsatzes verletzt zu werden.

Er ist stark und sehr geschickt darin, die Fäden zu bekämpfen. Ausweichmanöver beherrscht er wie ein grüner Drache, beruhigte Ramoth sie. Mnementh ist der einzige Bronzedrache, den ich als meinen Paarungspartner akzeptiere. Von allen ist er der Tapferste. Auch wenn er jetzt mehr Schlaf benötigt als früher. Sei unbesorgt.

F'lar merkte, dass Lessa mit ihrem Drachen sprach. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er seine Gemahlin an.

»Was habt ihr auf dem Herzen?«, fragte er. »Was bedrückt euch?«

»Wir möchten endlich wissen, wohin wir gehen werden, wenn uns keine Pflichten mehr an den Weyr binden«, erwiderte Lessa nicht ganz ehrlich.

F'lar bedachte sie mit einem geduldigen Blick. »Wir können uns an jeden beliebigen Ort begeben. Eines steht jedenfalls fest, wir werden von niemandem abhängig sein.« Entschlossen reckte er das Kinn vor.

»Das gefällt mir«, gab sie zurück.

»Vielleicht wäre eine der östlichen Inseln der geeignete Ruhesitz für uns.«

»Wie bitte?« Sie funkelte ihn wütend an. Er grinste, weil sie auf seinen Scherz hereingefallen war.

»Ich weiß, hier herrscht nicht das mildeste Klima, aber ich habe mein ganzes Leben in diesem Felsenbau verbracht.«

»Im Sommer kann man es in Benden aushalten.« Sie seufzte. »Wenn ich daran denke, dass hier Geschichte geschrieben wurde …«

»Das kann man wohl sagen. Und was hat sich nicht alles verändert, seit wir den Weyr führen.«

»Es gab zu viele Verluste … Manchmal gehen die Besten zuerst …«

»›Und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde‹«, zitierte er leise.

Lessa stiegen Tränen in die Augen, als sie sich an Robinton erinnerte - und an das Akki. Zwei Planetenumläufe und ein paar Monate hatten nicht ausgereicht, um den Schmerz über diesen zweifachen Verlust zu lindern.

»Ich vermisse Robinton sehr.«

»Das geht uns allen so.« F'lar schwieg eine Weile, ehe er fortfuhr: »Mir fehlen auch Laudey und Warbret. Und sogar der gute alte R'gul, ob du es glaubst oder nicht.« Er stieß einen Seufzer aus.

»Wir müssen nachsichtig sein«, meinte sie. Der Bronzereiter R'gul war zu seinen Lebzeiten ein Stachel in ihrem Fleisch gewesen, obwohl er nie offen gegen F'lar als Weyr-Führer opponierte. Doch jedes Mal, wenn R'gul einen Befehl von F'lar entgegennahm, ließ er durchblicken, dass er selbst anders entschieden hätte. »Er hat dir gehorcht, und sein Geschwader hielt große Stücke auf ihn.«

F'lar stieß einen brummenden Laut aus, spielte mit seinem Weinglas und schien die rubinrote Farbe des Getränks zu bewundern.

»Laudey konnte ich sehr gut leiden«, sinnierte Lessa, nachdem sie an einem Stück Gebäck geknabbert hatte. »Allerdings gibt Langrell als Burgherr von Igen eine tadellose Figur ab. Er macht einen sehr sympathischen Eindruck.«

»Und obendrein ist er noch recht attraktiv.«

Sie blickte ihn von der Seite her an. »Er sollte langsam ans Heiraten denken.«

»Er wird keine Schwierigkeiten haben, eine passende Gemahlin zu finden.« F'lar stocherte in dem Korb herum, pickte sich ein keilförmiges Kuchenstück heraus und verspeiste es mit offensichtlichem Genuss.

»Hmm. Köstlich.«

Sie fand noch ein Stück dieses speziellen Gebäcks. »Himmlisch!« Nachdem sie es verputzt hatte, leckte sie sich die Lippen.

F'lar nippte an seinem Wein und betrachtete Lessa verstohlen aus dem Augenwinkel. »Wirst du Janissian unterstützen, wenn sie die Herrschaft über Süd-Boll für sich beansprucht? Auf der nächsten Ratsversammlung muss darüber entschieden werden.«

»In Boll ist es üblich, dass eine Frau die Erbfolge antritt.«

Er nickte und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

»Um Sangels Gesicht zu wahren, hat Lady Marella inoffiziell schon lange die Geschäfte der Burg geführt. Und sie schickte Janissian nach Landing zur Schule.«

»Groghe mag das Mädchen. Sie ist alt genug für das Amt und allgemein hoch angesehen.«

Lessa hob die Schultern. »Jaxom sagt, im Organisieren sei sie genauso gut wie Sharra. Er würde sich freuen, nicht mehr der jüngste Burgherr zu sein.«

F'lar streckte sein rechtes Bein aus und verzog schmerzhaft das Gesicht, als die Sehnen sich nicht mehr problemlos dehnen ließen. Er stöhnte leise.

Es geht ihm gut, vertraute Mnementh Lessa insgeheim an.

Vermutlich hat ihm die viele Tanzerei geschadet. Und dabei erzählt er mir andauernd, dass er nicht gern tanzt, erwiderte Lessa.

»Wir brauchen junge Leute, die mit all den Veränderungen besser fertig werden als die Älteren«, sagte Lessa.

Halb belustigt, halb von oben herab, sah F'lar sie aus seinen bernsteinfarbenen Augen an. »Junge Leute können genauso verbohrt und halsstarrig sein wie die Alten. Nur dass es ihnen an Erfahrungen fehlt, auf die sie bei ihren Entschlüssen zurückgreifen könnten.« Er nahm sich noch ein Stück Gebäck und leckte sich die heraustropfende Füllung von den Fingern. »Idarolan studiert Astronomie bei einem von Wansors Gesellen. Morilton musste ihm ein paar Spezialspiegel für ein Teleskop anfertigen, das er bei sich in Nerat aufstellen will.«

»Als Fischereimeister kann ich nichts gegen Curran einwenden, doch bei den Ratsversammlungen vermisse ich Idarolans pfiffige Ideen.« Sie biss einen Happen von ihrem Kuchenstück ab. »Wir haben viele gute Leute verloren.«

F'lar fasste über den Tisch und griff nach ihrer schmalen aber kräftigen Hand. »Lass uns auf unsere alten Freunde trinken, Liebste. Auf die, die von uns gegangen sind sowie auf die, welche noch unter uns weilen.«

Sie hob ihr Glas und stieß mit ihm an. Beide tranken ihren Wein bis zur Neige aus.

Gleichzeitig erhoben sie sich aus ihren Sesseln. F'lar legte den Arm um Lessas Schultern, drückte sie zärtlich an sich, und sie begaben sich in ihr Schlafzimmer.

Lessa glaubte, sie sei gerade erst eingeschlafen, als das zornige Trompeten der Drachen sie weckte.

Burg des Südens - 1.1.31

Toric litt an einem fürchterlichen Kater, weil er am Abend zuvor zu viel Wein getrunken hatte. Der Rote war eindeutig zu jung gewesen und hätte noch gar nicht konsumiert werden dürfen. Doch er stammte aus seinem eigenen Weingarten, war zur Hand und kostete ihn nichts. Außer, dass ihn heute Morgen entsetzliche Kopfschmerzen plagten. Nun ja, es dauerte eine Weile, bis man Qualitätsweine produzierte, und angesichts der hohen Investitionen war er erpicht darauf, baldmöglichst Gewinne zu erzielen.

Außerdem hatte sich Meisterwinzer Welliner verkalkuliert, als er die Erträge der zu erwartenden Weinlesen schätzte. Sollte die kommende Ernte wieder zu gering ausfallen, musste er mit Welliner ein ernstes Wörtchen reden. Vorsichtig öffnete Toric die Augen. Sein Schädel dröhnte.

»Du wirst alt, Vater«, sagte Besic zur Begrüßung und reichte ihm einen dampfenden Becher. »Das hat Mutter für dich zusammengebraut.«

Ein Stöhnen unterdrückend, nahm Toric ihm den Becher ab. Obwohl er aus Erfahrung wusste, dass Ramalas Anti-Katzenjammer-Kur wirkte, wurde ihm allein von dem Geruch des Tees übel. Er musste erst den Kopf zur Seite drehen, ehe er sich zum ersten Schluck überwand.

Besic lümmelte sich in einen bequemen Sessel, streckte die Beine von sich, überkreuzte sie an den Knöcheln und hakte die Daumen in den Gürtel.

»Hosbon ist hier«, verkündete er alsdann freundlich. »Segelte letzte Nacht in Largo los und traf heute früh bei uns ein.«

Bei dieser unangenehmen Nachricht hätte Toric um ein Haar seinen Tee verschüttet. Hatte Besic mit der Botschaft absichtlich gewartet, bis er den Becher an die Lippen führte? Die beiden Männer tolerierten einander mit knapper Not, nicht der Blutsbande wegen, sondern weil sie sich - wenn auch widerwillig - gegenseitig respektierten. Toric stieß ein Grunzen aus und leerte den Becher, so schnell es ihm der heiße Tee und der abscheuliche Geschmack erlaubten.

»Ich sagte ihm, du seist beschäftigt.«

»Das bin ich auch«, entgegnete Toric. Er musste rülpsen, und danach hatte er einen ekelhaften Geschmack im Mund. Er stand auf und balancierte probehalber barfüßig ein paar Schritte, um zu beweisen, dass er sich von dem nächtlichen Zechgelage so rasch erholt hatte wie immer.

Dann tappte er zu der frischen Kleidung, die Ramala für ihn bereitgelegt hatte, schlüpfte in eine kurze Hose und streifte sich ein lose sitzendes Hemd über den Kopf. In diesen legeren Sachen ließ sich die Hitze des Tages überstehen. Grummelnd befestigte er die Rangabzeichen aus ineinander verschlungenen Kordeln an seiner rechten Schulter. Lästige Dinger! Jeder erkannte doch den Gebieter der Burg des Südens. Wütend schnaubte er durch die Nase, als ihm einfiel, wie die Weyr-Führer ihn damals hinters Licht geführt hatten. Aus dem Augenwinkel sah er Besics hämischen Gesichtsausdruck. Der Bursche grinste, als hätte er die Gedanken seines Erzeugers gelesen.

»Warum hast du mir kein Frühstück …?«

Besic schnitt ihm das Wort ab, indem er auf das Tablett zeigte, das er auf dem Tisch abgestellt hatte.

Obwohl die Kopfschmerzen allmählich nachließen, pflegte Toric immer noch seine schlechte Laune. »Was will Hosbon denn schon wieder? Immerzu verfolgt er mich mit irgendeinem Ansinnen, um das ich mich kümmern soll.«

»Er ist ein guter Pächter«, entgegnete Besic. Er wusste genau, dass sein Lob bei Toric auf taube Ohren stieß, doch indem er nichts weiter als die Wahrheit aussprach, vermochte er seinen Vater manchmal bis aufs Blut zu reizen.

Toric fuchtelte theatralisch mit den Händen. »Ist dieser Mann denn niemals zufrieden? Zuerst wollte er einen Trommelturm, dann eine Schiffslände, zum Schluss eine Schaluppe komplett mit Besatzung.«

»Seine Erfolge können sich sehen lassen.«

»Und was begehrt er dieses Mal? Einen Drachenreiter ganz für sich allein?« Obschon Lord Toric stets ein Drachenreiter zur Verfügung stand, fuchste ihn die Verlegung des Süd-Weyrs immer noch. Außerdem wurmte es ihn, dass der Weyr-Führer, K'van - ein impertinenter Kerl - seine Pflichten der Burg gegenüber so gewissenhaft erfüllte, dass man niemals einen Anlass zur Beschwerde hatte. Toric hatte die Demütigung geschluckt, weil es in der Tat von Vorteil war, wenn die Drachen nicht ständig den Hafen überflogen. Aber vielleicht hätte er K'van nicht öffentlich kritisieren sollen, als es um die Unterstützung dieses verflixten Denol auf der Insel Ierne ging.

»Was hast du denn?«, fragte Besic scheinheilig und stellte sich auf die Füße. »Er will sicher nur den Beginn des neuen Planetenumlaufs mit seinem Burgherrn feiern und sich den Bericht anhören, den irgendein Harfner vorlesen wird. Bei der Gelegenheit hält er bestimmt nach tüchtigen Handwerkern Ausschau, die er für seine Festung anwerben kann.«

»Hat er denn nicht schon genug Leute?«, schimpfte Toric empört.

»Manche kriegen den Hals nie voll«, murmelte Besic. Doch erst beim Erreichen der Tür pfefferte er diesen Schuss ab.

»Raus mir dir! Verschwinde!« Toric stürzte sich auf seinen Sohn und trat mit dem Fuß nach ihm. Doch Besic gönnte ihm nicht mal einen letzten Blick über die Schulter. Torics unbeschuhte Zehen kickten gegen die massive Holztür, die mit einem satten, lauten Knall ins Schloss fiel. Der Lärm brach sich als Echo in den steinernen Fluren. Besic kannte seinen Vater viel zu gut!

Humpelnd, weil er sich die Zehen an der Tür gestaucht hatte, schleppte sich Toric an den Tisch und fiel gierig über das Frühstück her. Der Tee hatte seinen Katzenjammer verscheucht, und nun grollte sein Magen vor Hunger und Zorn.

Wo wollte Hosbon noch mehr Handwerker unterbringen? Er hatte bereits ein paar hoch qualifizierte Leute aus Landing zu sich geholt. Diese Abwerbungen fanden nach dem ›Großen Knall‹ statt, der angeblich dafür sorgen sollte, dass es nie wieder Fäden auf Pern herabregnete. Toric bezweifelte, ob die Ratschläge des Akki der Weisheit letzter Schluss waren. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass es möglich sei, einen ganzen Planeten mit Hilfe von längst deaktivierten Maschinen aus seiner vorgegebenen Bahn zu werfen. Doch wenn nach sechzehn - oder waren es siebzehn? - Planetenumläufen die Bedrohung aus dem All aufhörte, würde er diesen Umstand für sich nutzen. Dann konnte er endlich seine Pläne in die Tat umsetzen, den Teil des Südkontinents zu nutzen, den er mit Müh und Not diesen halsstarrigen Weyr-Führern abgerungen hatte. Dass er damals den Kürzeren zog, wurmte ihn noch immer. Er bemühte sich, seine innere Gelassenheit wiederzufinden. Ramala behauptete, seine Magenbeschwerden würden durch Stress verursacht. Er solle seine Mahlzeiten in Ruhe essen und gründlich kauen. Es war wichtig, dass er auf seine Gesundheit achtete, denn schließlich herrschte er über eine bedeutende Festung, auch wenn man ihn ungerechterweise um eine Menge Landbesitz gebracht hatte.

 

***

 

Lady Ramala plauderte bereits mit Hosbon in der Haupthalle. Als Toric eintrat, stand sie auf. »Vielleicht möchtet ihr noch ein wenig Klah. Es dauert noch ein Weilchen, bis Harfner Sintary seinen Bericht vorträgt. Hast du deine Gemahlin mitgebracht, Hosbon?«

Hosbon zuckte leicht zusammen. Seine Frau war mitgekommen, schloss Toric aus der Reaktion, und vermutlich hatte sie die Stunden seit ihrer Ankunft damit verbracht, jede Menge Marken zu verpulvern. Seine Stimmung hob sich, als er Hosbons missvergnügte Miene sah.

»Natürlich, Hosbon, für einen Becher Klah ist immer Zeit. Komm mit nach draußen. Das Wetter ist herrlich.«

Jovial klopfte Toric seinem Pächter auf die Schulter.

»Ich bringe frischen Klah«, rief Ramala ihnen hinterher.

Toric deutete auf den kleineren der beiden Tische, die zu beiden Seiten des Eingangsportals auf der Terrasse standen. Ein schmaler Baldachin spendete Schatten. Toric nahm seinen üblichen Platz mit dem Rücken zur Sonne ein, sodass jeder, der ihm gegenüber saß, in die gleißende Helligkeit blinzeln musste. »Nun, was hast du auf dem Herzen, Hosbon?«

Der Pächter stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab und beugte sich vor. »Weißt du schon, welche Themen der heutige Bericht behandelt?«

»Selbstverständlich bin ich im Bilde. Ich kenne auch die Punkte, über die abgestimmt werden soll«, antwortete Toric hitzig. »Immerhin war ich bei dieser verflixten Konferenz dabei. Es geht hauptsächlich um Bagatellen, langweilige Trivialitäten. Aber der Rat besteht darauf, dass der ›Geist der Charta‹ erfüllt wird.«

Toric konnte den Regeln der Charta nicht viel Gutes abgewinnen, und er fand es nicht richtig, dass man sich unentwegt auf sie berief. Dieses Dokument war so alt, dass man es schon als Museumsstück betrachten konnte. Es war überholt, sich nach diesem Regelwerk zu orientieren. Seit der Erstellung der Charta waren zweitausendfünfhundert Planetenumläufe vergangen, und sie wurde den modernen Erfordernissen dieser Gesellschaft nicht mehr gerecht.

Doch die Harfner sorgten dafür, dass die Gesetze der Charta in Arbeitskreisen selbst Kindern und Dienstboten zugänglich gemacht wurden, und zwar so gründlich, dass sie die einzelnen Klauseln aus dem Kopf herbeten konnten.

Er selbst hätte am liebsten ein paar Artikel aus diesem Werk ersatzlos gestrichen, dafür die Privilegien der Grundbesitzer gestärkt. Aber sowie der letzte Fädenfall vorbei war, würde er auf eine Überarbeitung drängen und seinen nicht geringen Einfluss geltend machen. Er lauerte nur darauf, dass die Machtposition der Drachenreiter kippte, sowie man diesen Stand nicht mehr brauchte. Toric hatte viele Stunden damit zugebracht, sich vor unliebsamen Überraschungen seitens des Rates zu schützen. Gleichzeitig heckte er in eigener Sache ein paar interessante Pläne aus.

»Ist das alles?«, vergewisserte sich Hosbon enttäuscht.

»Ach, es gibt die üblichen Meldungen aus Landing, belangloses Zeug.« Mit einem lässigen Wedeln der Hand winkte Toric ab. »Die Leute verlangen nach gedruckten Texten, um sich weiterzubilden.« Er schnaubte durch die Nase. »Ich …« Jählings brach er ab. »Im Übrigen möchte ich ein für alle Mal klarstellen, dass qualifizierte Arbeitskräfte hier zu bleiben haben, im Süden und in Largo. Diese Ermahnung ist besonders an dich gerichtet, Hosbon. Du hast schon genug gute Handwerker. Ist es dir in letzter Zeit gelungen, weitere Fachkräfte abzuwerben?«

»Nicht aus deinem Hoheitsbereich, Lord Toric. Das würde ich gar nicht wagen«, entgegnete Hosbon mit geheuchelter Unterwürfigkeit. »Obwohl«, fügte er glattzüngig hinzu, »man nie genug Facharbeiter einstellen kann.«

Toric begnügte sich mit einem knappen Nicken. Im Großen und Ganzen hatte er nichts gegen Hosbon einzuwenden. Der Mann entstammte einer Familie, aus der viele tüchtige Pächter hervorgegangen waren, die das Letzte aus ihren Arbeitern herauspressten. Mit den fahlen Augen in dem tief gebräunten Gesicht und der hageren, drahtigen Figur ähnelte er seinem Erzeuger Bargen. Hosbon hatte ältere Brüder, und nun, da er sich erfolgreich im klimatisch begünstigten Süden niedergelassen hatte, zog ihn nichts mehr in seine Heimat, das kalte Hochland, zurück.

»Ich werde meine Untergebenen davon in Kenntnis setzen, was auf dieser Zusammenkunft besprochen wurde. So erfahren sie alles von mir«, erklärte Hosbon. Um seine Lippen spielte ein listiges Lächeln.

»Du weißt schon, was das Richtige für deine Leute ist«, erwiderte Toric und senkte träge die Lider, um anzudeuten, dass er verstand. In diesem Moment kam Ramala mit Erfrischungen aus der Burg. »Wir reden später weiter«, schlug Toric hastig vor.

Sie tranken Klah und aßen dazu kleine gewürzte Brötchen, bis die wuchtige Harfnertrommel dröhnend den Beginn der Versammlung ankündigte. Das dunkle Wummern hallte von den lotrechten Felsenklippen wider, das vielfach gebrochene Echo wälzte sich über den Hafen, wo die Schiffe ankerten, brachte die steinernen Wände der Festung zum Vibrieren und drang den Menschen durch Mark und Bein.

Als Toric aufstand und die breiten Treppenstufen hinaufstieg, die auf die abgeflachte Krone des Steilufers führten, spähte er aufmerksam hinunter. Von den Kaianlagen strömten die Pächter herbei, zahlreiche Boote dümpelten an hölzernen Stegen oder schwojten um im Wasser verankerte Bojen. Gemessenen Schrittes begab er sich zur erhöhten Plattform am südlichen Rand des Versammlungsplatzes, wo ein einziger Harfner saß, in den Händen die traditionelle Schriftrolle mit dem Bericht, den er in Bälde vorlesen würde.

Toric ließ die Blicke über die bereits eingetroffene Menge schweifen und gönnte denjenigen, die seine Aufmerksamkeit verdienten, ein sparsames Lächeln. Seit er vor einunddreißig Planetenumläufen die Burg des Südens übernommen hatte, waren unter seiner Regie vierundzwanzig autarke Siedlungen entstanden, die ihm Tribut in Form einer Zehnt-Zahlung leisteten. Jede dieser Kleinfestungen hatte ihre Repräsentanten entsandt - wobei die entlegeneren Pachthöfe zahlenmäßig weniger stark vertreten waren als die in der Nähe gegründeten Ansiedlungen. Außerdem sah er Gesellen der unterschiedlichsten Handwerkszünfte, an ihren kunstvoll geschlungenen Schulterknoten, die ihren Rang markierten, gut zu erkennen.

Mit gewichtiger Miene erstieg er die Plattform - je zwei Stufen auf einmal nehmend, um allen - besonders Besic - zu beweisen, dass er sich heute Morgen trotz des alkoholischen Exzesses in Hochform fühlte. Der Harfner, Sintary, war von Meister Robinton persönlich zum Meisterharfner der Burg des Südens ernannt worden. Robinton gehörte zu den wenigen Leuten aus dem Norden, die Toric akzeptierte, deshalb hatte er diesen Vorschlag gebilligt.

Doch schon bald bereute er seine Nachgiebigkeit, denn Sintary war ein eigensinniger und von sich selbst überzeugter Mann, der seine Stellung als Harfner sehr ernst nahm. Er wich um keinen Zoll vom traditionellen Lehrplan ab, selbst wenn Toric versuchte, Druck auf ihn auszuüben, damit er den Unterrichtsstoff ein wenig modifizierte. Der alte Harfner war ungemein beliebt, besaß einen trockenen Humor und vermochte aus dem Stegreif Liedertexte zu improvisieren, die lokale Ereignisse aufs Korn nahmen. Das machte den Umgang mit ihm ja so schwierig, weil man ihn bei seinen Anhängern nicht in Misskredit bringen konnte. Toric hatte in dieser Hinsicht nichts unversucht gelassen, und er gab die Hoffnung nicht auf, eines Tages könnte er die Gelegenheit bekommen, Sintary unter einem Vorwand wegzuschicken.

Nachdem er seinen zu keinem Kompromiss bereiten Harfner mit einem knappen Nicken begrüßt hatte, wandte sich Toric an die Versammlung. Als er die Hände hob, verstummten die Gespräche. Selbst ein paar Feuerechsen, die munter durch die Luft flitzten, stellten ihre Kapriolen ein und segelten in Richtung des Waldes davon.

»Meister Sintary braucht wohl niemandem vorgestellt zu werden«, begann Toric mit seiner donnernden Stimme, die ihm einstmals selbst in einem brüllenden Orkan Gehör verschafft hatte. »Wie ich sehe, trägst du eine Schriftrolle bei dir, Meisterharfner, aus der du uns gleich vorlesen wirst.«

Meister Sintary erhob sich und maß Toric mit einem herablassenden Blick. Toric genoss es, andere Leute mit feinen Sticheleien zu traktieren, wobei er sich besonders gern mit Harfnern und Drachenreitern anlegte. Doch wo blieben die Drachenreiter, die eigentlich hätten anwesend sein müssen? Toric blickte in die sonnengebräunten Gesichter und forschte nach dem vertrauten Antlitz des Weyr-Führers. Wenn K'van nicht gekommen war … Dann entdeckte er ihn zur Linken, wo Bäume und ein Dickicht aus Farnkraut einen kleinen Park bildeten. Er zählte mindestens fünfzehn Drachenreiter und drei Königinreiterinnen. Splitter und Scherben! Jetzt konnte er sich nicht mehr beschweren, der Weyr hätte seine Pflichten versäumt.

Sintary trat zwei Schritte nach vorn und bedeutete Toric mit einem Wedeln der Hand, er möge sich auf den zweiten Stuhl setzen, der auf der Plattform stand. Er entrollte mit der Rechten das Pergament und begann zu lesen. Toric nahm Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine schlechte Laune war zurückgekehrt. Die Drachenreiter waren in großer Anzahl erschienen. Sie - und die vielen Leute, die sich hier versammelt hatten - würden an dem Festschmaus teilnehmen, den der Burgherr ausrichten musste. Und wie schaffte es Sintary, ohne ersichtliche Anstrengung so vernehmlich zu sprechen? Seine Stimme war bis in den hintersten Winkel klar und deutlich zu verstehen, ohne dass er zu brüllen anfing. Vermutlich beherrschte er einen dieser Harfnertricks.

Um sich abzulenken, derweil Sintary aus der dicken Schriftrolle zitierte, beobachtete Toric die Anwesenden, die mit höflich gespannten Mienen lauschten. Als er seinen Bruder, den Meisterschmied Hamian gewahrte, nahm er schnell die Arme herunter, weil Hamian in einer ähnlichen Haltung dasaß. Hamian und seine neu gegründete Plastik-Halle. Ausgerechnet mit Plastik arbeitete er, wo er doch Metalle benutzen sollte. Wieso beutete er nicht diesen Erzgang aus, der das so genannte Bauxit enthielt, aus dem man leichte und biegsame Platten herstellen konnte. Toric hatte seinen jüngeren Bruder nicht dazu ermutigt, seinen Meisterrang in der Schmiedekunst zu erwerben, nur damit er seine Talente mit irgendeinem vom Akki ausgetüftelten Humbug vergeudete. Der in die Verbannung geschickte Meisterglasmacher Norist hatte schon Recht, wenn er das Akki als ein Monstrum bezeichnete.

Die Sonne stand mittlerweile im Zenit, und selbst in seiner leichten Kleidung spürte Toric die Hitze. Die dicht gedrängt sitzenden Zuhörer wurden langsam unruhig und fächelten sich Kühlung zu. Diejenigen, die stehen mussten, traten von einem Fuß auf den anderen. Wer seine Kinder mitgebracht hatte, rückte immer weiter an den Rand der Menge, damit die quengelnden Bälger mit ihrem Gegreine niemanden störten.

Sprach der Harfner jetzt ein wenig schneller? Warum auch nicht? Nach der Lesung würde die Rolle ohnehin an der großen Anschlagtafel veröffentlicht und jedermann zugänglich gemacht. Endlich schloss Sintary mit der Bemerkung: »Nun nehme ich die schriftlichen Gesuche entgegen, die ausnahmslos gewissenhaft geprüft werden, das verspreche ich euch.« - Die verflixte Harfnerhalle mischte sich in Belange ein, die eigentlich nur den Burgherrn etwas angingen, grollte Toric innerlich. Seine Pächter konnten sich nicht beklagen. Wer fleißig arbeitete, bekam, was ihm zustand.

Toric beobachtete, wer alles eine Bittschrift aus einer Tasche oder einen Beutel zog.

Sintary beendete seine Rede. Der aufbrandende Applaus, die schrillen Pfiffe und Jubelrufe - zusammen mit der brütenden Mittagshitze - ließen Torics Schädel erneut brummen. Während der verflixte Harfner die Stufen des Podests herunterschritt, entfernte sich Toric über die hintere Treppe und suchte den Schatten auf. Verstohlen hielt er nach Dorse Ausschau. Mittlerweile musste er von seiner Reise in den Süden zurück sein.

 

***

 

Nachdem Sintary seine Pflicht erfüllt hatte, mischte er sich unter die Leute. Ihm war nicht entgangen, wie Toric sich klammheimlich verdrückte. Es spielte keine Rolle. Sintary nahm ohnehin viel lieber die Bittgesuche entgegen, ohne Torics ablehnende Blicke auf sich zu fühlen. Er öffnete den Sack, den er eigens zum Einsammeln der Briefe mitgebracht hatte, und verstaute darin die Schriftstücke, die man ihm massenhaft entgegenreichte.

»Jeder einzelne Brief wird gelesen, darauf gebe ich euch mein Wort als Harfner. Vielen Dank. Jawohl, der Rat wird sich damit befassen. Danke. Es wird ein Weilchen dauern, bis ihr eine Antwort erhaltet, aber ihr kriegt Bescheid, verlasst euch darauf.« Diese Sätze wiederholend, begab er sich bis zur Anschlagtafel, um dort die Schriftrolle mit dem offiziellen Bericht zu befestigen. »Natürlich, eure Anliegen sind uns wichtig.« Geduldig haspelte er die Litanei herunter, bis er endlich vor der Tafel stand, wo ein ganz in Blau gekleideter Harfnergeselle das Pergament entrollte und an das Brett nagelte.

Die Zeiten, als Lehrlinge Schriftstücke per Hand kopierten, bis sie einen Schreibkrampf bekamen, waren vorbei. Die Berichte der Ratsversammlung wurden vom Meisterdrucker Tagetarl maschinell auf festem Papier gedruckt und hinterher laminiert, damit niemand an dem Text herumpfuschen konnte. Kopien schickte man an die meisten Festungen, wo man sie dann am ersten Tag eines neuen Planetenumlaufs öffentlich verlas. Selbst Toric konnte diesen Brauch nicht abschaffen, und die Schriftrolle blieb so lange an der Anschlagtafel, bis sich die herbeigeströmten Gäste wieder in ihre heimatlichen Ansiedlungen begeben hatten. Torics Untergebene hielten sich indessen nie lange in der Nähe ihres Pachtherrn auf, da dieser nichts unternahm, um ihnen einen angenehmen Aufenthalt zu verschaffen. Aber angesichts der vielen Boote, die hier angelegt hatten, würde es mindestens zwei Tage dauern, bis der Hafen wieder frei war.

Dabei konnte man Toric nicht einmal Machtmissbrauch vorwerfen. Er befand sich im Recht, wenn er von seinen Pächtern gute Arbeit verlangte. Nicht nur, dass er sich mit den Launen und Grillen der Alteingesessenen abfinden musste, ihm kam auch noch die schwierige Aufgabe zu, die vielen Neuankömmlinge zu steuern und zu kontrollieren, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in den klimatisch milden Süden strömten. Die Einwanderer, die hierher kamen, fanden zwar nicht das Paradies vor, doch verglichen mit den Mühsalen, die sie hinter sich ließen, ging es ihnen unter Lord Torics Fuchtel recht passabel.

Sintary ließ die Bittsteller zurück, die sich um die Anschlagtafel drängten oder sich auf die Suche nach Schatten und Verpflegung machten. Unterwegs zur Harfnerhalle drückte man ihm zwei weitere zerknitterte Briefe in die Hand, die er getreulich zu den anderen Schreiben in den Sack stopfte. Als er durch einen schmalen Einlass in die Halle schlüpfte, entdeckte er Dorse und einen dieser hartgesotten aussehenden Kerle, die Toric als Wachposten einstellte. Die beiden Männer rannten die Treppe hinauf, als hätten sie es sehr eilig. Auf Dorses Gesicht lag ein verschlagener, hinterhältiger Ausdruck, der Sintary nicht gefiel. Er wusste, dass Dorse für Toric häufig Dinge erledigte, mit denen sich andere nicht die Finger schmutzig machen wollten.

Als die Kerle um eine Ecke bogen und aus Sintarys Gesichtsfeld verschwanden, setzte der Harfner seinen Weg fort. Just in diesem Moment hörte er das Splittern von Glas und dumpfe Schläge, als würde mit einer Axt Holz gespalten. Aber Dorse und sein Spießgeselle liefen die Treppe hinauf. Wer schickte sich an, hier etwas entzwei zu schlagen?

Da Sintary den schweren Beutel mit den Petitionen mit sich schleppte, beschloss er, seine Last zuerst in sein Quartier zu bringen und danach die Ursache für den Lärm zu ergründen.

Heilerhalle - 1.1.31

Meisterheiler Oldive rückte von seinem Arbeitstisch ab, schloss die Augen, die vom angestrengten Spähen durch das Mikroskop brannten, und seufzte. Die Viren glichen einander so sehr, trotzdem ließ sich in den Pathologie-Dateien des Akki kein vergleichbarer Erreger entdecken. Die neuen Methoden, die man seit kurzem in der Heilerhalle anwandte, vermochten die Forschung - und die medizinische Behandlung von Kranken - wahrhaft zu revolutionieren. Erhebende und erschreckende Aussichten zugleich, fand er.

Langsam, sich dessen bewusst werdend, dass sein Körper vom langen Sitzen schmerzhaft verkrampft war, nahm er zuerst ein Bein von der Sprosse des Stuhls, streckte es aus und ließ es herunterbaumeln. Sich am Stuhl festhaltend, dehnte er das andere Bein. Dann hob er die Arme so hoch, wie es sein verkrüppelter Rücken erlaubte, und vollführte mit dem Kopf kreisende Bewegungen, um die Muskelverspannungen zu lösen.

»Oldive?«

»Ach du meine Güte, Sharra!« Er drehte den hohen Stuhl, sodass er seine Kollegin sehen konnte, die in einer Ecke hockte und gleichfalls in ein Mikroskop blickte. »Dich hatte ich schon ganz vergessen.«

In diesem Laboratorium ließ es sich herrlich arbeiten, und heute hatten er und Sharra es ganz für sich allein, da jeder vernünftige Mensch zum Feiern auf den Festplatz der Burg Fort gegangen war. Durch die große Thermopan-Scheibe konnte er die Banner sehen, die aus den Fenstern der Burg hingen, war jedoch gleichzeitig vor der arktischen Kälte geschützt, die den Norden des Kontinents noch immer fest im Griff hielt. Während er sich wünschte, an zwei Orten gleichzeitig zu sein - im Augenblick hätte er sich gern in der luftigen, sonnendurchfluteten Heilerhalle von Landing aufgehalten - genoss er die Behaglichkeit des neuen ›Hauptquartiers‹ seiner Zunft in Fort. Alles war vom Feinsten - angefangen von den geräumigen Lehrsälen bis hin zu den bequemen Privatunterkünften. Kein Wunder, dass immer mehr junge Leute sich für den Beruf des Heilers interessierten. Und es herrschte Bedarf an gut ausgebildeten Heilkundigen, in dieser Hinsicht machte er sich nichts vor.

»Du warst halt so in deine Arbeit vertieft«, kommentierte Sharra mit müdem Lächeln. »Konntest du das Virus identifizieren?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ob es sich um eine dieser Mutationen handelt, die in den Pathologie-Berichten erwähnt sind?«, mutmaßte sie. »Die Zeit hätte ausgereicht, um Mutationen der Viren hervorzubringen, deren Beschreibungen wir vom Akki kennen.«

»Das würde auch erklären, wieso Epidemien mitunter sämtliche Bewohner einer Festung befallen. Mit diesen Problemen haben wir bis jetzt gelebt, und zum Glück grassiert zurzeit nirgendwo eine geheimnisvolle Seuche. Wieso bist du eigentlich nicht bei Jaxom und deinen Kindern?«, wunderte er sich. »Schließlich ist heute der letzte Festtag zum Ende des Planetenumlaufs.«

»Sie feiern tüchtig in Ruatha«, entgegnete sie gelassen. »Jaxom musste den Bericht verlesen und die Petitionen entgegennehmen. Ich mache mich nützlicher, wenn ich hier forsche, anstatt daheim zu sitzen und mich zu langweilen.« Sie zeigte auf die Objektträger, mit denen sie arbeitete. Dann massierte sie sich den verspannten Nacken. »Ob wir wohl je diese Elektronenmikroskope besitzen werden, von denen in den Akki-Dateien die Rede war?«

Oldive gestattete sich ein vergnügtes Glucksen, während er vorsichtig von seinem Stuhl herunterrutschte. Ohne seinen Buckel wäre er ein groß gewachsener Mann gewesen, denn er hatte lange Beine. Aber die Verformung der Wirbelsäule stellte das Becken schräg, und trotz der Einlage in einem Schuh hinkte er.

»Meister Morilton ist zurzeit einer der gefragtesten Handwerker«, entgegnete er und deutete auf die Schränke mit den zahlreichen gläsernen Behältern, die die Glasmacherhalle eigens für die Bedürfnisse der Heiler hergestellt hatte.

»Nur gut«, beschied ihm Sharra, »dass der Rat - und das sogar ausnahmsweise einstimmig - beschlossen hat, die Heilerhallen als Erste zu beliefern. Die Gesundheit der Menschen muss immer an oberster Stelle stehen. Es geht uns schließlich nicht darum, moderne Geräte anzusammeln, ohne die unsere Gesellschaft seit zweitausendfünfhundert Planetenumläufen ausgekommen ist.«

Oldive pflichtete Sharra voll und ganz bei. Schwerfällig humpelte er zu dem kleinen Ofen, auf dem eine Kanne mit Klah warm gehalten wurde. Jemand hatte inzwischen ein Tablett mit Verpflegung gebracht. Er schlug die Serviette zurück und staunte über die großzügigen Portionen. Wer kümmerte sich so rührend um ihr leibliches Wohl? Die Fleischbällchen waren noch warm. Er nahm sich vor, sich nicht mehr so in seine Studien zu vertiefen, dass er seine Umgebung gar nicht mehr wahrnahm.

»Jemand hat uns einen Imbiss bereitgestellt«, sagte er Sharra.

»Ach ja, ich hätte es dir sagen sollen«, rief sie und glitt von ihrem Stuhl herunter. »Aber ich war so mit den Objektträgern beschäftigt, dass es mir entfallen ist.« Sie gesellte sich zu Oldive und schenkte für beide Klah ein.

»Ich finde, wir haben bereits eine Menge geschafft, Sharra«, nuschelte er mit vollem Mund. »Allein die Einrichtung dieses Labors ist eine beachtliche Leistung. Und Morilton denkt darüber nach, eine Glasmacherhalle nur auf Artikel für die Heilerzunft zu spezialisieren.« Mit gewölbten Brauen blickte er auf seinen Arbeitstisch mit dem Mikroskop. Dann hob er die Hand, als aus der Ferne ein eigenartiges Geräusch ertönte.

Sharra spitzte die Ohren. »Klingt fast nach zersplitterndem Glas. Meine Güte!« Sie stellte ihren Klah-Becher ab und stürzte zur Tür. Sowie sie sie aufriss, war das Geklirre und Geschepper viel deutlicher zu hören.

»Meer, Talla!«, rief sie ihre beiden Feuerechsen.

»Was ist los? Was geht hier vor? Welcher tollpatschige Lehrling tobt sich an unseren kostbaren Sachen aus?«, brüllte Oldive.

Trotz seiner Behinderung vermochte sich Oldive mit überraschender Flinkheit zu bewegen. Doch nachdem Sharra einen Blick nach draußen riskiert hatte, hielt sie Oldive mit Gewalt zurück, knallte die Tür ins Schloss und verriegelte sie.

Rutil!

Selbst wenn der weiße Drache auf Ruathas Feuerhöhen schlummerte, würde er ihrem mentalen Ruf folgen, gleichgültig, wo sie sich befand. Meer und Talla tauchten aus der Luft auf, mit offenen Mäulern, bereit, panisch loszukreischen, doch ein strenger Befehl von Sharra unterdrückte diesen Instinkt.

»Ich weiß nicht, wer diese Vandalen sind, Oldive«, wisperte Sharra, »aber ein paar Leute schlagen im Destillationsraum alles kurz und klein, als glaubten sie, niemand könne sie hören.«

Der unerschrockene Meisterheiler setzte zu einem neuen Versuch an, das Labor zu verlassen, doch Sharra klammerte sich an seinen Arm.

»Außer uns dürfte niemand hier sein«, beschied er ihr grimmig. Er hatte selbst dem Geringsten seiner Lehrlinge anheim gestellt, sich auf den Festlichkeiten zum Ende des Planetenumlaufs zu vergnügen.

»Aber ein paar Menschen wüten hier wie die Verrückten«, zischte sie mit zornig blitzenden Augen. Behutsam zog sie den Riegel zurück und öffnete die Tür einen Spalt breit. Der Lärm hatte beträchtliche Ausmaße angenommen. Dann fiel ein Schatten über das Laborfenster, und sie atmete erleichtert auf. »Wie dem auch sei, wir werden der Zerstörung Einhalt gebieten.«

Oldive schnappte nach Luft, als er den gigantischen weißen Leib des Drachens sah, der mit ausgestreckten Schwingen dicht vor der Fensterscheibe schwebte. Die Facettenaugen funkelten orangerot vor Zorn.

Rutil! wandte sich Sharra an den Drachen. Befiehl den Feuerechsen der Burg, die Eindringlinge anzugreifen. Die Feuerechsen fürchteten und respektierten den weißen Drachen und würden jedem seiner Befehle blindlings Folge leisten. Sich gedanklich auf das Bild konzentrierend, das sie bei ihrem Blick in den Korridor erhascht hatte, zeigte Sharra dem Drachen, worum es ihr bei dieser Anweisung ging. Meer und Talla stießen ein schrilles Zirpen aus und verschwanden. Nur Sekunden später hörten Sharra und Oldive laute Entsetzensschreie, das wütende Trompeten der Feuerechsen, jämmerliches Wehklagen und einen ohrenbetäubenden Radau.

Sharra fasste sich ein Herz und öffnete die Tür so weit, dass sie den Gang hinunter spähen konnte. Ein Schwarm Feuerechsen versuchte, in den Destillationsraum einzudringen. Dann teilte sich die Schar in mehrere Verbände, die unter gellendem Kreischen die Flure entlangflitzten und sich auf den unterschiedlichen Etagen der Halle verteilten.

Ein paar Männer und Frauen sind dabei, die Einrichtung der Heilerhalle zu demolieren, meldete Rutil. Das ist ein schwerer Frevel. Die Drachen von Fort kommen zu Hilfe.

Sharra und Oldive sahen zu, wie die Feuerechsen vier Personen aus dem Destillationsraum trieben. Von allen möglichen Seiten erklangen menschliche Schreie. Oldive stöhnte angewidert.

»Diese Vandalen werden noch bereuen, dass sie sich zu einem solchen Verbrechen hinreißen ließen«, sagte Sharra und setzte sich zielstrebig in Marsch. »Dafür sorge ich!«

»Als wir die neue Halle bauten, hätte ich nicht im Traum an so etwas gedacht!« Oldive schüttelte verzweifelt den Kopf, während er seiner Kollegin folgte. Er war ungeheuer stolz auf die Halle gewesen, die sich der besten und modernsten Apparaturen rühmen konnte, die Pern zu bieten hatte. Gewiss, die alte Heilerhalle lag zwischen der Harfnerhalle und der Burg in einer geschützten Position, aber mit Übergriffen von außen hätte er niemals gerechnet.

Sharra erreichte als Erste den Destillationsraum. Die Luft war durchtränkt mit den beißenden Dünsten der verschütteten medizinischen Flüssigkeiten und ausgekippten Kräutersuden. Sämtliche Regalborde und Schränke waren leer, die Glasbehälter lagen zersplittert am Boden. Selbst die Marmorplatten der Arbeitstische wiesen Risse auf, als hätte man sie mit Äxten bearbeitet. Geistesgegenwärtig zog sie die Tür zu, um Oldive den Anblick zu ersparen.

»Alles ist kaputt!«, empörte sie sich und bugsierte Oldive hastig zur Treppe. Sie fürchtete, in anderen Räumen der Halle könne es genauso aussehen.

Feuerechsen scheuchten die Vandalen nach draußen, wo sie auf eine Phalanx von einem Dutzend Drachen trafen, die mit ihren abgespreizten Schwingen und den wild wirbelnden roten Augen eine undurchdringliche Barriere bildeten. Noch mehr Drachen schwebten über dem Gebäudekomplex, mit ihren gewaltigen, ausgestreckten Flugmembranen bedrohliche Schatten werfend.

Rufe und Trommelschläge hallten durch die Felsenschlucht von Fort und kündigten an, dass Verstärkungstrupps nachrückten. Die eingeschüchterten Vandalen trieb man zu einem elenden Häuflein zusammen; ihre von den Feuerechsen attackierte Kleidung hing ihnen in Fetzen vom Leib, und mit blutenden Händen trachteten sie danach, sich vor weiteren Angriffen zu schützen. Kein Drache würde je einen Menschen verletzten, doch die Feuerechsen kannten diesbezüglich keine Hemmungen und hackten mit spitzen Zähnen und Krallen auf jeden in der Meute ein, der sich zu rühren wagte.

Ruf sie jetzt zurück, Rutil, ordnete Sharra an, die zum Luft holen auf dem obersten Treppenabsatz stehen geblieben war. Und danke ihnen für ihr schnelles Kommen. Wir brauchen dieses Gesindel lebend, damit es uns verrät, warum sie die Heilerhalle zerstören wollten.

Ein paar der wilden Feuerechsen weigerten sich anfangs zu gehorchen und fuhren fort, die eingekreisten Übeltäter zu piesacken. Doch ein donnerndes Grollen aus Rutils breitem Brustkorb schlug sie in die Flucht sodass nur noch die Drachen Wache hielten. Als diese keine Anstalten trafen, sich auf die zusammengekauerten Menschen zu stürzen, erhob sich einer der Männer aus seiner gebückten Haltung und glotzte Sharra und Oldive wütend an.

»Was hast du hier zu suchen?«, schnauzte der Meisterheiler. Vor ihm duckten sich fünfzehn Männer und Frauen, die alle mitgewirkt hatten, die kostbare Einrichtung der Heilerhalle zu zertrümmern. »Wie kommst du dazu, dich an fremdem Eigentum zu vergreifen?«

»Alles, was von dem Monstrum stammt, muss vernichtet werden!«, schrie ein Mann, dem der Fanatismus ins Gesicht geschrieben stand. »Wir wollen Pern von seinem unmoralischen Einfluss säubern!«

»Monstrum?« Der Ausdruck ließ Sharra erschauern. So nannten manche Leute das Akki. Und diese Fanatiker hatten Meister Robinton entführt, um den Rat zu zwingen, das Akki abzuschalten. Sie wollten verhindern, dass die Technologie, über die die ersten Siedler verfügten, die Pern kolonisierten, ihren Nachfahren wieder zugänglich gemacht wurde.

Die anderen Reaktionäre fassten Mut, nahmen eine provozierender Haltung ein und schüttelten drohend die Fäuste.

»Das Böse muss mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden!«, geiferte der Anführer der Gruppe. »Alles, was vom Akki herrührt, ist von Übel.«

Sharra fing in der Kälte an zu frösteln. Oldive machte ein verkniffenes Gesicht. Dann hörte man das Hufgeklapper der herangaloppierenden Renner, das Rumpeln von Karrenrädern und lautes Stimmengewirr. Lioth, der Bronzedrache des Weyr-Führers von Fort, N'ton, legte den mächtigen Kopf schräg und ließ die orange glühenden Augen aufgeregt kreiseln.

Sie kommen, Sharra, meldete Rutil und reckte den Kopf drohend in die Richtung der Fanatiker. Deren skandiertes Protestgeschrei geriet ins Stocken, als sie das Trommeln der Hufe und die gebrüllten Befehle hörten. Ihr Anführer ließ sich von der nahenden Verstärkung indessen nicht beeindrucken und feuerte seine Leute zu noch leidenschaftlicheren Widerstandsbekundungen gegen das Akki auf.

»Die Traditionen müssen aufrecht erhalten werden!« Seine trotzige Haltung, der stechende Blick und das kampfeslustig vorgeschobene Kinn stärkten seinen Anhängern den Rücken. »Weg mit dem Monstrum!«

»Kehrt zu den alten Traditionen zurück!«, kreischte eine der drei Frauen und fuchtelte mit einer blutigen Hand vor Rutils Kopf herum, der das tobende Frauenzimmer ungerührt anstarrte.

»Unsere Petitionen wurden ignoriert!«

»Wir wehren uns gegen das Monstrum!«

»Wir lehnen das moderne Zeug ab!«

»Weg mit dem Monstrum! Weg mit dem Monstrum!«

Sharra und Oldive ließen das Geschrei mit stoischer Ruhe über sich ergehen.

Als sich der Verstärkungstrupp näherte, falteten die Drachen ihre Schwingen zusammen und gaben den Berittenen den Weg frei. Lioth rückte enger an Rutil heran. Sharra wusste, das sein Reiter, N'ton, sich in der Vorhut befinden würde. Doch als Erste trafen zwei von Lord Groghes Söhnen ein, die auf einem kräftigen grauen Renner saßen, der weder Sattel noch Zaumzeug trug und nur mit einem Stallhalfter gelenkt wurde. Kurz vor den Rebellen parierte Haligon den Grauen durch und schwang sich von seinem Rücken. Seine Miene und seine Haltung drückten eine solche Wut aus, dass die Protestierenden ängstlich zurückwichen.

Manchmal kommt es vor, dass einem in den dramatischsten Augenblicken Nichtigkeiten auffallen, und so bemerkte Sharra, dass Haligons elegante Festkleidung von den grauen Haaren des Renners verunziert wurde. Horon, der sich breitbeinig neben seinem Bruder aufpflanzte, machte einen ähnlich verwegenen Eindruck.

Eine Gruppe blau gekleideter Harfner, angeführt von Meisterharfner Sebell, eilte zu Fuß herbei. Es folgte ein von N'ton gelenkter Karren, auf dem sich tatendurstige Pächter drängten, manche mit Knütteln oder Keulen bewaffnet. Die Eingekesselten hatten sich von ihrem ersten Schrecken erholt und nutzten die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, um erneut zu protestieren.

»Zerstört alles, was mit dem Akki zu tun hat!«

»Pern muss sauber bleiben!«

»Haltet euch an die Traditionen!«

»Vom Akki kann nichts Gutes kommen!«

Buhrufe ausstoßend, sprangen die Pächter von dem Karren, die Knüppel drohend erhoben. Auf dem Vehikel hatten auch ein paar Personen in grüner Kleidung gesessen, welche sie als Angehörige der Heilerzunft auswies. Die hetzten nun die Treppe hinauf zu Sharra und Oldive.

»Sieh nach, wie groß der angerichtete Schaden ist, Keita«, bat Oldive die Gesellin, die als Erste bei ihm anlangte. »Geh zuerst in die Krankenstation.«

Sharra spürte, wie Oldive am ganzen Leib zitterte. »Hat jemand einen Umhang für Meister Oldive?«, rief sie. Sie merkte, dass sie selbst entsetzlich fror, jetzt, da sich der Adrenalinpegel in ihrem Blut allmählich wieder senkte.

»Harfner!«, wandte sich Sebell an seine Leute. »Geht mit Keita und helft ihr!«

Derweil skandierten die Fanatiker pausenlos ihren aberwitzigen Sprechgesang - bis Lord Groghe auf der Bildfläche erschien. Er ritt auf einem gesattelten Renner, denn für sportliche Extravaganzen war er nicht mehr jung genug. Und dankbar vermerkte Sharra, dass ihr jemand einen pelzgefütterten Umhang um die Schultern legte.

»Weg mit dem Monstrum!«

»Haltet euch an die alten Bräuche!«

»Ruhe!«, donnerte Groghe, seinen mächtigen Renner so kurz vor der Gruppe zügelnd, dass der Anführer der Saboteure beinahe unter die Hufe gekommen wäre. Der Kerl warf sich im letzten Moment zur Seite und landete auf den Knien. Erst jetzt vergegenwärtigte sich Sharra, dass die Reaktionäre die Dreistigkeit besaßen, grüne Gewänder zu tragen. Es war nicht das originale Grün der Heilerzunft, doch leicht mit dieser Nuance zu verwechseln, und es erklärte, wie sie sich unbehelligt Zutritt zu der Heilerhalle verschaffen konnten.

Das Gesicht zorngerötet, stierte Groghe auf den Mann hinunter. Mit seinem weiten, sich bauschenden Umhang und den prächtigen Festtagsgewändern gab der Burgherr eine Furcht einflößende Erscheinung ab.

Es herrschte eine gespannte Stille, die plötzlich von einem jämmerlichen Stöhnen unterbrochen wurde.

»Ich bin verletzt!«, schrie eine Frau und blickte erschrocken auf ihre blutbesudelte Hand, mit der sie sich die Stirn abgewischt hatte.

»Von mir aus kannst du verbluten!«, herrschte Sharra sie an.

»Kopfverletzungen bluten immer stark«, mischte sich Oldive ein und stieg die Treppe herunter. Sharra folgte ihm eilig. Oldive schlug den Umhang zurück, den ihm jemand um die Schultern gelegt hatte, fasste in seine Gürteltasche und holte eine Bandage hervor. Als er sich der Frau näherte, zuckte sie zurück, doch er brauchte nicht lange, um die Art der Wunde einzuschätzen. »Das muss genäht werden«, konstatierte er.

Die Frau erbleichte und fiel in Ohnmacht.

»Nein!«, schrie der Anführer der Saboteure. Er beugte sich über die Frau, wie um zu verhindern, dass der Heiler sie anfasste. »Nein! Keine Eingriffe, die das Monstrum ausgeheckt hat. Erspart ihr diese Schändung!«

Groghe stieß einen Fluch aus. Seine Erregung übertrug sich auf den Renner, der nervös zu tänzeln anfing. Unter den Umstehenden erhob sich wütendes Gemurmel.

»Lass sie doch krepieren, Heiler!«, grölte jemand.

»Erspar ihr die Schändung durch deine Heilkunst!«, spottete ein anderer.

»Wunden sind seit jeher genäht worden, und nicht erst, seit das Akki sich wieder einschaltete!«, wandte sich Oldive an den Anführer. »Aber hier könnte man tatsächlich darauf verzichten. Die Frau wird auf keinen Fall verbluten.«

»Schade!«, kommentierte ein Zyniker.

Oldive hob eine Hand, und die Menge schwieg respektvoll. »Die Schnittwunde ist lang, geht aber nicht tief. Die Blutung hört von selbst auf, doch wenn man die Verletzung nicht näht, bleibt eine hässliche Narbe zurück. Außerdem muss man an der Stelle das Kopfhaar abrasieren, um eine Infektion zu vermeiden. Taubkraut wird die Schmerzen lindern.« Er legte eine Pause ein und fuhr in nüchternem Ton fort: »Ich bitte zu beachten, dass das Taubkraut bereits auf Pern wuchs, als noch keines Menschen Fuß diesen Planeten betreten hatte.«

Der Anführer starrte Oldive hasserfüllt an.

»Durch meine kostenlose Beratung habe ich hiermit meine Pflicht als Heiler erfüllt«, schloss Oldive. »Zu einer Behandlung kann und darf ich niemanden drängen.«

»Keine Behandlung durch jemanden, der dem Monstrum verfallen ist!«, schrie einer der Fanatiker.

Oldive nickte nur. »Dann sorgt selbst dafür, dass es der Frau besser geht.« Äußerlich gefasst, wandte er sich von der Gruppe ab. Sebell stellte sich an seine Seite, um zu bekunden, dass er seine Vorgehensweise billigte.

In diesem Moment kam die Gesellin Keita aus der Halle gestürmt, gefolgt von anderen Heilkundigen. Alle machten einen bestürzten, niedergeschmetterten Eindruck.

»Sie haben Moriltons letzte Lieferung völlig zerstört«, rief Keita und ballte die Fäuste. »Es wird Monate dauern, um Ersatz zu beschaffen. Der Destillationsraum ist total verwüstet. Sämtliche Flaschen, Behälter und Kanister wurden geleert, und auf den Inhalt haben sie …« - ehe sie fortfahren konnte, musste sie tief Luft holen - »gepinkelt!«

Ehe Groghe einschreiten konnte, schlug ein Pächter den Rebellen, der ihm am nächsten stand, mit einem Knüppel zu Boden.

»Keine Gewalt!«, brüllte Groghe. »Das verbiete ich!« Die Menge, die dabei war, sich auf die Saboteure zu stürzen, hielt angesichts von Lord Groghes geballtem Zorn inne. »Ich bin der Burgherr. Ich verhänge Strafen. Und diese Übeltäter werden bestraft, darauf habt ihr mein Wort!« Mit einem kräftigen Schenkeldruck trieb er sein Reittier nach vorn. »Du da!« Mit dem Finger stach er auf den Anführer ein, der erschrocken zur Seite sprang, um sich vor den mächtigen Hufen des Renners in Sicherheit zu bringen. »Wie heißt du, woher kommst du, und welcher Zunft gehörst du an?«

»Alle tragen grüne Bekleidung, Lord Groghe«, flocht Keita mit erhobener Stimme ein.

»Aber ich sehe weder Rangabzeichen noch Burgfarben«, stellte Sebell fest, der die Rebellen forschend umkreiste.

»Ich frage dich noch einmal!«, wetterte Lord Groghe. »Wie heißt du, woher kommst du, und welcher Zunft gehörst du an?«

Er und die Umstehenden warteten ungeduldig auf die Antwort. Die Rebellen blickten trotziger drein denn je.

»Durchsucht sie!«, befahl Groghe. Mehr als genug Männer drängten sich vor, um die Anordnung zu befolgen. »Ich hatte durchsuchen gesagt, nicht nackt bis auf die Haut ausziehen!«, bremste der Lord die Übereifrigen.

»Warum nicht? Vielleicht löst die Kälte ihre Zungen«, schlug ein stämmiger Bursche vor, der die Farben von Fort und einen Gesellenknoten trug.

Die Vandalen protestierten lautstark gegen die allzu raue Behandlung.

»Wir haben Rechte!«, schrie ihr Anführer, den ein paar handfeste Helfer in die Mangel genommen hatten.

»Die habt ihr heute verwirkt!«, schnauzte jemand ihn an. »Warum hast du dem Burgherrn nicht geantwortet?« Der Mann kehrte die Taschen des Vandalen nach außen, und ein paar Viertelmarken fielen auf den hart gefrorenen Boden.

Jählings deutete Keita auf eine Frau, deren Jacke und Bluse offen standen und eine rot entzündete Brust enthüllten.

»Die da kenne ich!«, erklärte die Gesellin. »Sie kam in die Heilerhalle und verlangte eine Salbe gegen den Ausschlag.«

»Komm her!«, befahl Groghe der Frau.

»Dass du sie ja nicht anrührst, verflixte Heilerhexe!«, brüllte der Anführer und versuchte, sich von Groghes Helfern loszureißen.

»Ich gab dir eine lindernde Salbe«, herrschte Keita die Frau an. »Aber anscheinend hast du sie nicht einmal benutzt. Hoffentlich leidest du für den Rest deines Lebens unter diesem juckenden Ausschlag.« Sie wandte sich von der Frau ab, die sich hastig wieder unter die anderen Rebellen mischte.

»Keita«, begann Oldive, »kannst du dich erinnern, wann genau die Frau dich aufsuchte? Nannte sie vielleicht einen Namen oder andere Einzelheiten?«

»Ich werde in den Unterlagen nachsehen«, rief Keita und eilte die Treppe hinauf.

»Wahrscheinlich war sie in erster Linie darauf aus, sich in der Heilerhalle ortskundig zu machen«, mutmaßte Sebell.

Bei den Saboteuren wurde nichts Aufschlussreiches entdeckt. Groghe ließ die Durchsuchung beenden, und die Übeltäter richteten ihre durcheinander geratene Kleidung.

Sebell hatte eine Idee. »Die Kleidungsstücke und die Stiefel, die sie tragen, könnten uns verraten, wo die Sachen hergestellt wurden. Auf dem Fest befinden sich genug Weber und Schuhmacher, die vielleicht imstande sind, uns weiterzuhelfen.«

Sharra fing an zu lachen und zeigte auf die abgetragenen, schmutzigen Stiefel der Gefangenen. »Dieses ausgelatschte Schuhwerk ist sicher nicht mehr zu identifizieren. Die Leute sind nicht gekleidet, als wollten sie an einem Fest teilnehmen. Aber die verdreckten Stiefel deuten darauf hin, dass sie eine lange Strecke geritten sind. Ob sie ihre Renner in den Stallungen der Burg versteckt haben, um nach vollbrachter Tat schnell flüchten zu können? Möglicherweise findet sich interessantes Material in den Satteltaschen.«

Sie sah, wie einige der Vandalen bei ihren Worten zusammenzuckten. Groghe schickte Haligon los, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Stallungen der Burg lagen westlich des Haupteingangs. Ein halbes Dutzend Pächter begleiteten Haligon.

»Sharra hatte Recht, Vater!«, rief Haligon nach einer Weile. »Die Renner wurden hier untergebracht und fressen, was das Zeug hält.«

»Raffiniert«, meinte N'ton. »Im gestreckten Galopp zum Hafen und dann auf ein Schiff, das sie von hier fortbringt.«

»Es wäre nicht das erste Mal«, entgegnete Sebell ergrimmt.

»Wärst du so freundlich, den Hafen nach einem verdächtigen Boot überprüfen zu lassen, N'ton?«, fragte Groghe den Weyr-Führer.

»Mit Vergnügen«, erwiderte N'ton. Er bestimmte vier Reiter, die neben ihren Drachen standen, den Hafen in Augenschein zu nehmen. Sowie die Drachen in der Luft schwebten, tauchten Feuerechsen auf und umschwirrten sie mit aufgeregtem Gekreische.

»Ihr habt eine große Dummheit begangen«, wandte sich Lord Groghe mit ernster Miene an die Gefangenen. »Euch kam wohl gar nicht in den Sinn, man könnte euch auf frischer Tat ertappen. Ihr wolltet euer schmutziges Werk vollenden und dann die Flucht ergreifen.«

Der Anführer setzte eine arrogante Miene auf und blickte betont in eine andere Richtung, doch seine Leute waren durch die grobe Behandlung bei der Durchsuchung ziemlich kleinlaut geworden. Den meisten von ihnen hatte man den Schneid abgekauft. Zwei sahen bedrückt zu, wie man ihre Reittiere aus den Stallungen führte, um sie draußen näher zu begutachten. Eifrige Hände griffen nach den Satteltaschen und kippten deren Inhalt auf den Boden.

»Es handelt sich um fünfzehn Saboteure, nicht wahr?«, sinnierte N'ton und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vor ein paar Tagen sah einer meiner Patrouillenreiter eine solche Gruppe, die auf einer Lichtung am Ruatha-Fluss campierte.«

»Und das hat er nicht gemeldet?«, entrüstete sich Groghe.

»Er gab mir Bescheid«, erwiderte N'ton. »Natürlich ging er davon aus, dass diese Leute unterwegs waren, um an der Versammlung und an den Feiern zum Ende des Planetenumlaufs teilzunehmen. Im Übrigen erwähnte er ihre grüne Bekleidung.«

Groghe stieß einen knurrenden Laut aus. Er musste zugeben, dass auch er nicht mit einem Angriff auf die Heilerhalle gerechnet hatte. Jeder, der um diese winterliche Zeit die Strapazen einer weiten Reise auf sich nahm, wollte mit den Annehmlichkeiten eines großen, bedeutenden Festes belohnt werden.

Sharra, die neben Oldive stand, spürte, wie ihre Füße trotz der dicken Stiefel vor Kälte taub wurden. Ihr fiel ein, dass der Heiler lediglich leichtes Schuhwerk trug.

»Du solltest wieder in die Halle gehen, Meister«, drängte sie ihn. »Das Ganze hat dich sehr mitgenommen.« Sachte bugsierte sie ihn zur Tür.

Doch er sträubte sich. »Nein. Ich bleibe hier. Es ist meine Halle, die zerstört wurde.« Er wickelte sich fester in seinen Umhang.

Sebell trat vor und bot Oldive eine kleine Feldflasche an.

»Trink, Meister Oldive. Es ist ein stärkender Wein aus deiner eigenen Herstellung.« Dankbar nahm Oldive einen großen Schluck.

»Vater!«, frohlockte Haligon, hob eine schmale Brieftasche hoch und reichte sie Groghe.

Unter den gespannten Blicken der Zuschauer prüfte der Burgherr den Inhalt der Brieftasche.

Mit den Fingerspitzen zog Groghe ein Stück Papier heraus. »Nanu, was ist denn das?«, mimte er den Erstaunten, sich an den Rädelsführer wendend. »Du benutzt ein Material, deren Herstellung uns das Monstrum gelehrt hat? Obendrein wurde es von einer Druckerpresse bedruckt, die gleichfalls nach den Anweisungen dieses Monstrums konstruiert wurde. Wenn es dir passt, machst du dir die modernen Errungenschaften dieses Ungetüms offenbar skrupellos zu Nutze.«

Sharra verbiss sich ein hämisches Grinsen. Sie kannte den sonst so pragmatisch auftretenden Burgherrn gar nicht wieder. Ironie lag ihm normalerweise nicht, doch heute schien er groß in Form zu sein, und seinen Pächtern gefiel es. Tanzen und Singen war gut und schön, doch ein Zwischenfall wie dieser trug erheblich mehr zu ihrer Unterhaltung bei. Sie würden sich selbst an die winzigsten Einzelheiten erinnern und die Geschichte dann in epischer Breite ihren Freunden und Bekannten zum Besten geben, die diese köstliche Ablenkung versäumt hatten.

»B?«, las Groghe und hielt sich den Zettel vor die Augen. »Bist du das?« Er fixierte den Anführer mit einem durchdringenden Blick.

»Einer von denen kommt aus Crom, Lord Groghe«, rief ein Mann, der gerade einen Renner begutachtete. »Dieses Tier trägt das entsprechende Brandzeichen. Unter all dem Dreck kaum zu sehen.« Er schüttelte den Kopf angesichts der Verwahrlosung.

»Der Renner hier stammt gleichfalls aus Crom«, meldete ein Harfner.

»Vielleicht wurden sie gestohlen«, mutmaßte N'ton. »Wir sollten herumfragen, wer sein Reittier vermisst.«

»B?«

»Vater«, mischte sich Horon ein, »wo es ein ›B‹ gibt, gibt es möglicherweise auch ein ›A‹ und ein ›C‹. Andere Heilerhallen könnten genauso überfallen worden sein. Der heutige Festtag bietet sich für einen Angriff geradezu an, kaum jemand arbeitet, die meisten Leute feiern.«

Fernes Getrommel rollte durch die Felsenschlucht und erschreckte die Versammelten. Jedermann schaute zum Trommelturm der Harfnerhalle.

»Leider hast du Recht, mein Sohn«, seufzte Groghe, während er und alle anderen die getrommelte Botschaft entzifferten. Sie stammte aus Boll und handelte von Vandalismus.

Die Absenderin war Janissian. Sie meldete, die Heilerhalle sei zerstört und zwei Gesellen sowie ein Lehrling verwundet worden.

»Ich verabscheue Menschen, die Heilern ein Leid antun!«, schrie Groghe und sein Renner begann aufgeregt zu tänzeln. Dann erteilte der Burgherr in rascher Folge Befehle.

»Nehmt den Karren und schafft das Gesindel in die Burg. Horon, du sperrst die Vandalen in eine der unterirdischen Kammern.« In seinen Zügen gewitterte es. »Ohne künstliches Licht und ohne Kontakt zu anderen Personen. Ich lasse keine Ausnahme gelten. Sie bekommen nur Wasser. In Flaschen abgefülltes Wasser!«

Die Umstehenden jubelten.

Lord Groghe zeigte auf den Anführer. »B wird in das kleine Kabuff gebracht. N'ton, Sebell, ihr beide werdet ihn dort verhören. Nimmst du auch an der Befragung teil, Meister Oldive?«

»Ich werde hier gebraucht …« Mit einer matten Handbewegung deutete der Heiler auf die Halle. Sharra rückte in einer tröstenden Geste näher an ihn heran.

»Natürlich, du kannst deine Zeit sinnvoller nutzen, als dich mit diesem Lumpenpack zu befassen«, pflichtete Groghe ihm bei und vollführte mit seinem Renner eine Wendung.

»Diese Frau ist ohnmächtig!«, kreischte das Weibsbild mit dem Ausschlag. Empört wies sie auf das Frauenzimmer mit der Kopfwunde, das reglos am Boden lag.

»So kann sie wenigstens keinen Schaden mehr anrichten«, gab Groghe ungerührt zurück und bedeutete ein paar Männern, die neben ihm standen, die Bewusstlose auf den Karren zu laden. Angesichts der finsteren Mienen der Pächter und der unverhohlen geschwungenen Knüppel beeilten sich die Rebellen, auf das Gefährt zu klettern.

»Bringt den ganzen Kram zur Burg, Leute«, befahl Groghe den Männern, die noch dabei waren, in den Satteltaschen der Renner zu stöbern. »Haligon, B darf auf dieser Schindmähre aus Crom reiten. Verfrachte ihn auf den Rücken des Kleppers und fessele ihm die Hände. Mir wird es jetzt zu kalt, und ich habe heute noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen.« Mit einem leichten Schenkeldruck trieb Groghe seinen Renner zur Treppe, wo Meister Oldive, Sharra und Sebell standen.

»Für euch tut es mir schrecklich Leid«, erklärte er mit ehrlichem Bedauern. »Geht es dir auch wirklich gut, Meister Oldive? Ich werde meinen ganzen Einfluss als Burgherr geltend machen, dass dieses Gesocks angemessen bestraft wird. Etwas Abgefeimteres kann ich mir kaum vorstellen. Klammheimlich wollten sie sich an fremdem Eigentum austoben und sich dann ungesehen wieder aus dem Staub machen. Sämtliche Hinterleute, die diese Untaten decken, müssen ausfindig und unschädlich gemacht werden.«

Traurig schüttelte Oldive den Kopf. »Ich fürchte, es gibt jede Menge Fanatiker dieses Schlages.«

Sebell warf Oldive einen argwöhnischen Blick zu und kniff die Lippen zusammen.

Groghe fürchte die Stirn. »Ich hatte gehofft, seit dem Vorfall in Ruatha seien wir diese Reaktionäre losgeworden. Habe ich nicht Rutil irgendwo gesehen?« Aufmerksam spähte er in die Runde.

»Vermutlich holt er gerade Jaxom«, erwiderte Sharra.

Groghe räusperte sich und ritt zu der Stelle, wo man B soeben auf das Tier von Crom verfrachtete. Haligon, der auf seinem ungesattelten Grauen saß, hielt den Führzügel. Lord Groghe stellte sich in die Steigbügel und richtete das Wort an die Menge.

»Jeder, der mithilft, die Heilerhalle wieder instand zu setzen, erhält eine Belohnung«, rief er mit dröhnender Stimme und ließ seinen Renner dabei im Kreis tänzeln, damit alle seine Botschaft hören konnte. »Und nun lasst uns aufbrechen. Ich danke jedem Einzelnen von euch für seine Unterstützung.«

Er ritt an der Spitze des Pulks, der sich auf die Burg zu in Bewegung setzte, gefolgt von Haligon und denjenigen, die sich nicht durch die versprochene Belohnung verlocken ließen, bei der Heilerhalle zu bleiben.

Die Drachen sprangen in die Höhe und flogen mit mächtigen Schwingenschlägen den kurzen Weg zur Burg.

Der von Lord Groghe angeführte Zug befand sich mitten in der Schlucht, als die Luft über der Heilerhalle plötzlich zu brodeln und zu schäumen schien. Eine große Schar Drachen tauchte unversehens auf. Erschrocken krallten sich Meer und Talla in Sharras Schultern fest.

»Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«, schrie Sharra. Sie erkannte nicht nur Ramoth und Mnementh, sondern auch Golanth, der F'lessan auf dem Rücken trug, und Heth, der von K'van geritten wurde.

»Anscheinend hat Meister Oldive Recht, wenn er glaubt, noch mehr Hallen seien angegriffen worden«, seufzte Sebell.

Rutil erschien als Letzter. Einen überraschten Trompetenton ausstoßend, fädelte er sich in den Drachenschwarm ein, der noch in der Luft kreiste. Dann landete er in einem waghalsigen Manöver, das eine Menge Staub hochwirbelte und Sharras Röcke zum Flattern brachten. Sie prallte zurück und spürte im nächsten Augenblick, wie Jaxom sie in die Arme schloss.

»Wurde Ruatha auch überfallen?«, fragte sie ängstlich. Die Vorstellung, ihre kostbaren medizinischen Vorräte könnten Schaden genommen haben, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

»Nein, nein!«, erwiderte Jaxom und presste sie fest an sich.

»Aber es gab einen Zwischenfall in Boll.«

»Ich habe die Trommeln gehört«, entgegnete er.

Alarmiert durch die Ankunft so vieler Drachen, kam Groghe zurückgaloppiert, mit wehendem Umhang und finsterer Miene. Mit einer Geschmeidigkeit, die angesichts seines vorgerückten Alters verblüffte, schwang er sich aus dem Sattel und trat zu den Neuankömmlingen. Sharra bedauerte es, dass Rutil ungewollt ein so massives Aufgebot an Drachen herbeigerufen hatte. F'lessan würde wegen dieses mittlerweile sinnlos gewordenen Einsatzes nicht meutern, doch sie bezweifelte, ob die Weyr-Führer von Benden genauso tolerant reagieren mochten. Ein Blick in deren übermüdete Gesichter verriet ihr, dass die beiden offensichtlich mitten aus dem Schlaf gerissen wurden.

»Hmm, hier hat es also auch die Heilerhalle erwischt«, stellte F'lar fest, während er sich zu Sharra, Oldive und Sebell gesellte.

»Was soll das heißen?«, fragte Groghe.

»Das Gleiche ist in Benden und Landing passiert«, sagte F'lar.

»Und im Süden«, ergänzte K'van, der Lessa und Sharra grüßend zunickte.

»Wir waren noch dabei, Toronas zu beruhigen, als F'lessan uns eine Nachricht schickte«, erklärte Lessa, die einen erschöpften Eindruck machte.

»Das kann kein Zufall sein«, meinte F'lar. »Es handelt sich um einen bis ins kleinste Detail koordinierten Plan.«

»Lasst uns hineingehen«, schlug Oldive vor.

»Der Speisesaal ist beheizt, und er wurde nicht zerstört«, sagte Keita, die auf dem oberen Treppenabsatz erschien.

»Wir könnten alle ein heißes Getränk vertragen.« Sharra drängte Oldive, er möge vorangehen.

»Die Vorkommnisse waren keine spontanen Entschlüsse von irgendwelchen frustrierten Hitzköpfen«, sinnierte Lessa, als alle einen Becher Klah mit einem Schuss Likör darin vor sich stehen hatten. »Jemand nutzte die Feiertage bewusst aus, weil die Saboteure dann am ungestörtesten wüten konnten.«

»Trotzdem wurden sie ertappt«, sagte F'lessan. »Eine von T'gellans grünen Reiterinnen ging nachschauen, als sie das Splittern von Glas hörte, und verhinderte so einen größeren Schaden.« Er blickte zornig drein. »T'gellan verhört die drei Missetäter, die man geschnappt hat.«

»Der Heiler in Benden kam nicht mit dem Schrecken davon«, erzählte F'lar. »Aber seine Gehilfin meint, er würde wieder ganz gesund werden. Unsere Geschwader suchen nach den Verbrechern.«

»Sintary erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Vandalen«, sagte K'van. »In dem dichten Dschungel wird es nicht leicht sein, sie aufzustöbern.«

»Wir haben die Gauner festgenommen!«, rief Groghe zufrieden und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ihr Anführer scheint ein hartgesottener Bursche zu sein«, bemerkte Sebell. »Er kommt mir vor wie jemand, der bereit ist, für seine Überzeugung zu sterben.«

»Ich bezweifle, ob die anderen ebenso stark sind«, erwiderte Sharra. »Die Frau mit der Kopfwunde machte auf mich einen recht wehleidigen Eindruck.«

»Und das Weib mit dem Hautausschlag wird noch um medizinischen Beistand winseln, wenn sich das Ekzem erst über den ganzen Körper ausbreitet und zu jucken anfängt«, warf Keita ein und reichte ein Tablett mit warmen, frisch gebackenen Brötchen herum.

Sharra schnalzte scheinheilig mit der Zunge. »Lasst sie erst richtig durstig werden.«

»Wovon redet ihr?«, fragte Lessa. »Ich verstehe kein Wort.«

Sebell erklärte ihr, was sich zugetragen hatte. Lessas Schmunzeln ging über in ein ausgiebiges Gähnen.

»Ich bitte um Entschuldigung, aber wir haben letzte Nacht kaum geschlafen«, erklärte sie.

»Hier gibt es Gästequartiere, Lessa«, wandte Oldive rasch ein. »Legt euch ein Weilchen aufs Ohr.«

»So gebrechlich sind wir auch wieder nicht«, wandte F'lar knurrig ein.

»Du magst noch Energie haben, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, F'lar«, hielt Lessa ihm entgegen und stand auf. »Ich möchte jetzt ein paar Stunden schlafen. Egal wo.«

»Natürlich, natürlich«, beeilte sich Groghe zu sagen. »Bei uns in Fort bist du jederzeit willkommen.«

»In Ruatha auch, das versteht sich wohl von selbst«, verkündeten Jaxom und Sharra, die wussten, wie gern Lessa den Ort ihrer Geburt aufsuchte.

Lächelnd schüttelte die Weyr-Herrin den Kopf.

»Ramoth und Mnementh sonnen sich bereits auf den Feuerhöhen von Fort. Ich hätte gern ein ruhiges Plätzchen zum Ausschlafen. Und zwar hier, wo man vom Festlärm nichts hört.«

»Splitter und Scherben! Ich muss zur Versammlung zurück. Die Leute verlangen nach einer Erklärung für den Vorfall und wollen mir ihre Petitionen übergeben.« Groghe erhob sich von seinem Platz. »Mit den Fanatikern befasse ich mich später. Sollen sie vorerst in ihrem eigenen Saft schmoren. Kann ihnen nur gut tun.«

»Ich glaube nicht, dass diesen verblendeten Reaktionären noch zu helfen ist«, erwiderte Sharra nüchtern.

Keita schickte sich an, die Weyr-Führer von Benden in ihre Gästequartiere zu geleiten.

»Ich muss zurück und Lord Toric Bericht erstatten«, bedauerte K'van. »Vermutlich ärgert es ihn, dass er nicht der einzige Betroffene ist, sondern sich in zahlreicher Gesellschaft befindet.«

»Toric zieht es allerdings vor, einzigartig zu sein«, bestätigte F'lar. Er wusste um den wackeligen Friedensschluss zwischen K'van und dem Großgrundbesitzer auf dem Südkontinent.

»Wir halten ihn auf dem Laufenden«, versprach Groghe und nickte zur Bekräftigung. Er selbst stand auch auf Kriegsfuß mit dem streitlustigen Burgherrn. »Es gab Vandalismus in Landing, Benden, Boll und im Süden. Wo könnten die Reaktionäre als Nächstes zuschlagen?«

»Wenn sie im Hochland angreifen, sollten sie die Schneestürme nicht unterschätzen«, gab Lessa mit ihrem trockenen Humor von sich und folgte Keita aus dem Speisesaal.

F'lar hielt kurz inne. »Was ist, F'lessan, kommst du mit uns?«

»Nein, so gern ich es möchte. Aber ich will mich davon überzeugen, ob es dieser grünen Reiterin gut geht. Die Vandalen haben sie angegriffen, ehe ihr Drache ihr helfen konnte.«

Die Gesellschaft zerstreute sich, und niemand war so taktlos, die üblichen guten Wünsche zum Beginn des neuen Planetenumlaufs auszusprechen.

Ehe Groghe, Sebell und N'ton den Festplatz erreichten, trafen weitere Trommelbotschaften ein.

»Die Halle der Schmiedezunft schickte eine Nachricht«, übersetzte Sebell und wappnete sich innerlich auf weitere böse Überraschungen.

»Hat es Fandarel etwa auch erwischt? Er legte doch immer so großen Wert auf Sicherheit. Tatsächlich …« Groghe atmete auf, als die Botschaft weiterging. »Sie haben es versucht und sind kläglich gescheitert. Ich bin gespannt, welche Geständnisse man ihnen entlockt. Splitter und Scherben! Beeilung, man wartet auf uns!«

Man hörte die Harfner, die zu einer fröhlichen Weise aufspielten, obwohl sich nur wenige Paare auf der Tanzfläche drehten. Die Leute standen herum, wärmten sich die Hände über den aufgestellten Kohlenbecken, murmelten verhalten und blickten in gespannter Erwartung dem Burgherrn entgegen, der auf seinem mächtigen Renner herbeigeritten kam.

»Vater!«, rief Horon und flitzte in halsbrecherischem Tempo die lange Treppe herunter. Außer Atem sprudelte er hervor: »Vater, wir haben etwas gefunden, das du dir unbedingt ansehen musst.«

»Später, Horon, später.«

»Aber es ist sehr wichtig!«

»Diese verflixten Rebellen. Hoffentlich können wir dieses Übel an der Wurzel ausrotten!«, schimpfte Groghe ungeduldig. »Sebell, geh mit und sieh nach, was angeblich so wichtig ist. Ich kümmere mich jetzt um meine Gäste.« Er deutete auf die Versammelten. »Was für ein unerquicklicher Beginn für einen neuen Planetenumlauf.« Im Trab ritt er bis vor das Podium der Harfner. Die Weise endete mit einem lebhaften Tusch, und die Menschen drängten herbei, um sich anzuhören, was ihr Burgherr ihnen zu sagen hatte.

Sebell winkte die nächstbeste Person in Harfnerblau zu sich. Das Mädchen, eine Schülerin, kam zu ihm geeilt.

»Worla, ich bin mit Lord Horon in der Burg. Überbringe mir bitte sämtliche hier eingehenden Nachrichten. Sollte eine Antwort erforderlich sein, wende ich mich damit direkt an den Trommelmeister.« Dann rief er seine goldene Feuerechse, Kimi. Sowie sie auf seiner Schulter saß, lief er zusammen mit Horon die breite Treppe hinauf, die zum bitterkalten oberen Burghof führte. Deutlich hörte man die Jubelrufe, als Lord Groghe das Podium betrat.

»Was ist denn so wichtig, Horon?«, erkundigte sich Sebell.

Horon schluckte krampfhaft. »Es handelt sich um das Grässlichste, das ich in meinem Leben gesehen habe …« Angeekelt verzog er das Gesicht.

»Haben die Rebellen irgendetwas Entsetzliches angestellt?«, hakte Sebell nach.

Horon schüttelte sich. Er öffnete die Tür zu Lord Groghes Arbeitszimmer. Der Raum zeichnete sich dadurch aus, dass er fünf Wände hatte. Auf einem Tisch lagen die Siebensachen der Rebellen. Grainger, der zuverlässige Burgverwalter, kramte eifrig in einer Satteltasche.

»Sieh dir das an!« Horon zeigte auf ein dünnes Heft mit einem schmuddeligen Umschlag, dessen Seiten grob zusammengenäht waren. Seine Nasenflügel bebten, und es war offensichtlich, dass er sich nicht näher mit diesem Pamphlet beschäftigen wollte. Grainger wirkte ebenfalls angewidert.

Sebell begutachtete die Broschüre, ein ziemlich dilettantisches Machwerk. Selbst Tagetarls jüngster Lehrling hätte Besseres geleistet. In ungelenker Blockschrift - zu der der Buchstabe auf der primitiven Landkarte, die sie gefunden hatten, passte - stand als Titel auf dem Deckblatt: Die Foltermethoden des Monstrums. Doch, das ›B‹ stammte eindeutig von derselben Hand.

»Wirf mal einen Blick hinein, Sebell!« Horon verzog angeekelt das Gesicht.

Sebell blätterte die erste Seite um und erstarrte. Es kostete ihn Überwindung, das Bild zu betrachten. Es zeigte einen ausgestreckt daliegenden, aufgeschlitzten menschlichen Körper. Ein Teil der Abbildung war schwarz übermalt worden. Darunter stand in kruden Lettern: ›Ein Mensch wird bei lebendigem Leib aufgeschnitten. Du könntest der Nächste sein, der diese Qualen erdulden muss.‹

»In diesem Stil geht es weiter. Grauenhafte Bilder«, verlautbarte Horon.

Leidenschaftslos blätterte Sebell ein paar Seiten um, bis er auf ein Bild stieß, das er zu deuten vermochte. Ein zertrümmertes Schienenbein, wobei die elfenbeinfarbenen Knochensplitter aus dem blutigen, zerfetzten Fleisch ragten. Vor etlichen Planetenumläufen hatte er solch eine Verletzung bei einem Menschen gesehen. Die Unterschrift lautete: ›Das Bein wurde durch Schläge zertrümmert.‹

Bei genauerem Hinsehen erkannte Sebell gerade noch Seitenzahlen, die durch schmutzige Fingerabdrücke beinahe unkenntlich waren, sowie die Randnotizen ›Abb. 10‹ und ›Abb. 11‹. Er stellte fest, dass die Seitenzahlen sich nicht in der richtigen Reihenfolge befanden und zog den Schluss, dass hier jemand willkürlich Bilder aus medizinischen Fachbüchern herausgenommen und mit seinen eigenen irreführenden Texten versehen hatte. Vermutlich stammten die Bilder sogar aus den Dateien des Akki.

»Kimi.« Die Feuerechse drehte Sebell den Kopf zu, und er streichelte liebevoll ihren Hals. Dann schrieb er eine kurze Nachricht auf ein Platt Papier und steckte es in den Zylinder, in dem Kimi Botschaften beförderte. »Bring den Brief in die Heilerhalle zu Keita. Du kennst sie.« In Gedanken stellte er sich Oldives tüchtige Heilergesellin vor. Kimi gab ein krächzendes Geräusch von sich und entschwand.

»Auf uns mögen diese Bilder abstoßend wirken«, meinte Sebell und schob das Heft von sich. »Aber einem Heiler dienen sie als Anschauungsmaterial und Lehrstoff. Aus dem korrekten Zusammenhang gerissen, benutzt man sie, um die schlichteren Gemüter zu erschrecken.«

Horon schüttelte sich.

»Die Fotografien zeigen wahrscheinlich chirurgische Eingriffe, die wir noch nicht verstehen«, wandte sich Sebell direkt an Horon. »Dein eigener Großvater starb an einem geplatzten Blinddarm, den unsere damalige Meisterheilerin hätte entfernen können. - Man kannte solche Operationen und führte sie erfolgreich durch.«

Horon nickte mit blassem Gesicht.

»Den Heilern ging eine Menge an wertvollem Wissen verloren«, fuhr Sebell fort. »Meister Oldive schult seine geschicktesten Heiler darin, Operationen vorzunehmen, die manchen Menschen das Leben retten können.« Resigniert deutete er auf die Broschüre. »Dieser Schund wurde eigens zu dem Zweck produziert, den Menschen Angst zu machen. Wer sich von so etwas beeindrucken lässt, verzichtet freiwillig auf ein Grundrecht, das ihm medizinische Behandlung zusichert. Wie diese Frau mit der Kopfwunde, die sich von Meister Oldive nicht helfen lassen wollte. Natürlich wird niemandem ein Eingriff aufgezwungen. Und ganz gewiss würde kein Heiler einen Menschen foltern und ihm absichtlich die Knochen brechen!« Voller Verachtung blickte er auf das Pamphlet.

Die Tür ging auf. Der stämmige Pächter, der bei der Gefangennahme der Vandalen geholfen hatte, spähte durch den Spalt.

»Meisterharfner, Lord Horon?« Horon winkte ihn ins Zimmer. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass die Gefangenen jetzt sprechen. Viel kam noch nicht dabei heraus, aber sie reden sich gegenseitig mit Namen an.«

»Das könnte sich als nützlich erweisen«, freute sich Sebell.

Die halb offene Tür schwenkte weiter auf und traf den Pächter ins Kreuz, als noch jemand Einlass begehrte.

»Meister Sebell?« Ein Mann in heilergrünem Gewand mit einem Meisterknoten auf der Schulter trat atemlos ein.

»Ah, Meister Crivellan, du bist genau der Richtige, um uns zu erklären, was es mit diesem Heft auf sich hat.« Sebell drückte ihm die abgegriffene Broschüre in die Hand. Während Crivellan sich prüfend die Abbildungen ansah, schlüpfte Kimi ins Zimmer und hockte sich wieder auf Sebells Schulter. »Crivellans spezielles Fachgebiet ist die Chirurgie. Erkläre uns bitte, was genau die Bilder zeigen.«