Währenddessen in Benden und anderswo

Trotz F'lars Zusicherung an den Rat und obwohl Ramoth Lessa gegenüber dasselbe behauptete, waren nicht alle Drachen in der Lage, Zaranth oder die anderen Drachen, die in Honshu gegen die Katzen gekämpft hatten, zu imitieren. Zwar glaubte Ramoth, den Vorgang der Telekinese zu verstehen, doch in Wahrheit handelte es sich um einen höchst komplizierten Prozess, bei dem starke Emotionen wie Angst und Schrecken eine große Rolle spielten. Ein bloßer Wunsch oder nüchterne Gedanken reichten bei weitem nicht aus, um die Telekinese erfolgreich und vor allem risikolos in Gang zu setzen.

Zum einen musste der Weg des zu transportierenden Objekts frei von Hindernissen sein. Die Entfernung war indessen unwichtig, jedenfalls was die telekinetische Beförderung von unbelebten Gegenständen oder kleineren Lebewesen betraf. Ein weiteres Problem war die Geschwindigkeit. Der Transfer fand ohne erkennbare Zeitverzögerung statt, und dieser Umstand konnte das zu versetzende Objekt beeinträchtigen.

»Da hilft nur eines - Training und noch mal Training«, bemerkte Lessa, als selbst Ramoth keine befriedigenden Ergebnisse zeigte.

Als die Raubkatzen abgewehrt wurden, war deren sicherer Transport nicht von Belang. Wenn sie in Fetzen zerrissen wurden - umso besser. Doch Ramoth hielt nichts davon, Katzen zu Übungszwecken zu vernichten, auch wenn deren Anblick genügte, um den Drachen den nötigen Stimulus, pure Angst und Entsetzen, zu verleihen.

Die Drachen vermochten Gegenstände so hoch in die Luft zu befördern, dass man sie nicht mehr sah. Ramoth und Mnementh trainierten täglich, indem sie langsam Felsbrocken vom Boden hoben und sie anderswo sachte absetzten. Wahrscheinlich hätten sie einen Stein bis zur Yokohama transportieren können, wenn sie dies gewollt hätten.

Zaranth empfahl, mit Wanderkäfern zu üben. Obwohl viele Reiter sich über die Wahl des Objekts wunderten, klappte die Telekinese hervorragend - wenn man sie an den Insekten ausprobierte. Ramoth und Mnementh schlugen vor, diese Experimente jeweils paarweise durchzuführen - immer ein männlicher und ein weiblicher Drache, obendrein weitab von menschlichen Ansiedlungen, dafür in unmittelbarer Nähe eines Gewässers.

Und nachdem Ramoth und Mnementh eine Weile zusammengearbeitet hatten, fiel ihnen die Telekinese immer leichter. Die Objekte, die sie bewegten, blieben meistens unversehrt.

Viele Leute begriffen den Nutzen der Telekinese nicht, es sei denn, man wollte sich gegen Raubkatzen oder Wanderkäfer wehren, doch diese bizarre Fähigkeit sorgte in gewissen Kreisen für reichlichen und tief schürfenden Gesprächsstoff. Derweil probten die Drachen und ihre Reiter fleißig, wie man die kinetische Energie auf Abruf freisetzen konnte.

Meister Esselin, der sich bitterlich über die viele Arbeit beklagte, die man ihm aufhalste, stöberte in den Akki-Dateien nach Erklärungen für die übernatürlichen Talente der Drachen. Doch er fand nichts Aufschlussreiches, und die Menschen, die einen Bund mit einer Feuerechse eingegangen waren, behaupteten, die Drachen hätten diese merkwürdigen Eigenschaften von ihren kleineren Vettern übernommen.

Noch nie hatte jemand gesehen, wie eine Feuerechse etwas durch Telekinese transportierte, es sei denn, man fasste die Geschwindigkeit, mit der sie Nahrungsmittel stibitzten und vertilgten, als eine Art übersinnliche Kraft auf.

Noch viele andere Projekte wurden in Angriff genommen. Der vielleicht anspruchsvollste Plan war, auf dem Westkontinent ein Observatorium zu bauen. Dieser Kontinent teilte sich in zwei Landmassen auf, die durch eine breite Meeresstraße voneinander getrennt wurden. Lediglich hoch im Norden bildete eine Kette von aus dem Ozean ragenden Felsbrocken eine natürliche Brücke.

Erragon studierte die Pläne, die das Akki für den Landsitz an der Meeresbucht angefertigt hatte, und bis auf eine unterschiedliche Teleskopmontierung (er empfahl eine Gabelmontierung), konnte man den Bauanleitungen folgen. Die Leute, die bereits bei der Errichtung des Teleskops beim Landsitz an der Meeresbucht mitgewirkt hatten, boten ihre Hilfe an. Lord Ranrel hielt sein Wort, und drei mit Material und Arbeitskräften beladene Schiffe segelten zur Südspitze der größeren Landmasse. Meister Idarolan übernahm offiziell die Leitung der Expedition. Eine Delfinschule sollte die kleine Flotte in einen geeigneten Hafen führen. Grüne und blaue Drachen bildeten die Vorhut und transportierten sämtliche Güter zur Errichtung eines Basislagers.

Auch am Eis-See und in Telgar begann man mit dem Bau der neuen Observatorien. Absolute Priorität hatte die Ausbildung von Himmelswächtern, die die Teleskope bedienen konnten. Die dafür ausgerüsteten Zunfthallen beeilten sich, Ferngläser und kleine Teleskope herzustellen.

In Meister Tagetarls Druckerhalle war man damit beschäftigt, Anleitungen zum Bau einfacher Teleskope zu drucken. Wenn kein Metall für das Rohr zur Verfügung stand, tat es auch dickes Wherleder. Man musste nur die Innenseite schwarz anmalen und die Vorrichtung staubdicht versiegeln. Die Sternenhalle verfasste Gebrauchsanweisungen und Lehrbücher, zeichnete zudem Karten und Diagramme von kosmischen Objekten, die man bereits entdeckt und als ungefährlich eingestuft hatte. Die Glasmacherhalle produzierte Spiegel für Teleskope von 100 mm bis 400 mm Durchmesser. Die Herstellung größerer Spiegel war möglich, dauerte jedoch viel länger.

Wenn in der Nähe von Honshu Fädenschauer niedergingen, betäubten die Heiler die beiden verletzten Drachen so schwer mit Fellis-Saft, dass sie nicht merkten - außer vielleicht auf einer von ihrem Urinstinkt gesteuerten Ebene -, wie der Erzfeind angriff. Zaranths Genesung machte gute Fortschritte, doch Golanths Verletzungen bereiteten den Weyr-Heilern und Veterinärmeistern nach wie vor große Sorgen.

Weyr-Festung Honshu - wo die Zeit nur langsam vergeht

»Vermutlich gibt es über jedes andere Tier auf diesem Planeten mehr Informationen als über die Wesen, von denen wir am meisten abhängig sind«, beklagte sich Wyzall, nachdem er sich einen Nachmittag lang mit der Herdenmeisterin Ballora, dem Veterinär Persellan und Tai beraten hatte. Er stemmte sich vom Tisch ab, stand auf und rieb sich das Gesicht, um die Müdigkeit zu verscheuchen.

»Weil wir die Kadaver anderer Tiere zu Studienzwecken sezieren können«, gab Ballora zurück. Sie war eine kräftige, athletische Frau. Bei Meister Oldive hatte sie eine Ausbildung in der Heilkunst begonnen, sich dann jedoch immer mehr für Tiere interessiert, sodass sie kurzerhand zur Veterinärhalle überwechselte. Sie strahlte eine Zuversicht aus, die sich auf Menschen wie Tiere günstig auswirkte. Nun jedoch seufzte sie frustriert. »Die einzigen anatomischen Untersuchungen, die auf diesem Gebiet je stattfanden, wurden an Feuerechsen durchgeführt, die kurz nach dem Schlüpfen verendeten und deren Kadaver die ersten Siedler zufällig fanden. Windblüte, eine hervorragende Wissenschaftlerin, hinterließ uns einige Aufzeichnungen über nicht geschlüpfte Wachwhere. Doch wir alle wissen, dass unsere Drachen nicht von ihnen abstammen.«

»In den Aufzeichnungen werden Dracheneier mit abgestorbenen Föten erwähnt …« warf Tai zaghaft ein.

Wyzall winkte ab. »Forschungen an Drachen - selbst wenn sie in der Eischale eingegangen waren - wurden nicht gebilligt. Und wenn ein Drache nicht schlüpfte, lag es immer daran, dass er irgendeinen Defekt aufwies.« Er seufzte schwer. »Lebende Drachen können ihren Reitern wenigstens erzählen, wo ihnen etwas wehtut, wenn man die Verletzung nicht sieht.« Er unterbrach sich und blätterte in seinen Aufzeichnungen.

»Menschen sterben an Altersschwäche, wenn ihre Kräfte irgendwann einmal aufgezehrt sind«, wandte Ballora ein. »Weiß man eigentlich, wer die älteste lebende Feuerechse ist, Wyzall?«

Wyzall schnalzte mit der Zunge und wiegte bedächtig den Kopf. »Das lässt sich unmöglich feststellen. Die Echsen erzählen den Drachen, woran sie sich erinnern, schildern Vorfälle, die sie angeblich selbst gesehen haben. Aber ich glaube, hier haben wir es mit etwas ähnlichem zu tun wie dem kollektiven Gedächtnis der Delfine. Die Feuerechsen haben diese Geschichten nicht miterlebt, sondern kennen sie vom Hörensagen. Eine Generation gibt die Berichte an die nächste weiter, und die Überlieferungen nehmen den Charakter von persönlichen Erlebnissen an.« Er zeigte auf die Schwärme von schlummernden oder in der leichten Brise segelnden Feuerechsen.

»Aber nicht alle Feuerechsen entsinnen sich, Raumschiffe auf der Schiffswiese beobachtet zu haben«, hielt Tai ihm entgegen.

»Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage lässt sich leider nicht überprüfen«, meinte Wyzall und wackelte mit dem Zeigefinger. »Zurück zu unserem aktuellen Problem. Ich glaube, dass die sanfte Massage mit dieser Salbe Golanths verletztem Schwingengelenk hilft. Er hat keine Schmerzen mehr.«

»Kein Wunder, bei diesen Unmengen von Taubkraut, die er bekommt«, erwiderte Tai, die selbst beim Massieren geholfen hatte.

»Jedenfalls schadet ihm die Salbe nicht«, betonte Ballora. Sie nahm eine Probe davon aus ihrer Tasche und legte sie zu den anderen wertvollen und seltenen Medikamenten, die sie bereits auf dem Tisch verteilt hatte. »Ich verabreiche sie Herdentieren, die an Gelenkfäule leiden. Aber sie ist noch schwieriger herzustellen als die Taubkraut-Paste.«

»Nichts könnte komplizierter sein«, meinte Persellan, zu dessen Aufgaben es gehörte, das Kraut zu sammeln und zu verarbeiten.

»Das Schwingengelenk ist groß«, gab Tai zu bedenken.

»Man muss die Salbe gut einreiben und darf nicht vergessen, sich hinterher gründlich die Hände zu waschen.«

Tai entfernte den Stöpsel aus dem Töpfchen, schnupperte kurz daran und stellte den Behälter gleich wieder hin.

»Der Geruch bringt dich schon nicht um«, meinte Ballora. Und später massierten geschickte Hände die Salbe in Golanths Schwingengelenk ein.

Golanths Zustand bereitete seinen Pflegern noch weitere Probleme. Ein Drache, der durch Fäden verletzt wurde, ging unverzüglich ins Dazwischen. Einmal, damit die Fäden in der Kälte von ihm abfielen, zum anderen, um in seinem heimatlichen Weyr wieder aufzutauchen. Jeder Weyr, einschließlich der von Monaco, verfügte über eine Krankenstation, die einen verwundeten oder kranken Drachen aufnehmen konnte. In Honshu gab es nur die breite Terrasse, auf der die Königinnen Golanth nach der Attacke vorsichtig abgesetzt hatten. Doch ins Dazwischen konnte er erst wieder eintreten, wenn seine Blessuren verheilt waren.

 

***

 

Als Tai weitere fünf Tage zusammen mit so vielen Leuten in Honshu verbracht hatte, war ihre Geduld am Ende. Sie wollte allein sein, sehnte sich nach ungestörter Ruhe. Sie saß so oft wie möglich an F'lessans Bett, und wenn sie bei ihm war, schien es ihm besser zu gehen. Sie wusste immer, wann er mit Golanth sprach, was sehr oft vorkam, und wenn seine Verbände gewechselt wurden, brauchte er Trost. Vor Schmerzen bekam er glasige Augen. Manchmal sorgte sie sich, er könnte sich zu sehr in Golanth zurückziehen. Seltsamerweise wirkte das Taubkraut bei dem Drachen wesentlich schmerzlindernder als bei F'lessan.

Im Grunde konnte sie nicht viel für F'lessan tun, und dieser Umstand betrübte sie. Auch Zaranth konnte sie nicht helfen. Der grüne Drache schlief viel, wie die meisten Drachen, die Verwundungen davongetragen hatten. Und dann kam der Tag, an dem Tai merkte, dass sie kräftig genug für einen Ausflug war. Auch Zaranth konnte risikolos ins Dazwischen gehen. Ein Bad im Meer würde die verschorften Wunden glätten.

Wir machen uns davon, wenn die anderen schlafen, informierte Zaranth ihre Reiterin. Dann vermisst uns keiner.

Das Salzwasser wird dir auch gut tun, Zaranth, erklärte Tai mehrere Male, um ihr schlechtes Gewissen einzulullen.

Nachdem sie die Entscheidung getroffen hatte, fiel es ihr schwer, den Tag zu überstehen. Nur ungern verließ sie F'lessan. Golanth würde nichts merken. Sie kam sich wie eine Verräterin vor, doch sie brauchte eine Atempause. Als sie sah, wie F'lessan mit Hilfe einer Krücke mühsam ein paar Schritte humpelte, weil man es ihm erlaubt hatte, für wenige Minuten aufzustehen, zerriss es ihr vor Mitleid fast das Herz. Er musste sich schwer auf die Krücke stützen, denn sein linkes Bein trug sein Gewicht noch nicht, und er ging vornüber gebeugt, weil die Bauchwunde eine aufrechte Haltung verhinderte. An der rasierten Schläfe wuchs das Haar wieder nach, doch er war nur ein Schatten seiner selbst, nichts erinnerte mehr an den schneidigen, fröhlichen jungen Geschwaderführer von Benden.

Also schmiedeten Tai und Zaranth in aller Stille ihre Pläne und warteten, bis die Nacht anbrach und sich der Trubel in der Weyr-Festung legte. Dann endlich stahl sich Tai nach draußen, vorsichtig ihre Schritte setzend, denn ihren Gehstock hatte sie zurückgelassen. Er besaß eine Metallspitze, und das Klopfen auf den Steinfliesen hätte sie verraten. Die Pflegerinnen hielten ein wachsames Auge auf sie und forschten unverzüglich nach, wenn ihnen etwas seltsam vorkam.

Sie schwang sich auf Zaranths Rücken. Leise tappte der Drache an den Rand der Klippe, spreizte bedächtig die Schwingen und stürzte sich in einem waghalsigen Manöver in die Tiefe. Der Wind fing sich in den Flugmembranen und ein Weilchen schwebte sie dicht über den Baumwipfeln dahin, ehe sie ins Dazwischen eintrat.

Sie suchten eine kleine Bucht an der Küste von Cathay. Eine sanfte Dünung rollte auf einem weißen Sandstrand aus. Nachdem sie dort gelandet waren, entledigte sich Tai ihrer Kleidung und stieg wieder auf Zaranth. Langsam watete der Drache ins Meer hinein, bis das Wasser tief genug war zum Schwimmen. Tai fühlte sich überglücklich, endlich der Enge Honshus entronnen zu sein und sich in den warmen Wellen tummeln zu können.

»Genau das haben wir gebraucht, Zaranth«, meinte sie und tätschelte den feuchten Widerrist des Drachen.

Zaranth ließ sich nach unten sinken, bis nur noch ihre Augen aus dem Wasser lugten, glänzende grünblaue Scheiben. Plötzlich tauchten Delfine auf. Quietschend und schnalzend begutachteten sie Tais verschorfte Narben an den Beinen und die Kratzspuren an Zaranths Körper. Aufgeregt erkundigten sie sich, wieso Tai sich so lange nicht hatte blicken lassen. Sie wollten wissen, ob Golly und Fless nachkommen würden. Doch, ja, sie hätten von dem Überfall durch die Raubkatzen gehört, aber Meerwasser sei ein gutes Heilmittel bei Verletzungen. Sie wollten ganz genau wissen, was sich bei der Attacke abgespielt hatte. Während die Delfine munter plapperten, massierten sie mit ihren schlanken Körpern Zaranths Leib. Tai genoss die unkomplizierte und verspielte Gesellschaft dieser Tiere.

Einer der beiden Monde, die über Pern wachten, ging auf, als Tai sich an die Rückenfinnen zweiter Delfine klammerte und in einem wilden Ritt durch die stille Bucht gezogen wurde. Die sie begleitenden Tiere vollführten akrobatische Luftsprünge und drängten sich danach, ihre Kameraden, die Tai durchs Wasser schleppten, abzulösen.

Erst als Tais Hände immer wieder von den Flossen abrutschten, merkte sie, wie müde sie war. Die Anstrengung hatte sie erschöpft.

»Du musst dich ausruhen«, riet ihr ein Delfin namens Afri und bedeutete den Kollegen, mit dem Toben aufzuhören. Tai legte sich quer über die dicht gedrängten Delfinkörper, die sie stützten und wie auf einem Floß durch die Bucht trugen. Kleine Wellen plätscherten über sie hinweg und wiegten Tai in den Schlaf.

Später, als sie aufwachte, dachte sie, wie schön es wäre, wenn sie an diesem Ort bleiben könnte, weit weg von all den Problemen und Sorgen, die in Honshu auf sie warteten. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken, so verlockend er auch sein mochte. Sie hatte sich entschieden.

»Das war ein wunderschöner Ausflug, Zaranth. Jetzt fliegen wir zurück. Bald wird es Tag, und du weißt, dass F'lessan in den frühen Morgenstunden immer am unruhigsten ist.«

Von Afri, oder vielleicht war es Dani, ließ sie sich an den Strand ziehen, bis ihre Füße auf Grund stießen. Sie watete aus dem Wasser, trocknete sich mit dem mitgebrachten Handtuch ab und zog sich wieder an. Dann rief sie Zaranth herbei und überzeugte sich, dass die ausgelassene Herumtollerei im Meer ihr nicht geschadet hatte.

»Kommt zurück. Kommt zurück. Hier geht es euch gut«, schnatterte Afri, auf der Fluke über das Wasser tänzelnd. »Bringt Golly mit. Das Schwimmen wird ihm gut tun.«

Tai fand, dass Afri Recht hätte, doch ob sein versehrtes Auge mit Salzwasser in Berührung kommen durfte, wusste sie nicht. Aber im Wasser konnte er sein verletztes Bein und den Schwanz bewegen. Die Knochenfrakturen waren geheilt, doch die Muskeln mussten durch Gymnastik gestärkt werden. Vielleicht konnte er, während er im Meer dümpelte, sogar die lädierte Schwinge strecken und versuchen, das steife Gelenk zu lockern.

Das Problem war nur, ihn an diesen Ort zu befördern. Golanths Schwingen besaßen eine viel größere Spannweite als die von Zaranth. Sich über die Kante der Klippe in Honshu zu stürzen, wie der grüne Drache es getan hatte, konnte für ihn den Tod bedeuten. Tai fragte sich, ob Ramoth und Mnementh Fortschritte in der Anwendung der Telekinese machten. Nachdem Zaranth ihnen geraten hatte, an Wanderkäfern zu üben, war der Kontakt zu den beiden Drachen abgerissen. Sie wussten lediglich, dass sie an der Vervollkommnung ihrer Fähigkeit arbeiteten.

Über dem im Mondlicht glänzenden Honshu tauchten Tai und Zaranth wieder auf. Jeden Schatten ausnutzend, glitt Zaranth zur unteren Terrasse. Alles wirkte ruhig und friedlich, ihre Abwesenheit schien niemand bemerkt zu haben. Und dann entdeckte Tai die Gestalt, die auf den schlafenden Golanth zutaumelte, zwischendurch jedoch stehen blieb, um sich an einem Tisch abzustützen. F'lessan?

Was tat er nur? Hatte er den Verstand verloren? An diesem Morgen durfte er zum ersten Mal das Bett verlassen und ein paar Schritte gehen. Wenn er stürzte, machte er den gesamten Heilerfolg der vergangenen zwei Siebenspannen zunichte. Doch Zorn auf diese unvernünftige Handlungsweise verflog, als sie begriff, worauf es ihm ankam. Er musste bei Golanth sein.

Ganz vorsichtig, Zaranth. Wenn wir ihn erschrecken, könnte er hinfallen. Glaubst du, du kannst ihn festhalten, wenn er die Balance verliert?

Ich werde es auf jeden Fall versuchen. Es klang skeptisch. Er hat starke Schmerzen.

Natürlich, was denn sonst! Tai hoffte jedoch, dass die Schmerzen ihn daran hindern würden, seine Kräfte zu überschätzen. Dann hörte sie ein klickendes Geräusch. Er war so umsichtig gewesen, einen Gehstock mitzunehmen - ohne Zweifel den ihren, den sie zurückgelassen hatte, denn ihm hatte man bis jetzt eine Gehhilfe verweigert.

Er konzentrierte sich so sehr darauf, sein Ziel, Golanth, zu erreichen, dass er die Ankunft des grünen Drachen nicht bemerkte. Noch zehn mühsame, quälende Meter lagen vor ihm.

Golanth weiß, dass wir kommen. Er bewegt sich nicht. Jemand könnte ihn hören.

Aber ich höre das Klopfen des Gehstocks.

Vielleicht glauben sie, du würdest ihn benutzen, um Golanth zu besuchen.

F'lessan tat einen weiteren unsicheren Schritt und begann gefährlich zu wanken.

Er darf nicht hinfallen. Splitter und Scherben, Zaranth, befördere ihn an einen sicheren Ort. Bewege ihn von der Stelle, wie du die Wanderkäfer ablenkst. Bring ihn zu Golanth.

Ich … ich … Gleich ist er da.

Es fehlt noch ein Stück. Beweg ihn, Zaranth. Bitte! Du wirst doch noch wissen, wie man Wanderkäfer transportiert!

Tai spürte, wie Zaranth schluckte. Und auf einmal stand F'lessan dicht neben Golanths Hals.

Setz mich neben ihm ab.

Es gab einen Ruck, und Tai war bei F'lessan, der sich Halt suchend an Golanths Hautfalten klammerte. Stützend legte Tai ihm eine Hand unter den linken Arm.

»Splitter und Scherben, wie kam ich hierher?«, zischte F'lessan überrascht. »Und was machst du hier, Tai? Niemand hat gesehen, wie ich mich fortstahl.«

»Zaranth hat nachgeholfen«, flüsterte Tai.

F'lessan barg sein Gesicht an Golanths Hals und atmete ein paarmal tief durch.

»Deine Nähte hätten aufplatzen können. Stell dir vor, du wärst hingefallen?«, schalt sie ihn.

»Wieso hast du Zaranth nicht schon früher gebeten, mich zu Golanth zu befördern?«, verlangte er zu wissen.

Tai zog eine Grimasse. »Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens warst du für einen Transport viel zu krank. Zweitens weiß Zaranth nicht genau, wie sie diese Kraft einsetzen muss.«

»Bei den Wanderkäfern klappt es doch vorzüglich.«

Sich schwer auf den Stock stützend, hob er den anderen Arm. Sie sah das Messer in seiner Hand. Es war eine der extrem scharfen Klingen, die Crivellan bei chirurgischen Eingriffen benutzte.

»Was hast du vor?«

Er versetzte ihr einen leichten Schubs. Sie stolperte und hätte um ein Haar aufgeschrien, als ein stechender Schmerz durch ihr versehrtes Bein zuckte.

»Ich will sein Auge sehen, Tai. Unbedingt.«

»Warum?« Niemand hatte ihm bezüglich Golanths Verletzung etwas vorgemacht. Glaubte F'lessan, man habe ihn belogen?

»Golanth möchte, dass ich es mir ansehe«, erklärte F'lessan grimmig. »Die Heiler haben die Lider zugenäht und alles dick verpflastert. Es stört ihn, auch wenn er von all dem Fellis-Saft und dem Taubkraut beinahe empfindungslos ist. Golanth will das Auge öffnen.«

Mit raschen Schnitten durchtrennte F'lessan die Pflaster, die die Bandage festhielten. Dann wollte er den Verband ablösen, doch seine Kraft reichte nicht aus.

»Gib mir das Messer, ehe du noch mehr Schaden anrichtest und das Auge vielleicht unrettbar beschädigst.« Aus Sorge um F'lessan und Golanth sprach sie schärfer als gewollt. Die Drachenreiterin in ihr verstand, dass F'lessan mit dem Schlimmsten konfrontiert werden wollte, er konnte nicht länger im Ungewissen bleiben.

Wortlos reichte er ihr die Klinge. Dann lehnte er sich schwer atmend gegen seinen Drachen.

Vorsichtig schnitt und schälte Tai den Verband von Golanths Auge. Erschrocken blickte sie auf den trüben Fleck, der sich ihnen darbot.

Beide Lider sind zugenäht, erläuterte Zaranth, die sich im Schatten aufhielt. Du musst die Fäden entfernen.

Es wird nicht wehtun, versicherte Golanth. Bevor sie des Abends den Verband wechseln, reiben sie das äußere Lid mit Salbe ein. Es ist das innere Lid, was juckt.

Beliors Licht spiegelte sich auf dem grauweißen, leicht nach außen gewölbten Lid.

»Gib mir das Messer zurück«, verlangte F'lessan.

Er verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein, schöpfte tief Atem und begann, die Nähte zu durchtrennen.

»Es sind sehr viele Stiche«, murmelte Tai.

Hilf ihm. Ein zweites Skalpell landete klirrend vor Tais Füßen.

Ooops! entschuldigte sich Zaranth. Kleine Dinge sind manchmal schwerer zu transportieren als große.

Danke. Tai fragte sich, ob es klug sei, ihren Drachen zu einer spontanen Telekinese zu verleiten. Doch diesen Überlegungen konnte sie später nachhängen. Jedenfalls hatte Zaranth gewusst, was sie brauchten und es besorgt. Tai folgte F'lessans Beispiel, und im Nu waren die Nähte aus dem sich vertikal öffnenden ersten Lid gezogen.

Sie spürte, wie Golanth zuckte. Sanft streichelte sie seinen Nacken.

F'lessan hat Mühe, die Arme zu recken. Hilf ihm, das Lid zu öffnen. Ich schaffe es nicht aus eigener Kraft. Es war zu lange geschlossen und ist ausgetrocknet.

Vorsichtig schoben sie das Lid über die Stiche, die das horizontale Augenlid verschlossen. Danach entfernten sie auch dessen Nähte. Die Nickhaut zurückzupellen, war ein langwieriger und entmutigender Prozess. Die ersten Facetten kamen zum Vorschein, zerfetzt von den Krallen der Raubkatze. Doch dann merkten sie, dass nicht alle Facetten erblindet waren. Manche wiesen noch trübe Farbspuren auf, und einige glänzten sogar in einem satten Grün. Golanth hatte vielleicht dreiviertel seines Sehvermögens eingebüßt, doch alles, was sich direkt vor seiner Nase oder über seiner Stirn befand, konnte er noch erkennen.

Langsam wandte der Drache den Kopf den Menschen zu und versuchte, sie optisch zu erfassen.

Ich kann dich sehen, F'lessan! Und dich sehe ich auch, Tai! Ich kann wieder sehen!

Drachen weinen nicht. Doch F'lessan stiegen die Tränen in die Augen. Er legte die Stirn an Golanths Hals und griff nach Tais Hand, wie um sich an ihr festzuhalten. Tai spürte, dass er nicht nur Tränen des Kummers sondern auch Freudentränen vergoss.

Kein Heiler oder Veterinärmeister hatte geglaubt, dass Golanth mit dem verletzten Auge noch würde sehen können. Und sie wussten nicht, ob das gesunde Auge in der Lage wäre, das Handikap auszugleichen. Nicht selten wurden die Augen der Drachen bei einem Kampf gegen die Fäden verätzt, doch die Nickhäute schlossen sich so schnell, dass jeweils nur wenige Facetten einen Schaden davontrugen.

Ich sehe nicht viel, aber ich sehe mit beiden Augen.

Tai unterdrückte ein Schluchzen.

»Ich musste mich selbst davon überzeugen, wie es dir geht, Golly«, murmelte F'lessan.

Zaranth, befördere uns in F'lessans Zimmer.

Wohin genau?

In sein Bett!

Durch Telekinese transportiert zu werden glich ganz und gar nicht dem Gefühl, das die Drachenreiter im Dazwischen erlebten. Es war beinahe so, als ob sie im Dazwischen noch einmal durch ein Dazwischen gingen.

Nicht so schnell! hörte Tai Golanths Warnung. Seine Stimme drang gedämpft, wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Sie hatte den Eindruck, mit rasanter Geschwindigkeit durch die Felsenkorridore der Weyr-Festung gezerrt zu werden, und dann sanken sie und F'lessan langsam auf ein Bett.

Während sie sich hastig davon überzeugte, dass kein Blut durch seine Verbände sickerte, lag F'lessan reglos da und rang nach Luft. Sein Gesicht war leichenblass.

»Das kam ein bisschen plötzlich, Tai«, meinte er nach einer Weile. »Jetzt habe ich Durst. Aber ich will keinen Fellis-Saft. Ich möchte Wasser trinken. Kalt. Ein großes Glas voll.«

Tai schlich sich an die Tür und lauschte, ob sich im Korridor etwas rührte. Dann huschte sie in F'lessans Krankenzimmer. Sie nahm die Wasserkaraffe und das Glas vom Tisch und eilte so schnell es ihre schmerzenden Beine erlaubten zu F'lessan zurück. Vielleicht hätte sie etwas Wein oder eine Süßigkeit besorgen sollen. Zur Stärkung und um den Schock zu dämpfen.

Nachdem sie Golanths Auge gesehen hatte, fand sie, es hätte noch viel schlimmer kommen können. Er hatte Sehkraft eingebüßt, doch auf dem verletzten Auge war er nicht vollständig blind. Und auch F'lessan musste eine gewisse Erleichterung spüren, jetzt, da er sich selbst vom Zustand seines Drachen überzeugt hatte.

Ungesehen gelangte sie in F'lessans Zimmer zurück. Sie schenkte ihm ein Glas Wasser ein, das er in einem Zug leerte. Dann schüttelte sie die Kissen und machte es ihm bequem, ehe sie ihren eigenen Durst löschte.

»Gib mir bitte noch etwas Wasser, Tai.« Als sie das Glas nachfüllte, trank er es in kleinen Schlucken aus. Sie selbst trank wieder direkt aus der Karaffe. Es war kaum noch Wasser drin. Ob sie aus der Küche Fruchtsaft holen sollte? Sagassy hatte immer einen Vorrat an gekühlten Säften parat. Nicht nur von dem ausgedehnten Bad im salzigen Meerwasser war Tais Kehle zundertrocken.

Als sie abermals das Zimmer verlassen wollte, hielt er sie an der Hand fest. »Geh nicht weg, Tai. Bleib bei mir.«

»Ich sollte den Verband auf Golanths Auge erneuern.«

»Das ist nicht nötig. Er kann die Nickhaut schließen und das obere Lid. Er hasste den Verband. Ich versprach ihm, die lästigen Pflaster zu entfernen.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Er schloss die Augen und deutete ein Lächeln an. »Hättest du es für mich getan, Tai? Die Pflaster entfernt? Dich Wyzall, Ballora und den anderen Heilern widersetzt?«

»Ja!«

Sein Lächeln zog sich in die Breite, war jedoch mit einer Spur Skepsis vermischt. Er wandte ihr sein Gesicht zu und tätschelte ihre Hand.

»Ja, für dich und Golanth hätte ich es getan!«

Er fürchte die Stirn. »Und wieso hast du Honshu heimlich mitten in der Nacht verlassen?«

Sie schmunzelte. »Zaranth und ich waren Schwimmen.«

»Im Dunkeln?«

»Belior stand am Himmel und hat genug Licht gespendet.«

»War das nicht zu gefährlich?«

»Inmitten einer Delfinschule kann mir nichts passieren. Doch der heilende Effekt des Meerwassers hätte durch deine leichtsinnige Spritztour zu Golanth zunichte gemacht werden können.«

Er seufzte und schüttelte leicht den Kopf. »Weißt du, was ich glaube, Tai? Was heute Nacht geschehen ist, gereicht uns allen zum Vorteil.« Ermattet senkte er den Kopf auf das Kissen zurück und schloss die Augen. Doch zum ersten Mal seit dem Überfall lag auf seinen Zügen ein friedvoller Ausdruck, und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.

Er hat Recht. Uns allen geht es jetzt besser, bekräftigte Zaranth.

F'lessan tätschelte ihre Hand ein letztes Mal, bevor seine Finger erschlafften. Abermals sah sie nach, ob Blut durch seine Bandagen sickerte. Als sie endlich die leichte Zudecke über sie beide legte, atmete er tief und gleichmäßig, und die Sorgenfalten auf seiner Stirn hatten sich geglättet. Er sah beinahe wieder so aus wie früher.

Er schläft, sagten beide Drachen. Wir schlafen auch.

Tai seufzte glücklich, ignorierte die Schmerzen in ihren Beinen und schmiegte die Wange gegen F'lessans bloße Schulter.

 

***

 

Aufgeregtes Flüstern und ein Hin- und Hergerenne auf dem Flur weckten Tai. Zum Glück war es Sagassy, die den Kopf durch die Tür steckte und die beiden im Bett anstarrte. Rasch legte Tai einen Finger an die Lippen zum Zeichen, Sagassy möge sie nicht verraten. Sagassy nickte verstehend und ging zurück in die Halle.

»Die Drachen schlummern friedlich. Also können wir davon ausgehen, dass die Reiter nicht zu Schaden gekommen sind. Andernfalls hätten sie Alarm geschlagen. Wir sollten uns wieder beruhigen und vernünftig sein …«

Von der Terrasse erklang ein lauter Ruf. Und Sagassy rannte los.

F'lessan räkelte sich genüsslich. »Ich wette, sie haben entdeckt, dass Gollys Augenverband weg ist.«

Diese Nachricht verbreitete sich in Windeseile in der Festung. F'lessan schob seinen Arm unter Tais Schultern und zog sie an sich.

»Ich werde darauf bestehen, dass wir von jetzt an gemeinsam dieses Zimmer bewohnen«, erklärte er. »Das Bett ist breit genug für uns beide.«

»Irgendwo müssen sie sein!«, hörten sie Keitas erregte Stimme.

»Aber nur, wenn es auch dein Wunsch ist, Tai«, fuhr er fort.

Zärtlich rieb sie ihre Stirn an seiner Schulter. »Ich habe mich für dich entschieden. Und dabei bleibt es.«

Dann entdeckte man ihr Refugium, und sie mussten eine geharnischte Strafpredigt über sich ergehen lassen. Keita verlangte, dass Tai augenblicklich das Bett verließ, weil sie F'lessan untersuchen wollte.

Auf die Frage, wie sie in dieses Zimmer gelangt waren, antwortete Tai:

»Zaranth brachte uns hierher.«

»Hat sie etwa auch F'lessan zu Golanth gebracht?«, erkundigte sich Keita zynisch, die immer noch erbost war, weil man den Augenverband entfernt hatte.

Tai zuckte lediglich die Achseln und ließ die Leute denken, was sie wollten. F'lessan wurde in sein Krankenzimmer zurückgetragen, wo die Medizin und das Verbandszeug aufbewahrt wurden. Keita wollte sich davon überzeugen, dass seine nächtliche Eskapade ihm nicht geschadet hatte.

»Mir tut nichts weh«, verkündete er lässig.

»Ihr beide solltet wissen, dass die schmerzlindernde Wirkung von Taubkraut sehr tückisch sein kann«, schimpfte Keita. »Im Nu sind Wunden wieder aufgeplatzt, weil der Körper keine Alarmsignale mehr aussendet.«

»Hat Persellan sich mittlerweile Gollys Auge angesehen?«, erkundigte sich F'lessan besorgt.

»Ja, und er ist recht zufrieden. Es wurden weniger Facetten beschädigt, als er zuerst annahm. Und die Schwingenmembran kann sich im Laufe der Zeit regenerieren.«

»Golly klagte, die Augenlider seien ausgetrocknet.«

»Die Drüsen, die das Sekret absondern, welches die Augen feucht hält, sind zum Teil versehrt und arbeiten nicht mehr wie früher. Wir probieren ein leichtes Gel aus, das bei Bedarf aufgetragen wird. Bevor wir die Lider zunähten, um das Auge vor Sonneneinstrahlung zu schützen, schmierten wir es bereits dick mit dem Gel ein.«

»Ich möchte gern die Behandlung übernehmen«, erklärte F'lessan und setzte sich im Bett auf. Keita hob mahnend die Hand.

»Weite Strecken darfst du noch nicht laufen, F'lessan. Aber ich würde zu gern sehen, wie Zaranth dich mittels Telekinese befördert.«

Ich kann ihn ganz langsam transportieren, meldete sich Zaranth bei Tai. Und die hörte deutlich, wie ihr Drache vor Aufregung laut schluckte.

Ich helfe dir, erbot sich Golanth. Dann ist das Risiko umso geringer. Du hebst ihn hoch, und gemeinsam schaffen wir ihn auf die Terrasse. Ganz langsam!

Hier draußen steht ein Stuhl, fügte Zaranth hinzu.

»Keita, hast du dieses Gel bei dir?«, erkundigte sich Tai, um die Heilerin abzulenken.

Keita kramte in der Kiste, in der sie Medikamente aufbewahrte.

Halt still! befahl Zaranth.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass F'lessan verschwand.

Nicht so schnell! jammerte Golanth. Vor Schreck begann Tais Herz zu rasen. Mit einem Blick nach draußen überzeugte sie sich davon, dass F'lessan tatsächlich auf dem Stuhl saß. Seine Miene drückte maßlose Verblüffung aus.

Wir haben ihn nirgendwo angestoßen! meldete Zaranth stolz.

Es ist alles eine Frage der Übung. Ich habe dir geholfen.

Ich hätte es auch allein gekonnt.

Wir werden ja sehen. Beim nächsten Mal.

Übt an anderen Dingen, nicht an mir, wandte F'lessan energisch ein. Doch Tai hörte den amüsierten Unterton in seiner Stimme.

Die Hand nach einem kleinen Tiegel ausgestreckt, schwenkte Keita herum und blickte Tai vorwurfsvoll an. Resigniert seufzte sie auf. »Ist es so, als ginge man ins Dazwischen

»Ganz und gar nicht. Man kann es nicht beschreiben, das Gefühl, das einen dabei überkommt, ist völlig anders. Ist das das Gel? Ich bringe es F'lessan.«

Eilig verließ Tai den Raum.

»Hauptsache, man landet heil und gesund!« rief Keita ihr hinterher.

Draußen auf der Terrasse saß F'lessan immer noch auf dem Stuhl. Vornübergebeugt untersuchte er Golanths Hinterbein. Neben ihm stand ein Heiler und starrte ihn offenen Mundes an. Auf dem Felsband über der Terrasse hockte Zaranth, ein wenig blasser als sonst, fand Tai.

Ist es sehr anstrengend?

Nicht, wenn Golanth mir hilft. Heute Nacht hatte ich Angst, ich könnte F'lessan wehtun.

Ich habe dafür gesorgt, dass es nicht zu schnell ging, warf Golanth ein. Auf das richtige Tempo kommt es an. Immer schön langsam. Er ist keine Raubkatze.

Aber auch kein Wanderkäfer. Er wiegt viel mehr, gab Zaranth zu bedenken.

Auf jeden Fall hat er es überlebt, meinte Tai.

Es ist eine Frage der Kontrolle. Wir müssen feststellen, wie weit die anderen Drachen sind, erwiderte Golanth.

»Nun, wie war die telekinetische Reise?«, erkundigte sich Tai bei F'lessan.

»Es ist kein Vergleich mit der Passage durch das Dazwischen«, entgegnete er. »Aber jetzt bin ich hier, und Gollys Bein ist nicht so schwer verletzt, wie ich befürchtet hatte. Heute Nacht konnte ich es nicht richtig sehen.«

»Du hattest zu viel Zeit zum Nachdenken. Ich sagte dir doch, dass seine Wunden gut verheilen.«

»Ich musste es mit eigenen Augen sehen.«

»Ich weiß«, pflichtete sie ihm bei. Doch als er aufstehen wollte, drückte sie ihn sanft auf den Stuhl zurück.

»Ich will mir den ganzen Drachen anschauen«, protestierte er.

»Golly kann sich umdrehen. Du bleibst hier sitzen. Ein bisschen Bewegung wird Golly gut tun.«

»Aber sie haben ihn mit einer dicken Schicht Taubkraut eingerieben«, sperrte sich F'lessan. »Du hast doch gehört, was Keita gesagt hat. Es kann gefährlich werden, wenn man überhaupt keine Schmerzen spürt.«

»Golly kann gar nichts passieren, wenn er sich einmal um sich selbst dreht. Er hat es schon vorher getan«, beharrte Tai und schlug ohne es zu merken Keitas strengen Tonfall an.

Es macht mir nichts aus. Golanth beendete die Diskussion, indem er sich aufrichtete und langsam um die eigene Achse drehte, damit sein Reiter ihn von allen Seiten begutachten konnte. Die Kratzspuren waren verschorft, und die zerfetzte Schwingenmembran wuchs bereits wieder nach. Als Golanth bei seiner bedächtigen Pirouette Zaranth nahe kam, hob er den Kopf und liebkoste sie mit der Zunge.

Gespannt behielt Tai F'lessan im Auge, doch seine sonst so offenen Gesichtszüge, an denen man jede Regung ablesen konnte, verrieten dieses Mal nichts. Nur an seinen Händen merkte sie, wie aufgewühlt er war. Ein paarmal ballte er in hilfloser Wut die Fäuste und öffnete sie wieder, um schließlich mit den Fingern die Armstützen des Stuhls zu umklammern.

»Schwimmen täte Golanth bestimmt gut«, murmelte Tai wie zu sich selbst.

Zaranth gab einen überraschten Laut von sich, ihre Augen verfärbten sich zu einem strahlenden Gelb und begannen erregt zu kreisen.

Ich bin nur ein grüner Drache, beantwortete sie Tais indirekte Frage. Um Golanth zu transportieren, bräuchte ich viel mehr Übung.

F'lessan lachte. Mit den Raubkatzen wurdest du doch sehr gut fertig. Du hast sie durch die Luft geschleudert wie eine Schar Wherries.

Damals war ich wütend, und ich hatte große Angst. Zaranth blickte pikiert drein. Aber dich habe ich nicht durch die Luft geschleudert, F'lessan.

Ich habe dir geholfen, ergänzte Golanth würdevoll und streifte seine Weyr-Gefährtin mit einem zärtlichen Blick. Wenn es sein muss, bewege ich mich aus eigener Kraft. Ich stürze mich von der Klippe, so wie du es gestern Nacht tatest.

Dazu ist es noch viel zu früh, Golly, wandte F'lessan hastig ein.

Zaranth bog den Kopf an dem langen, schlanken Hals nach hinten. Du konntest mich unmöglich sehen, Golanth. Und du darfst nicht im freien Fall nach unten stürzen. Die Spannweite deiner Schwingen ist zu groß, es dauert zu lange, bis sie sich entfalten.

Ich sagte, ich könnte es tun, wenn es unbedingt sein muss, wiederholte er mit Nachdruck. Und heute Nacht konnte ich dich hören. Ich bin ja nicht taub. F'lessan täte es auch gut, im Meer zu schwimmen. Ihr solltet noch heute einen Ausflug mit ihm unternehmen. F'lessan, sag den Heilern, dass du Schwimmen möchtest.

Ich lasse dich nicht allein, entgegnete F'lessan.

Es geht mir schon viel besser, weißt du. Und dir auch, erwiderte Golanth. Liebevoll stubste er mit der Nase F'lessans Knie an, wobei er ihn mit dem gesunden Auge fixierte. Dann legte er den Kopf schräg und spähte, so gut es ging, mit dem anderen Auge.

»Keita gab mir dieses Gel, um damit die Lider einzuschmieren«, erklärte Tai und reichte F'lessan den Tiegel. Es zerriss ihr das Herz, Golanths verletztes Auge bei Tageslicht zu sehen, und sie wusste, dass der Anblick für F'lessan noch viel schmerzlicher war.

»Gute Idee.« F'lessan öffnete den Behälter. Mit den Fingerspitzen trug er behutsam das Gel auf. »Und nun schließe dieses Lid, damit ich das andere behandeln kann.«

»Schwimmen wäre wirklich eine gute Therapie für dich«, beharrte Tai, nachdem er mit Einreiben fertig war. »Deine Wunden haben sich geschlossen. Der Ritt durch das Dazwischen dürfte dir nicht schaden. Ich bin sicher, dass wir dich irgendwie auf Zaranths Rücken befördern können. Meerwasser beschleunigt den Heilungsprozess und macht vernarbtes Gewebe geschmeidig. Es täte dir auch gut, einmal von hier wegzukommen.«

F'lessan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Tai nachdenklich an. In diesem Moment näherte sich ihnen Keita.

»Was höre ich da über ein Bad im Meer?«, erkundigte sich die Heilerin.

»Es wäre eine ausgezeichnete Therapie, Keita, das weißt du genau. Die Delfine sorgen dafür, dass F'lessan nichts zustößt.«

Grundsätzlich hatte Keita keine Einwände, doch sie verlangte, ein Heiler solle sie begleiten. Sie erbot sich sogar, selbst mitzukommen, vielleicht konnte T'lion sie auf Gadareth befördern. F'lessan hingegen bestand darauf, den Ausflug nur in Begleitung von Tai und Zaranth zu unternehmen. Zögernd gab Keita dann zu, dass die Delfine im Notfall helfen konnten, wenn es beim Schwimmen im Meer Schwierigkeiten gab - vorausgesetzt, sie würden erscheinen. In dieser Hinsicht vermochten Tai und F'lessan sie zu beruhigen. Sie zweifelten keine Sekunde daran, dass die Delfine in dem Augenblick auftauchen würden, in dem sich Zaranth dem Meer näherte.

»F'lessan braucht gar nicht an den Strand zu gehen«, meinte Tai. »Er kann von Zaranths Rücken aus ins Wasser tauchen, ohne dass seine Wunden mit Sand in Berührung kommen.«

»Die beiden sollten ruhig eine Weile allein sein, Keita«, mischte sich Sagassy ein, die sich zu ihnen gesellt hatte. Listig zwinkerte sie Tai zu. »Sie brauchen etwas Abwechslung, und zum Mittagessen sind sie sicher wieder zurück. Golanth bleibt hier und steht ständig mit ihnen in Verbindung. Wirst du den Kontakt aufrecht erhalten, Golanth?«

Nur wenige Menschen, die selbst keine Drachenreiter waren, wagten es, einen Drachen direkt anzusprechen, doch zwischen Sagassy und Golanth hatte sich in letzter Zeit ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Würdevoll nickte der Bronzene mit dem Kopf, und die gesunden Facetten seines linken Auges begannen vor Begeisterung zu glühen.

F'lessans erster Ausflug seit dem Angriff durch die Katzen trug wesentlich zu seiner Gesundung bei. Und in der Nacht schliefen er und Tai zusammen in einem Bett.

Landing - 3.21.31

Beim Hineinsegeln in die Monaco Bucht erblickte Shankolin abermals das auf einem Hügel liegende Landing mit den drei Vulkanen im Hintergrund. Lord Toric hatte ihm nicht erzählt, wie groß die Siedlung mittlerweile geworden war. Nun begriff er, warum der Burgherr ihm geraten hatte, sich nach Landing zu begeben und die Situation persönlich einzuschätzen. Es war geplant, das Monstrum mit allem, was dazu gehörte, endgültig zu vernichten. Bald wäre es so weit. Gemächlich schob sich das Schiff mit Shankolin an Bord an den Anlegesteg heran.

Als Shankolin sich mit Toric in Telgar unterhielt, brachte er seine Bedenken bezüglich einer Reise nach Landing zum Ausdruck. Doch Toric meinte, ihm könne nichts passieren. Es sei kein Problem, ins Akki-Gebäude einzudringen, und nur so könne sich Shankolin selbst ein Bild davon machen, was gebraucht wurde, um den letzten, endgültigen Vernichtungsschlag gegen das Akki zu führen. Toric rüstete ihn mit einem großen Beutel voll Marken aus und riet ihm, er solle in einer der kleineren Küstensiedlungen in Nerat ein Boot besteigen. Der Burgherr kannte einen Fischer, dessen Kapitän ihm noch einen Gefallen schuldete, und der ihn auf direktem Weg in die Monaco Bucht brächte. Er meinte, wenn Shankolin Handschuhe trüge, könne niemand das fehlende Fingerglied bemerken, und eine tief in die Stirn gezogene Mütze würde die Narbe verbergen.

»Die Harfnerhalle hat deinen Steckbrief verbreiten lassen«, erklärte er. »Verhalte dich also möglichst unauffällig und wechsle um Himmels Willen deine Kleidung.«

Shankolin verbiss sich ein Lächeln, als der Burgherr angewidert die Nase rümpfte, doch üble Gerüche waren ein gutes Mittel, um sich neugierige Leute vom Leib zu halten. Auf die meisten Menschen wirkte Shankolin wie ein schlichter Bergbewohner, und aufgrund des Gestanks, den er verbreitete, verspürte niemand Lust, ihn näher kennen zu lernen.

Kurz vor dem Hafen Loscar, in dem er sich einzuschiffen gedachte, wusch er sich und seine Kleidung in einem Fluss. In Loscar war es ein Leichtes, sich gebrauchte Sachen zum Anziehen zu kaufen, die sich für eine Seereise eigneten. Er suchte den Kapitän auf, den Toric ihm empfohlen hatte, und überreichte ihm den ersten der Briefe, die der Burgherr ihm mitgab. Seinen Namen gab er mit Glasstol von Crom an, und jeder schenkte ihm Glauben. Auf dem Schiff verbrachte er die meiste Zeit mit Schlafen und Essen. Einer der geselligeren Matrosen wollte ihm von den Schäden erzählen, die die Überschwemmung im Hafen von Loscar angerichtet hatte, doch als Antwort erhielt der joviale Mann ein unfreundliches Grunzen. Niemand machte mehr Anstalten, mit einem Passagier ins Gespräch zu kommen, der eindeutig zu erkennen gab, dass er keine Unterhaltung wünschte.

Bei der Ankunft in der Monaco Bucht staunte Shankolin, wie weit die Reparaturarbeiten bereits gediehen waren. Selbst die Schiffswerften hatte man wiederaufgebaut. Ihm war bekannt, dass fünf gewaltige Tsunamis über das Gebiet hinweggebraust waren, gefolgt von mehreren kleineren Flutwellen. Das Meer drang so weit ins Binnenland vor, wie ein Mensch einen Tag lang marschieren konnte. Ihm fielen die neuen Kaianlagen auf, und der Geruch von Holzschutzmitteln überdeckte selbst den Gestank von Fisch. Man hatte einen von Wind und Wetter strapazierten Metallpylon mit einer Glocke an der Spitze aufgerichtet. Der Kapitän zeigte ihm die neuen Pontone an der Luvseite, wo sich die Geleitfische versammelten, wenn man die Glocke läutete. Mitunter riefen die Geleitfische auch von sich aus den Hafenmeister. Doch Shankolin war eine Landratte und glaubte nicht an solchen Unsinn.

Er suchte sich einen Fuhrmann, der Waren vom Hafen nach Landing transportierte, und für eine halbe Marke durfte er sich in einen der Wagen setzen. Nur quälend langsam ging es voran. Schließlich stieg er ab und half den Tieren, den schweren Karren zu ziehen, und der Fuhrmann, von Natur aus nicht neugierig, unterhielt sich mehr mit seinen Zugtieren als mit seinem Passagier.

Am Rand der mittlerweile stark angewachsenen Siedlung ließ Shankolin sich absetzen. Zum Glück hatte Toric ihm eine Karte mitgegeben, damit er die Kontaktperson des Burgherrn ohne langes Suchen fand. Torics Verbindungsmann hieß Esselin und arbeitete als Archivar. Auch er schuldete dem Lord einen Gefallen, und deshalb würde er Shankolin ohne weiteres in das Akki-Gebäude einschleusen.

Shankolin traf Meister Esselin an, wie er im Begriff stand, das Archiv zu verlassen, das mit sehr vielen Fenstern ausgestattet war. Dadurch fiel reichlich Licht in den Raum, und man konnte die Massen von Büchern in den Regalen gut sehen, doch Glas ging nun mal leicht zu Bruch, und die Splitter konnten die teils sehr wertvollen Bände beschädigen. In Gedanken kalkulierte Shankolin aus, wie viel Sprengstoff er brauchen würde. Vielleicht kannte Toric einen Mann, der ihn mit Dynamit oder etwas ähnlichem versorgte.

Meister Esselin machte ein unglückliches Gesicht, als er Lord Torics Handschrift auf dem Umschlag erkannte, den Shankolin ihm reichte. Und beim Lesen des Briefs verfinsterte sich seine Miene noch mehr. Sein ohnehin schon fahler Teint wurde noch bleicher, und man sah ihm seinen Verdruss deutlich an.

»Lord Toric meinte«, begann Shankolin, der zu schmeicheln verstand, wenn es seinen Zwecken diente, »nur du könntest meinen Herzenswunsch erfüllen und mir das Akki zeigen.«

Ehrerbietung heuchelnd, fügte er hinzu: »Ein kurzer Blick würde genügen, mir einen lang gehegten Traum zu erfüllen.«

»Nun ja, immerhin ist es Lord Toric, der mich um diesen Gefallen bittet«, murmelte Esselin und riss den Brief in winzige Fetzen.

Es war Abend, und nur wenige Leute spazierten auf den gepflegten Wegen. Doch Esselin überzeugte sich davon, dass kein Mensch in der Nähe war, als er die Papierschnipsel in einem Blumenbeet vergrub. Während er die Erde mit dem Fuß feststampfte, spähte er nervös in die Runde, aus Angst, jemand könnte ihn beobachten. Mit einem letzten Blick auf den Boden vergewisserte er sich, dass auch nicht das kleinste Stückchen Papier aus dem Erdreich herausguckte.

»Komm mit«, forderte er dann Shankolin auf. »Aber es muss wirklich nur ein ganz kurzer Blick sein. Bei mir zu Hause wartet viel Arbeit auf mich. Wie immer.« Esselin schlug einen wehleidigen Ton an und watschelte so schnell ihn seine stämmigen Beine tragen konnten in Richtung des Akki-Gebäudes.

Shankolin zuckte leicht zusammen, als die Laternen, die den Weg säumten, in der Dämmerung angingen. Von diesem ganzen neumodischen Zeug, das ihn allenthalben umgab, fühlte er sich besudelt. Je eher man diesen Firlefanz zerstörte, umso besser. Doch Landing war mittlerweile zu ungeahnter Größe angewachsen. Umso schwieriger würde es sein, sämtliche durch das Akki angeregten Neuerungen zu vernichten, doch er musste einen Weg finden. Vielleicht sollte er mehr Helfer anwerben. Doch zuerst galt es festzustellen, wie tief dieser fette kleine Mann in Lord Torics Schuld stand.

Zu seiner Verwunderung führte Esselin ihn nicht zum Haupteingang des Akki-Gebäudes, sondern zu einer Seitenpforte. Der Wachmann, der dort auf seinem Posten saß, verzog unwillig das Gesicht, als er Esselin erkannte, doch ohne Zögern öffnete er die Tür.

»Wir verlassen das Gebäude durch den Vordereingang«, erklärte Esselin dem Wächter und bedeutete Shankolin, ihm zu folgen.

Der Wachposten rückte zur Seite, um den korpulenten Archivar vorbeizulassen. Er setzte eine abweisende Miene auf, als wolle er verhindern, dass Esselin ihn in ein Gespräch verwickelte, und Shankolin würdigte er kaum eines Blickes.

Sie schritten durch einen Korridor mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten. Vielleicht konnte er später von draußen durch die Fenster spähen, nahm Shankolin sich vor. Dann gelangten sie in einen breiten Flur, an den Shankolin sich noch gut erinnerte. Hier war er vor vielen Planetenumläufen schon einmal gewesen. Gelegentlich begegneten sie Leuten, die sich miteinander unterhielten, doch jeder schien bestrebt zu sein, Esselin zu meiden.

Die Zimmer zur Linken mussten inspiziert werden. Ob er brennendes Pech durch ein Fenster schleudern sollte? Nein, nur durch Sprengstoff konnte die größtmögliche Verwüstung erreicht werden. Feuer allein genügte nicht.

Am Ende des Flurs lag der matt erhellte Raum, in dem das Akki stand. Shankolin spürte, wie eine ungeheure Erregung, ein wahrer Nervenkitzel, von ihm Besitz ergriff. Nie hätte er gedacht, dass es so problemlos sein würde, in das Akki-Gebäude zu gelangen.

Als er den Angriff auf die Heilerhalle plante, hatten alle geglaubt, die größten Schwierigkeiten lägen darin, sich Einlass zu verschaffen. Wie es sich dann herausstellte, war es ein Leichtes, in die Halle hineinzuspazieren, doch das Hinauskommen war eine Tortur.

Sollte er Meister Esselin unter Druck setzen, damit er ihn auch bei seinem nächsten Besuch des Akki-Gebäudes begleitete? Unter den Gewändern dieses Fettwanstes ließen sich unauffällig Päckchen mit Sprengstoff verbergen. Doch zuerst musste er den eigentlichen Akki-Raum in Augenschein nehmen. Und sich davon überzeugen, was sich in dem Zimmer zur Linken befand. Durch die offen stehende Tür drang Licht auf den Korridor, und den Geräuschen nach zu urteilen, waren dort Maschinen in Betrieb, die von mehreren Leuten bedient oder überwacht wurden.

Plötzlich verließ ein groß gewachsener Mann diesen Raum. Als er Esselin erkannte, runzelte er die Stirn, und Shankolin streifte er mit einem flüchtigen Blick.

»Ich wollte ihm nur kurz das Akki zeigen, Tunge«, erklärte Esselin und wedelte mit der Hand, um den Mann loszuwerden.

Tunge setzte zu einem Protest an, doch unbeirrt marschierte Esselin bis zur Akki-Kammer weiter. Auf der Schwelle blieb er stehen und winkte Shankolin zu, er möge sich beeilen.

»Natürlich gibt es nicht mehr viel zu sehen, seit sich das Akki selbst abschaltete …«

Shankolin hörte ihm gar nicht zu. Er kostete den Moment in vollen Zügen aus. Sein Herz klopfte in freudiger Erwartung, wie damals an jenem denkwürdigen Tag. Eine Anwandlung von Furcht beschlich ihn, als er sich an das entsetzliche Geräusch erinnerte, das ihm das Hörvermögen raubte. Doch das Akki hatte sich ausgeschaltet. Er konnte es kaum abwarten, sich den Raum anzusehen, den er bald in Schutt und Asche legen würde. Ungeduldig schob er Esselin zur Seite und überschritt energisch die Schwelle.

Weiter kam Shankolin nicht. Aus der Wand, die der Tür gegenüber lag, schossen zwei schmale Lichtspeere und trafen seine Brust in der Herzgegend. Er war tot, noch ehe er rücklings auf dem Fußboden aufschlug.

Meister Esselin erlitt einen hysterischen Anfall und entfernte sich so weit wie möglich von dem Leichnam. Tunge rief um Hilfe, spähte dann hinunter auf den Toten und kratzte sich verblüfft am Kopf. Als er dem Mann die Mütze abnahm und das zernarbte Gesicht sah, bückte er sich rasch und untersuchte die linke Hand. Die Spitze des Zeigefingers fehlte. Tunge rannte in die Haupthalle und stöberte in der obersten Schreibtischschublade, bis er den Steckbrief fand, den der Harfner gezeichnet hatte. Meister Stinar eilte herbei um festzustellen, wer so hysterisch schrie und warum.

Stinar ließ sofort einen Heiler kommen, der sich um den Meisterarchivar kümmern sollte. Als Tunge ihm den Steckbrief zeigte, setzte sich Stinar mit D'ram und Lytol im Landsitz an der Meeresbucht in Verbindung. Jeden, den man im Akki-Gebäude nicht dringend brauchte, schickte er nach Hause, mit Ausnahme des Wachpostens an der Seitenpforte, der nichts begriff und nur dauernd wiederholte, er sei gar nicht auf den Gedanken gekommen, Meister Esselin irgendwelche Fragen zu stellen. Der Archivar ging doch im Akki-Gebäude ein und aus, war es nicht so? Als D'ram und Lytol eintrafen, führte Stinar sie zu dem Leichnam und bat Tunge, genau zu erzählen, was er beobachtet hatte.

»Wie ich schon zu Meister Stinar sagte, sah ich aus der Wand zwei Lichtblitze schießen.« Er deutete auf die Stelle, nicht gewillt, die Schwelle noch einmal zu überschreiten, obwohl er früher den Raum ständig betreten hatte, um ihn sauber zu halten. »Soweit ich weiß, war die Anlage da drinnen nicht mehr in Betrieb, seit das Akki sich abschaltete und Meister Robinton zur gleichen Zeit starb.«

Sowohl Lytol als auch D'ram blickten eine geraume Weile auf den Toten hinunter, ehe sie einander anschauten.

»Er war schon einmal hier«, bemerkte Lytol mit leiser, trauriger Stimme. »Als er und seine Spießgesellen das Akki angriffen. Bei dieser Gelegenheit betäubte das Akki die Eindringlinge mit einem so genannten akustischen Sperrfeuer. Das Akki erklärte, es sei mit einem Mechanismus zur Selbstverteidigung ausgestattet.«

Überrascht fragte Stinar: »Aber das liegt doch zwölf Planetenumläufe zurück.«

»Eher dreizehn«, berichtigte Lytol. »Aber das Akki muss den Kerl sofort wiedererkannt haben.«

»Das hieße ja, dass das Verteidigungssystem des Akki immer noch aktiv ist«, schlussfolgerte Stinar voller Respekt.

Lytol sah ihn freundlich an. »Ich glaube, dass die zentrale Steuerung niemals abgeschaltet war. Ein so ausgeklügeltes System wie das Akki hat den Kerl als einen früheren Feind erkannt, als gefährlich eingestuft und auf der Stelle gehandelt. Wie du weißt, Stinar, besitzen Computer umfangreiche und akkurate Memory-Dateien.«

 

***

 

Eine Feuerechse brachte die Nachricht zur Harfnerhalle, und Pinch, der Einzige, der den Anführer der Reaktionäre persönlich kannte, wurde geholt, um den Mann zu identifizieren.

»Hast du eine Ahnung, wer der Kerl in Wirklichkeit war, Meister Mekelroy?«, erkundigte sich Lytol.

Pinch schüttelte den Kopf. ›Nummer fünf‹ hieß er bei seinen Anhängern, und in Crom nannte man ihn ›Glas‹, doch keine der Bezeichnungen gab Aufschluss über seine wahre Identität oder Herkunft. Pinch hoffte, es würde ein Weilchen dauern, ehe Lord Toric merkte, dass er auch Nummer fünf verloren hatte. Jetzt brauchte er nur noch die Frau, die sich den Rebellen angeschlossen hatte, zu finden und sie unschädlich zu machen. Dann hatten sie vielleicht endgültig Ruhe vor den Reaktionären.

Esselin erholte sich nicht von dem Schock, den er erlitten hatte, und starb wenige Tage später an einer Gehirnblutung. Jedenfalls lautete so die Diagnose der Heiler. Man versuchte, das Ereignis so schnell wie möglich zu vergessen, und bald nahm Tunge seine Arbeit wieder auf, die darin bestand, das Akki-Zimmer zu säubern.

Weyr-Festung Honshu - 3.21.31

Sobald F'lessan anfing, täglich im Meer zu schwimmen, besserte sich sein Zustand. Er wurde kräftiger, konnte sich wieder konzentrieren und bat um Astronomie-Lehrbücher, die er gemeinsam mit Tai studierte. Er schickte sogar jemanden ins Observatorium hinauf, um ihm die Fotos vom Weltraum zu bringen, die er bei dem Treffen der Drachenreiter vorgezeigt hatte; das Ganze schien ihm eine Ewigkeit her zu sein.

Tai entdeckte eine helle Erscheinung im All, die sie im Auge behalten und überprüfen mussten. Wie es sich herausstellte, handelte es sich um einen Asteroiden, der für Pern keine Gefahr bedeutete. Dann schlug Tai vor, Erragon um die neuesten Aufnahmen zu bitten, die vom Teleskop beim Landsitz an der Meeresbucht stammten. Der Sternenmeister hatte vielleicht nicht genug Zeit, um sämtliche Bilder auszuwerten, denn er beaufsichtigte die Errichtung der drei neuen Observatorien und erteilte zusätzlich Unterricht in Astronomie.

Golanth fing allmählich an zu laufen. Anfangs hinkte er, doch dann wurden seine Bewegungen immer sicherer, und bald war er imstande, in forschem Tempo auf der Terrasse hin und her zu gehen. Ständig versuchte er, die versehrte Schwinge zu strecken, doch trotz der Massagen und Einreibungen mit der stinkenden Paste blieb das Gelenk steif. Sagassys Gefährte, der neuen Proviant brachte, sah sich Golanths Bemühungen eine Zeit lang an.

»Ich glaube, wir könnten eine Verbesserung schaffen. Die Terrassenstufe ist zur Festungsseite hin nicht besonders hoch.«

»Golanth könnte die Treppenstufen niemals bewältigen«, entgegnete F'lessan.

»Aber man kann eine Rampe bauen«, erwiderte Jubb und kratzte sich nachdenklich das Kinn. »Das geeignete Holz hätte ich. Die Rampe muss natürlich was aushalten. Wie viel wiegt dein Drache?«

F'lessan und Tai tauschten Blicke, dann fing F'lessan an zu lachen.

»Was ist daran so komisch?«

»Golanth wiegt so viel, wie er gern wiegen möchte«, prustete F'lessan und steckte Tai mit seiner Heiterkeit an.

Jubb schaute verblüfft zu Sagassy und Keita hin und zuckte die Achseln.

»Hat noch nie jemand einen Drachen gewogen? Herdentiere wiegen wir ständig.« Er warf die Arme hoch. »Nun ja, ich wollte nur helfen.«

»Deine Idee ist sogar sehr gut.« F'lessan klopfte Jubb auf die Schulter. »Ich lache nicht über den Vorschlag, Jubb. Ganz im Gegenteil. Golanth ist es Leid, auf dieser Terrasse festzusitzen.« F'lessan wurde wieder ernst. »Und er kann nicht einfach wegfliegen.«

»Wie lange würde der Bau einer Rampe dauern?«, mischte sich Tai ein.

Jubb schürzte die Lippen. »Das kommt darauf an, wie viele fleißige Helfer euch zur Verfügung stehen.« Dann grinste er.

 

***

 

Nach drei Tagen war die Rampe fertig. Drachen transportieren das Bauholz und Arbeitskräfte, die ›zufällig‹ gehört hatten, dass Zimmerleute gebraucht wurden. Von Telgar kamen drei Drachen mit Kisten voller Nägel, Schrauben, Hämmer, Sägen und anderem Material aus der Schmiedehalle. Jubb, seine Kollegen Sparling und Riller, zwei Metallarbeiter und drei von Lord Asgenars besten Schreinern entwarfen eine im Zickzack verlaufende Rampe. Man diskutierte über den Neigungswinkel, die Abmessungen, Verankerungen und andere technische Details. Derweil sägten Männer und Frauen emsig Bretter auf die passende Größe, andere gingen auf die Jagd oder versorgten die Helfer mit Proviant. Doch in einer Hinsicht wollte F'lessan keinerlei Kompromiss eingehen: selbst zum Wohle seines Drachen durfte die imposante Felsenfassade von Honshu nicht verunstaltet werden.

Die Behandlung seines Drachen übernahm er zum größten Teil selbst, und nicht einmal Tai durfte Golanths Augenlider mit Salbe einreiben. Seine eigenen Verletzungen versuchte er zu überspielen. Er gewöhnte sich einen langsameren Gang an, damit sein Hinken nicht auffiel, doch einen Gehstock musste er noch benutzen. Fast war er wieder der Alte, doch er lachte und lächelte nicht mehr so viel wie früher, und in seinen Augen lag ein ernster Blick. Manchmal bemerkte Tai, dass F'lessan an der Abbruchkante der Terrasse stand und gedankenverloren in die Tiefe spähte. Vielleicht überlegte er, ob Golanth es doch wagen konnte, sich hinunterzustürzen, die gesunde Schwinge abzuspreizen und mit ein paar kräftigen Schlägen Höhe zu gewinnen.

 

***

 

Sowie sich die Nachricht vom Bau der Rampe verbreitete, kamen Lessa und F'lar zu Besuch. Während F'lar sich von Jubb und seinen Handwerken die Konstruktionspläne zeigen ließ, schilderte Lessa, was sich auf dem Westlichen Kontinent abspielte, nachdem Meister Erragon die Bergung der Teleskope aus den Catherine-Höhlen veranlasst hatte.

»Ehe er seine gesamte Zeit auf das neue Raumüberwachungs-Programm verwendet«, fand F'lessan, »sollte er hier in Honshu eine Konsole zur Fernbedienung des Teleskops anbringen. An der Nordfassade gibt es einen Raum, der sich ideal dazu eignet. Es muss auch einen Weg geben, den Mechanismus zum Öffnen und Schließen der Kuppel per Fernbedienung zu steuern. Die Wendeltreppe ist ja ein Witz. Wieso wollte Kenjo das Observatorium verstecken?«

»Wer weiß schon, was die ersten Kolonisten planten?«, erwiderte Lessa achselzuckend. »Hast du Jancis und Piemur um Unterstützung gebeten? Erragon ist dir ja so dankbar, dass du ihm bei der Auswertung der Weltraumbilder hilfst. Manchmal bekommt man den Eindruck, er arbeitet Tag und Nacht.«

»Er schwört, mit vier Stunden Schlaf käme er aus«, warf Tai skeptisch ein.

»Ihr beide seid noch nicht kräftig genug, um euer volles Arbeitspensum zu leisten«, konstatierte Lessa nüchtern. »Aber wenn ich es richtig verstehe, dann bedeutet eine Himmelsüberwachung mehr als auf dem Rücken zu liegen und die Sterne anzustarren. Erragon sagte mir, er brauchte Referenzbilder von Honshu.« Sie legte eine Pause ein und schaute über das Tal. »Es ist wunderschön hier. Aber heute können wir nicht lange bleiben.«

Kurz darauf verabschiedeten sich die Weyr-Führer von Benden und versprachen wiederzukommen, wenn die Rampe fertig sei.

Und dann war es so weit. Die Rampe war breit genug für Ramoth, den größten Drachen von Pern. Die goldene Königin stolzierte die Rampe auf und ab, ohne mit den zusammengefalteten Schwingen die angrenzende Felswand zu berühren. Tapfer schickte sich Golanth an, die Rampe zu erklimmen, wobei F'lessan ihn begleitete.

»Stütz dich ruhig mit deinem vollem Gewicht auf die Vorderbeine, Golly«, ermunterte F'lessan ihn. Lauschend legte er den Kopf schräg, als die Holzbretter sich knarzend durchbogen.

Die Zuschauer feuerten Golanth und F'lessan an, als sie ihren Weg über die Rampe fortsetzten. Mit kreisenden Augen schaute Ramoth von der oberen Terrasse zu, derweil Zaranth und Mnementh auf den schroffen Klippen Posten bezogen hatten. Allmählich fasste Golanth Vertrauen zu dem Aufbau, und der erste Absatz der Rampe war breit genug, damit sich der Drache umdrehen konnte. Als er und F'lessan wieder drunten standen, reckte er den Kopf in die Höhe, stieß einen Triumphschrei aus und stampfte mit den Pranken auf den weichen Boden. In diesem Moment sah Golanth das Tor, das zu dem ehemaligen Viehpferch führte.

Hier könnte ich mir einen Weyr einrichten, erklärte er seinem Reiter. Der Platz ist groß genug, und ich passe mühelos durch das Tor.

F'lessan, der jeden Winkel von Honshu genau kannte, bemerkte erst jetzt, dass das Tor erweitert worden war. Im allgemeinen Baulärm und den emsigen Aktivitäten rings um die Rampe war ihm nicht aufgefallen, dass die Handwerker Verbesserungen an der alten Viehunterkunft vornahmen. F'lessan wusste, dass der Stall größer war als Golanths Weyr in Benden, und über die Rampe konnte er den Pferch mühelos erreichen. Wenn im Winter die Regenzeit einsetzte, brauchte Golanth ein geschütztes Quartier.

Regen. Plötzlich merkte F'lessan, wie ihm schwindelig wurde, und er musste sich festhalten, bis der Anfall vorbei ging.

»Was hast du, F'lessan?«, fragte Tai besorgt. Sie war herbeigeeilt um zu sehen, was Golanths Augenmerk auf sich zog. F'lessan schien sich in einer Art Schockzustand zu befinden.

Regen! Vom Himmel regnete es nicht nur Wasser, sondern auch Fäden, silbergraue, gefräßige Organismen, die jedes Lebewesen vernichteten. Golanth würde nie wieder imstande sein, gegen die Fäden zu kämpfen. Wenn demnächst ein Fädenschauer über Honshu niederging, musste man Golanth in den Viehpferch einsperren, damit er nicht versuchte, trotz seiner Verletzungen zu fliegen. Ein nicht zu unterdrückender Instinkt befahl den Drachen, die Sporen aus dem All zu bekämpfen. Hatte man deshalb so eilig die Rampe gebaut? F'lessan überlegte, wann der nächste Fädenschauer in Honshu zu erwarten war. Doch er vermochte nicht klar zu denken, sein Kopf war wie leer gefegt.

Die jähe Erkenntnis, dass seine Zeit als Geschwaderführer zu Ende war, überstieg seine Kräfte. Dabei lag diese Tatsache auf der Hand, er hatte sie nur nicht wahrhaben wollen. Er hatte die Realität verdrängt, indem er sich auf die Auswertung von Erragons Weltraumfotos stürzte. Und Tai hatte ihn darin noch bestärkt. Ihn abgelenkt, indem sie mit ihm Ausflüge ans Meer unternahm und ihn in lange astronomische Beobachtungen verwickelte. Er wollte ihr die Schuld dafür geben, dass sie ihn daran gehindert hatte, sich der Realität zu stellen, doch er wusste, dass er ihr damit bitter Unrecht tat. In Tai lag keine Spur von Falschheit oder Heimtücke, sie meinte es nur gut mit ihm.

Weder Lessa noch F'lar hatten ihn bei ihrem letzten Besuch auf sein Handikap angesprochen, und dass er in Zukunft kein Geschwaderführer mehr sein konnte. Oder glaubten sie, er habe sich mit seinem Zustand abgefunden und sei von einem Himmelskämpfer zu einem Himmelsbeobachter geworden? Das gleiche Schicksal galt für Golanth. Die Rampe gewährte ihm mehr Bewegungsfreiheit, aber lediglich auf dem Boden. Würde er je wieder in die Lüfte aufsteigen können?

Er erinnerte sich, dass Tai neben ihm stand. Noch immer stießen die Männer und Frauen, die die Rampe gebaut hatten, Anfeuerungsrufe aus und ermunterten Golanth, immer wieder auf und ab zu laufen. F'lessan holte tief Luft und sah Tai an. Der Blick in ihren Augen verriet ihm, dass sie wusste, woran er dachte. Dann traf ihn die nächste Einsicht wie ein Blitzstrahl.

Ein Drache konnte seine Partnerin nur in der Luft befliegen. Hatten er und Golanth nicht nur den Anspruch auf die Geschwaderführung verloren, sondern auch das Recht auf eine körperliche Erfüllung der Liebe?

Es dauerte ein Weilchen, bis er sich vergegenwärtigte, dass Tai ihn sanft schüttelte. Mit ihren grünen Augen blickte sie ihn durchdringend an.

»So darfst du nicht denken«, flüsterte sie. »Es wird schon einen Weg geben. Es gibt immer neue Wege. Komm mit!«

Er griff nach ihren Schultern und drängte sie gegen einen der wuchtigen Pfeiler, die die Rampe abstützten.

»Hast du es die ganze Zeit über gewusst? Haben Lessa und F'lar es gewusst?«

»Ich für mein Teil dachte«, antwortete sie gedehnt, »du seist dir darüber im Klaren, dass ein anderer für die nächste Zeit deinen Posten im Geschwader übernehmen muss.«

»Es geht nicht nur um die Geschwaderführung …« Er schob sie von sich. »Und ich bildete mir ein, Honshu sei meine Zuflucht. Jetzt begreife ich, dass diese Weyr-Festung Golanths Gefängnis ist.« Er zeigte auf die Viehunterkunft mit dem verbreiterten Tor. »Jedes Mal, wenn es Fäden regnet, muss man ihn da drin einsperren. Ein Drache wird verrückt, wenn er nicht gegen Fäden kämpfen darf. Ein verletzter Drache wird immer weit weg von einem Einsatzort gebracht, wenn er beim Kampf nicht aktiv mitwirken kann. Golanth bleibt nicht einmal mehr die Möglichkeit zur Flucht!«

»Das weißt du noch nicht mit Bestimmtheit«, widersprach sie. »Wir haben es noch nicht einmal versucht, ihn ans Meer zu bringen.«

»Beim Ersten Ei, wie sollen wir ihn an den Strand befördern, wenn er nicht einmal in die Luft aufsteigen kann?«

»Weil wir eine Möglichkeit kennen, ihn in die Luft zu heben«, erwiderte Lessa, die sich plötzlich zu ihnen gesellte, F'lar an ihrer Seite. »Und sowie er in der Luft schwebt, kann er ins Dazwischen gehen. Denkst du, Ramoth, Mnementh und die anderen Drachen haben schon vergessen, was sie beim Kampf mit den Raubkatzen lernten?«

Überrascht starrte F'lessan sie an. Sie klang beinahe vorwurfsvoll. Zu seiner Verwunderung blickte sein Vater eher amüsiert als kritisch drein. Er konnte sich nicht vorstellen, was Lessa mit ihrer Bemerkung meinte. Sein Geist beschäftigte sich immer noch mit den niederschmetternden Erkenntnissen von vorhin. Er war zu feige gewesen, sich selbst einzugestehen, dass sein Leben nie wieder so sein würde wie früher.

»Der Bau der Rampe war eine gute Idee«, meinte F'lar. »Und der ehemalige Viehstall kann Golanth als Weyr dienen.« Er fasste F'lessan scharf ins Auge. »Als Weyr, wohlgemerkt, und nicht als Gefängnis. Und ehe es über Honshu wieder Fäden regnet, haben wir den Dreh heraus, wie man deinen Bronzedrachen in die Luft hebt.«

»Wie denn?«

»Es bedarf nur der nötigen Kontrolle.« Lessa hakte sich bei ihrem Sohn ein. »Dein Drache hat sich doch selbst darin geübt, Objekte und Lebewesen hochzuheben.«

»Woher weißt du das?«, fragte F'lessan, momentan von seinen düsteren Gedanken abgelenkt.

»Ramoth erfährt alles, was sie wissen muss«, erwiderte Lessa und lächelte ihm ermutigend zu. »Wie ich sehe, beginnt jetzt die Feier. Wir haben Golanths Weyr inspiziert und ihn für gut befunden, und jetzt solltest du ihn in jeder Hinsicht beruhigen.«

Golanth trompetete, und in dem freudigen Signal war nichts von F'lessans Skepsis zu spüren. Seine deprimierte Stimmung hatte nicht auf den Bronzenen übergegriffen, und dafür war F'lessan dankbar. Nun trottete Golanth zufrieden die Rampe hinauf und herunter. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um die Tatsache, dass er nicht mehr an die Felsenterrasse gefesselt war und mehr Bewegungsfreiheit genoss. F'lessan dachte wieder an das, was seine Mutter gesagt hatte. Gewiss, Zaranth und Golanth hatten die Telekinese gemeistert, als sie ihn transportierte. Durch Übung konnten sie sich verbessern. Er spürte, wie der Boden unter Golanths stampfenden Pranken bebte.

Lessa drückte seinen Arm. »Komm mit, F'lessan, für dich gibt es noch mehr zu tun«, forderte sie ihn freundlich auf.

Als sie aus dem Schatten der Rampe wieder ins strahlende Sonnenlicht traten, verdrängte er die Anwandlung von Verzweiflung und zwang sich, nur an die Dinge zu denken, die Anlass zu Hoffnung gaben. Er applaudierte gemeinsam mit den Zuschauern, als Golanth noch einmal die Rampe hinuntertrabte, wobei er nur leicht das linke Bein schonte. Die rechte Schwinge war vollständig abgespreizt, die linke wies schräg nach unten, wirkte insgesamt jedoch lockerer, da Golanth nicht mehr befürchten musste, versehentlich an der felsigen Rückwand der Terrasse anzustoßen.

Vielleicht konnten Schwimmen und eine Massage durch Delfine das Gelenk beweglicher machen …

»Du musst optimistisch sein, mein Sohn«, hörte er F'lar sagen, der ihn gerade überholte.

F'lessan drehte sich um und streckt den Arm aus. »Tai?«

Auch sie kam aus dem Schatten der Rampe und griff nach seiner Hand. Seite an Seite gingen sie zu Golanth. »Denk immer daran, F'lessan, ich habe dich zu meinem Partner erwählt. Und ich bleibe bei meiner Entscheidung.« Ihre Finger umschlossen fest die seinen, als sie die Rampe hinaufstiegen.

Burg des Südens - 3.23.31

Toric überwachte das Ausladen einiger erstklassiger Zuchthunde. Große, starke Tiere mit breitem Brustkorb, muskulösen Hälsen, gesunden Zähnen und kräftigen Beinen. In dem kurzen, dunkelbraunen bis mittelbraunen Fell konnten sich keine Parasiten einnisten und sich in den Wirtskörper eingraben. Kluge, wachsame Augen, furchtlos trotz der in engen Transportbehältern verbrachten Reise.

»Die Hunde waren nicht seekrank«, erklärte der Hundeführer beifällig. »Im Gegensatz zu vielen menschlichen Passagieren. Mein Name ist übrigens Pinch, Lord Toric.«

»Warum tragen sie Maulkörbe?«, wollte Toric wissen und nahm mit einem Fingerschnippen die Vorstellung zur Kenntnis.

»Eine Hündin kommt demnächst in Hitze. Ich wollte verhindern, dass die Rüden um sie kämpfen und eine Beißerei anfangen.«

»Sind sie denn nicht dressiert?«

Der Hundeführer, ein mittelgroßer Mann mit kantigem Gesicht, das von Teer- und Dreckspuren entstellt war, blickte Toric aus seinen braunen Augen ernst an.

»Als sie an Bord gebracht wurden, waren sie es nicht. Jetzt schon. Sitz!«

Alle sechs Hunde gehorchten prompt, die Schnauzen auf den Führer gerichtet. Obwohl sie reglos dasaßen, verrieten ihre lebhaften Augen und die zitternden Nasen, dass sie sämtliche Reize ihrer Umgebung aufnahmen.

»Auf!« Völlig synchron sprangen die Tiere hoch. Sie nutzten die Gelegenheit, um witternd die Köpfe in alle Richtungen zu drehen. Einer winselte leise.

Der Mann lächelte selbstgefällig. »Sie sind auf Stimme und Handzeichen trainiert.« Er demonstrierte es, indem er eine Hand auf den Boden legte, und die Hunde setzten sich sofort wieder hin. »Wenn du ihnen persönlich das Futter gibst, sind sie dir treu ergeben.«

Toric hatte keine Zeit, um Hunde zu füttern, doch er konnte die Aufgabe an seine Söhne delegieren.

»Hier sind ihre Papiere.« Der Hundeführer stöberte in einer sauberen aber mehrfach ausgebesserten und geflickten Jacke und reichte Toric die Dokumente. »Meisterin Ballora garantiert dir, dass die Tiere fruchtbar sind. Sollten sie sich wider Erwarten nicht fortpflanzen, nimmt sie sie zurück.«

»Kannst du sie in meine Burg bringen?«, fragte Toric und betrachtete den Mann. Die Hunde reichten ihm bis übers Knie. Sie trugen schwere Halsbänder und zusätzlich Würgeketten. Je zwei gingen an einer dicken Lederleine.

»Die Klippen hinauf, die zweite Abzweigung links, dann die breite Treppe hoch und schon liegt Lord Torics Festung direkt vor mir«, haspelte der Mann herunter. Grinsend entblößte er seine weißen, ebenmäßigen Zähne.

»Mach dich auf den Weg, und wehe, ein Hund geht verloren, kommt zu Schaden oder richtet irgendeinen Schaden an.« Toric gab ihm einen Wink, er möge gehen.

»Kommt!« Die Hunde folgten dem Führer die Laufplanke hinunter, drängelnd, weil jeder dem Mann so nahe wie möglich sein wollte. Auf seinen Befehl hin trotteten sie vor ihm her.

Toric sah zu, wie die Hunde den Mann die Treppenstufen hinaufführten, ohne an den Leinen zu zerren. Das gefiel ihm. Er nahm sich vor, seine Söhne zu beaufsichtigen, wenn sie sich um die Tiere kümmerten. Vielleicht sollte er zwei der Hunde ständig bei sich behalten. Unklug wäre dies sicher nicht. Ballora hatte ihm Wachwhere angeboten. Aber er konnte die hässlichen Kreaturen nicht ausstehen, und wirklich gute Wächter waren sie nur des Nachts. Gleich nach ihrer Geburt mussten sie das Blut der Menschen lecken, die sie bewachen sollten, damit sie sie später erkannten.

Er gab vor, die Papiere der Hunde zu studieren, während die übrigen Passagiere das Schiff verließen. Auf diese Weise machte er sich ein Bild von den Neuankömmlingen im Süden. Die meisten sahen nicht so aus, als würden sie ihre Zeit für die neueste Marotte, die so genannte Weltraumüberwachung, opfern. Wenn Brocken vom Himmel fielen, konnte man ohnehin nichts dagegen unternehmen, und auf Pern gab es sowieso mehr Wasser als Land. Was man wirklich brauchte, waren mehr Wettersatelliten. Dieses Raumschiff besaß lediglich die Phalanx im Süden, doch die schlimmsten Orkane brauten sich im Norden zusammen. Erst vor zwei Planetenumläufen war seine Küste verwüstet worden. Die Warnungen der Delfine kamen zu spät und ließen nicht mehr genügend Zeit für Schutzmaßnahmen.

Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und zog unwillig die Stirn kraus, als die letzten Passagiere die Laufplanke betraten. Ein Mann führte ein kleines Mädchen an der Hand und rief drei halbwüchsigen Buben zu, sie sollten sich beeilen. Dann tauchten der Kapitän und der Meister der Kurierstation auf. Letzterer wuchtete sich den schweren Postsack auf die Schulter. Der Kapitän lächelte, der Kurier murmelte irgendetwas und steuerte auf die Laufplanke zu. Als er den Burgherrn erkannte, nickte er höflich.

»Keine Nachricht für mich?«

»Nein, Lord Toric, andernfalls hätte ich sie dir ausgehändigt, sowie du an Bord kamst.«

Toric fluchte leise und stülpte die Lippen vor. Der Kuriermeister machte um den Burgherrn einen Bogen und lief über die Planke zum Pier. Dann rannte er die Treppe hinauf und bog in Richtung der neu erbauten Kurierstation ab.

Diese verflixte Nummer Fünf! Seit ihrem Treffen in Telgar hatte er nichts mehr von diesem Mann gehört. Doch er hatte angedeutet, dass es noch viele Leute gab, die ihm folgten, ohne indessen deren Namen oder Aufenthaltsort zu nennen. Nur die verschwiegensten von ihnen kannten seine Ansicht über das Monstrum und Meister Robinton. Natürlich hatte sich Nummer Fünf klug verhalten, als er so geheimnisvoll tat, doch für ihn, Toric, war diese Geheimnistuerei lästig. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es jede Menge Männer und Frauen gab, die so dachten wie er, und die er für seine Sache gewinnen konnte. Aber das bedeutet, er musste noch einmal von vorn anfangen. Dorse war fast jede Marke wert gewesen, die Toric an ihn gezahlt hatte.

Natürlich konnte er Kashman ansprechen. Der hegte einen gewaltigen Groll gegen den anmaßenden Drachenreiter Lord Jaxom. Auf diesem Fundament ließ sich gut bauen.

Auch Meister Esselin hatte ihm noch nicht berichtet, wie die Begegnung mit Nummer Fünf vonstatten gegangen war. Der alte Trottel hatte doch hoffentlich nichts falsch gemacht. Allerdings bestand immer noch die Möglichkeit, dass Nummer Fünf sich einfach die Marken eingesteckt und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Doch das hielt Toric eher für unwahrscheinlich. Der Mann war besessen davon, das Monstrum mit Stumpf und Stiel zu vernichten, und seine Rachegelüste waren der beste Ansporn, den man sich vorstellen konnte. Vielleicht gewann er in Kashman einen willigen Verbündeten, obschon er noch ein Kind gewesen war, als der allseits beliebte Meister Robinton starb.

In diesem Moment gewahrte er die magere Frau, die am Kai herumlungerte und ihn beobachtete. Sie stand in einer linkischen Haltung, mit einer Hand umklammerte sie den Ellbogen des anderen Arms. Er balancierte die Laufplanke hinunter und näherte sich ihr, denn er wusste, dass die Frau gekommen war, um mit ihm, Lord Toric, zu sprechen. Es konnte sich nur um die Person handeln, die Dorse ihm beschrieben hatte. Seine Schilderung war alles andere als schmeichelhaft ausgefallen, doch er behielt in jedem einzelnen Punkt Recht. Die Frau war Nummer Fünf sklavisch ergeben, und kannte nur ein einziges Ziel - das Akki zu zerstören, notfalls im Alleingang und mit ihren eigenen Händen.

Nun war sie hier und hielt Ausschau nach ihm, sinnierte Toric. Ob sie Dorses Stelle einnehmen wollte? Oder die von Nummer Fünf? Jedenfalls gedachte er sie zu kontrollieren, wie er Dorse manipuliert hatte, und demnächst, wenn alles nach seinen Wünschen verlief, Lord Kashman dirigieren würde. Für Torics Pläne war dieses hagere Frauenzimmer sehr nützlich. Dorse hatte ihm erzählt, sie besäße ein besonderes Talent, unzufriedene Menschen zu regelrechtem Hass anzustacheln. Wenigstens konnte sie ihm die Namen der Frauen und Männer verraten, die bereits ›bekehrt‹ waren. Außerdem konnte sie die Verbindung zwischen ihm und Burg Keroon herstellen.

Lächelnd näherte er sich ihr. Unbeeindruckt erwiderte sie seinen Blick, das Gesicht eine starre Maske. Sie traf nicht die geringsten Anstalten, ihm entgegen zu gehen. Offensichtlich betrachtete sie ihn als ihresgleichen. Toric behielt sein Lächeln bei, doch er nahm sich vor, dem Weibsbild beizubringen, wer ihr Herr und Gebieter war. In seinem Machtbereich hatte nur einer das Sagen - nämlich er, Lord Toric, Herrscher über die Burg des Südens.

Keiner der beiden sah, dass der Hundeführer auf dem obersten Treppenabsatz stehen geblieben war und die Begegnung aufmerksam beobachtete.

 

***

 

Der Hundeführer blieb lange genug in der Burg des Südens, um Torics Zwillingssöhnen zu zeigen, wie man die Hunde versorgte und behandelte, damit sie auf die ihnen beigebrachten Kommandos hörten. Während dieser Siebenspanne spitzte er die Ohren, hörte aber nichts, was den Vorfall in Landing und Meister Esselins Tod betraf.

Als Toric zusammen mit der dünnen Frau aufbrach, um irgendein Ziel an der Küste aufzusuchen, rief Pinch Bista zu sich. Zwischen den Scharen von Feuerechsen, die über die Burg des Südens hinwegflitzten, war sie niemandem aufgefallen. Dann traf sich Pinch mit Sintary in der Harfnerhalle des Südens und gab ihm eine Skizze der Frau mit der Bitte, ein Auge auf sie zu halten. Schließlich schickte er Bista zu Sebell und forderte einen Drachen an, der ihn in die Harfnerhalle zurückbringen sollte.

Weyr-Festung Honshu - 3.27.31

Das Fest dauerte zwei Tage. Lessa überredete F'lar, über Nacht zu bleiben, da sich ein vom Ostmeer heraufziehender Schneesturm in Benden austobte und sie die wärmeren Gefilde ein Weilchen länger genießen wollte.

T'lion, der beim Bau der Rampe geholfen hatte, ließ von Monaco einen Harfner kommen. Jubb spielte Gitarre, Sparling die Fiedel, und Riller war ein Virtuose mit der Trommel. Keita sang einen glockenreinen Sopran, Sagassy einen unter die Haut gehenden Alt, und alle, sogar Tai, lachten, als F'lessan in den Chor einstimmte. Auf das Tanzen verzichtete er, doch F'lar tanzte fleißig mit den Damen und forderte sogar Tai auf, die ihm jedoch zu ihrem großen Bedauern einen Korb geben musste, weil ihr Bein noch zu sehr schmerzte. Wenn F'lessan nicht gerade damit beschäftigt war, Golanth auf seinen Wanderungen die Rampe hinauf und herunter zu begleiten, saß sie neben ihm. Alles in allem war es ein gelungener Abend.

Am nächsten Morgen litten sowohl F'lessan als auch Golanth unter fürchterlichem Muskelkater. Tai klagte, sie hätte zwei große Töpfe Taubkraut gebraucht, um deren Beschwerden zu lindern. Keita fand, sie würde in Honshu nicht länger gebraucht und bat T'lion um einen Flug zur Heilerhalle. Sie versprach, mehr Taubkraut zu schicken.

Anderentags brachen die letzten Gäste auf. Sagassy meinte, die Lebensmittel reichten für mehrere Tage, und sie sehnte sich nach ihrer eigenen Burg. Tai erbot sich, sie mitsamt ihren Töpfen und Pfannen, die sie Honshu geborgt hatte, heimzubringen. Und plötzlich hatte F'lessan seine Festung wieder ganz für sich allein. Mit einem Becher Klah trat er hinaus auf die Terrasse, suchte sich einen bequemen Platz und beobachtete Golanth, der den Kopf auf die Vordertatzen gelegt hatte und leise schnarchte.

An Golanths Färbung hatte F'lessan nichts mehr auszusetzen, die Haut glänzte in einem gesunden Bronzeton. Müßig fragte er sich, wann Erragon wohl die neue Konsole brächte, damit er anfangen konnte, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Sofort kreisten seine Gedanken wieder um die Tatsache, dass er als Geschwaderführer ausgedient hatte und Golanth vielleicht nie wieder Zaranth befliegen konnte. Die Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht, denn Zaranth war ein junger grüner Drache und brauchte einen potenten männlichen Gefährten, der ihre Gelüste befriedigte. Und er, F'lessan, dachte im Traum nicht daran, Tai mit einem anderen Drachenreiter zu teilen. Mittlerweile genoss sie seine Gesellschaft, und er konnte es nicht dulden, dass irgendein rücksichtsloser, unsensibler Reiter das Vertrauensverhältnis zerstörte, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Der bloße Gedanke daran brachte ihn in Harnisch.

Tai und er hatten viel gemeinsam, sie liebten ihre neue Beschäftigung. Und auf diese Arbeit, die Raumüberwachung, wollte er sich mit ganzer Kraft konzentrieren. Es war ungeheuer wichtig, den Himmel zu beobachten. Und dazu brauchte er kein Drachenreiter zu sein. Er brauchte nur Tai, dann konnte er exzellente Leistungen vollbringen. Sie wusste viel mehr über Astronomie als er, obwohl er fleißig lernte, um das Versäumte nachzuholen.

Sollte das Projekt ein Erfolg werden, mussten mehr Menschen nach Honshu ziehen und bei der Himmelsüberwachung helfen. Er nahm sich vor, demnächst Kontakt mit ein paar tüchtigen Leuten aufzunehmen. Er musste seinem Leben einen neuen Sinn, eine neue Richtung geben, wollte er nicht auf ewig mit seinem Schicksal hadern.

Ihm fiel Lytol mit dem vernarbten Gesicht ein, der seinen Drachen durch Tod verloren hatte. Bei einem Routineflug in Benden war Larth auf tragische Weise umgekommen. R'gul hatte seinem Drachen erlaubt, Feuerstein zu kauen und eine Flammengarbe auszustoßen. Doch Larth und Lytol hatten diesen Feueratem frontal abbekommen. In buchstäblich letzter Sekunde landete der Drache mit seinem schwer verwundeten Reiter, ging dann ins Dazwischen und verschied. Das hätte auch Lytols Ende bedeuten müssen.

Es war historisch belegt, dass Reiter, deren Drachen starben, lieber Selbstmord begingen als ohne ihren kreatürlichen Partner weiterzuleben. Lytol trotzte dieser Konvention und baute sich eine neue Existenz auf. Er verwaltete eine von Lord Jaxoms Burgen, dann half er Meister Robinton und D'ram, die Entwicklung von Landing zu jedermanns Zufriedenheit voranzutreiben. Und nun bildeten Lytol, D'ram und der blinde Meister Wansor auf dem Landsitz an der Meeresbucht ein treffliches Dreiergespann, das mit klugen Ratschlägen und weisen Entschlüssen dazu beitrug, die komplexe Gesellschaft von Pern zu leiten. F'lessan dachte flüchtig darüber nach, wie er wohl reagiert hätte, wäre Golanth seinen Verletzungen erlegen. Hätte er die Kraft besessen, weiterzumachen, so wie Lytol?

Doch dann schüttelte er die morbiden, fruchtlosen Gedanken ab. Er durfte sich nicht so gehenlassen. Das war reine Zeitverschwendung. Wie Tai schon sagte, gab es für die meisten Probleme eine Lösung. Lytol hatte für sich immer neue Wege gefunden, und diesen stillen, unaufdringlichen Helden sollte er sich getrost zum Vorbild nehmen.

Mitten in einem Schnarcher wachte Golanth auf und blickte aufmerksam nach Norden. Wann war der nächste Fädenfall angesagt? Lange konnte es nicht mehr dauern, das spürte Golanth instinktiv.

Fünf Reiter erschienen am Himmel, und ein sechster Drache stieg aus dem Dschungel auf. Zaranth erreichte Honshu zuerst. In der Luft schwebend ließ sie ihre Reiterin auf der Terrasse absitzen, ehe sie sich um eine Schwingenspitze drehte, als wollte sie die Neuankömmlinge provozieren. F'lessan stand auf und wunderte sich über ihre beinahe defensive Haltung. Dann erkannte er die Drachen: Monarth, Gadareth, Path, Galuth und Arwith, doch sie trafen keine Anstalten zu landen.

Sie sind gekommen um zu üben, erklärte Zaranth. Tai, ich hole seine Jacke.

»Was wollen sie üben?«, fragte F'lessan.

Klatschend prallte die Jacke gegen seine Brust, und reflexartig hielt er sie fest.

»Sie wollen üben, was Zaranth, Ramoth und Mnementh ihnen beigebracht haben«, erwiderte Tai.

Neulich hatte Lessa irgendetwas zum Thema Üben gesagt.

Was dann geschah, überraschte sowohl Tai als auch F'lessan. Plötzlich hob sich Golanth senkrecht in die Höhe. Vor Schreck stieß er ein lautes Zischen aus, während F'lessan erbleichte und zu taumeln anfing. Automatisch spreizte der Bronzedrache die Schwingen, obwohl die linke Flugmembran sich nicht weit genug entfaltete und leicht herunterhing. Doch er schwebte frei in der Luft.

»WAS MACHT IHR MIT GOLANTH!«, schrie F'lessan und humpelte schnell zu der Stelle, über der sein Drache außer Reichweite hoch über ihm pendelte.

Keine Sorge, F'lessan. Es geht mir gut.

»Training!«, brüllte T'lion.

»Training!«, stimmte T'gellan ein, hinter dem Persellan saß.

»Training!«, skandierten nun auch C'reel und Mirrim.

»Du brauchst ebenfalls Praxis, F'lessan. Es kommt darauf an, dass Golanth hoch genug über dem Boden schwebt«, schrie Mirrim von Paths Rücken. Path fixierte Zaranth, und die beiden Drachen kommunizierten miteinander, ohne ihre Reiterinnen daran teilnehmen zu lassen.

»Hatten sie dich vorher eingeweiht?«, wandte sich F'lessan an Tai.

»Nein!« Es klang pikiert. »Ich bin die Letzte, die sie ins Vertrauen ziehen würden. Zaranth kann vor dir und Golanth nichts verheimlichen.«

»SETZT SOFORT MEINEN DRACHEN AB!«

Es tut überhaupt nicht weh, erwiderte Golanth und spähte auf seinen Reiter hinunter, derweil die anderen Drachen ihn per Telekinese in der Luft hielten. Die Höhe reicht aus, um ins Dazwischen zu gehen.

Ohne deinen Reiter darfst du nicht ins Dazwischen gehen, ermahnte ihn Monarth, und langsam sank Golanth wieder nach unten.

Stop! brüllte Golanth, als ihm der Abstieg zu schnell erschien. So ist's besser. Ihr müsst vorsichtig sein. Ich bin keine Raubkatze, die man nach Belieben durch die Luft schleudert. Dann saß er wieder auf der Felsenterrasse und sah sich nach F'lessan um. Wieso kann ich das nicht selbst tun?

Das wissen wir nicht - noch nicht! entgegnete Arwith und zwinkerte verlegen mit den mehrfachen Augenlidern. Ihre Ignoranz zugeben zu müssen, war ihr peinlich. Drachenköniginnen sollten über alles Bescheid wissen.

»Bis jetzt hat alles bestens geklappt«, frohlockte T'lion. »Schwing dich auf deinen Drachen, F'lessan!«

Golanth duckte sich, um seinem Reiter das Aufsitzen zu erleichtern, doch F'lessan zögerte.

»Ich versuche es von der anderen Seite«, meinte er. Sein Hinken nach Möglichkeit kaschierend, humpelte er um Golanth herum und zog sich an dem Nackenwulst hoch. Das linke Bein wollte ihm nicht gehorchen und hing steif nach unten gestreckt herab.

Bist du bereit, F'lessan? fragte Monarth. Wir heben Golanth so hoch, dass er risikolos ins Dazwischen abtauchen kann.

Wohin geht die Reise?

Ans Meer. Zum Schwimmen. Golanth bringen wir auch ins Wasser, erklärte Tai.

Heute erwartet man dich auf dem Landsitz an der Meeresbucht, Golanth, ergänzte Path.

Dort kann man wunderbar schwimmen, freute sich der Bronzene.

Erragon gibt dir etwas mit, das du nach Honshu befördern sollst. Ich glaube nicht, dass er die Hilfe von uns allen braucht, fügte Path zu den anderen Drachen gewandt hinzu.

Ramoth hat gesagt, wir dürfen kein Risiko eingehen, warnte Arwith. Hebt ihn an!

Als F'lessan nach so langer Zeit wieder auf Golanth in den Lüften schwebte, spürte er die Begeisterung seines Drachen. Doch dieser Triumph war vermischt mit einer Spur von Angst, und F'lessan erkannte, dass Golanth seine Befürchtungen vor seinem Reiter verborgen gehalten hatte, so wie F'lessan versuchte, dem Bronzenen gegenüber seine Ängste zu verheimlichen.

Zu Golanths Linken schwebte Zaranth. Um ihn notfalls mit einer Schwinge abzustützen? Unter ihnen fiel Honshu zurück, bis sie eine beachtliche Höhe erreichten. Sein Blick reichte bis zu der kleinen Ansiedlung, er sah den Fluss - und die Terrassen.

Es ist gut, seufzte Golanth erleichtert und drehte seinen geschmeidigen Hals nach links, um seine Sehbehinderung auszugleichen.

Lass uns zum Landsitz an der Meeresbucht fliegen, Golanth. In Gedanken stellte er sich das glitzernde blaue Wasser vor, das durchschossen war mit hellgrünen Streifen, wo Untiefen das Sonnenlicht reflektierten. Unbewusst hob er den Arm, um als Geschwaderführer das Signal zum Aufbruch zu geben. Dann ließ er ihn niedersausen, und Golanth ging ins Dazwischen.

Benden-Weyr - 3.27.31

Sie haben es geschafft! berichtete Ramoth jubelnd ihrer Reiterin. Mit einem Anflug von Kritik fügte sie hinzu: Die Landung hätte sauberer sein können, doch unter den gegebenen Umständen war sie nicht übel. Ich glaube nicht, dass fünf Drachen nötig waren, um Golanth anzuheben. Mnementh und ich hätten es allein fertig gebracht.

Ganz sicher, pflichtete Lessa ihr bei, und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Aber die Gruppe aus Monaco braucht Praxis, und es boten sich so viele an, dass man sich getrost auf fünf Helfer einigen konnte.

Noch nie hatte sie ihren Sohn so verzweifelt gesehen wie in dem Augenblick, als er sich vergegenwärtigte, dass Golanth nie wieder gegen Fäden kämpfen konnte. Und infolge dieses Handicaps musste er seine Stellung als Geschwaderführer aufgeben.

Sie erinnerte sich an den Tag, als sie und F'lar voller Glück zusahen, wie F'lessan bei der Gegenüberstellung von Golanth erwählt wurde. Der Junge war gerade alt genug, um als Kandidat auftreten zu dürfen. Die beiden passten sehr gut zueinander, und fast mühelos bestanden sie sämtliche Tests und Manöver.

Mit sechzehn besaß er die Dreistigkeit, Golanth zu einem Paarungsflug zu ermutigen, als eine der Jungköniginnen in Hitze geriet und sämtliche Bronzedrachen als eventuelle Partner in Frage kamen. Noch im selben Planetenumlauf kam sein erstes Kind zur Welt. Zwei Planetenumläufe später wurde er zum Anführer eines neu gegründeten Geschwaders ernannt.

Die Attacke in Honshu hätte ihn und Golanth fast das Leben gekostet. Drachenreitern fiel es oft schwer, sich mit Verletzungen abzufinden, die sie oder ihre Tiere davontrugen. Diejenigen, die keinen starken Charakter besaßen oder nicht geneigt waren, der Realität ins Auge zu sehen, gingen einfach ins Dazwischen. Es war F'lars und Lessas größte Sorge gewesen, F'lessan könnte Selbstmord begehen, sowie er begriff, dass Golanth verkrüppelt bleiben würde.

Keita hatte jedoch abgewiegelt und gemeint, F'lessan sei kein Typ, der sich selbst das Leben nahm. Und dann hatte er Tai, die ihn tröstete. Lessa gestand sich ein, dass sie nie geglaubt hatte, ihr Sohn könne eine so innige Beziehung zu einer Frau aufbauen, doch sie waren auch nach dem Paarungsflug zusammen geblieben. Zaranth kümmerte sich so rührend um Golanth, wie Tai sich um F'lessan sorgte. Während der ersten kritischen Phase hatte Ramoth die beiden Drachen ständig überwacht.

Lessa war froh, dass F'lessan sich so stark für Honshu interessierte, und dass er während seiner Genesung begonnen hatte, gemeinsam mit Tai den Himmel zu erforschen. F'lessan musste am Leben bleiben, nicht nur, weil er ihr und F'lars einziges Kind war, sondern weil Pern ihn brauchte. Wie überzeugend er bei dem Treffen der Weyr-Führer aufgetreten war. Als sie selbst keinen Rat mehr wusste, wie man die vielen Drachenreiter nach dem Ende des Fädenfalls beschäftigen sollte, hatte ihr Sohn ihnen allen neue Wege gewiesen.

Sie erschauerte, während sie sich ins Gedächtnis zurückrief, welche Angst sie ausgestanden hatte, als Ramoth ohne sie davongeflogen war, um Golanth und Zaranth beizustehen.

»Das war doch vor fast einem Monat«, flüsterte F'lar, der von hinten an sie herantrat und sie umarmte. »Ich weiß, dass du gern dabei gewesen wärest, aber Zaranth gehört zu Monaco, und zu wissen, dass sie sich auf ihren Weyr verlassen kann, ist ungeheuer wichtig. Alle müssen lernen, wie man es anstellt, um Golanth in die Luft zu heben. Schließlich ist es etwas anderes, als Erragons Teleskop-Bauteile mittels Telekinese zu befördern.« Er drückte sie an sich. »Du und Ramoth habt mittlerweile viel Praxis.«

»Mnemenths Potenzial scheint schier unerschöpflich zu sein«, gab sie zurück und schmiegte sich eng an ihren Gefährten. Seine Nähe verlieh ihr frischen Mut und stärkte ihre Kräfte - wie immer. »Den Drachen öffnet sich eine völlig neue Dimension. Es gibt noch so viel zu lernen und zu verstehen.«

F'lar gluckste in sich hinein. »Kein Wunder, dass manche Menschen nicht damit zurechtkommen.«

»Gibt es wieder Ärger mit den Rebellen?« Erschrocken sah sie ihn an.

»Zum Glück verhalten sie sich seit einer Weile still. Wir sind auch ohne sie beschäftigt genug.«

»Denkst du, nach diesem Todesfall in Landing hört der ganze Spuk auf?«

F'lar seufzte. »Pinch hat die gesuchte Frau in Torics Gesellschaft gesehen. Wer weiß, was die beiden aushecken. Solche Typen fürchten sich vor allem, was sie nicht begreifen können oder begreifen wollen. Sie steigern sich in eine ablehnende Haltung hinein, weil das für sie der einfachste Weg ist, denn dann brauchen sie sich nicht mit irgendwelchen Neuerungen auseinander zu setzen. Sie zerstören alles, was nicht in ihr beschränktes Weltbild passt. Sie behaupten, sie täten es zum Wohle der gesamten Menschheit und führen Gründe an, die sie selbst nicht verstehen. Vielleicht ist das alles auch nur ein Symptom dafür, dass die Zeiten sich ändern. Und das Leben auf unserem Planeten macht in der Tat einen Wandel durch.«

»Ob es eine Wende zum Besseren ist?«

Er hob ihr Gesicht an und küsste sie auf den Mund. »Natürlich, was denn sonst?«

»Glaubst du das wirklich?«

»Selbstverständlich, sonst würde ich es nicht sagen. Ich war noch nie jemand, der anderen falsche Hoffnungen macht.«

Sie erwiderte seine Umarmung. »Fast einen ganzen Planetenumlauf lang hielt uns nur die Hoffnung am Leben.«

»Und ich stand drei Tage durch, ohne den leisesten Hoffnungsschimmer.« Er dachte daran, wie er auf sie wartete, während sie in die Zeit zurückreiste, um die fünf verschwundenen Weyr in die Gegenwart zu holen.

Landsitz an der Meeresbucht - am selben Tag, zu annähernd derselben Stunde

Als F'lessan in Gedanken die acht Sekunden zählte, hätte er nie gedacht, dass er einmal in dieser schwarzen Kälte so glücklich sein könnte. Dann segelten sie über im Sonnenlicht funkelnden blauen Wassern. Golanth drehte nach rechts ab und senkte steuernd die linke Schwinge, während sie auf die leicht geriffelte Oberfläche zuglitten.

Das ist schön! Wie ich dieses Gefühl vermisst habe! jubelte Golanth.

Es freut mich, dass es dir gut geht. Und wie gedenkst du auf dem Wasser zu landen?

So elegant wie immer. In seiner Euphorie vergaß Golanth, dass sein steifes Schwingengelenk ihn behindern würde.

Später behaupteten Erragon und D'ram, die von der Veranda aus zugesehen hatten, es sei eigentlich eine ganz gelungene Landung gewesen. Schließlich müsse man die Handicaps berücksichtigen. Golanth, der ohne Hilfe der anderen Drachen über die Bucht glitt, versuchte vergebens, mit den Schwingen zurückzurudern. Er verlor die Balance und schmierte ab, wobei die linke Schwingenspitze ins Wasser eintauchte. Durch den Schwung drehte er sich um die eigene Achse. Ehe er völlig abstürzte, nahmen seine Begleiter ihn in die Mitte. Ihm blieb gerade noch Zeit, die Flugmembranen zusammenzufalten, dann schlug er klatschend auf dem Wasser auf und rutschte noch eine gute Drachenlänge weiter. Ohne Reitgeschirr verlor F'lessan den Halt und stürzte kopfüber in die Wellen. Er schaffte es gerade noch, es wie einen halbwegs überzeugenden Kopfsprung aussehen zu lassen.

Tut mir Leid, entschuldigte sich Monarth. Ich hätte dich auffangen müssen, F'lessan. Aber diesen Trick haben wir noch nicht heraus. Golanth anzuheben ist kein Problem. Das Schwierige ist die Landung. Wasser ist wenigstens weich.

Wasser ist überhaupt nicht weich! widersprach F'lessan.

Obwohl die dicke Reitjacke mit Wasser voll gesogen war und ihn behinderte, tauchte er wieder auf und schwamm zu Golanth zurück, der auf den Wellen schaukelte und besorgt nach ihm Ausschau hielt.

Ist deine Schwinge in Ordnung?

Ich glaube, ja. Vorsichtig spreizte Golanth die Membran, so weit es ging. Kleine Wellen spülten über die Schwinge hinweg, und aufseufzend ließ sich der Drache tiefer sinken, bis das steife Gelenk im warmen Wasser untertauchte. Eine Wohltat, seufzte er zufrieden.

F'lessan war nicht mehr als sieben oder acht Züge geschwommen, als seine ausgestreckte rechte Hand eine Rückenfinne berührte. Dankbar hielt er sich daran fest und wurde in rasantem Tempo zu Golanth gezogen. Noch mehr Delfine näherten sich, quietschten vor Vergnügen, riefen seinen und Gollys Namen und lächelten ihm zu, als sie in hohem Bogen über seinen Kopf sprangen.

»Strand, Fless? Strand, Fless?«, fragte Alta ihn. Hinter ihr erkannte er Dik und Tom. Fünf weitere Delfine der hiesigen Schule tanzten auf ihren Fluken um Golanth herum. Er hörte ihre aufgeregten Klicklaute. »Wir geben auf Golly Acht. Lass deine Kleidung am Strand, Fless.«

Wie bei so vielen Ereignissen an diesem Morgen, schien F'lessan auch jetzt keine Wahl zu bleiben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit Anstand und Würde zu fügen. Übermütige Schnalz- und Knackgeräusche von sich gebend, begleiteten ihn die Delfine, bis er Grund unter den Füßen spürte und an Land waten konnte.

D'ram erwartete ihn bereits mit grinsendem Gesicht und reichte ihm ein Handtuch. Dann nahm er ihm die klatschnasse Jacke ab und sorgte dafür, dass sie trocknete. Zaranth setzte Tai am Strand ab. Monarth verharrte kurz im Schwebeflug, während T'gellan sich hinunterbeugte und mit der grünen Reiterin sprach. F'lessan sah, wie Tai zu erstarren schien und dann zustimmend mit dem Kopf nickte. Monarth drehte ab und gewann ausreichend Höhe, um mit den anderen Drachen ins Dazwischen zu gehen. Zaranth trabte, Fontänen verspritzend, in die Wellen und schwamm zu Golanth und den Delfinen, die sich in großer Zahl im Wasser tummelten.

Tai lief zu F'lessan, zog sich die Jacke aus und nahm ihren Helm ab. Doch F'lessan ahnte, dass ihr Gespräch mit T'gellan wichtig gewesen war. Sie blickte ernst und nachdenklich drein.

»Ihr seid genau die Leute, die ich sehen wollte«, rief Erragon und winkte F'lessan und Tai zu. »Die Ausrüstung für die Fernbedienung des Teleskops in Honshu steht bereit.«

Meister Wansor, der den Lärm gehört hatte, schlurfte bis an den Treppenabsatz, gefolgt von Lytol. Als Tai F'lessan erreichte, wrang er sein tropfendes Hemd aus und versuchte, auf dem geböschten Strand die Balance zu halten.

»Schlau von dir, mit einem Kopfsprung ins Wasser zu tauchen«, begrüßte sie ihn grinsend.

»Sah es aus, als sei es Absicht gewesen?«, erwiderte er lachend. In diesem Augenblick gab sein linkes Bein unter ihm nach. Rasch stützte sie ihn, bis er sich wieder gefangen hatte.

»Ich habe den Stock vergessen«, zischte er durch zusammengebissene Zähne. Die Euphorie, die er während des Flugs mit Golanth verspürt hatte, verflog. Er blickte zum Landsitz hin und merkte, dass es für einen Gehbehinderten ein langer Weg war. Er hatte keine Lust, vor Lytol und D'ram auf die Nase zu fallen. Vor allen Dingen nicht vor Lytol. Diese Blamage würde er sich nie verzeihen. Ihm wurde bewusst, dass er und Golanth alles andere als gesund waren. Er selbst würde nie wieder der Alte sein, den unbekümmerten, waghalsigen Geschwaderführer des Benden-Weyrs gab es nicht mehr.

»Wir sind etwas überstürzt aufgebrochen«, entgegnete Tai und legte ihm einen Arm um die Schultern.

»Gib mir das Hemd, F'lessan«, schlug der alte Bronzereiter vor und schnappte es ihm kurzerhand weg. »Und du wirst froh sein, wenn du aus den nassen Hosen herauskommst. Kommt ins Haus. Ich laufe vor und suche trocken Sachen für dich.«

F'lessan bemühte sich, mit Tai Schritt zu halten. Er sagte sich, dass der lange Fußmarsch über den Strand zeigen würde, wie belastbar er mittlerweile war. Schließlich waren er und Golanth erst vor zwei Siebenspannen nur knapp dem Tod entronnen.

»Was soll diese Hektik? Wer sind die Besucher?«, erkundigte sich Wansor. »Ich kann nicht verstehen, was die Delfine plappern, so aufgeregt sind sie. Fless? Fless rufen sie? Es kann doch wohl nicht F'lessan sein? Du sagtest doch, Lytol, er und sein Drache seien schwer verwundet worden.«

»Ja, das stimmt, Wansor«, bekräftigte Lytol. »Doch jetzt sind sie hier, um dich zu besuchen und mit dir über das Teleskop in Honshu zu sprechen.«

Beide sind gekommen, Drache und Reiter. Lytols Gedanke hallte in F'lessans Kopf nach, und Tränen traten ihm in die Augen. Doch nicht Mitleid mit dem Reiter, dem sein Gefährte genommen wurde, rührte an sein Herz, sondern die Erkenntnis, wie gut sich Lytol mit diesem Verlust abgefunden hatte. Er empfand Hochachtung vor diesem tapferen Mann, der nicht nur einen, sondern drei schwere Schicksalsschläge verkraften musste.

Und plötzlich kam F'lessan die Erleuchtung. Die detailgenaue Vorstellung eines Konzepts, das in seinen Gedanken aufblühte und Gestalt annahm, machte ihn so schwindelig, dass er gegen Tai taumelte, die ihn sofort stützte.

So wie sie ihn immer aufgefangen hatte und ihm auch weiterhin Halt geben würde.

Fühlst du dich nicht gut? fragte Golanth besorgt und hörte auf, im Wasser mit Zaranth und den Delfinen herumzuplantschen.

Im Gegenteil. Es geht mir sogar sehr gut! beruhigte F'lessan seinen Drachen.

Bald wäre Zaranth so weit, dass sie es allein schaffte, Golanth anzuheben, damit er sicher ins Dazwischen gehen konnte. Tai und Zaranth bildeten einen wesentlichen Bestandteil der neuen Zukunft, die er gerade wie in einer spontanen Vision vor sich gesehen hatte. Und jeder Drachenreiter konnte diese Zukunft mit ihnen teilen, wenn er es wollte. Vor ihnen lag ein verlockendes, spannendes Abenteuer.

Derart hochgestimmt fiel es F'lessan schwer, das mäßige Tempo beizubehalten. Am liebsten wäre er losgerannt. Die Schmerzen in seinem linken Bein spürte er kaum noch.

»Gleich sind wir da«, versicherte Tai, die merkte, dass in F'lessan eine Verwandlung vor sich ging.

Am Treppenpfosten blieb F'lessan stehen und blickte mit strahlendem Lächeln zu Lytol hinauf. Lytol machte ein verdutztes Gesicht. Dann schob sich D'ram an Lytol vorbei und bedeutete F'lessan, er möge die Treppe heraufsteigen.

»Komm, F'lessan, so kräftig bist du noch nicht, dass du ungestraft in nassen Sachen herumlaufen kannst. Du könntest dich erkälten. Hier entlang.« Ohne lange zu fackeln bugsierte D'ram seinen Gast in einen Raum, wo er sich umziehen konnte.

 

***

 

Endlich saßen sie an einem Tisch auf der Veranda, von wo aus sie die im Wasser spielenden Drachen beobachten konnten. F'lessan trug trockene Kleidung, die Erragon ihm geborgt hatte. Sie erfrischten sich mit Obst und frisch gebrühtem Klah. Die Geräte für die Fernbedienung des Teleskops in Honshu waren transportfertig in Kisten verpackt. Ein Techniker, den Meister Benelek in höchsten Tönen lobte, würde die Installation übernehmen und auch dafür sorgen, dass die Kuppel des Observatoriums ferngesteuert werden konnte.

Meister Wansor räusperte sich. »Wie habt ihr eigentlich das Problem mit den Raubkatzen gelöst, F'lessan?«

Das war so ziemlich die letzte Frage, mit der die beiden Drachenreiter gerechnet hatten, und sie starrten einander verblüfft an. Lytol und D'ram zuckten angesichts der Taktlosigkeit ihres blinden Freundes peinlich berührt zusammen.

»Nun ja, Meister Wansor«, erwiderte Tai, die sich eher gefangen hatte als F'lessan, »in jüngster Zeit sieht man sie nicht mehr um Honshu herumstreichen. Die Pächter schützen ihre Felder mit Drachendung und zermahlenem Feuerstein, und dieselbe Mischung ließen wir rings um die Weyr-Festung streuen. Es scheint tatsächlich zu wirken, die Katzen meiden dieses Gebiet.«

»Soviel ich weiß«, fügte Lytol hinzu, »hat Meisterin Ballora ein paar Teams losgeschickt, die die Gewohnheiten dieser Kreaturen erforschen sollen. Sie glaubt, die Katzen wurden ursprünglich gezüchtet, damit sie die Tunnelschlangen dezimierten, die zur Zeit der ersten Siedler die Herdentiere bedrohten. Doch das Experiment misslang, die Katzen entkamen in die Freiheit, und ohne natürliche Feinde konnten sie sich ungehindert vermehren, nachdem die Kolonisten auf den Nordkontinent abwanderten. Meister Oldive schlägt vor, Köder mit einer unfruchtbar machenden Substanz auszulegen. Doch zuvor muss man die Katzen eingehend studieren. Meisterin Ballora und ein paar andere Ratsmitglieder vertreten die Ansicht, dass wir keine Spezies dieses Planeten ausrotten dürfen.«

»Bis auf die Fäden«, entgegnete F'lessan trocken.

Lytol schmunzelte. »Dieser Organismus ist auf Pern nicht heimisch.«

»Genauso wenig kann man die Raubkatzen als einheimische Tierart bezeichnen«, ergänzte D'ram. »Sie wurden von unseren Vorfahren geschaffen.« Er schüttelte sich.

»Ich hoffe nur, dass keines dieser Ungeheuer in unserer Nähe lauert«, meinte Wansor und fürchte die Stirn.

»Wenn Tiroth über uns wacht, haben wir nichts zu befürchten«, behauptete D'ram.

Erragon hüstelte und ergriff das Wort. »Recht hast du. Bei dieser Gelegenheit möchte ich euch, F'lessan und Tai, dafür danken, dass ihr die Bilder analysiert habt, die ich euch schickte. Ich möchte zu gern wissen …« An dieser Stelle brach der Sternenmeister ab.

»Du möchtest sicher wissen, ob wir regelmäßig den Himmel über der südlichen Hemisphäre studieren werden«, mutmaßte F'lessan. »Doch bald muss Tai wieder ihre Pflichten im Monaco-Weyr übernehmen. Beim Kampf gegen die Fäden kann man auf grüne Drachen nur schwer verzichten. Ihre Schnelligkeit, Wendigkeit und rasche Auffassungsgabe wird von keiner anderen Farbe übertroffen.«

»Vielleicht solltest du beim nächsten Fädeneinfall zu uns in den Landsitz an der Meeresbucht kommen, F'lessan«, schlug Lytol vor.

»Ich werd's mir überlegen. Hoffentlich fällt die nächste Landung etwas geschickter aus.«

»Wie heißt es doch so schön«, erwiderte Lytol schmunzelnd, »Übung macht den Meister.«

»Für meinen Drachen und mich werde ich ohnehin eine neue Zukunft aufbauen müssen«, fuhr F'lessan fort.

»Deine Fähigkeit als Sternenbeobachter hast du bereits bewiesen«, platzte Meister Wansor heraus. »Für diese Aufgabe brauchst du keinen Drachen.« Er legte sich die Hand auf den Mund, als er merkte, was er da sagte. »Ich meine, du wirst Golanth auf alle Fälle behalten, egal, womit du dich demnächst beschäftigst, auch wenn er …«

»Auch wenn er behindert ist«, sprach F'lessan den Satz zu Ende. »Deshalb bitte ich euch, Meister Wansor und Meister Erragon, um die Erlaubnis, Astronomie studieren zu dürfen. Ich möchte, dass Honshu nach dem Landsitz an der Meeresbucht das zweite wissenschaftlich betriebene Observatorium wird.«

»Ach du meine Güte, ein Drachenreiter wird Himmelswächter, das hat es noch nie gegeben«, frohlockte Wansor und richtete sein strahlendes Gesicht auf F'lessan. »Aber bis vor kurzem gab es auch noch keinen Sternenschmied.«

»Tai ist mit ihrer Ausbildung so weit, dass sie kurz vor der Ernennung zur Gesellin steht«, erklärte F'lessan und griff stolz nach der Hand der grünen Reiterin. »Nicht wahr, Erragon?«

»Doch, das stimmt«, bekräftigte Erragon aus vollem Herzen.

»Wir sind ein gutes Team«, fügte F'lessan hinzu. »Und wenn es keine Fäden mehr regnet, braucht sie auch einen Beruf.«

»Selbstverständlich!«, betonte Erragon. »Hoffentlich werden noch viele Drachenreiter eurem Beispiel folgen.« Dann wechselte er abrupt das Thema. »Verrate uns eines, F'lessan, wie seid ihr heute hierher gekommen, Golanth und du?«

»Auch diese Frage habe ich gewartet«, sagte F'lessan lächelnd.

»Ist es diese neue Gabe, von der die Weyr-Führer auf der Ratsversammlung sprachen? Diese Fähigkeit, die das Akki schon immer bei den Drachen vermutete, und die helfen soll, künftige Gefahren aus dem Weltall abzuwenden?«

»So ist es«, erwiderte F'lessan mit gespannter Miene. »Ja, meine Reise zu euch hat mit diesem rätselhaften Talent zu tun. Und diese Gabe ist mit verantwortlich für mein Interesse an Astronomie.«

»Was ist es?«, fragte Erragon mit leuchtenden Augen.

»Ihr alle habt eine Demonstration dieses Talents bei meiner Ankunft gesehen.«

Erragon, Wansor und D'ram machten verständnislose Gesichter, doch Lytol lächelte verstohlen und nickte. »Das dachte ich mir.« F'lessan gab ihm einen Wink, er möge fortfahren. »Ihr alle wisst, meine Freunde, dass Golanth schwer verletzt wurde. Ein Auge und eine Schwinge sind versehrt. Ich glaube nicht, dass Golanth aus eigener Kraft ausreichend Höhe gewinnen kann, um gefahrlos ins Dazwischen zu gehen, selbst wenn er es von Honshus höchsten Felsenspitzen aus versuchte. Zudem traf er hier in Begleitung fünf anderer Drachen ein. Die Landung missglückte, doch er richtete sich wieder auf - obwohl er nur eine Schwinge frei bewegen kann. Die Drachen haben ihm geholfen, nicht wahr?«

F'lessan nickte. »Man braucht nicht fünf Drachen, um Golanth in die Luft zu heben, doch um diesen Schwebezustand zu kontrollieren und die Landung zu bewerkstelligen, sind mehrere Drachen nötig. Die Drachenreiter von Monaco behaupten, die Telekinese klappt am besten, wenn männliche und weibliche Drachen zusammenarbeiten.«

»Ich verstehe immer noch nicht, wie ein Drache mit einer verletzten Schwinge fliegen kann«, murmelte Erragon.

D'ram, der neben ihm saß, glotzte F'lessan und Lytol mit offenem Mund an.

»Meister Wansor«, begann F'lessan, »du erinnerst dich gewiss, dass das Akki von den Drachen fasziniert war, einer Spezies, die sich gedanklich miteinander verständigen und ohne nennenswerte Zeitverzögerung von einem Ort zum anderen bewegen kann. Das Akki nannte diese Fähigkeiten Telepathie und Teleportation. Es glaubte, die Drachen müssten noch über eine dritte Gabe verfügen - Telekinese. Es wünschte sich sehr, dass unsere Drachen damit ausgestattet seien. Wahrscheinlich beherrschten sie die ganze Zeit über die Telekinese, aber bevor die Raubkatzen Golanth und Zaranth angriffen, bestand keine Notwendigkeit, sie in die Tat umzusetzen.«

Zu Erragon gewandt fuhr er fort: »Was ihr heute gesehen habt, ist eine bewusst gesteuerte Telekinese. Golanth kann seine verletzte Schwinge noch nicht effektiv einsetzen. Also hoben ihn die Drachen in die Luft, bis er eine Höhe erreicht hatte, aus der er ins Dazwischen eintauchen konnte.« F'lessan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete, wie seine Zuhörer auf die Erklärung reagierten. Lytol nickte verstehend, Wansor öffnete vor Staunen noch weiter den Mund, Erragon fürchte die Stirn und D'ram lächelte erfreut. »Heute wurde zum ersten Mal ein Drache unter kontrollierten Bedingungen vom Boden hochgehoben. Mit Training muss diese Leistung perfektioniert werden, besonders die Landung. Ich bin sicher, Lord Lytol, dass wir diese Fähigkeit ausbauen und vervollkommnen können.«

Heute war es immerhin der erste Versuch, meldete sich Golanth in leicht gereiztem Ton.

Dafür hat doch alles wunderbar geklappt, Golly, versicherte Tai und drückte F'lessans Arm.

»Es ist fast so, als würde man mit Wanderkäfern üben.« F'lessan warf Tai einen schelmischen Blick zu.

»Und warum kann Golanth sich nicht selbst telekinetisch in die Höhe heben?«, wollte Erragon wissen.

F'lessan zuckte die Achseln. »Vielleicht geht es nicht, weil er zu sehr daran gewöhnt ist, Höhe durch einen kräftigen Absprung zu gewinnen. Lord Lytol weiß, wie gefährlich es ist, direkt vom Boden ins Dazwischen zu gehen. Möglicherweise muss Golly nur seine Denkweise ändern.« Er legte eine Pause ein. »In nächster Zeit wird ohnehin ein Umdenken einsetzen. Die nahe Zukunft beschert uns Drachenreitern viele neue Aufgaben. Wir müssen eine Luftverteidigung Perns organisieren, die jedoch keinen Kampf gegen die Fäden bedeutet.«

»Hmm, ja.« Lytol rieb sich grübelnd das Kinn, doch seine Augen glänzten in erwartungsvoller Vorfreude, als er F'lessan anblickte. »Um Golanth telekinetisch in die Luft zu heben und anderenorts abzusetzen, taten sich mehrere Drachen zusammen.«

»So ungefähr funktioniert es«, räumte F'lessan ein.

»Hast du eine Ahnung, wie nutzbringend das Akki die Telekinese der Drachen eingesetzt hätte?«, fragte Lytol. War dieser intelligente Mann bereits zu demselben Schluss gekommen wie F'lessan?

»Das Akki hätte doch sicher nicht verlangt dass die Drachen den Orbit des Roten Sterns verändern!«, protestierte Erragon.

F'lessan gluckste leise in sich hinein. »Ich weiß nicht, was sich das Akki noch hätte einfallen lassen. Immerhin brachten Drachenreiter die Antimaterie-Triebwerke auf den Planeten. Und die Explosion bewirkte, dass er aus seiner Umlaufbahn geworfen wurde. Und etwas Ähnliches schwebt mir vor, wenn ich daran denke, die Drachen zu Weltraumwächtern auszubilden.«

Erragon schlug mit seinen Händen auf den Tisch. Seine Miene drückte Misstrauen und Zweifel aus. »Glaubst du im Ernst, unsere Drachen seien imstande, Kometenfragmente oder Asteroiden abzulenken?«

F'lessan sah den Sternenmeister an. In seinen grauen Augen blitzte der Schalk. Lytol schaute gleichfalls amüsiert drein. Wenn er Lytol auf seiner Seite wusste, hatte seine ungeheuerliche Idee eine Chance, verwirklicht zu werden.

»Die Aufzeichnungen der Yoko beweisen, dass sich der Feuerball bereits seit vielen Monaten auf erkennbarem Kollisionskurs mit Pern befand. Hätte man ihn damals nur ganz sachte angestoßen, wäre er nicht auf Pern eingeschlagen. Vielleicht hätte er nicht einmal die Atmosphäre gestreift, sondern wäre in die Tiefen des Weltalls hineingerast.«

D'ram, Erragon und Wansor gafften ihn verdattert an. Lytol lächelte beifällig, und Tai drückte ermutigend seinen Arm.

F'lessan fuhr fort: »Ich kann nicht versprechen, dass die Kräfte der Drachen ausreichen werden, um kosmische Objekte zu bewegen, aber ich finde, wir sollten auf alle Fälle versuchen, an diesem Talent zu arbeiten.«

Er blickte in die Runde und bemerkte zu seiner Zufriedenheit die nachdenklichen Mienen. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, beugte sich F'lessan leicht nach vorn.

»Wie wir bereits wissen, können sich Drachen im Weltraum aufhalten, ohne Schaden zu nehmen. Fünfzehn Minuten lang halten sie es ohne Sauerstoff aus. Wir wuchteten schwere Triebwerke aus drei Raumschiffen und verfrachteten sie auf eine tote Welt. Der Rote Stern befand sich damals weiter von Pern entfernt als der Asteroidengürtel oder die anderen Planeten, die Rubkat umkreisen. Wir besitzen immer noch die Raumanzüge, die Helme und die Sauerstoffgeräte. Ich finde, wir sollten diese Sachen gut in Schuss halten. Und ich bin dafür, dass die Drachen die bewusst gesteuerte Anwendung von Telekinese trainieren.«

»Da wäre noch etwas«, fügte er hinzu, obwohl er merkte, dass D'ram und Erragon Schwierigkeiten hatten, das Gesagte zu verstehen. »Die Kolonisten verfügten über ihre mitgebrachten Flugschlitten, dafür haben wir unsere Drachen. Wir brauchen keine technischen Luftfahrzeuge und die Energie, die sie betreiben soll, neu zu erfinden. Unsere Drachen können alles, was diese Maschinen vermochten. Wenn ein Drache ein bestimmtes Ziel kennt, wenn er weiß, wohin er sich begeben soll …« Er brach ab und überließ es den anderen, den Satz in Gedanken zu vollenden.

»Einen Moment, F'lessan«, warf Erragon ein. »Wir dürfen nicht das Leben von Drachen riskieren …«

»Bei jedem Kampf gegen die Fäden bringen sie ihr Leben in Gefahr«, hielt Lytol ihm entgegen, der F'lessans Vorschlag uneingeschränkt befürwortete.

F'lessan nickte. »Die Yoko befindet sich in einem geostationären Orbit um Pern. Die südliche Phalanx von Wetterstationen ist mit ihr verbunden. Ich habe mich oft gefragt, wieso es keine Satellitenanordnung im Norden gibt.«

»Vielleicht, weil man zu Anfang plante, nur den Südkontinent zu besiedeln. Er ist größer als der Nördliche Kontinent und hat ein viel günstigeres Klima«, spekulierte Lytol.

Erragon hob die Hand. »Sagt bloß, das Akki enthält Pläne für weitere Wettersatelliten!«

»Genauso ist es«, erwiderte Lytol.

»Ich dachte daran, die Satelliten als Verbindung zu den Observatorien zu nutzen«, schlug F'lessan vor. »Damit eine gründliche Himmelsbeobachtung gewährleistet ist.«

»Behauptet Lord Jaxom nicht ständig, sein Drache Rutil wüsste immer ganz genau, in welcher Zeit und an welchem Ort er sich gerade aufhält?«, warf Wansor ein.

»Gilt das auch für Ziele im Weltall?«, erkundigte sich Erragon interessiert.

»Vermutlich ja«, meinte F'lessan. »Jedenfalls gibt es einen Weg, wie wir Material ins All transportieren können. Natürlich erfordert es noch viel Übung. Die Drachen sollten ihre erstaunlichen Fähigkeiten ruhig nutzbringend anwenden … und nicht nur, um Raubkatzen durch die Luft zu schleudern«, fügte er lachend hinzu.

»Hoffentlich tritt diese Situation nicht noch einmal ein!«, rief Tai leidenschaftlich. Draußen in der Bucht stimmten drei Drachen ein zustimmendes Gebrüll an.

»Derweil«, sprach F'lessan weiter und sammelte rasch die Aufzeichnungen und Fotos ein, die Erragon ihm zum weiteren Studium mitgeben wollte, »gibt es für uns viel zu tun. Wir müssen unseren Meisterrang erwerben«, dabei bedachte er Tai mit einem zufriedenen Blick, »und uns mit neuen Wegen und Perspektiven vertraut machen. Wir sollten versuchen, Pern in die Welt zu verwandeln, die den ersten Siedlern, die hier landeten, vorschwebte.«

Er spürte die Zuversicht, die in ihm aufstieg, und hegte keine Zweifel am Gelingen des Projekts. Mit Tränen in den Augen streckte er Tai die Hand entgegen. Sie stand auf, lehnte sich an ihn und er sah, dass auch ihre Augen feucht waren. Lytols Miene erhellte sich, und er wirkte jünger und vitaler denn je. D'ram und Erragon erhoben sich von ihren Plätzen, während Meister Wansor gutmütig lächelte.

Die Drachen setzten ihr Trompetengeschmetter fort, und F'lessan war sicher, dass der triumphale Ruf in sämtlichen Weyrn von Pern gehört wurde. Die Drachen unterstützten seinen Plan.

»Wir werden tun, was getan werden muss«, verkündete er energisch. »Und am Himmel über Pern wird es immer Drachen geben!«

Über die Autorin

Anne McCaffrey wurde in Cambridge, Massachusetts, geboren. Sie graduierte mit Auszeichnung am Radcliffe College, wo sie slawische Sprachen und Literatur studierte. Ehe sie zur erfolgreichen Schriftstellerin avancierte, arbeitete sie am Theater. Sie führte Regie bei der amerikanischen Premiere von Carl Orffs Ludus de Nato Infante Mirificus und spielte in dem Stück gleichzeitig eine Hexe.

Ihren ersten Roman, Die Wiedergeborene, schrieb sie, um gegen die absurde und unrealistische Darstellung von Frauen in der Science Fiction der fünfziger und frühen sechziger Jahre zu protestieren.

Bekannt wurde Anne McCaffrey unter anderem durch ihre phantasievollen Erzählungen und die fünfzehn Romane über die Drachenreiter von Pern.

Sie lebt in Irland, County Wicklow, in einem Haus, das sie selbst entworfen und Dragonhold Underhill getauft hat.