Dritter Teil
Nachwirkungen
Honshu - 1.10.31
F'lessan erwachte zu einer Zeit, als in Benden die Morgendämmerung einsetzte; doch in Honshu war es noch tiefe Nacht.
Ramoth beordert uns nach Benden zurück, erzählte Golanth ihm. Die braunen Reiter werden die Küstenbewohner aufsuchen. Sie gehören zu Monaco, nicht zu Benden.
Leise sammelte F'lessan seine Bekleidung ein und hoffte, die Zeit würde für eine Dusche reichen. Ohne die anderen zu wecken, verließ er sein Quartier. Er duschte nur kurz, denn der Wasservorrat musste für viele reichen. In diesem Augenblick war er froh, dass er die Zisternen instand gesetzt hatte. Als er die Treppe hinunterlief, stieg ihm der köstliche Duft von frischem Klah in die Nase. Jemand war noch vor ihm aufgestanden. Dann vernahm er Stimmen. Zwei Frauen stritten miteinander, wenn auch in gedämpftem Tonfall. Nun, das ging ihn nichts an. Er brauchte jetzt einen Becher Klah.
Er betrat die Küche und wäre am liebsten gleich wieder umgekehrt, als er Mirrim und Tai erkannte, die eine Meinungsverschiedenheit austrugen. Genauer gesagt, führte Mirrim das große Wort, derweil Tai unentwegt wiederholte: »Nein, das habe ich nicht getan. Nein, die Kinder kamen zuerst. Ich weiß nicht, wie es passiert ist.«
Zaranth sagt, sprang Golanth ein, dass Mirrim glaubt, Tai hätte die Weyr-Kinder im Stich gelassen, um ihre Pelze zu retten.
Pelze?
Die Pelze von den Raubkatzen in Cardiff.
Sie hat die Kinder in Sicherheit gebracht. Und dich hatte ich hinterhergeschickt.
Zaranth behauptet, sie selbst hätte sich um die Pelze gekümmert.
Wie hätte sie das anstellen sollen? F'lessans Blick wanderte zwischen Mirrims wutfunkelnder Miene und Tais blassem Gesicht hin und her. Du warst doch bei ihr. Dir hätte so was auffallen müssen.
»Golanth erklärt gerade, er sei die ganze Zeit über mit Zaranth zusammengewesen, und sie hätten Kinder transportiert«, sagte F'lessan, während er an den Tisch trat, auf dem eine Riesenkanne Klah stand. Er würde sich einen Becher voll einschenken, egal, worum es bei diesem Zank ging.
Mirrim stürzte sich buchstäblich auf ihn. »Als sie in den Weyr kam, hatte sie die Pelze nicht bei sich. Doch beim Abflug waren sie in ihrem Besitz.«
»Ich habe sie nicht geholt.«
Sie spricht die Wahrheit, bezeugte Golanth.
»Golanth sagt, Tai lügt nicht. Also lass sie in Frieden, Mirrim.«
»Und wie ist sie an die Pelze gekommen?«, keifte Mirrim.
»Ich bin nicht klammheimlich verschwunden, um sie zu holen«, verteidigte sich Tai. »Wenn ich die Zeit für einen Blitzbesuch meines Quartiers gehabt hätte, hätte ich meine Bücher und Notizen gerettet, nicht die verdammten Pelze.«
»Mit dem Erlös so wertvoller Felle kannst du dir neue Bücher kaufen«, konterte Mirrim.
»Aber ihre privaten Notizen wären verloren, Mirrim. Golanth sagt, dass sie die Wahrheit spricht. Und nun lass es genug sein, Mirrim!« Nur höchst selten schlug F'lessan einen so scharfen Ton an. Mirrim schluckte verblüfft und schwieg. F'lessan nutzte die eintretende Stille, um möglichst viel von dem heißen Klah zu trinken. »Köstlich. Mein Dank gilt derjenigen, die ein so gutes Getränk gebrüht hat.« Er lächelte Tai zu, die mit versteinerter Miene dastand.
»Ich konnte nicht schlafen«, murmelte sie.
»Kein Wunder, wenn dich dein schlechtes Gewissen …« legte Mirrim von neuem los.
»Ich sagte, du sollst damit aufhören, Mirrim!« F'lessan funkelte sie so böse an, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Er entdeckte eine Schüssel mit Würstchen und nahm sich ein paar. »Im Übrigen habe ich auf Zaranths Sattel keine Pelze gesehen. Erst bei der Rast in Landing sind sie mir aufgefallen.«
Er öffnete die Tür, um nach draußen zu gehen, und wäre um ein Haar mit T'gellan zusammengestoßen, der einen übermüdeten Eindruck machte.
»Hör nicht auf das, was Mirrim sagt, T'gellan«, rief er ihm im Vorbeigehen zu. »Golanth behauptet, Tai spräche die Wahrheit, und das sollte genügen.«
Er hetzte die Treppe hinunter und begab sich auf die Hauptterrasse, um sich dort die Flugstiefel und die dicke Jacke anzuziehen. Bald würde Golanth eintreffen. Aus schmalen, blaugrünen Augenschlitzen beobachteten die anderen Drachen, wie er sich auf den Rücken seines Bronzenen schwang. Doch die Lider klappten wieder zu, noch ehe sich Golanth mit einem wuchtigen Satz von der Felskante abstieß und die Schwingen spreizte. Am östlichen Horizont verriet ein heller Streifen am Himmel, dass der neue Tag heraufdämmerte.
Ich bin gespannt, was dieser Tag für uns bereit hält, sinnierte F'lessan.
Tai hat wirklich nicht gelogen.
Ich weiß.
Zaranth hat die Pelze gerettet.
Wahrscheinlich weil sie nicht wusste, welche Bücher und Notizen sie in Sicherheit bringen sollte, gab F'lessan zurück.
Das ist gut möglich. Ramoth ruft mich.
Unverzüglich tauchte Golanth ins Dazwischen ein.
Die nächsten Stunden verliefen so hektisch, dass F'lessan nicht mehr über den knappen Wortwechsel mit seinem Drachen nachdachte. Sie beförderten Leute mitsamt deren Hab und Gut, erkundigten sich, an welchen Orten das Wasser bereits zurückwich und halfen aus, sperrige, von der Flut angetriebene Trümmerstücke zu beseitigen. Immer wieder musste F'lessan erklären, dass die Drachen weder den Feuerball noch die folgenden Tsunamis hätten aufhalten können. Viele Leute fragten ihn, wieso es noch Fäden vom Himmel regnete, obwohl der Rote Stern angeblich aus seiner früheren Himmelsbahn entfernt worden war. Nur wenige Menschen begriffen, dass die Anziehungskraft des Roten Sterns die Fäden nach Pern gebracht hatte, und dass es noch eine Weile dauern würde, bis der letzte Fädenschwarm in seinem Gefolge an ihrer Heimat vorbeizog.
Anfangs hatte er Diagramme gezeichnet, in den Sand oder auf ein Stück Papier. Ein großer Kreis stellte die Sonne dar, ein wesentlich kleinerer den Planeten Pern, zwei winzige Pünktchen die beiden Monde. Dann fügte er den Orbit des Roten Sterns hinzu und erläuterte, wie er sich in periodisch wiederkehrenden Zeitabständen Pern näherte und dann wieder entschwand, die Fädenwolke gleich einer tödlichen Schleppe mit sich ziehend.
»Aber warum dauert es so lange, bis wir die Fäden endgültig los sind?«, nörgelte jemand.
»Als man den Roten Stern aus seiner Bahn warf, war der Fädenschwarm bereits zu uns unterwegs. Und eine Annäherungsphase dauert zwischen fünfundvierzig und fünfzig unserer Planetenumdrehungen. Was uns jetzt noch zu schaffen macht, sind die Ausläufer dieser Wolken.«
Dann wollte man von ihm wissen, wieso der Feuerball auf Pern gestürzt war. Er antwortete, es habe sich um ein Fragment eines der Geister gehandelt, die zum Ende des Planetenumlaufs über den Himmel schwärmten. Dieser Brocken hätte den Anschluss an seine geisterhaften Gefährten verloren. (Das verdrehte zwar die Wahrheit ein wenig, doch er wollte es den Meistern Wansor, Idarolan und Erragon überlassen, mit einer offiziellen Verlautbarung an die Öffentlichkeit zu treten. Aber die meisten Menschen hatten schon Geister am nächtlichen Firmament gesehen und akzeptierten diese Erklärung). Zur Veranschaulichung warf er einen Stein - der den Feuerball symbolisieren sollte - in Wasser und demonstrierte so das Entstehen von Tsunamis.
Am nächsten Tag musste der Benden-Weyr gegen Fäden kämpfen. F'lessan kehrte zu seinem eigenen Weyr zurück, prüfte sein Sicherheitsgeschirr und überlegte, ob er sich eine neue Hose aus Wherleder leisten sollte, da die andere während der letzten Tage arg strapaziert worden war. Bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich an Tais Pelze. Nun, in der Nähe von Honshu trieben sich genug Raubkatzen herum, die es sich zu jagen lohnte. Er hatte große Lust, gemeinsam mit Tai und Zaranth auf die Jagd zu gehen. Golanth pflichtete ihm bei. F'lessan tätschelte ihm liebevoll die Schulter und trat hinaus auf den Felssims seines Weyrs. Draußen war es bitterkalt, und er drückte die Arme fest an seine Brust. Sehnsüchtig spähte er zum Himmel empor. Er kannte die Namen der hellsten Sterne, die im Winter über Benden funkelten. Canopus stand niedrig am Horizont, und Girtab verbreitete einen alles überstrahlenden Glanz.
Er sollte seine Arbeit in Honshu fortsetzen und sich damit beschäftigen, inwieweit es für die Drachenreiter möglich wäre, den Planeten zu schützen. Zwar hatte er keine Ahnung, wie ein Drache, oder alle Drachen zusammengenommen, einen Feuerball daran hindern sollten, auf Pern zu fallen - sie besaßen keine Antimaterie-Triebwerke mehr, um damit ein Kometenbruchstück noch vor dem Einschlag zu zertrümmern - doch er hielt es für vernünftig, das Wissen über kosmische Phänomene zu mehren. Vielleicht ließen sich künftige Ereignisse dieser Art vorhersagen. Zum Glück schienen Himmelskörper nur sehr selten mit Pern zu kollidieren. Aber es gab ein paar Vorkommnisse dieser Art - zum Beispiel gab es einen alten Einschlagkrater nahe der Kurierstation an der Ringfestung, und wie jeder wusste, war die Gefängnisanlage der Crom-Minen von einem Meteor getroffen worden.
Wansor, der alte Lytol und D'ram waren sicher schon emsig dabei, gemeinsam mit Erragon nach möglichen Kometen zu forschen, die sich auf Kollisionskurs mit Pern befanden. Seit die ersten Kolonisten vor 2553 Planetenumläufen in Rubkats System eindrangen, hatte sich eine Menge verändert. Asteroiden waren gegeneinander geprallt und in mehrere Fragmente zerborsten. Vielleicht war eines dieser Stücke der Feuerball gewesen.
Kometen oder deren Bruchstücke mochten durch die Himmelsmechanik angezogen worden sein, wie einstmals der erratische Wanderplanet, der fälschlicherweise als Roter Stern bezeichnet wurde. In seiner spärlich bemessenen Freizeit studierte F'lessan seine Notizen über Astronomie, die er mit Hilfe des Akki angefertigt hatte.
Er entsann sich, dass die Yoko ihre Informationen über eine Einrichtung bezog, die die ersten Kolonisten ›das südliche Satelliten-System‹ nannten. Eine ähnliche Satelliten-Phalanx im Norden gab es nicht. Wäre sie vorhanden, hätte man ein wesentlich akkurateres Bild über kleinere Planeten, Kometen und andere kosmische Körper bekommen. Ihm fiel ein, dass in den Catherine-Höhlen weitere Teleskope lagerten. Man konnte sie in Observatorien verwenden und das Weltall beobachten. Die Menschen auf der alten Erde hatten den sie umgebenden Weltraum vermutlich bestens gekannt. Doch niemand hatte vorhergesehen, was es mit dem Roten Stern und seiner Tod bringenden Schleppe aus Fäden auf sich hatte.
Wahrscheinlich hatten die Fäden etliche Pläne der Kolonisten zunichte gemacht, sinnierte F'lessan.
Doch wenn man die unterschiedlichen Objekte identifizieren wollte, die derzeit Pern umkreisten, musste man eine völlig neue Technik anwenden. Die Geräte, die man im Landsitz an der Meeresbucht zur Himmelsbeobachtung einsetzte, reichten bei weitem nicht aus. Das Teleskop, das der alte Kenjo in sein Observatorium einbaute, nutzte nur etwas in Verbindung mit einem Computer und einem Bildschirm. Das Fernglas, das Jancis für ihn angefertigt hatte, genügte indessen, um kleinere Planeten und große Brocken im Asteroidengürtel auszumachen. Er stellte sich vor, er besäße ein Instrument, das auf einem Monitor Bilder zeigte, die er in aller Ruhe studieren konnte. Es wäre unabdingbar, um den Himmel zu kartographieren. Er schmunzelte in sich hinein und rieb sich die kalten Arme. Vielleicht konnte er Tai dazu bringen, ihm zu helfen.
Wenn erst die Folgen der Überflutung vorbei wären, wollte er Meister Wansor um die Erlaubnis bitten, sich aus dem Lagerraum im Akki-Gebäude mit den Schaltplatten und Kristallen zu versorgen, die er brauchte, um den Primärspiegel zu fokussieren. Das Akki hatte ihm beigebracht, wie man einen Computer zusammensetzte. Benelek, ein Freund von ihm und nun Meister der Computerhalle, würde ihm sicherlich helfen. Monitore waren eine rare Ware, doch möglicherweise trat Stinar ihm einen ab, wenn er ihm versprach, ihn an den Entdeckungen des alten Schmidt-Teleskops teilhaben zu lassen.
Er riss sich von der Betrachtung des Sternenhimmels los. Vor ihm lag ein harter Tag. Bis jetzt hatte er noch keine Gelegenheit bekommen, Tai sein Fernglas auszuleihen. Geschweige denn, ihr das herrliche Observatorium von Honshu zu zeigen. Als er sich umdrehte und raschen Schrittes aus der eisigen Kälte in seinen behaglichen Weyr zurückging, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Tai würde begeistert sein.
Kurierstation an der Ringfestung - 1.18.31
»Es ist nicht das erste Mal, dass ein großer Felsbrocken auf Pern gestürzt ist!«, erklärte Chesmic, der geschwätzige Stationsmeister, den beiden Männern, die für die Nacht um ein Quartier gebeten hatten. Da es extrem kalt war und der Eintopf für alle reichte, gewährte Chesmic ihnen Obdach. Außerdem freute er sich über neue Zuhörer. Jeder der Kuriere, die bei ihm eine warme Mahlzeit einnahmen, ehe sie ihren Weg fortsetzten, kannte seine Geschichte bereits auswendig.
»Was glaubt ihr wohl, warum dieser Ort ›Ringfestung‹ heißt?« Sein Blick huschte zwischen den beiden Neuankömmlingen hin und her.
»Erzähl es uns«, forderte der jüngere Mann ihn auf. Doch sein Ton klang so unverschämt, dass Chesmic beinahe geschwiegen hätte.
»Ja, erzähl es uns.« Der ältere Typ mit dem vernarbten Gesicht gab sich höflicher. Er sprach mit einer tiefen, seltsam gedämpften Stimme. Als er sich ein Stück von dem großen Brotlaib abbrach, der auf dem Tisch lag, bemerkte Chesmic, dass am Zeigefinger seiner linken Hand die Spitze fehlte.
»Nicht weil es hier eine Festung gibt, die rund gebaut ist.« Ehe Chesmic den Faden seiner Erzählung wieder aufnahm, musterte er jeden der Tischrunde mit einem so durchdringenden Blick, dass die Leute ihre gemurmelten Gespräche unterbrachen. »Sondern weil da draußen ein kreisförmiger Krater den Boden aushöhlt!« Er deutete in die ungefähre Richtung. »Das Loch entstand, als sich dieser Brocken da in die Erde bohrte.« Nun zeigte er auf ein bizarres schwarzes Gebilde, das in einer Laibung der dicken Außenmauer zur Schau gestellt wurde.
Von den beiden Gästen warf lediglich der ältere Mann einen Blick darauf. Sein Kumpan lächelte herablassend und fuhr fort, mit herzhaftem Appetit seine große Portion Eintopf zu vertilgen. Wenigstens konnten sie sich nicht über die Verpflegung in seiner Station beklagen, dachte Chesmic erbost.
»Das ist doch eine Bagatelle verglichen mit dem Schaden, den der Feuerball angerichtet hat«, äußerte der junge Bursche verächtlich. »Man hätte halt nicht an dem Roten Stern herumpfuschen dürfen.«
Chesmic wedelte mit der Hand. »Der Brocken, der hier bei uns einschlug, fiel vor über tausend Planetenumläufen vom Himmel. Damals hatte das Akki die Drachenreiter nicht dazu angestiftet, die Bahn des Roten Sterns zu verändern.« Ehe der arrogante junge Kerl zu einer Entgegnung ansetzen konnte, fuhr er hastig fort: »Also darf man getrost annehmen, dass der Rote Stern in keinerlei Verbindung zu dem Ding steht, das neulich einen Teil der Minen von Crom zerstörte. Beide Male waren es Meteoriten« - er skandierte jede einzelne Silbe - »die auf Pern stürzten. Das ist doch logisch, oder?«, wandte er sich an die Kuriere.
Die murmelten zustimmend.
»Wird der Meteorit von Crom auch so zur Schau gestellt wie der deine?«, fragte der ältere Mann mit der eigentümlichen Sprechweise.
Chesmic vermochte seinen Akzent nicht einzuordnen. Aus Keroon stammte er nicht; die Leute dort näselten - falls sie überhaupt etwas sagten. Er war auch nicht von der Ostküste. Die Kuriere, die von dort kamen, sprachen schnell und lebhaft. Dies galt auch für die Menschen von der Westküste, obschon die manche Worte anders betonten. Genau, das war es! Dieser Mann akzentuierte gar nicht, er leierte die Sätze herunter und verschluckte manche Konsonanten.
»Nee, die haben den Brocken an eine Schmiedehalle verscherbelt und damit den ganz großen Reibach gemacht. So viele Marken verdienen sie manchmal in mehreren Planetenumläufen nicht.« Chesmic billigte diesen Handel nicht unbedingt, doch die Leute von Crom konnten mit ihrem Meteoriten tun und lassen, was sie wollten. Ihm selbst blieb es auch unbenommen, seinen Himmelsbrocken zu versilbern, doch seiner Ansicht nach trennte man sich nicht leichtfertig von einem Stück, das sich so lange im Familienbesitz befunden hatte. Das hielt er nicht für richtig.
»Angeblich soll es sich um ein Bruchstück aus dem Roten Stern handeln«, warf der junge Mann mit listig funkelnden Augen ein.
»Blödsinn! Das ist doch absoluter Quatsch!«, gab Chesmic voller Verachtung zurück. Er zeigte zum Himmel empor. »Wenn der Rote Stern auseinander gebrochen wäre - aber Erragon, Stinar und Meister Wansor haben durch ein Fernrohr gesehen, dass dies nicht der Fall war - würden Brocken über ganz Pern abregnen.«
»Dieser eine Feuerball hat schon genug Unheil angerichtet«, meinte ein Kurier.
»Es war ein Fehler, den Roten Stern aus seiner Bahn zu werfen«, beharrte der ältere Mann mit todernster Miene. »Seit einer Ewigkeit umkreiste er Pern, und dabei hätte man es belassen müssen.«
»Aber er kreist doch immer noch um Pern«, hielt Chesmic ihm entgegen. »Nur in einer so großen Entfernung, dass die Fäden uns bald nicht mehr behelligen werden.«
»Die Fäden und die Drachenreiter, die den Organismus mit Feuer bekämpfen, gehören zu unserer Tradition. Viele unserer alten Sitten und Gebräuche hat man bereits abgeschafft. Das Akki hat die Perneser Gesellschaft verdorben.«
Über Traditionen wusste Chesmic bestens Bescheid. Die Kuriere gehörten mit zu dem ältesten Erbe Perns, ihre Zunfthalle war die erste, die in Burg Fort gegründet wurde.
»Jeder Kurier, ob im Norden oder im Süden, ist darauf bedacht, Traditionen zu wahren. Und nun, da ihr beide aufgegessen habt, solltet ihr euch in eure Betten legen. Wir haben euch für eine Nacht Obdach gewährt, da unsere Tradition dies von uns verlangt.« Chesmic setzte eine bedeutungsvolle Miene auf und hoffte, seine Gäste hätten die Anspielung verstanden. Dann stand er auf und deutete in Richtung der Treppe, die zum Dachboden hinaufführte.
Der ältere Mann erhob sich und deutete eine Verbeugung an. Sein jüngerer Gefährte tat es ihm gleich, doch die mürrische Miene, mit der er Chesmics Wink aufnahm, sprach Bände.
Während Chesmic noch über diese unsympathischen Kerle nachdachte, fiel ihm ein, was Prilla ihm erzählt hatte. Unterwegs war sie von einem Mann angehalten worden, der ihr eine Botschaft mitgab. Es musste sich um den älteren der beiden Typen gehandelt haben, denn Prilla hatte seine seltsam monotone Stimme erwähnt. Seine Kopfbedeckung saß tief in der Stirn, vermutlich, weil er die Narbe verbergen wollte. Für den Botendienst hatte er die übliche Marke bezahlt, sonst hätte Prilla den Auftrag gar nicht erst angenommen. Doch wieso fing jemand einen Kurier draußen ab, wenn er seine Nachricht in der nächstbesten Kurierstation abliefern konnte, wo die Sendung ordnungsgemäß registriert wurde?
Harfnerhalle
Bis weit in den nächsten Monat hinein, während sich das Wasser allmählich zurückzog und die überfluteten Küsten freigab, wurden die betroffenen Siedlungen von den im Inland gelegenen Burgen mit Proviant und Baumaterial versorgt. Kuriere übermittelten Nachrichten, unterstützt von den Feuerechsen, um herauszufinden, wo Hilfe am dringendsten benötigt wurde. Schiffsmeister transportierten kostenlos Waren, und wenn keine Fäden bekämpft werden mussten, stellten die Drachenreiter ihre Dienste zur Verfügung. In einer von Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit geprägten Atmosphäre rückten die von den Rebellen begangenen Verbrechen ein wenig in den Hintergrund. Pinch interessierte sich sehr dafür, welche Botschaften an wen geschickt wurden. Doch viel bekam er nicht heraus. Regelmäßig suchte er die Harfnerhalle auf, um Bericht zu erstatten, sich saubere Kleidung zu besorgen und ein paar Marken einzuheimsen.
Er traf Sebell in seinem Büro an. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Zettel in allen möglichen Formaten.
»Bist du gekommen, um bei der Durchsicht der Petitionen zu helfen?«, fragte Sebell, auf den Wust von Bittschriften deutend.
Pinch stöhnte und wandte den Blick ab. »Mir scheint, ich bin zu einem ungünstigen Zeitpunkt hier aufgetaucht.«
Traditionsgemäß wurden alle Petitionen an die Harfnerhalle weitergeleitet. Dort beschäftigte sich eine Gruppe von Gesellen und Meistern damit und sortierte die Briefe aus, die wichtig genug waren, um dem Rat vorgelegt zu werden, der am ersten Tag des dritten Monats in Telgar zusammentrat. Mit anderen Petitionen befasste sich die örtliche Burgverwaltung. Doch wenn sich Beschwerden gegen einen Burgherrn häuften, musste die Ratsversammlung über ein weiteres Vorgehen entscheiden. Pinch erhielt nicht selten den Auftrag, spezielle Informationen zu besorgen.
»Ich vernachlässige meine Pflichten nicht. Das weißt du ganz genau«, fuhr Pinch fort. »Ich kümmere mich um die Vorgänge in Keroon, in Igen und in Bitra - die meisten Unruhestifter dort sind mir gut bekannt.«
Sebell schmunzelte. »Bis jetzt wurde aus Bitra nicht viel Auffälliges gemeldet. Sousmal scheint sich als Burgherr so zu bewähren, dass seine Leute keinen Anlass zu Klagen haben.«
Pinch stöberte in einem Stapel Petitionen herum. »Warte nur ab, das kann sich schnell ändern. Was ist mit den Skizzen, die ich dir schickte? Konnte man die drei Leute identifizieren?«
»Die Frau stammt aus Tillek und ist als streitsüchtig verschrien. Sie begann in der örtlichen Heilerhalle eine Lehre, wurde aber wieder fortgeschickt, weil man glaubte, sie sei für diesen Beruf nicht geeignet. Alsdann ersuchte sie Lord Ranrel, ihr das Anwesen ihres Vaters zu überschreiben, obwohl der Vater ausdrücklich einen jüngeren Sohn zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Nach einem Riesenkrach mit ihrem Bruder verschwand das Weibsbild aus der Gegend. Erst auf der letzten Versammlung im Herbst tauchte sie wieder in Tillek auf.«
»Dann ist sie also heimatlos?«
Sebell zuckte die Achseln und zog die drei Skizzen aus einer Schublade. »Ein Händler, der hier vorbeikam - jemand aus der Familie Lilcamp - erkannte diesen Typen.« Er zeigte auf den Mann, dem die Spitze des linken Zeigefingers fehlte. »Reist viel herum. Packt mit an, wenn man ihn um Hilfe bittet, ist ein geschickter Handwerker und stellt viele Fragen. Hat eine ganz eigentümliche Stimme.« Er legte eine Pause ein. »Sev meinte, die Fragen, die er stellte, seien provokativ.«
»Provokativ? Und er suchte die Gesellschaft von Händlern?«, wunderte sich Pinch.
»Händler kommen mit vielen Menschen zusammen und tauschen Ansichten aus. Sie kennen die Einstellungen der unterschiedlichen Leute und wissen, wen wo der Schuh drückt. Sie sind besser unterrichtet als die meisten Kuriere, die ja nirgendwo lange bleiben.«
»Aber die Kuriere sind auch eine große Hilfe«, wandte Pinch ein. »Chesmic von der Station bei der Ringfestung erzählte, er bekäme oft Besuch von Fremden, die Nachrichten abschickten und gut dafür bezahlten.«
Sebell hob eine Augenbraue. »Mehr als den üblichen Tarif? Um Kuriere zu bestechen?«
»Das hat Chesmic nicht gesagt.«
»Weiß er eigentlich, dass du Harfner bist?«
»Er fragt mich nicht aus.« Pinchs Augen funkelten vergnügt. »Weißt du übrigens, dass sämtliche Fensterscheiben, die durch die Schockwelle zerbarsten, von Meister Norist angefertigt wurden? Die Scheiben aus Meister Moriltons Glasmacherhalle blieben heil. Dank der modernen Technik.« Er legte den Kopf schräg. »Weiß man vielleicht - offiziell oder inoffiziell - ob die … äh … Exilanten die Flut überlebten?«
Sebell schürzte die Lippen und sah seinen Besucher nachdenklich an. »Wer hat dich danach gefragt?«
»Niemand. Aber es kann nicht schaden, wenn man informiert ist.«
»Nun ja, die Inseln, auf die wir unsere Verbannten schicken, sind so beschaffen, dass dort kein Schiff anlegen kann. Die meisten bestehen aus schroffen Felsen, die steil ins Meer abfallen. Die Tsunamis fegten über diese Inseln hinweg, setzten sie aber nicht unter Wasser.«
»Hast du herausbekommen, wen die dritte Skizze darstellt?«
»Der Mann kommt mir vage bekannt vor, aber ich kann ihn nirgends einordnen.«
»Mir geht es genauso. Ein unscheinbarer Typ, ohne Moral oder Gewissen. Er könnte ein jüngerer Sohn aus einer Grundbesitzerfamilie sein, ohne Erbansprüche. Trägt die Nase sehr hoch. Dünkt sich über seine Kumpane erhaben, passt sich aber seiner Umgebung besser an als beispielsweise Nummer Drei und Nummer Fünf.«
»Nummer Drei und Nummer Fünf?«
Pinch schnitt eine Grimasse. »Sie gehören alle einer Gruppe an, die sich nicht mit ihren Namen, sondern mit Zahlen ansprechen. Einer, der Nummer Zwei genannt wurde, scheint mittlerweile verstorben zu sein. Die anderen sind froh darüber, weil er nicht allen ihren Plänen zustimmte. Nummer Drei ist ein groß gewachsener Kerl. Derjenige mit der Nummer Sechs kommt aus Tillek und spricht mit einem näselnden Akzent. Einige dieser Leute haben sich der Bande angeschlossen, weil sie einfach Freude daran haben, Unruhe zu stiften, andere haben tatsächlich Angst vor modernder Technik. Eine Frau ist auch dabei. Sie möchte gern die Führung übernehmen, ohne dafür geeignet zu sein. Dieses Weibsbild ist reaktionär durch und durch, lehnt grundsätzlich jede Veränderung ab, will, dass alles so bleibt; wie es immer war, schließt von sich auf andere. Sie ist rechthaberisch und intolerant.«
»Führt diese Bande etwas im Schilde?«, fragte Sebell.
»Sie benehmen sich, als heckten sie Pläne aus. Sind sehr vorsichtig, was das Übermitteln von Nachrichten angeht. Vermutlich benutzen sie ein paar einfältige Hinterwäldler als Strohleute, die für sie Botschaften entgegennehmen und abschicken. Meister Arminet von der Kurierstation an der Weiten Bucht ist ein guter alter Bekannter von mir. Einmal bemerkte er wie beiläufig, er wundere sich, wie viele dieser einfachen Bergbewohner in letzter Zeit Post bekämen.«
Nachdenklich massierte Sebell sein Kinn. »Mittlerweile weiß wohl jeder, dass die meisten Heilerhallen ihre Eingänge sichern und Meister Moriltons bruchfestes Glas benutzen. Die Glasmacherhallen verlegen die Fabrikation von Artikeln, die für die Heilerzunft bestimmt sind, an geheime Orte, und die Schmiedehallen bauen in ihre Türen Digitalschlösser ein.«
»Das könnte man als posthumen Sieg des Akki bezeichnen«, witzelte Pinch. »Die neue Technik siegt über den Vandalismus. Die Rebellen haben uns beflügelt, immer modernere Methoden zur Absicherung anzuwenden. Wer weiß, was in Zukunft noch an Neuerungen auf uns zukommt.«
»Benelek ist entzückt. Die Digitalschlösser sind leicht zu bauen, und man kann sie an Alarmanlagen anschließen. Ich habe bereits an paar Lehrlinge zu ihm geschickt, die ihm über die Schulter gucken sollen.«
»Und du befürchtest nicht, dass bei dir noch einmal eingebrochen wird?«, erkundigte sich Pinch.
Sebell lachte. »Der Wachdrache von Fort ist die beste Alarmanlage.«
»Die Vandalen in der Heilerhalle hat er aber nicht gehört …«
»Weil sie sich leise heranpirschten und Kleidung in Heilergrün trugen. Außer dem Wachdrachen passen hier noch jede Menge Feuerechsen auf - nicht nur die von Menolly.« Mit dem Finger stach er auf Pinch ein. »Und wenn du irgendetwas aufschnappst, was die Pläne der Rebellen betrifft, gibst du mir sofort Bescheid.«
»Ich spitze andauernd die Ohren. So schnell entgeht mir nichts.«
Sebell fürchte die Stirn. »Ist es nicht seltsam, dass die Leute, die die Technologie des Akki verabscheuen, uns dazu zwingen, eben diese Technik gegen sie einzusetzen?«
»Es ist geradezu absurd.« Pinch rutschte von der Schreibtischkante herunter. »Ich habe viel in den historischen Dateien des Akki gelesen und bin davon überzeugt, dass Pern nie Gefahr laufen wird, in einem Übermaß an Technik zu ersticken. Es würde viel zu lange dauern, um die erforderlichen Fertigkeiten zu erlernen, und uns fehlen die Produktionsanlagen, wie unsere Vorfahren sie noch besaßen. Unsere Gesellschaft hat sich an einen gemächlichen Lebensstil gewöhnt, und nur wenige Perneser werden je den Wunsch verspüren, sich an ein hohes technisches Niveau heranzutasten.«
»Lautet so deine persönliche Philosophie?«, erwiderte Sebell schmunzelnd. »Ich frage mich, ob du damit die Gemüter der Traditionalisten besänftigen könntest.«
»Wohl kaum. Den hartgesottenen Reaktionären ist nicht zu helfen.« Pinch rieb sich die Hände. »Und nun ans Werk. Welchen Stapel der Petitionen soll ich mir vornehmen? Ich bleibe mindestens eine Nacht hier.«
Sebell überlegte noch, mit welchen Arbeiten er Pinch betrauen wollten, als die Tür aufging und ein lachendes Kind hereingestürmt kam.
»Dad, ich habe eine neue Melodie gelernt.«
Das Kind - an der schwarzen Lockenmähne erkannte Pinch, dass es sich nur um Robse, Menollys ältesten Sohn handeln konnte - schwenkte einen hölzernen Recorder über dem Kopf. »Tut mir Leid, Dad. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«
»Du störst uns überhaupt nicht«, entgegnete Pinch hastig und spekulierte, ob er sich durch die Unterbrechung nicht vielleicht doch vor der Arbeit mit den Petitionen drücken konnte.
»Die Melodie stammt vom Akki!«, verkündete Robse mit wichtiger Miene.
»Na so was!«, staunte Pinch.
»Ja.« Robse nickte so heftig, dass die dunklen Locken wippten.
»Wenn die Melodie vom Akki stammt, muss sie ja gut sein«, meinte Pinch, geneigt, das Gespräch mit dem Buben fortzuführen.
Sebell machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Mit einer Verbeugung drückte er Pinch einen dicken Stapel Bittschriften in die Hand. »Meister Mekelroy, lies jede einzelne Eingabe gewissenhaft durch und ordne sie nach Thema und Dringlichkeit ein.«
»Danke, Meister Sebell, vielen herzlichen Dank. Du bist immer so gut zu mir. Was würde ich nur mit meiner Zeit anfangen ohne diese interessante Lektüre? Du sorgst dafür, dass ich mich nicht langweile.« Pinch zwinkerte dem verdatterten Robse listig zu und tänzelte katzbuckelnd aus dem Raum.
Das Wichtigste hatte er mit Sebell besprochen, doch es gab noch ein Problem, das vielen Leuten am Herzen lag, und für das eine Lösung gefunden werden musste. Die Kardinalfrage lautete: Konnten die Drachenreiter etwas dagegen unternehmen, dass kosmische Objekte auf Pern herniederstürzten?
Benden-Weyr
Der Wachdrache stieß das trillernde Trompetensignal aus, das die Ankunft von Weyr-Führern meldete. In Benden richteten sich Mnementh und Ramoth auf ihren Felssimsen auf, schmetterten einen Willkommensgruß und kündeten Lessa und F'lar die bedeutenden, wenn auch unverhofften Besucher an.
Tileth und Segrith, meldete Ramoth, den Kopf an dem langen Hals hoch erhoben.
»Tatsächlich?«, Lessa war genauso überrascht wie F'lar. »Hattest du vergessen, dass sie kommen wollten?«
»Etwas so Ungewöhnliches wäre mir ganz gewiss nicht entfallen«, entgegnete er. Hastig schlüpfte er aus seinen weichen, mit Fell gefütterten Hausschuhen und stieg in die Lederstiefel, die neben der Heizung standen. Dann entledigte er sich der Wolljacke, rückte den Kragen seines wollenes Hemdes zurecht und knöpfte die Manschetten zu.
Lessa gab vor, die eitlen Bemühungen ihres Mannes zu übersehen, steckte sich ihren langen, geflochtenen Zopf zu einer Krone auf und glättete die Knitterfalten in ihrem Hosenrock.
»Sind wir mit Wein versorgt? Vielleicht kann Manora uns jemanden mit Klah und Gebäck hochschicken«, überlegte sie. »Ich bin gespannt, was unsere Besucher wollen.«
»Bald werden wir es wissen«, beschied er sie, trat ans Fenster und zog den schweren Vorhang zurück, der den eisigen Luftzug abhielt. Stirnrunzelnd spähte er nach draußen. »Sie hätten sich zuerst nach unserem Wetter erkundigen sollen. Heute ist ein lausiger Tag.«
Haben sie dich gefragt, Ramoth?
Nein, andernfalls hätte ich dir davon berichtet. Ich vergesse nie etwas. Ramoth richtete einen vorwurfsvollen Blick auf ihre Reiterin.
»Das weiß ich doch.«
Sie hörte Stimmen auf dem Felssims und trat nach draußen. In diesem Moment glitt Pilgra aus, schaffte es jedoch, sich am Gestein festzuhalten und das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
»Liebe Pilgra, du hättest dich vorher nach dem Wetter erkundigen sollen«, meinte Lessa besorgt. Pilgra war nicht unbedingt ihre Freundin, doch jeder, der sich heute hinauswagte, trotzte ihr Respekt ab. »Komm mit hinein und wärm dich auf. Gib mir deinen Mantel. Hat er dich wenigstens einigermaßen vor der Kälte geschützt?«
»Bei halbwegs normalen Bedingungen reicht er völlig aus, aber mit diesem Frost hatte ich nicht gerechnet. Im Hochland ist es auch kalt, aber da scheint wenigstens die Sonne.«
Als Lessa den feuchten Mantel entgegennahm, bemerkte sie, dass Pilgras lange Wollhose an den Knien ausbeulte und an den Schenkeln unschöne Knitterfalten aufwies.
»Ihr habt es herrlich warm in eurem Weyr«, staunte die ältere Frau und fasste die Heizkörper ins Auge. »Ich wünsche dir einen guten Tag, Ramoth«, begrüßte sie die Königin und neigte höflich den Kopf, derweil Ramoth den Gast gelassen beobachtete. Alsdann begab sich Pilgra eilig zur nächsten Wärmequelle und fröstelte demonstrativ. »Wie praktisch. Neuerdings gibt es bei uns auch ein Heizungssystem, doch die Kälte, die sich in den Felsen staut, können die Geräte nicht vertreiben.«
Plötzlich dämmerte Lessa, weshalb die beiden Weyr-Führer gekommen waren.
Die Sonne mag ja über dem Hochland scheinen, aber sie hat keine Kraft, berichtete Ramoth. Ich habe Tileth und Segrith geraten, sich auf den heißen Sand unserer Brutstätte auszuruhen und dort Wärme zu tanken. Das ist besser, als bei dieser Kälte draußen auf den Felsen zu warten.
Das war sehr umsichtig von dir, lobte Lessa ihre Königin.
Dann wandte sie sich M'rand zu, der eingetreten war, und sie fand, er sähe krank aus. Doch, die beiden statteten einen Besuch ab, weil sie planten, sich zur Ruhe zu setzen. Sie brauchten diese Entscheidung nicht mit den Weyr-Führern von Benden zu diskutieren, denn jeder Weyr war autonom, aber M'rand galt als äußerst gewissenhaft in solchen Dingen.
»Wein? Oder ein Gläschen von Meister Oldives Likör?«, fragte sie.
»Ein Likör wäre mir recht, Lessa«, antwortete M'rand und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
Wieso hatte sie nicht schon früher bemerkt, wie stark M'rand gealtert war? Wann waren sich die Weyr-Führer zum letzten Mal begegnet? Die Königinnen tauschten von Zeit zu Zeit Botschaften aus, doch ihre Reiter besuchten einander nur selten. Sie hatte den Führer des Hochland-Weyrs als einen robusten, kraftstrotzenden Athleten in Erinnerung, doch nun stand vor ihr ein schmächtiger, alter Mann mit hängenden Schultern, faltigem Gesicht und blassem, pergamenttrockenem Teint. Pilgras schwarzes Haar wies keine einzige graue Strähne auf, doch der intensive Glanz deutete darauf hin, dass sie mit den Kosmetikprodukten nachhalf, wie die Akki-Dateien sie empfahlen. Vorher hatte man auf Pern nur ein rotes Färbemittel gekannt, das aus einer bestimmten Pflanzenwurzel gewonnen wurde, doch die Wirkung sah nie natürlich aus.
F'lar schenkte allen ein Glas Likör ein. Lessa erkundigte sich nach Freunden im Weyr und Lord Bargen, der offenbar immer noch daran nagte, dass drei seiner Söhne in den Süden abgewandert waren.
»Hosbon geht es sehr gut«, erzählte Pilgra. »Er hat eine Schiffslände gebaut, einen Trommelturm und besitzt eine Schaluppe in Seminole.«
»Und das alles hat er aus Toric herausgequetscht?«, wunderte sich Lessa und tauschte einen verdutzten Blick mit F'lar, der sich ein Schmunzeln verbiss.
»Wenn er das geschafft hat, ist er aus demselben Holz geschnitzt wie sein Vater«, sagte er.
M'rand pflichtete ihm bei. »Tja, Bargen ließ seine Söhne hart arbeiten, um sie auf das Leben vorzubereiten. Er wollte eine Auswahl haben, wenn es denn soweit wäre, einen Nachfolger für sich zu bestimmen.«
»Aus einem ähnlichen Grund sind wir hier, Lessa, F'lar«, ergänzte Pilgra und beugte sich ein wenig vor. »Wir möchten unser Amt als Weyr-Führer niederlegen.«
»Wir haben vier tüchtige Geschwaderführer, die genauso viel über den Kampf gegen die Fäden wissen wie ich«, griff M'rand das Thema auf. »Der Weyr würde jeden von ihnen akzeptieren. Außerdem gibt es drei gute, kräftige Königinnen und eine Jungkönigin, die noch nicht alt genug ist, um sich zu paaren. Pilgra und ich möchten in den Süden gehen. Als wir bei den Rettungsarbeiten geholfen haben, entdeckten wir in der Nähe von Cathay ein Grundstück, das uns gut gefällt. Es liegt in einer kleinen, geschützten Bucht. Vier oder fünf Weyr-Leute würden uns begleiten, weil auch für sie die Zeit gekommen ist, sich die alten Knochen in einem milderen Klima zu wärmen. Doch vorher wollten wir euch fragen, ob es euch recht ist, wenn wir als Weyr-Führer abtreten.«
»Die Entscheidung liegt ganz bei euch«, gab F'lar zurück. »Ihr habt eure Pflicht mehr als erfüllt, wenn man bedenkt, wie lange ihr schon dabei seid.«
»Und ihr findet nicht, dass wir den Weyr im Stich lassen?«, wandte sich Pilgra an Lessa. Ihre Miene verriet, wie gespannt sie auf die Antwort wartete.
»Beim Ersten Ei, nein, so etwas würden wir im Traum nicht denken.« Lessa tätschelte Pilgras Hand. Dabei sah sie die geschwollenen, mit Altersflecken übersäten Finger, die das Likörglas hielten.
»Segrith merkt man auch an, dass sie alt geworden ist«, erklärte Pilgra. »Obwohl sie immer noch jeden zweiten Planetenumlauf zum Paarungsflug aufstieg.«
»Und alle ihre Gelege enthielten mindestens fünfzehn Eier, wobei sämtliche geschlüpften Drachen flugfähig waren. Mich wundert nur, dass es in eurem Weyr überhaupt noch Platz gibt.«
»Nun, wenn wir gehen, wird ein Platz für eine neue Königin frei«, erwiderte Pilgra forsch. »Eigentlich wollte M'rand ja noch bis zum Schluss weitermachen, aber …« In einer hilflosen Geste hob sie die Hand.
M'rand räusperte sich. »Ich hatte gehofft, es würde klappen. Nicht jeder bekommt die Gelegenheit, vom Anfang bis zum Ende einer Annäherungsphase gegen die Fäden zu kämpfen.« Sein Lächeln ließ noch einmal einen Abglanz seiner alten Vitalität erkennen. »Doch nachdem wir das Grundstück in Cathay gesehen haben, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es vielleicht das Beste wäre, die Zügel aus der Hand zu geben und junge, fähige Leute nachrücken zu lassen.«
»Wie du weißt, brauchst du dir dazu nicht unsere Erlaubnis einzuholen«, erwiderte Lessa freundlich. »Einunddreißig Planetenumläufe lang habt ihr Pern treu gedient.«
M'rand schmunzelte. »Und es hat Spaß gemacht. Die fädenfreien Intervalle sind doch langweilig. Als es wieder anfing, Fäden zu regnen, war ich jung genug, um die Herausforderung anzunehmen. Aber jetzt sind wir alt und können uns mit gutem Gewissen zur Ruhe setzen. Der alte R'mart ist auch nicht mehr aktiv, aber im Gegensatz zu uns möchte er im Weyr wohnen bleiben. Pilgra und ich wollen lieber allein sein.« Rasch hob er die Hand. »Was aber nicht heißt, dass wir eure Besuche nicht zu schätzen wüssten. Ihr und eure Drachen dürft jederzeit bei uns vorbeischauen.«
»Wenn du geglaubt hast, wir würden versuchen, euch zu überreden, im kalten Hochland-Weyr zu bleiben, hast du dich verrechnet«, erwiderte F'lar amüsiert. Er winkte M'rand mit der Hand zu. »Geht nur in den Süden und genießt eure wohl verdiente Ruhe.«
»Ist das euer Ernst?«, wandte sich Pilgra an Lessa.
»Was könnte verkehrt daran sein, wenn ihr das Kommando an Jüngere abgebt?«, wollte Lessa wissen. »Wer könnte Anstoß daran nehmen?« Als Pilgra und M'rand unsichere Blicke tauschten, ging ihr ein Licht auf. »Ach, jetzt verstehe ich. Der alte G'dened hat etwas dagegen. Stimmt's?«
»Immerhin ist er der Älteste von uns«, erwiderte Pilgra.
M'rand hüstelte. »Und er ist stur. Er klammert sich an seine Führerschaft in Ista, weil er seit fünfzig Planetenumläufen dort das Sagen hat und glaubt, er wüsste alles, was es über die Fädenbekämpfung und die Leitung eines Weyrs zu wissen gibt.«
»Seine Einstellung ist vorbildlich«, meinte Lessa mit spöttischem Lächeln. »Er hält eben viel von Loyalität, Engagement, Perfektionismus …«
F'lar blickte schmunzelnd zu Boden, weil er genau wusste, wie ironisch diese Bemerkung gemeint war. Pilgra stutzte, doch M'rand verstand den Witz und brach in ein Lachen aus, das in einen krampfhaften Husten überging.
»Begebt euch in den Süden, ehe dein Husten dich noch umbringt«, riet Lessa ihm ernst.
»Das haben wir auch vor, aber zuerst müssen wir …«
»Vier tüchtige Geschwaderführer? Sie sollten sich mit der Leitung des Weyrs abwechseln, bis eine Königin zum Paarungsflug aufsteigt«, schlug der pragmatisch denkende F'lar vor. »Falls Probleme auftauchen, können sie euch ja um Rat fragen. Man wird sich ohnehin noch eine Zeit lang an euch wenden, auch wenn ihr schon längst im Ruhestand lebt. Die Führung eines Weyrs lernt man nicht quasi über Nacht, und man wird eure Erfahrung brauchen. Und jetzt erzählt, wo genau in Cathay diese wunderschöne Bucht liegt. Habt ihr vielleicht eine Karte mitgebracht?«
M'rand zückte ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Meister Idarolan war so freundlich, mir eine Skizze zu zeichnen.« M'rand reichte das Blatt an F'lar weiter. Jetzt wirkte der Weyr-Führer des Hochlands sichtlich erleichtert, als sei ihm eine schwere Bürde genommen. »Ich weiß wirklich nicht, was besser ist, eine Karte, nach der man sich orientieren kann, oder ein Drache, der den exakten Zielort kennt.«
Lessa hatte sich von einem Schreiner einen Schrank mit langen, tiefen Schubfächern anfertigen lassen, in denen sie Dokumente und Landkarten von bestimmten Orten auf dem Südkontinent aufbewahrte. Der Umstand, dass die Weyr-Führer bei der Besiedlung des Südens ein gewichtiges Wort mitzureden hatten, stieß manchem bitter auf. Doch nach hitzigen Debatten im Rat hatte man ihnen dieses Privileg gewährt. Aber es war auch festgelegt worden, dass jede neu gegründete Gemeinde aus eigener Kraft überleben musste. Und jeder, der dort hinzog, wurde über die besonderen Risiken und Vorzüge des Südlichen Kontinents aufgeklärt.
F'lar stöberte nach der entsprechenden Karte, breitete sie auf dem Arbeitstisch aus und suchte anhand von M'rands Skizze nach den richtigen Koordinaten.
»Ihr seid aber sehr bescheiden«, stellte er fest.
»Wir brauchen nicht viel«, räumte M'rand ein.
Pilgra und Lessa sahen zu, wie F'lar den Umriss des Anwesens nachzeichnete, das die ehemaligen Weyr-Führer aus dem Hochland für sich beanspruchten.
»Nur hundert Quadratmeter?«, rief Lessa. »Das ist ja winzig.«
»Aber wunderschön«, beharrte Pilgra und fing an, die Vorzüge zu schildern. »Vielleicht hat dort früher schon jemand gesiedelt, eine Anhäufung von Steinen deutet darauf hin. Man hat einen herrlichen Blick aufs Meer. In der Gegend wachsen alle möglichen Bäume, und das Klima ist mild.«
»Die Bucht scheint nur sehr dünn besiedelt zu sein«, staunte M'rand.
»Früher lebten dort noch weniger Leute«, erklärte Lessa. »Aber allmählich wird das Land erschlossen. Diese Bucht ist wirklich mit vielen Vorzügen gesegnet, und manch einer könnte sich dort behaglich zur Ruhe setzen, wenn er sich nur entscheiden könnte.« Sie bedachte ihren Gemahl mit einem bedeutungsschweren Blick.
»Habt ihr noch mehr Karten vom Südkontinent?«, erkundigte sich Pilgra.
»Oh ja.« F'lar deutete auf ein Schubfach. »Diese Karte hier gibt nur die Gegend um Cathay wieder. Sie wurde nach Luftfotografien angefertigt, nach Angaben des Akki. Das Material ist so detailgetreu, dass man die einzelnen Landparzellen gut erkennen kann. Ich werde euren Anspruch in das offizielle Register eintragen lassen.« Er zog eine andere Schublade auf und holte ein Formular und andere offizielle Dokumente heraus. Das Formular gab er M'rand. »Das ist eure Übertragungsurkunde.« Dann zeigte er ihm, dass das Formular aus mehreren Blättern bestand. »Ich fülle es aus, und Lessa und ich unterschreiben es. Als Zeugen nehmen wir den Weyr-Harfner und vielleicht noch Manora oder G'bol. Danach gehört das Grundstück euch.«
M'rand blinzelte verdutzt. »So einfach geht das?«
F'lar schmunzelte. »Ihr seid Weyr-Führer. Ihr dürft euch eine Parzelle auswählen, ohne den Rat um Erlaubnis zu bitten.« Er beugte sich über den Tisch und begann, die Spalten des Formulars in säuberlicher Druckschrift auszufüllen. M'rand sah ihm dabei zu.
»Bei anderen Leuten kann es sehr lange dauern, bis sie ein Anwesen ihr eigen nennen«, wandte Pilgra ein.
»Das liegt an den Einwanderungsvorschriften«, beschied sie Lessa. »Die Leute, die auf den Südkontinent ziehen wollen, müssen nachweisen, dass sie für sich selbst sorgen können. Diese Gegend ist reich an Gefahren - man denke nur an die riesigen Raubkatzen, die dort in Rudeln umherstreifen. In der ursprünglichen Charta ist genau festgelegt, welche Personen für eine Besiedlung dieses Kontinents in Frage kommen. Noch ein Grund, warum jeder mit dem Inhalt der Charta vertraut sein sollte.«
»Siehst du, das hatte ich dir gesagt, Pilgra«, warf M'rand ein und streifte seine Weyr-Gefährtin mit einem selbstzufriedenen Blick. »Man darf halt nicht alles glauben, was Betrunkene auf einem Fest erzählen.«
F'lar schickte sich an, die exakten Längen- und Breitengrade der Parzelle einzutragen. »Deshalb sind die Harfner ja so erpicht darauf, den Leuten die Artikel der Charta beizubringen.«
M'rand fing an zu kichern, doch ein neuerlicher Hustenanfall raubte ihm den Atem. Besorgt reichte Pilgra ihm sein Glas Likör. Lessa eilte in ihr Zimmer und kam mit einer dunkelbraunen Flasche und einem Löffel zurück.
»Hier. Nimm eine Dosis von diesem Saft. Er enthält ein Heilmittel, das Oldive in den Akki-Dateien entdeckt hat und das hartnäckigen Husten löst.« Sie verabreichte ihm einen Löffel voll Saft. »In den Süden zu ziehen war eine kluge Entscheidung. Das kann deiner Gesundheit nur gut tun.«
F'lar beendete seine Arbeit und steckte die Kopie der Übertragungsurkunde, die für M'rand und Pilgra bestimmt war, in eine Plastikhülle. Während M'rand noch nach Luft schnappte, machte der Weyr-Führer von Benden vor Pilgra eine Verbeugung und reichte ihr die Urkunde. »Ich schlage vor, ihr begebt euch noch heute dorthin.«
»Heute?« Pilgra rang jetzt genauso nach Atem wie ihr Gemahl.
»Warum denn nicht? Was habt ihr bei diesem scheußlichen Wetter Besseres zu tun?«, bekräftigte Lessa. »Eure Weyr-Leute sollen euch ein paar Sachen einpacken, viel braucht ihr in dem warmen Klima ohnehin nicht. Den Rest lasst ihr euch einfach nachschicken.«
»Ist das nicht ein bisschen überstürzt?«
»Euren Geschwaderführern und den jungen Königinreiterinnen könntet ihr keine größere Freude bereiten«, meinte Lessa scheinheilig. Als Pilgra ein unglückliches Gesicht machte, fügte sie hastig hinzu: »Natürlich werden sie euch vermissen, aber seien wir doch ehrlich - es gibt nichts Schöneres für eure potenziellen Nachfolger, als endlich selbst die Zügel in der Hand zu halten. Um den alten, verknöcherten G'dened braucht ihr euch nicht zu kümmern. Cosira wird seine verletzten Gefühle schon besänftigen. Nehmt euch ein Beispiel an D'ram. Das Leben auf dem Landsitz an der Meeresbucht hat ihm frische Kräfte verliehen und seine angeschlagene Gesundheit wiederhergestellt. Gewiss, du und M'rand wart vortreffliche Weyr-Führer, doch niemand wird es euch nachtragen, wenn ihr in den Ruhestand geht und den Abschied nicht unnötig lange hinauszögert.«
»F'lar meint, wenn wir die beiden begleiten würden, könnte G'dened ihnen keine Vorwürfe mehr machen«, erzählte Mnementh Lessa. Aber er sagt auch, dass er selbst noch nicht bereit ist, sich aufs Altenteil zu begeben.
Er ist ja auch zwanzig Planetenumdrehungen jünger als M'rand und G'dened. Von deinem Reiter erwarte ich, dass er bis zum Ende der Fädensaison gemeinsam mit mir kämpft, erklärte Lessa dem Bronzenen tapfer.
Und mit mir! warf Ramoth ein.
»Ich habe eine Idee«, rief Lessa, als sei ihr der Einfall soeben gekommen. »F'lar und ich werden euch in den Süden begleiten.«
»Das ist der beste Vorschlag, den du an einem kalten, regnerischen Abend wie diesem unterbreiten kannst, Lessa«, stimmte F'lar ein, wohl wissend, dass sie ihn später für diese Bemerkung büßen lassen würde.
***
Bedingt durch den Zeitunterschied zwischen dem Hochland und Ruatha, blieb den Weyr-Führern von Benden reichlich Zeit, um M'rand und Pilgra bei ihrem Umzug in den Süden zu helfen. Zu einem späten Nachtmahl fanden sie sich wieder im heimischen Weyr ein.
Vorher hatten sie M'rand und Pilgra zur Seite gestanden, als diese ihren Geschwaderführern und Königinreiterinnen ihren spontanen Entschluss erläuterten. Sie suchten die Leute aus, die die beiden auf den Südkontinent begleiten sollten und gestatteten M'rand eine kurze Besprechung mit seinen Geschwaderführern, von denen einige Mühe hatten, ihre Erleichterung und freudige Überraschung über diese Entscheidung zu verbergen.
Pilgra beriet sich mit den Königinreiterinnen. Die Jüngste von ihnen machte aus ihrer Betroffenheit kein Hehl, die drei älteren hingegen beäugten einander argwöhnisch, denn die Erste, deren Königin in Hitze kam und zum Paarungsflug aufstieg, wäre die neue Weyr-Herrin. Lessa genoss die Situation in vollen Zügen, und F'lar nutzte die Gelegenheit, um die Bronzereiter einzuschätzen.
M'rand hat Recht. F'lar findet auch, dass die vier Geschwaderführer tüchtig genug sind, um unverzüglich seine Nachfolge anzutreten, versicherte Mnementh Lessa.
Und welche Königin erscheint am geeignetsten? fragte sie den Bronzedrachen.
Yasith, warf Ramoth so entschieden ein, dass Mnementh ihr nicht widersprach, falls er eine andere Kandidatin im Sinn gehabt hatte.
Lessa behielt ihre Meinung für sich. Yasiths Reiterin hieß Neldama, war fünfundzwanzig Planetenumläufe alt und im Hochland-Weyr groß geworden. Man konnte sie nicht gerade als hübsch bezeichnen - doch sie war immerhin so attraktiv, dass F'lar sie immer wieder ansehen musste. Der Blick aus ihren grünen Augen war offen, sie machte einen intelligenten, vernünftigen Eindruck und half wie selbstverständlich Pilgra beim Packen ihrer Sachen.
M'rand äußerte sich besorgt darüber, wie er die drei wichtigsten Burgherren und die bedeutenderen der Großpächter von seiner Abreise in Kenntnis setzen sollte.
»Es ist nur eine Formalität, doch ich finde auch, dass es höflicher wäre, sie zu informieren. Sag doch einfach, dass du aus gesundheitlichen Gründen deinen Abschied nimmst, dass es dem Wohle des Weyrs dient … die üblichen Floskeln«, half F'lar aus.
»Es ist ja nicht so, als ob sich die gesamte Führungskaste des Weyrs ihrer Pflichten entledigen würde«, meinte Lessa, als Neldama und Curella, die ältesten Königinreiterinnen, heißen Gewürzwein und Naschereien in das Quartier der Weyr-Herrin brachten. »Keine Sorge, Pilgra, M'rand. Ihr habt das Recht, auch einmal an euch selbst zu denken.«
G'narish von Igen und G'dened von Ista, die beiden alten Weyr-Führer, die immer noch im Amt waren, reagierten auf M'rands und Pilgrams Ankündigung völlig unterschiedlich. G'narish war flexibel genug, um den Entschluss zu akzeptieren, derweil G'dened sich querstellte wie seinerzeit R'gul.
Alle Weyr mussten sich damit beschäftigen, was mit ihnen geschehen sollte, wenn einmal keine Fäden mehr fielen. G'dened schien diesen Gedanken total zu verdrängen, mit diesem Thema wollte er sich partout nicht befassen. Er ermahnte seine Reiter nicht, sich nach einer anderen Beschäftigung umzusehen, damit sie für sich sorgen konnten, wenn die Burgen und Hallen den Weyrn keinen Tribut mehr zu zollen brauchten.
Landgut Benini - Ost Monaco und Honshu - 1.20.31
»Wenn mich noch einmal jemand fragt, was die Drachenreiter gegen einen Brocken, der vom Himmel fällt, unternehmen werden, lasse ich denjenigen von Golanth ins Dazwischen bringen - aber auf Nimmerwiedersehen!« sagte F'lessan erbittert zu Tai. Er stand auf und streckte sich, weil der Rücken von der Feldarbeit schmerzte. Zusammen mit Tai pflanzten sie auf Beninis Anwesen Schösslinge ein. Der Sturm, der mit den Tsunamis einherging, hatte sämtliche Dächer des Gebäudekomplexes weggefegt. Die zurückgebliebenen Schlamm- und Treibgutmassen waren bereits von fleißigen Helfern entfernt worden. Zum Glück waren die Mauern massiv gebaut, und die entstandenen Schäden ließen sich reparieren.
Die Familie Benini, seit jeher Viehzüchter, und ihre Gehilfen, war von früh bis spät unterwegs, um versprengte Herdentiere aufzuspüren und zurückzubringen. Auf ihrer wilden Flucht vor den Wellen waren die Tiere bis weit ins Hinterland galoppiert. Einstmals hatten Rotfruchtbäume und Riesenfarne das Anwesen umgeben und vor dem ständigen Seewind abgeschirmt. Die Tsunamis hatten Kleinholz aus der widerstandsfähigen Vegetation gemacht, doch die Leute, die am Paradiesfluss siedelten, stifteten neue Setzlinge sowie junge Fellis-Bäumchen.
Drachenreiter rissen sich nicht darum, auf dem Feld zu schuften, doch als F'lessan sah, dass Tai sich als einzige Helferin in die Liste der Freiwilligen eingetragen hatte, schrieb er seinen Namen darunter. Er arbeitete gern mit Tai zusammen und noch mehr freute er sich darauf, die Freizeit mit ihr zu verbringen. Ihr gemeinsames Interesse für Astronomie bot Gesprächsstoff in Hülle und Fülle. Manchmal waren sie die einzigen Drachenreiter, die in ländlichen Gebieten mit anpackten. Tai schien viele der isoliert lebenden Pächter zu kennen, und überall empfing man sie mit ausgesuchter Herzlichkeit, so wie hier. Die Beninis zeigten ihnen, wo sie Werkzeug finden konnten, wo es frisches Wasser gab und wo die Lebensmittel lagerten. Danach ritt die gesamte Familie los, um ihre weit verstreuten Herden zusammenzutreiben.
Als F'lessan und Tai bei Tagesanbruch die jungen Pflanzen abgeholt hatten, wurden sie von Jayge begrüßt.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so bald wiedersehen würde, F'lessan«, bemerkte der Pächter des Landgutes am Paradiesfluss und grinste verschmitzt.
»Du wirst mich so lange sehen, wie dein Gut bereit ist, Monaco wieder aufzuforsten«, gab F'lessan zurück. »Du und Aramina seid sehr großzügig.«
»Das ist das Mindeste, was wir tun können«, erwiderte Jayge. »Unsere Plantage ist verschont geblieben, weil Kap Kahrain uns vor den schlimmsten Überflutungen geschützt hat.« Er deutete in die Richtung des Paradies-Flusses. »Dort findet ihr so viele junge Bäumchen und Sträucher, wie ihr braucht. Ihr zwei seht erschöpft aus. Habt ihr schon gefrühstückt?«
F'lessan winkte ab. »Ja. Natürlich sind wir ziemlich abgekämpft, aber wir ruhen uns erst aus, wenn das Gröbste geschafft ist.«
Die jungen Bäume und Büsche wurden auf Paletten gepackt, wobei die Wurzelballen mit dem daran haftenden Erdreich in Netzen steckten. Die Paletten waren an allen vier Ecken mit Stricken versehen, die man in der Mitte zu einem Knoten zusammengeknüpft hatte. Die Drachen brauchten nur vorsichtig den Knoten in die Vordertatzen zu nehmen und die Palette anzuheben. Mittlerweile waren sämtliche Drachen in Manövern dieser Art versiert. Aus geringer Höhe gingen sie ins Dazwischen, damit die Fracht nicht ins Pendeln geriet. Indem Drachen die Pflanzen beförderten, konnten sie ohne großen Zeitverlust wieder in den Boden gesetzt und gewässert werden.
Und die Leute, die sich mit der Wiederaufforstung beschäftigten, brauchten nicht in der prallen Mittagssonne zu arbeiten, die die Vegetation wie die Menschen gleichermaßen ausdorrte. F'lessan prüfte die Länge und den Winkel der Schatten. Seine Uhr steckte in der Jacke. Es war noch Vormittag, und sie hatten ihre Arbeit fast beendet. Er wusste nicht, wie lange er diese Knochenarbeit noch durchhalten würde. Die Sonne setzte ihm zu, obwohl er - wie auch Tai - lediglich mit ärmellosem Hemd und Shorts bekleidet ging.
»Du machst das schon sehr gut.« Tai stützte die Hände auf ihren Knien ab und richtete sich gleichfalls auf. Sie zog sich das Schweißband von der Stirn, wischte sich damit die Brauen trocken und knotete das Tuch wieder um.
»Es liegt mir halt, Dinge wieder instand zu setzen«, erwiderte er und betrachtete zufrieden die Hecke, die sie an der Ostgrenze des Anwesens gepflanzt hatten. Der Gutshof stand auf einer Anhöhe, und aus diesem Grund hatte die Überflutung weniger Schaden angerichtete als anderenorts. Das Gestalten des Windschutzes erforderte Überlegung. Innen die Rotfruchtbäume, damit man leicht an das Obst gelangte, dann Fellis und zum Schluss die buschigen Riesenfarne. Ein paar nicht zu identifizierende Schösslinge setzten sie hier und da in den fetten Lehmboden. Jemand hatte begonnen, einen Garten anzulegen. Zum Glück war jetzt Hochsommer, und bereits in wenigen Wochen würden sie frisches Gemüse essen. Und ehe die Winterstürme einsetzten, wäre auch die Hecke gewachsen.
»So wie in Honshu?«, fragte sie und bückte sich nach der Feldflasche. Beninis Frau hatte sie mit Fruchtsaft gefüllt.
»Ja, du hast Recht.« F'lessan lächelte und strich sich das verschwitzte Haar aus der Stirn. »Der Ort fasziniert mich. Es gibt dort jede Menge Plätze, die ich dir noch nicht zeigen konnte.«
Ein paar Abende hatten sie auf der oberen Terrasse verbracht, abwechselnd durchs Fernglas gespäht, das auf einem Stativ angebracht war. F'lessan liebte es, Tai zuzuschauen, wenn sie den Sternenhimmel beobachtete und sich Notizen machte. Sie war sehr gewissenhaft - kein Wunder, denn schließlich hatte sie Astronomie bei Erragon studiert. Häufig bat sie ihn, ihr die einzelnen Lichtpunkte am Himmel zu erklären. Er zeigte ihr auch den fünften Planeten, der um Rubkat kreiste, und der gerade in der Rektaszension, dem Winkel zwischen dem Frühlingspunkt und dem Schnittpunkt des Himmelsäquators, zu sehen war. Um sie ein bisschen aufzuziehen - aber sie musste wissen, dass er witzig sein wollte, andernfalls wurde sie fuchsteufelswild - nannte er ihr sogar die exakte Position im Koordinatensystem in Stunden, Minuten, und Sekunden; die Deklination betrug 27 Grad, 16 Minuten, 25 Sekunden, direkt unter Acrux.
Sie erzählte ihm, dass sie es sich bei ihren Himmelsbeobachtungen auf dem Landsitz an der Meeresbucht angewöhnt hatte, Aufzeichnungen anzufertigen. Erragon sammelte solche Berichte, auch von anderen Leuten, die den nächtlichen Himmel absuchten. F'lessan plante, eines Tages mit Tai das höchste, nach Osten gelegene Plateau von Honshu zu erklettern. Von dort hatte man einen Panoramablick über die bewaldeten Vorberge. Durch sein Fernglas entdeckte er mitunter Raubkatzen, die bei Tagesanbruch nach Beute jagten. Aber die Wendeltreppe, die hinaufführte, war lang und steil, und um sie zu bewältigen, mussten sie erst neue Kräfte schöpfen.
»Ich würde zu gern dieses mysteriöse Observatorium sehen, F'lessan«, äußerte sie schüchtern, als sie ihm die Feldflasche reichte.
»Keine Bange, ich bringe dich dorthin - wenn wir uns ein wenig erholt haben und nicht mehr so hundemüde sind. Der Anstieg ist sehr anstrengend.«
»Gut. Wann immer du die Zeit findest«, stimmte sie zu. Dann nahm sie einen neuen Setzling von der fast leeren Palette. »Gleich sind wir hier fertig. Die Schösslinge, die wir nicht bestimmen können, pflanzen wir am besten in die Nähe des Gartens.« Seufzend blickte sie zu ihren Drachen hinüber, die auf dem Hügelkamm hinter dem Anwesen ruhten. Der Bodenbewuchs dort war so struppig und dicht, dass er sogar dem Ansturm der Tsunamis standhalten konnte.
F'lessan fiel auf - doch er hütete sich, es laut auszusprechen -, dass es für Drachen höchst ungewöhnlich war, so dicht nebeneinander zu liegen, dass ihre Leiber sich berührten. Er machte sich seine eigenen Gedanken darüber, aber da er Tais Reserviertheit kannte, behielt er sie tunlichst für sich. Durch ihre gemeinsamen Himmelsbeobachtungen hatten sich die Spannungen zwischen ihnen abgebaut, und sie konnten jetzt viel unbefangener miteinander umgehen. F'lessan wollte Tai die Möglichkeit verschaffen, ihre verloren gegangenen Notizen zu ersetzen. Er selbst interessierte sich aus einem ganz besonderen Grund vermehrt für Astronomie.
Die meisten Weyr-Leute hatten ihre provisorischen Unterkünfte bereits wieder verlassen. Reiter hatten für ihre Drachen den Boden eingeebnet und sich selbst Unterstände gebaut. Die neue Siedlung in Monaco sollte auf einer Hügelkuppe stehen, möglichst weit entfernt von der Küste. Morgen würde der letzte Reiter, dessen Heimstatt weggespült worden war, sein eigenes Quartier beziehen. F'lessan wusste nicht, ob Tai schon eine neue Bleibe gefunden hatte. Er hatte sich nicht danach erkundigt, weil er nicht den Anschein erwecken wollte, als hielte er ein wachsames Auge auf sie.
Nun indessen konnte er sich nicht sattsehen an ihr. Er beobachtete sie, während sie überlegte, wo sie die Schösslinge einpflanzen sollte. Er nahm einen Arm voll Setzlinge und trug sie ihr hinterher. Aus dem Augenwinkel nahm er in dem verfilzten Grasteppich vor Zaranths Maul eine Bewegung wahr. Er sah genauer hin.
»Wanderkäfer«, verkündete er und legte die Setzlinge in Tais Reichweite auf den Boden. »Ich dachte, die meisten wären in der Flut ertrunken oder ins offene Meer hinausgespült worden.«
»Wanderkäfer können schwimmen. Ich habe gesehen, wie sie breite Bachläufe überquerten«, erwiderte Tai und stieß den Spaten in den Boden.
»Tatsächlich?« F'lessan verfolgte den Zug, der sich durch nichts und niemand aufhalten ließ.
Sie gab ihm den Spaten, kniete nieder und löste das Netz von dem Wurzelballen des Setzlings, ehe sie ihn in den Boden steckte.
»Ein großes Muttertier führt die Wanderung an«, erzählte F'lessan. »Mit vier Jungen. Wenn sie nicht aufpasst, verliert sie gleich eines.«
Tai warf einen flüchtigen Blick auf die Wanderkäfer, dann drückte sie die Erde um die Pflanze fest. Aus irgendeinem Grund schmunzelte sie.
»Der Käfer hält geradenwegs auf Zaranth zu. Soll ich …?« Rasch ließ er den Spaten fallen und trat einen Schritt vor, um den Käfern den Weg zu versperren. Er wollte dem ersten Krabbler einen Schubs verpassen und ihn in eine andere Richtung lenken, ohne dass ein Jungtier vom Rücken der Mutter purzelte. Denn dann hätte sie ihn vielleicht mit dem stinkenden Sekret bespritzt, das Wanderkäfer absonderten, wenn sie sich oder ihre Nachkommenschaft in Gefahr wähnten.
»Nein, nein! Warte.«
»Aber die Käfer werden über Zaranth hinwegkrabbeln. Ich weiß nicht, ob es deinem Drachen etwas ausmacht, aber Golanth kann es absolut nicht leiden, wenn er von diesen Biestern belästigt wird.« Er fügte nicht hinzu, dass Golanth immer mehr Interesse an Zaranth bekundete und ganz offensichtlich einen Beschützerinstinkt entwickelte. Noch ein Grund, weshalb er froh war, dass Tai sich nur selten in die Gesellschaft der anderen Drachenreiter begab und am liebsten allein arbeitete. Er fand, die Zeit sei noch nicht reif, dass Weyr-Bewohner die wachsende Intimität zwischen seinem bronzenen und Tais grünem Drachen bemerkten.
»Pass auf!«, warnte sie ihn. Mit vergnügt funkelnden Augen erhob sie sich aus ihrer knienden Position.
F'lessan hingegen setzte sich in die Hocke, kniff die Augen zusammen, weil er direkt in die grelle Sonne blinzelte, und wartete ab.
Tai hob eine Hand und grinste breit. »Einen Augenblick noch.«
»Die Käfer steuern auf Zaranths Nase zu. Spürt sie das denn nicht? Golanth hätte sie längst verscheucht.«
»Nicht ungeduldig werden. Sieh nur hin.«
Die Käferparade marschierte zielbewusst in gerader Linie voran, ungeachtet etwaiger Hindernisse, die im Weg standen. Zaranths Nüstern zuckten, doch sie öffnete die Augen nicht mal einen schmalen Spalt breit. Jählings bog die Prozession im rechten Winkel ab und zockelte zurück in das Buschland.
»Nun, was sagst du dazu?« Tai strahlte über das ganze Gesicht.
»Sie hat geschnauft und sie mit ihrem Atem verjagt«, mutmaßte F'lessan.
»Nein. Ganz und gar nicht. Sie lässt die Käfer bis auf eine bestimmte Entfernung an sich heran, dann schwenken sie in eine andere Richtung, die von ihr weg führt.«
Sie nahm ihm den Spaten ab und schickte sich an, das nächste Loch zu graben. »Es gibt hier zwei Spaten, weißt du.«
»Ja, sicher, meine liebe Tai«, erwiderte er und holte sich einen. Seine Gedanken kreisten um die schlummernde Zaranth, die in einem unglaublich intensiven Grün glänzte. Neben ihr ruhte Golanth mit geschlossenen Augen. F'lessan fragte sich, wie lange sein Bronzedrache noch so tun würde, als ob er schliefe.
»Ich verstehe nicht, wie Zaranth es angestellt hat, den Wanderkäfer von seinem Weg abzulenken«, begann er von neuem. »Ich sah genau hin, aber dein Drache hat sich nicht bewegt. Nur die Nase zuckte ein paarmal.«
Tai tupfte sich ein paar Schweißtropfen ab, die ihr über das Gesicht perlten, griff nach einem Setzling und stopfte ihn vorsichtig in den Boden.
»Offen gestanden, ich weiß es auch nicht. Aber wenn ihr die Käfer zu nahe kommen, biegen sie ganz plötzlich in eine andere Richtung ab. Es ist schon höchst merkwürdig, denn Wanderkäfer haben nun mal die Eigenart, immer geradeaus zu marschieren.«
»Erstaunlich!« Auch er wischte sich den Schweiß von der Stirn und pflanzte einen Steckling ein. »So, das wäre geschafft. Und jetzt müssen wir die Pflanzen begießen, nicht?«
Gleich nachdem die Flut zurückgegangen war, hatte Benini einen neuen Brunnenschacht ausgehoben und einen Bewässerungskanal angelegt, aus dem Tai und F'lessan nun eimerweise Wasser schöpften.
»Sagte Benini nicht, drüben beim Viehpferch gäbe es eine Dusche?«, fragte F'lessan, nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten.
»Ja, und außerdem eine große Zisterne, die so viel Wasser enthält, dass es für die ganze Familie zum Duschen reicht.« Sie zeigte auf eine Art Kabine.
»Lass mir genug warmes Wasser übrig«, bat er sie, ihr den Vortritt lassend. »Ich bringe die Werkzeuge zurück.« Er sammelte die Gartengeräte ein, und als er auf den Schuppen zusteuerte, rief er Tai hinterher: »Heute Nachmittag wollte ich mit Golanth in Honshu auf die Jagd gehen. Ob Zaranth auch Appetit hat?« Nun ja, dachte er bei sich, sexuelles Verlangen konnte man getrost als Appetit bezeichnen.
Über die Schulter blickte Tai auf ihren schlafenden Drachen. »Ihre Farbe ist kein bisschen verblasst.«
F'lessan blinzelte, und mit einem gewinnenden Lächeln, das von jeher Mirrims Argwohn erregt hatte, fügte er hinzu: »Wir könnten Raubkatzen jagen. Ein paar dieser Biester treiben sich gefährlich nahe bei den Herden herum. Gleichzeitig bekämen wir ein paar schöne Pelze.«
Seit der Katastrophe hatten die meisten grünen Reiter kostenlos Kurierdienste übernommen. Aber in zwei Siebenspannen fand in Telgar eine Ratsversammlung mit anschließendem Fest statt, und bei dieser Gelegenheit ließen sich die Felle verkaufen. Von dem Erlös konnte sich Tai dann neue Bücher anschaffen.
»Ist mir recht!«, rief Tai fröhlich zurück, ehe sie in der Duschkabine verschwand.
Langsam fing er an, sein und Tais Reitzeug sowie ihre Packsäcke für den Aufbruch bereit zu machen.
»He, verbrauch nicht das ganze Wasser!«, rief er laut, um das Rauschen und Plätschern der Dusche zu übertönen. Dann entledigte er sich seiner lehmverkrusteten Sandalen. Gründlich säubern konnte er sie in Honshu. Er schlug sie lediglich ein paarmal gegen die Hauswand, um sie von dem gröbsten Schmutz zu befreien.
»Es ist noch genug für dich da. Und warm ist es auch«, versicherte sie. »Kannst du mir bitte mein Handtuch reichen?«
Er öffnete ihren Packsack und nahm das Handtuch sowie saubere Bekleidung heraus.
Sie streckte den Arm aus der Kabine, und er drückte ihr das Handtuch zwischen die Finger. In die Holzwand waren glänzende neue Haken eingeschraubt, und daran hängte er ihre Kleidung. Dann zog er sich aus. Drachenreiter kannten keine falsche Scham, und sie dachten sich nichts dabei, wenn sie einen nackten Körper sahen. Leute, die in einer Burg lebten, waren in dieser Hinsicht viel prüder. F'lessan war froh, endlich aus den verschwitzten, schmutzigen Kleidungsstücken herauszukommen. Als Tai die Dusche verließ, während sie sich noch mit dem Handtuch trocken rubbelte, streifte sie F'lessan nur mit einem flüchtigen Blick. Er ging höflich an ihr vorbei in die Kabine und sah sich nach Seifensand um.
Nachdem er sich kräftig abgeschrubbt hatte, besonders die Füße, spülte er mit klarem Wasser gut nach. Als er sich abgetrocknet hatte, schlenderte er um die Kabine, wo seine sauberen Sachen hingen. Tai, in lederner Reitkleidung, die Jacke noch offen, lehnte an der Hauswand im spärlichen Schatten und betrachtete zufrieden die frisch angepflanzten Bäumchen und Sträucher.
So schnell wie möglich riefen sie ihre Drachen, damit sie abfliegen konnten, ehe ihnen erneut der Schweiß ausbrach.
Als sie über Honshu aus dem Dazwischen auftauchten, bemerkte F'lessan sofort, dass weder auf den Felsenklippen noch auf der Hauptterrasse Drachen saßen.
Gehst du heute auf die Jagd, Golanth?
Ich kann es kaum abwarten, antwortete Golanth, Zaranth im Auge behaltend, die an ihm vorbeiglitt und auf der großen Terrasse landete.
Angesichts des merkwürdigen Beiklangs fragte sich F'lessan, ob er Golanth vielleicht vernachlässigt hatte. Er überlegte, wann sie das letzte Mal auf der Pirsch waren.
Ich werde höchst erfolgreich sein!
Golanth ließ sich viel Zeit mit dem Landeanflug. Beinahe heimlich stahl er sich an Zaranth heran. Tai nahm ihr das Sicherheitsgeschirr ab, das nie benutzt wurde, wenn die Drachen gefressen hatten. F'lessan fand, Zaranths Zustand sei gar nicht zu übersehen. Ihre Haut glänzte nicht nur vor guter Gesundheit. Wieso bemerkte Tai nicht, dass ihr grüner Drache in Hitze kam? F'lessan versuchte sich zu erinnern, welche Drachen heute früh in Honshu gewesen waren. Die meisten hatten sich noch vor Tagesanbruch an ihre jeweiligen Einsatzorte begeben, denn es galt, das Hauptgebäude des Monaco-Weyrs neu aufzubauen.
In einem traditionellen Weyr, wo die Drachen sich auf Felssimsen in der Sonne aalten, wäre Zaranths Paarungsbereitschaft aufgefallen, noch ehe der Grüne richtig in die Brunst kam. Seit der Überflutung hielten sich fremde Drachen in Honshu auf. Gewiss, Drachen wie Reiter kehrten müde von ihren Arbeitsschichten heim. Die Menschen nahmen einen hastigen Imbiss ein und legten sich zu Bett, derweil die Drachen sich einen Platz auf einer der sonnenbeschienenen Terrassen suchten und sich erst wieder vom Fleck rührten, wenn ihre Reiter sie am nächsten Morgen riefen.
F'lessan und Tai waren zum Paradies-Fluss geflogen und von dort aus zu Beninis Anwesen. Ihre Drachen hatten mehrere Stunden lang in der prallen Sonnenglut gelegen. Wärme löste den Paarungstrieb aus. F'lessan fragte sich, ob die anderen Drachen Zaranths Bereitschaft gespürt hatten. Normalerweise wussten die Reiter sehr genau, wann ein grüner wieder so weit war. Die meisten Drachenreiter, die in Honshu eine Unterkunft gefunden hatten, stammten aus dem Monaco-Weyr. Würden sie von allen Seiten herangestürmt kommen, sobald Zaranth zum Paarungsflug aufstieg? Er kannte ihren natürlichen Zyklus nicht, und vielleicht war sie ja schon überfällig. Ihm als Geschwaderführer hätten die Symptome längst ins Auge fallen müssen. Aber Tai hatte sie ja auch übersehen!
Ich habe sie nicht übersehen.
Mit unerwarteter Grobheit ließ sich Golanth auf die Terrasse plumpsen und hätte seinen Reiter um ein Haar abgeworfen. Nur mit Mühe behielt F'lessan die Balance und musste nach dem Absitzen ein paar Schritte rennen, um auf den Füßen zu bleiben. Ob Golanth andere männliche Drachen in der Nähe wahrnahm, die ihm Zaranth streitig machen wollten? Der Bronzene verriet seine Begierde, indem er den geschmeidigen Hals nach unten durchbog, bis sein Kopf die stolz geschwellte Brust berührte. Pures Imponiergehabe! Beunruhigt suchte F'lessan den Himmel nach möglichen Rivalen ab, derweil er das Sicherheitsgeschirr entfernte und achtlos auf die nächste Bank warf. Dann begann er, sich aus seiner Flugmontur zu schälen. Mit gezierten Schritten trippelte Golanth auf Zaranth zu, während seine Augen in erwartungsvoller Vorfreude kreisten.
Tai stand da, das zusammengefaltete Sicherheitsgeschirr über den Arm gehängt, und betrachtete mit beinahe einfältiger Miene ihren Drachen.
»Ich freue mich, dass sie so gut aussieht. Nach der Überschwemmung war ihre Haut ganz stumpf geworden«, meinte sie, als F'lessan sich ihr näherte. »Wie weit entfernt sind die Raubkatzen?«
»So, du findest, sie sieht gut aus?« F'lessan legte eine Pause ein und wunderte sich über ihre Wortwahl. Dann zeigte er in einer theatralischen Geste auf Zaranth. »Beim Ersten Ei, hast du denn keine Augen im Kopf, Tai? Schau sie dir ganz genau an!«
Derweil spielte Zaranth die Kokette und versuchte, Golanth mit aller Macht zu reizen. Die Facettenaugen glühten in einem strahlenden Orangerot, und der schlanke, elegante Hals mit dem mächtigen Kopf pendelte einladend hin und her. Golanth rückte vorsichtig näher, während in seinen Augen eine dunkle Glut zu brennen schien.
Tai schnappte nach Luft. In ihre Augen trat ein so verzweifelter Ausdruck, dass F'lessan sich fragte, was wohl während Zaranths früheren Paarungsflügen passiert sein mochte.
»Aber nur wir beide sind hier!«, schrie Tai und ließ das Reitgeschirr fallen.
Hatte sie sich sicher gefühlt, so lange sie mit ihm, F'lessan, allein war? Doch bis vor kurzem hatte es in Honshu vor anderen Drachen gewimmelt. Und wenn ein grüner Drache in Hitze kam, gab es kein Entrinnen. In einer abwehrenden Geste streckte sie die Hände aus. Natürlich, dachte F'lessan ergrimmt, jedes Mal, wenn Zaranth brünstig wurde, war jeder blaue, braune und liebeslustige bronzene Drache aufgetaucht. Deren Reiter hatten Tai eingekreist und abgewartet, wer Zaranth erobern würde. Er schloss die Augen. Er wusste nur allzu gut, wie stark sich der Sexualtrieb auswirkte. Trotzdem durfte die grüne Reiterin sich ihren Partner selbst wählen.
»Tai, hattest du nie die freie Wahl?«, fragte er und rückte näher an sie heran. Dann blieb er stehen. Auf gar keinen Fall durfte er sie bedrängen. Das hatten die anderen getan. Wie viel Zeit brauchte sie, um ihre Ängste und Vorurteile abzubauen? Und wie konnte er ihr Vertrauen gewinnen?
Sie zitterte heftig. Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber nicht als Reaktion auf die Sinnenfreuden ihres Drachen, sondern vor Panik. Sie schien sich in sich selbst zurückzuziehen, verdrängen zu wollen, was in diesem Moment geschah. Splitter und Scherben! Hatten andere Reiter sie vergewaltigt, während ihre Drachen sich miteinander paarten? Er versuchte sich zu erinnern, welche Reiter im Monaco-Weyr wohnten.
Tai wich vor ihm zurück, nervös nach einem Fluchtweg suchend.
»Sie waren alle gleich«, murmelte sie. »Ich konnte mich nicht wehren.« Sie schluckte und befeuchtete ihre spröden Lippen. Vor Abscheu war ihr Gesicht kreidebleich, und in den grünen Augen flackerte Furcht.
»Tai, haben sie dich gezwungen? Konntest du dir deinen Partner nicht wählen?«, fragte er leise. Er war entsetzt. Der Liebesakt sollte ein wundervolles Erlebnis sein, eine zweifache Ekstase, da sowohl die Drachen wie auch deren Reiter gemeinsam den sexuellen Höhepunkt erlebten. Er glaubte, er habe seine früheren Partnerinnen nicht enttäuscht. Und die Königinreiterinnen hatten nicht lange gefackelt, sondern von sich aus die Initiative ergriffen und ihn gewählt. Doch die schreckliche Angst, die Tai nun empfand, ließ nur den Schluss zu, dass man ihr jedes Mal den Geschlechtsakt aufgezwungen hatte. »Man hat dir ein großes Unrecht zugefügt, Tai. Es sollte für dich und deinen Drachen ein Freudenfest sein, keine Demütigung.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Wie oft mochte sich Zaranth bereits gepaart haben? Und wie oft hatte ein Reiter Tai genötigt? Die Mädchen, die in Festungen und Ansiedlungen lebten, wurden nicht selten das Opfer einer Vergewaltigung. Dies war einer der Gründe, warum viele junge Frauen in einem Weyr Zuflucht suchten. Drachenreiter waren als feurige, aber rücksichtsvolle Liebhaber bekannt. Lediglich dann, wenn ihr Drache in Paarungsstimmung geriet, ging der Trieb mit ihnen durch.
Und ohne sich etwas darauf einzubilden, wusste F'lessan, dass er bei den Frauen einen guten Ruf genoss. Hatte Tai ihn deshalb zu Anfang mit einem gewissen Argwohn betrachtet? Bis jetzt hatte er sie für schüchtern und reserviert gehalten, nun jedoch kannte er den Grund für ihre ablehnende Einstellung. Er nahm sich vor, mit Mirrim ein Wörtchen zu reden - aber erst später. Im Augenblick kam es darauf an, Tai zu beruhigen.
Mit dem schmetternden Trompetenton eines liebesdurstigen grünen Drachen forderte Zaranth Golanth heraus, ihr zu folgen, und stieß sich schwungvoll vom Boden ab. Im Gegensatz zu den Königinnen, die das Blut eines frisch geschlagenen Tieres brauchten, um Kräfte für den anstrengenden Paarungsflug zu sammeln, brauchten die Grünen keine Stärkung, wenn ihre Brunst begann. Ohne zu zögern nahm Golanth die Verfolgung auf, und sein Antwortgebrüll hallte den beiden Reitern in den Ohren nach.
Tai stieß einen wimmernden Schrei aus und reckte hilflos die Arme in die Höhe, wie wenn sie ihren Grünen zurückhalten wollte.
»Tai, hör mir gut zu«, redete F'lessan freundlich auf sie ein. »Ich will dir erklären, wie es sein sollte.« Behutsam streckte er eine Hand nach ihr aus, doch sie prallte erschrocken zurück.
»Tai, meine liebe Freundin, wenn es möglich wäre, hätte ich es zu verhindern versucht und dir Zeit gelassen, dich auf alles vorzubereiten. Doch jetzt ist es zu spät, Zaranth ist ganz verrückt nach Golanth.«
»Wie kann sie verrückt nach ihm sein, wenn du mich kalt lässt? Ich will dich nicht. Jedenfalls nicht auf diese Weise.«
Dieses Zugeständnis machte ihm indessen ein wenig Mut. F'lessan dachte krampfhaft nach, wie er diese verzwickte Situation zu einem guten Ende bringen konnte. Schon sehr bald würde sich der sexuelle Rausch, die Euphorie der Drachen, auf die Reiter übertragen. Und aus dieser Bindung konnte sich niemand befreien. Er musste Tai, die Frau, erreichen, bevor sie sich in die Drachenreiterin verwandelte, deren Geist von den Gefühlen ihrer kopulierenden Gefährtin beherrscht wurde.
»Wie du siehst, begehrt Zaranth meinen Golanth. Sie hat ihn soeben zum Paarungsflug aufgefordert«, erwiderte er sanft. »Und er nahm die Herausforderung mit Freuden an. Denn er bewundert Zaranth, so wie ich dich bewundere, Tai.«
Sie blinzelte verdutzt.
In F'lessans Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die Zeit drängte. Wenn er sich ihr nicht verständlich machen konnte, würde sie niemals begreifen, dass es keine Vergewaltigung sein musste, wenn die menschlichen Partner der Drachen sich von der leidenschaftlichen Stimmung einfangen ließen.
»Sei ehrlich, Tai«, fuhr er fort, »habe ich dich jemals beleidigt? Jemals belästigt?« Sie schüttelte den Kopf und schien verwirrt zu sein, jetzt, da sich die Ekstase ihres Drachen steigerte und sie von dem Sog der Leidenschaft mitgerissen wurde. »Lass mich dieses eine Mal nicht nur dein Freund sein, Tai, sondern auch dein Liebhaber. Fordere mich zum Liebesakt auf, Tai, so wie dein Drache den meinen bezirzt hat. Weise mich nicht ab.«
»Mir bleibt keine Wahl«, jammerte sie. Ihr Widerstand schien zu zerbröckeln.
»Tai, mein Liebling«, flehte er. Er tat so, als wolle er sie in die Arme schließen, hütete sich jedoch, sie zu berühren. Sie stand nahe am Rand der Felsenterrasse. Und zu seinem Erstaunen merkte er plötzlich, wie viel ihm dieses Mädchen bedeutete. Es lag nicht nur daran, dass Golanth Besitz von seinem Geist und seinen Trieben ergriff. F'lessan, der immer noch seinen eigenen Willen besaß, sehnte sich danach, Tai an seine Brust zu ziehen und sie zu lieben. »Bitte, Tai, stoße mich nicht zurück. Entscheide dich für mich.«
Ob es dann Tai war, die langsam die Arme nach ihrem Freund ausstreckte, oder die Drachenreiterin, die ganz im Banne ihrer kreatürlichen Partnerin stand, wusste er nicht, doch sie kam ihm entgegen. Hatte sie ihn aus freien Stücken erwählt, oder weil die überbordende Lust ihres Drachen ihr diesen Entschluss aufzwang? War sie in diesem Augenblick noch Mensch genug, um eine Wahl zu treffen?
»Bitte, Tai, komm mit mir«, flüsterte er. Sie behutsam bei der Hand haltend, führte er sie zur nächsten Tür. »Wir müssen hineingehen, meine Freundin.«
Er vermied alles, das ihre Ängste hätte entfachen können. Leicht legte er ihr einen Arm um die Schultern, da er immer noch fürchtete, sie könnte ihm im letzten Moment weglaufen. Ihr Blick war starr und verschleiert. Sie wusste nicht, dass der Abgrund nur wenige Schritte entfernt lag, sollte sie in Panik geraten und davonstürmen.
Während er ihr beruhigende Worte ins Ohr flüsterte, bugsierte er sie in die Weyr-Festung hinein. Leise schloss er hinter ihnen die Tür. Ihre Finger ruhten schlaff in seiner Hand, der Blick wurde glasig. Sie näherte sich der Trance, in der die Reiter verfielen, wenn ihre Drachen sich paarten. Ehe sie völlig in Zaranths Sinnenrausch eintauchte, wollte er für sie beide ein Ruhelager gefunden haben. Offenbar hatte niemand Tai aufgeklärt, was sie beim Paarungsflug ihres Drachen zu erwarten hatte. Ihre Reserviertheit hätte ihm als Warnung dienen sollen, und er verwünschte sich, weil er sich keine Gedanken über ihre unnatürliche Scheu gemacht hatte.
Jählings erstarrte Tai. Er schaute ihr in die Augen. Im Halbdunkel des Felsenkorridors hatten sich die Pupillen stark geweitet. Ihre Finger umklammerten seine Hand.
»Ich fühle mich geehrt, dass du mich zu deinem Partner erwählt hast, Tai«, wisperte er. »Und nun versuche dich zu entspannen. Bleib ganz ruhig. Ich helfe dir.«
Er führte sie in ein Schlafzimmer, derweil Golanths sich steigernde sexuelle Begierde von ihm Besitz ergriff. Doch ihm war klar, dass er seine Triebe beherrschen und so lange ein Mensch bleiben musste, wie es ging. Und genau das fiel ihm schwer. Er konnte Tai nicht einfach auf ein Bett werfen und sie nehmen.
Behutsam schloss er sie in die Arme. Er küsste ihre Stirn und zog sie immer enger an sich. Wenn sie nicht völlig unter Zaranths Einfluss stand, musste sie doch spüren … aber war sie überhaupt jemals zärtlich geküsst worden? Seine Lippen wanderten suchend über ihren Mund. Er hoffte, dass sie noch genug Mensch war, um die Liebkosung wahrzunehmen. Doch er hatte nicht damit gerechnet, wie schnell diese sanften Küsse umschlugen in eine lodernde Fackel der Leidenschaft. Tai begann heftig zu zittern, und unwillkürlich festigte er seinen Griff.
»Du hast mich erwählt, Tai. Du hast mich erwählt«, rief er, doch ihr Körper versteifte sich in seinen Armen. Während er sie sachte hin und her wiegte und sie mit Küssen verwöhnte, spürte er, wie der menschliche Teil aus Tai wich und der Raserei ihres Drachen Platz machte.
Und mit einem Schlag verwandelte er sich in Golanth.
***
Sie hatte einen guten Start erwischt, an Höhe gewonnen, und war dann seitwärts ausgewichen. Mit kräftigen Schwingenschlägen versuchte sie, ihm zu entkommen. Für einen Grünen war sie groß, und das gefiel ihm. Außerdem waren ihm die Grünen lieber als die Goldenen. Die Goldenen taten immer so, als erwiesen sie jedem Bronzenen, mit dem sie sich paarten, einen Gefallen.
Die Grünen hingegen waren dankbar. Und viel liebeshungriger als die Königinnen. Vielleicht, weil sie sich öfter paarten. Sie entzog sich ihm, indem sie für kurze Zeit in einen Sturzflug ging, und er folgte ihr ohne Hast. Sollte sie ruhig eine Weile Kapriolen schlagen und ihre Kräfte verausgaben. Er konnte warten. Und er würde warten. Sie war es ihm wert.
Behutsam hatte er sie umworben, ohne ihr seine Gesellschaft aufzudrängen, doch den anderen hatte er unmissverständlich klar gemacht, dass er Ansprüche auf sie erhob. Schließlich war er Golanth! Vom Benden-Weyr! Mnementh hatte ihn gezeugt, und Ramoth ihn ausgebrütet. Diesem stolzen Paar wollte er sich würdig erweisen.
Sie legte die Schwingen eng an ihren Leib und vollführte akrobatische Luftmanöver. In steilem Winkel sauste sie nach unten. Er nahm die Verfolgung auf. Wusste sie, wie nahe sie dem Boden kam? Und ob sie es wusste! Elegant sauste sie wieder in die Höhe, den Kopf den Wolken entgegenreckend, die von einem launischen Wind gepeitscht die Kuppen der niedrigen Vorberge streiften.
Sie spielte mit ihm. Rasch sah er sich um, ob sich weitere Rivalen an der trunkenen Liebesjagd beteiligten, dann hetzte er ihr pfeilgeschwind hinterher. Die Sonne, die immer wieder das wirbelnde Gewölk durchbrach, spiegelte sich blitzend auf ihrer Haut.
Sich um eine Schwingenspitze drehend, vollführte sie eine Wendung. Doch er kannte die Lüfte über Honshu besser als sie, wusste, wo die Thermik ihm Auftrieb gab und kopierte das Manöver. Falls sie glaubte, sie könnte ihn unendlich lange hinhalten, würde sie bald eines Besseren belehrt.
Sie durchstieß die lockere Wolkendecke, strebte der sich ausdünnenden Atmosphäre zu und sackte dann in trudelnden Bewegungen nach unten. Mühelos vermochte er ihr zu folgen. Dann schoss sie in einer geraden Linie nach vorn, wobei sie ihren Leib langsam hin und her drehte, wie wenn sie sich vom Luftstrom streicheln lassen wollte. Sie zog alle Register ihres fliegerischen Könnens, sauste in die Höhe, stürzte wie ein Geschoss hinunter, schlug tollkühne Haken in der Luft. Noch nie hatte er so viel Kraft gepaart mit Anmut bei einem Grünen gesehen. Oh ja, sie war eine höchst lohnende Trophäe. Wie sehr er sie liebte! Und ihn hatte sie auserwählt!
Wieder trachtete sie danach, sich in den aufgewühlten Wolken zu verstecken, doch ihre glühenden Augen verrieten sie. Aus Übermut ließ sie ihn ganz dicht zu sich aufschließen, um ihm in letzter Sekunde zu entwischen. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung rückte er nach, bekam sie zu fassen und vollzog die Vereinigung. Die ineinander verflochtenen Schwingen schlugen im Gleichklang. In völliger Harmonie, eng miteinander verknüpft, flogen sie dahin. Und weil er ein Bronzener war, konnten sie ihre Lust eine lange Zeit ausdehnen. In Verzückung, ganz dem Rausch der Begierde ergeben, glitten sie über das große Binnenmeer, wo der laue Wind ihre glänzenden Leiber liebkoste.
***
F'lessan war wieder er selbst, und Tais Ekstase war verflogen. Beide keuchten vor Anstrengung, denn dieser köstliche, herrlich ausgedehnte Flug hatte an ihren Kräften gezehrt. Trotz seiner Erschöpfung fühlte er sich als Sieger. Die Befriedigung war vollkommen. Sie lag reglos unter ihm, die Augen geschlossen, den Kopf zur Seite gedreht, das Gesicht unter den verschwitzten Locken verborgen. Ihm fehlte die Kraft - und, um ehrlich zu sein, auch der Wunsch - sie freizugeben, ihren Körper zu verlassen. Doch aus Rücksicht auf sie rollte er sich auf die Seite. Er hatte sich mit vielen Frauen vergnügt, doch diese Vereinigung war anders. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können, dabei brüstete er sich, in jeder Situation die passenden Worte zu finden.
»Ach, Tai, du hast mich erwählt«, seufzte er. Den Kopf in eine Hand gestützt, blickte er auf sie hinab, wobei er beinahe so etwas wie Ehrfurcht empfand. »Du hast es wirklich getan.«
Seine Bemerkung überraschte ihn nicht weniger als sie. Sie drehte leicht den Kopf, und an ihren Augen erkannte er, dass sie wieder voll und ganz ein Mensch war. Ihre Lippen waren von seinen Küsse geschwollen, und in ihren Augen schimmerten Tränen.
»Bitte, sag, dass du es freiwillig getan hast.« Der Mensch in ihm verlangte nach einer Bestätigung, doch gleichzeitig wusste er, dass ihre Verschmelzung - selbst für einen durch Drachen initiierten Akt - unglaublich intensiv gewesen war. So etwas passierte nur, wenn beide Partner es wollten. Hätte Tai auch nur den geringsten Abscheu gegen ihn gehabt, würde er sich jetzt nicht so glücklich und zufrieden fühlen.
»Ich wusste gar nicht, dass es so schön sein kann«, gab sie leise zu und wandte verlegen das Gesicht ab.
»Mein Liebling«, sagte er und streichelte zärtlich ihr Gesicht. »Es sollte ein wundervolles emotionales und sexuelles Erlebnis sein. Wir wissen genau, was unsere Drachen empfinden, und unsere Gefühle spiegeln sich in ihnen wieder. Wenn gewöhnliche Menschen sich lieben, ist es eine beglückende Erfahrung. Doch wir Drachenreiter erleben alles doppelt intensiv.« Er legte eine kleine Pause ein, ehe er fortfuhr: »Das hättest du schon viel früher durchleben können, Tai. Ich bin entsetzt, wie man dich behandelt hat. Kein Drachenreiter darf eine Frau mit Gewalt nehmen, selbst dann nicht, wenn seine Gefühle von seinem Drachen beherrscht werden.«
Sie legte ihre Hand an seine Wange und lächelte. »Ich bin ja so froh, dass ich dich erwählt habe. Du kennst mich gut, und ich danke dir für alles.«
»Deine Dankbarkeit ist mir einen Schlangenschiss wert«, versetzte er hitzig. Er zog sie in seine Arme und hätte sie am liebsten noch einmal geliebt, doch dieses Mal mit rein menschlicher Lust. »Ich will nicht Dankbarkeit von dir, Tai.« Er lockerte seinen Griff, als er spürte, dass sie sich verkrampfte. Dann sah er ihr in die Augen. »Du gefielst mir schon bei unserer ersten Begegnung im Archiv. Aber als du durchblicken ließest, dass du mich kanntest, hegte ich den Verdacht, dass Mirrim dich gegen mich aufgehetzt hat. Wahrscheinlich behauptete sie, ich sei wild und rücksichtslos. Doch das bin ich nicht. Ich halte mich für einen guten Geschwaderführer, und die Reiter vertrauen mir. Mir kam es darauf an, dass du mich aus freien Stücken zu deinem Partner erwähltest, Tai. Unsere Verbindung sollte ohne äußeren Zwang geschehen, und nicht, weil deine Zaranth in Hitze kam und mein Golanth der einzige Drache war, der sich in ihrer Nähe befand.«
Eine geraume Zeit lang blickte sie ihn an. Dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter.
»Wie hast du diese Situation gedeichselt?«, fragte sie zaghaft.
»Wie ich …?« Verdutzt brach er ab. Sie meinte wohl, wie er es bewerkstelligt hätte, dass Zaranth Golanth herausforderte. »Bitte glaube mir, nicht einmal ich habe Einfluss auf den Zyklus eines grünen Drachen.« Er lachte. »Zaranth hat sich halt in meinen Golanth verguckt und ihn dann nach allen Regeln der Kunst verführt.«
Doch dann wurde er nachdenklich. Drachen konnten sehr raffiniert sein.
»Gab es im Monaco-Weyr denn gar keinen Drachen, den Zaranth bevorzugte?«, erkundigte er sich. »Hat Mirrim dir nicht gesagt, du solltest dir einen passenden Partner aussuchen und Zaranth deine Wahl mitteilen?«
Sie wich seinem Blick aus. »Mirrim darfst du keine Vorwürfe machen, F'lessan. Sie erwähnte etwas in der Art. Aber ich fand keinen Reiter, der mir gefiel.«
»Es musste ja nicht unbedingt jemand aus dem Monaco-Weyr sein.«
»Jetzt bist du wieder böse auf mich.« Ohne sich zu rühren, lag sie neben ihm.
»Wann war ich denn schon einmal böse auf dich?«, fragte er verwundert.
»Als du von Fort zurückkamst.«
Er blinzelte.
»Als du mich beim Schwimmen erwischt hast, nachdem ich … nachdem ich …«
»Nachdem du dir Verletzungen zugezogen hattest.« Als er an die Vandalen dachte, überkam ihn von neuem Wut.
»Siehst du, du bist böse auf mich.«
»Nein, das stimmt nicht.« Plötzlich bemerkte er, dass sie lächelte. Ihr Körper hatte sich wieder entspannt, und ihre Hände lagen locker auf seinem Rücken. »Dir habe ich nichts vorzuwerfen, Tai, aber ich bin wütend auf jeden, der dir wehgetan hat.«
»Ich muss erst noch lernen, deine Stimmungen richtig zu deuten.«
»Willst du das wirklich, mein Liebling?«, flüsterte er liebevoll.
»Ob ich was will?«
»Lernen, mich zu verstehen. Ich für meinen Teil möchte dich gern näher kennen lernen.« Er drückte einen sanften Kuss auf ihren Mund und spürte, wie ihre Lippen unter der Berührung zuckten. Dann drückte er ihr Gesicht an seine Brust.
»In dieser Position ruhen unsere Drachen jetzt«, murmelte sie.
Er streichelte ihr Haar und legte seine Wange auf ihr Haupt. »Ja, ich weiß. Sie haben es sich auf dem Felssims bequem gemacht. Gleich schlafen sie ein.«
»So wie wir?«
»So wie wir.« Ihm gefiel die Vorstellung, mit Tai in seinen Armen einzuschlummern.
Ich sagte doch, meine Jagd würde höchst erfolgreich verlaufen, mischte sich Golanths Stimme in seine Gedanken. Hatte sein Drache diese Verbindung eingefädelt? Weil er F'lessans geheimste Wünsche kannte?
Harfnerhalle - 1.28.31
»Du wolltest mit mir sprechen?«
Sebell fuhr zusammen. Pinch hatte die Tür so leise geöffnet und wieder geschlossen, dass der Meisterharfner es nicht hörte.
»Du lässt doch nicht etwa nach?«, fragte Pinch schmunzelnd. Früher hätte er Sebell nicht überraschen können.
»Hauptsache, du bleibst auf der Höhe, Pinch«, entgegnete Sebell und schob ein Blatt Papier über den Tisch. Er bedeutete Pinch, den Text zu lesen. »Die Nachricht stammt von dem Harfner, der in Crom tätig ist.«
»Serubil? Ein sehr vernünftiger Mann. Kennt unendlich viele Verse dieses fürchterlichen Liedes ›Hinunter, hinunter in den Schacht.‹« Pinch schüttelte sich demonstrativ und nahm die Notiz in die Hand. Mit leicht zusammengekniffenen Augen überflog er sie. »Serubil glaubt also, dem Kerl sei die Flucht geglückt. Denn obwohl die Fährtensucher sorgfältig vorgingen, wurde seine Leiche nie gefunden. Vermutlich hat sich der Typ irgendwo ein Boot organisiert, hat sich einfach den Fluss hinabtreiben lassen und ist schließlich in der Tiefebene gelandet.«
»Lies weiter.«
»Aha, das ist ja interessant. Dem Gefangenen fehlt ein Fingerglied. Aber er hat keine Narbe im Gesicht.« Pinch seufzte. »Tja, die Verletzung könnte er sich auf der Flucht oder bei einer der Attacken gegen eine Halle zugezogen haben.« Pinch hockte sich auf die Schreibtischkante. »Hat jeder Harfner eine der von mir angefertigten Skizze erhalten?«
»So war es geplant.«
»Nun denn.« Pinch fuhr fort zu lesen. »Der Gefangene - hat der Mann denn gar keinen Namen? - wurde wegen des Angriffs auf das Akki lebenslänglich in die Gruben von Crom verbannt. Das gleiche Urteil erging an seine Komplizen.«
»Während ich hier auf dich wartete«, erklärte Sebell, »ging ich noch einmal Meister Robintons Bericht über diesen Vorfall durch.«
Sebell öffnete das Dossier an der Stelle, die er vorher mit einem Lesezeichen markiert hatte. »Das Akki reagierte auf den Angriff mit einem so genannten ›akustischen Sperrfeuer‹ - einem Schallbombardement, das die Eindringlinge bewusstlos machte. Laut Akki bestand die Möglichkeit eines dauerhaften Gehörschadens. Als wir unsere Verwunderung über diese Verteidigungsmaßnahme äußerten, entgegnete das Akki - und jetzt zitiere ich: ›Die Speicher enthalten immerhin wirtschaftlich und politisch wertvolle Informationen, die auch für politische Gegner attraktiv sein könnten. Unbefugtem Zugriff und/oder zerstörerischen Aktionen muss demzufolge wirksam begegnet werden, was von jeher eine Sekundärfunktion jeder Akki-Anlage ist.‹«
Sebell blickte von dem Dossier hoch, um Pinch ins Auge zu fassen.
»Nun ja.« Pinch kratzte sich am Hinterkopf. »›Laut Akki bestand die Möglichkeit eines dauerhaften Gehörschadens.‹ Und hier schreibt Serubil, der geflüchtete Gefangene sei taub gewesen. Ob sich sein Zustand im Lauf der Zeit gebessert hat? Vielleicht konnte er irgendwann einmal wieder hören. Falls er eine Flucht plante, hütete er sich natürlich, dies jemandem zu erzählen und mimte weiter den Gehörlosen.«
»Im nächsten Absatz weist Serubil ausdrücklich darauf hin, dass der Mann bereits früher versucht hatte zu fliehen. Aber …« - Sebell hob den Finger - »weder er noch seine Spießgesellen verrieten je ihre Namen.«
»Wenn sie taub waren, konnten sie ja nicht mal hören, wenn jemand sie nach Namen und Herkunft fragte«, warf Pinch ein.
Sebell schnitt eine Grimasse. »Es gibt immer Wege, sich verständlich zu machen. Notfalls durch Zeichensprache.« Er klopfte mit der Faust gegen seine Brust. »Sebell. Und du?« Er riss die Augen auf, schaute fragend drein und zeigte auf Pinch.
»Wenn ich dabei ertappt worden wäre, wie ich versuchte, das Akki zu zerstören, würde ich meinen Namen auch niemandem nennen.«
»Verständlich. Aber …« - Sebell schielte auf das Blatt Papier, das Pinch in der Hand hielt, fand die gesuchte Textstelle und tippte mit dem Finger darauf - »obwohl die Männer nichts bei sich trugen, was ihrer Identifizierung gedient hätte, kann man getrost davon ausgehen, dass einer von ihnen ein Glasbläser war. Darauf deuten die typischen Schwielen an den Händen und die Verbrennungsnarben an den Unterarmen hin.« Herausfordernd sah er Pinch an.
»Meister Norist galt als entschiedener Gegner des Akki und verschmähte jede Modernisierung. Weil er an Meister Robintons Entführung beteiligt war, schickte man ihn in die Verbannung.« Ein Schatten huschte über Pinchs Gesicht, als er an den beliebten, hoch geschätzten Meisterharfner dachte.
»Drei von Meister Norists Söhnen arbeiteten als Gesellen in der Glasmacherhalle. Alle standen unter seiner Fuchtel.«
Pinch dachte darüber nach. »Nach dreizehn Planetenumläufen in einer Mine dürften die für Glasbläser typischen Schwielen verschwunden sein, aber Narben, die von Verbrennungen herrühren, bleiben.« Er legte den Kopf schräg. »Ich denke, ich sollte Serubil eine Skizze unseres Freundes bringen und ein paar der Gefangenenaufseher befragen.«
»Vielleicht weiß jemand, ob er das Gehör wiedererlangt hat.«
Pinch schnaubte durch die Nase. »Wenn er tatsächlich Komplotte gegen Zunfthallen geschmiedet hat, muss er wohl hören und sprechen können.«
»Wenn du schon mal in Crom bist, Pinch, versuche herauszufinden, wie viel Zeit verging, bis man die Verfolgung des Flüchtlings aufnahm. Wie ich hörte, zahlte die Schmiedehalle zwanzig Marken für diesen Meteoriten.«
Pinch pfiff anerkennend durch die Zähne. »Kein Wunder, dass die Brocken, die unlängst vom Himmel fielen, für so viel Wirbel sorgten.«
Sebell schürzte ärgerlich die Lippen. »Was immer so ein Brocken wert sein mag, der Schaden, den sie anrichten, lässt sich auch mit noch so vielen Marken nicht wieder gutmachen.«
»Findest du?«
Sebell warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Der Meteorit, der in der Ebene von Keroon niederging, hat bei den Bergbewohnern große Ängste ausgelöst. Sie sind fest davon überzeugt, dass der nächste Feuerball bei ihnen einschlagen wird. Und sie fordern die Drachenreiter auf, den Brocken zu zerstören, ehe er fällt und die Weidegründe für ihr Vieh verbrennt.«
»Stimmt es, dass in der Siedlung am Paradiesfluss ein Stein das Dach eines Hauses durchschlug?«
»Ja. Niemand wurde verletzt, und Jayge verkaufte ihn für fünfzehn Marken an die Schmiedezunft. Jayge sagte, die Delfine hätten gesehen, wie mehrere glühende Steine ins Meer stürzten, und nun wollten sie tauchen, um sie aus dem Wasser zu bergen.« Sebells säuerliche Miene verriet, dass er so viel Geldgier nicht billigte.
Pinch zuckte gleichgültig die Achseln. »Die meisten Meteoriten fallen ohnehin ins Meer, weil Pern von mehr Wasser als von Land bedeckt ist.«
»Darauf kommt es nicht an. Die Leute haben Angst. Selbst die, die es besser wissen müssten, verlangen von den Weyrn, Patrouillenreiter auszuschicken, die verhindern, dass feurige Objekte vom Himmel fallen.«
Pinch stieß ein bellendes Lachen aus. »Drachen sind zwar sehr flink, aber nicht so schnell wie ein Meteorit. Selbst wenn sie wollten, könnten sie gegen diese glühenden Brocken nichts ausrichten.«
»Ich weiß, ich weiß«, seufzte Sebell angewidert.
»Und nun …« - Pinch wedelte mit Serubils Brief - »flitze ich los und mache mich nützlich. Auf in die Minen von Crom.«
»Ich habe N'ton bereits gebeten, dich hinzubringen. Schnapp dir die Skizze von dem Kerl und zieh dir was Warmes an.«
»Gut. Bista liebt einen Drachenritt über alles.« Pinch faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in eine Tasche. »Ich bin bald wieder zurück.«
»Hoffentlich!«
***
Am späten Abend suchte Pinch Sebell abermals auf. Dieses Mal klopfte er höflich an und brachte gleich ein Tablett mit einer Kanne Klah, Bechern und süßen Keksen mit.
»Ich komme nicht mit leeren Händen«, erklärte er und stellte das Tablett auf den Schreibtisch. Ein flüchtiger Blick verriet ihm, dass Sebell mit seiner Arbeit nicht weit vorangekommen war. »Hast du diese Bittschriften überhaupt nicht angerührt?«
»Ich habe sie nur vorsortiert. Was gibt's Neues?«
Pinch schenkte für sie beide Klah ein und hockte sich dann wieder auf die Schreibtischkante.
»Als der Gefangene flüchtete, hatte er noch keine Narbe im Gesicht, so viel steht fest. Die Spitze des Zeigefingers der linken Hand verlor er bei einem Grubenunfall. Er startete mehrere Fluchtversuche, die samt und sonders ohne viel Mühe vereitelt wurden. Seine Verfolger gingen davon aus, dass er sie nicht hören konnte, deshalb nahmen sie sich auch so viel Zeit, ehe sie ihm das letzte Mal nachsetzten.«
»Wann fanden die früheren Fluchtversuche statt?«
Pinch studierte seine Notizen, die er auf den Rand von Serubils Brief gekritzelt hatte. »In den ersten beiden Planetenumläufen …« Seine Augen weiteten sich, und er gelangte zu demselben Schluss wie Sebell.
»Also wartete er ab, bis er wieder hören konnte. Dann nutzte er die erstbeste Gelegenheit«, sinnierte Pinch.
»Er brauchte sich nur zu gedulden und einen günstigen Zeitpunkt abzupassen«, ergänzte Sebell.
»Einen besseren Zeitpunkt als einen Meteoriteneinschlag in die Gefangenenquartiere von Crom konnte es gar nicht geben!« Pinch sprang auf die Füße. »Ein Teil der Mauern lag in Trümmern, und es herrschte Chaos.«
»Hast du etwas über seinen Namen in Erfahrung gebracht?«
»Alle nannten ihn nur ›Glas‹, wegen dieser charakteristischen Schwielen, die beim Hantieren mit einer Glasmacherpfeife entstehen.«
»Er könnte also einer von Norists ehemaligen Gesellen sein?«
»Das halte ich für sehr wahrscheinlich.«
»Dann hätte er also einen triftigen Grund, um das Akki zu hassen. Norist nannte es nur das ›Monstrum‹. Es gibt genug Indizien, die darauf hinweisen, dass der entflohene Sträfling der neue Anführer der Reaktionäre ist.«
»Der Mann mit der Bezeichnung Nummer Fünf«, warf Pinch ein. Seufzend ließ er sich wieder auf der Tischplatte nieder. »Jetzt brauchen wir ihn nur noch aufzuspüren und ihn zu befragen.«
»Vielleicht wäre es besser, zuerst festzustellen, was er und seine Komplizen als Nächstes planen«, schlug Sebell mit finsterer Miene vor.
Pinch sah seinen Meister eine Weile nachdenklich an. Mit aufgesetzter Fröhlichkeit fragte er schließlich: »Weißt du eigentlich, dass M'rand und Pilgra sich in Cathay zur Ruhe setzen?«
»Ich habe davon gehört«, gab Sebell zu. »Und ich muss gestehen, dass ich mich über ihren Entschluss freue. Sie verdienen es, sich endlich ausruhen zu dürfen - lange genug haben sie gegen die Fäden gekämpft - und die neuen Weyr-Führer werden frischen Wind in das Ganze bringen. Sie bilden ein gesundes Gegengewicht zu dem alten G'dened, der so konservativ eingestellt ist, dass man sich fragt, woher er den Mut nahm, als er vor einer halben Ewigkeit einen Zeitsprung in die Zukunft machte.«
Festung Honshu - 2.1.31
F'lessan und Tai meldeten sich in ihren Weyrn, wenn sie zur Fädenbekämpfung eingesetzt wurden, doch F'lessan hielt sich nur noch selten in Benden auf. Die meiste Zeit verbrachte er in Honshu mit Instandsetzungsarbeiten. Fast alle Drachenreiter des Monaco-Weyrs waren in ihre heimatlichen Gefilde zurückgekehrt, doch am liebsten weilte Tai in Honshu - bei F'lessan. Mittlerweile erzählte sie ihm mehr über ihre Kindheit in Keroon, ihre Ausbildung bei Meister Samvel, ihre Arbeit in Landing und ihre Lehre bei Meister Wansor und Erragon. In klaren Nächten beobachteten sie den Himmel und versuchten, die Sterne am südlichen Firmament zu bestimmen.
»Ich habe mich oft gefragt, wieso es in den Catherine-Höhlen noch vier weitere Teleskope gibt«, sinnierte F'lessan eines Nachts, als er und Tai auf einer Matratze auf der Terrasse lagen.
»Ich hatte gar keine Ahnung, dass du das weißt«, wunderte sie sich. Sie senkte das Fernglas und sah F'lessan an.
Er lächelte. »Du darfst nicht vergessen, dass ich mich beinahe von Anfang an in Landing aufhielt und jede Gelegenheit nutzte, um in den Höhlen herumzustöbern. In meiner Phantasie stellte ich mir vor, dass in den dort gelagerten Kisten die herrlichsten Schätze aufbewahrt wurden - bis ich lernte, die Strichcodes auf den Etiketten zu lesen.« Einen Augenblick lang schwieg er. »Aber es gibt da etwas, das mich genauso fasziniert. Ich möchte zu gern wissen, auf welche Weise Zaranth die Wanderkäfer von ihrem Weg ablenkt. Und wie hat sie es geschafft, deine Pelze zu retten? Mirrim hat sich ja fürchterlich aufgeregt, weil sie dir unterstellte, wegen der Felle hättest du deine Pflichten als Drachenreiterin vernachlässigt.«
Hastig fuhr er fort: »Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Zaranth die Pelze herholte, aber wie hat sie das gemacht?«
Tai zuckte lässig die Achseln. »Ich weiß nur, dass sie die Pelze bergen konnte. Das muss passiert sein, bevor der erste Tsunami Monaco überrollte. Ich war zu Tode erschöpft. T'lion ließ uns ständig Zeitsprünge unternehmen, und das kostet Kraft.«
Er küsste sie auf den Mund. »Hast du Zaranth denn nicht gefragt, wie sie es bewerkstelligt hat?«
»Nein.«
»Könnten wir sie denn jetzt fragen?«
»Ich glaube, sie weiß selbst nicht, was genau geschehen ist. Aber ich werde ihr die Frage stellen.« Ihre Augen nahmen einen verschleierten Blick an, als sie mit ihrem Drachen sprach. Dann blinzelte sie verdutzt und lachte. »Sie sagt, sie hätte gewusst, dass ich die Pelze unbedingt haben wollte, und deshalb hätte sie sie mir gebracht.«
Aus dieser Antwort wurde F'lessan auch nicht klüger.
»Nun ja, weiß sie denn, auf welche Weise sie die Wanderkäfer bewegt hat? Damals auf dem Benini Anwesen?«
»Ach«, erwiderte Tai obenhin, »das macht sie mit allen Käfern, die ihr zu nahe kommen. Sie lenkt sie einfach in eine andere Richtung.«
»Aber wie?«
Tai schloss die Augen und nahm abermals Kontakt mit Zaranth auf. »Sie behauptet, sie hätte bereits die Tunnelschlangen abgelenkt, damit sie nicht in meinen Weyr krochen.«
»Könnte sie uns diesen Trick vorführen? Jetzt gleich?«
»Hier gibt es nicht viele Wanderkäfer, und die Schlangen haben sich längst in ihre Gänge zurückgezogen.«
F'lessan setzte sich aufrecht hin und blickte in die Runde. »Bitte sie, diese Bank dort hinten zu verrücken. An diese Stelle.« Er klopfte auf den nackten Fels neben der Matratze.
»Die Bank stellt keinerlei Bedrohung dar. Weder für Zaranth noch für einen von uns.«
»Also gelingt der Trick nur bei Objekten oder Lebewesen, die jemandem schaden könnten«, meinte F'lessan. Er spürte, wie er ungeduldig wurde, doch dann entsann er sich, wie viel Zeit sich das Akki genommen hatte, als es versuchte, die Feuerechse Farli auf die Brücke der Yoko zu befördern.
»Es reicht schon, wenn Zaranth etwas als Störung empfindet. Eine Gefahr muss gar nicht damit verbunden sein. Und die Bank stört Zaranth nicht im Geringsten.«
Rasch nahm F'lessan eine Schüssel von dem Tablett mit Erfrischungen und schleuderte sie nach Zaranth, die auf der obersten Terrasse neben Golanth ruhte.
»Was fällt dir ein …?«, schrie Tai, doch im nächsten Moment stand die Schüssel wieder auf dem Tablett.
Mit geballten Fäusten ging Tai auf F'lessan los. So wütend hatte er sie noch nie erlebt.
»Ich verbiete dir, Dinge nach meinem Drachen zu werfen!«
»Wenn die Schüssel Zaranth getroffen hätte, hätte sie das zumindest gestört. Aber du hast ja gesehen, wie sie reagierte.«
Es dauerte eine Weile, bis er Tai besänftigt hatte, doch es entpuppte sich als höchst angenehme Aufgabe, die in intensiven Zärtlichkeiten endete. Als sie einsah, was er mit seinem Experiment hatte beweisen wollen, schlug sie von sich aus vor, Zaranth sollte ihnen eine warme Decke bringen, denn der Nachtwind war kalt.
»Vielleicht kann Golanth uns etwas Wein besorgen«, setzte sie schelmisch hinzu.
Golanth blickte von den felsigen Höhen herunter, wobei seine Augen aufgeregt kreisten. Ich weiß nicht, wie Zaranth es anstellt, Dinge zu transportieren, ohne sie zu berühren.
»Zuerst sollten wir ihn mit Wanderkäfern üben lassen«, meinte Tai praktisch. »Zaranth könnte ihm den Trick beibringen.«
In Benden gibt es keine Wanderkäfer, erinnerte Golanth seinen Reiter. Doch es war unverkennbar, dass er neugierig war, wie Zaranth Objekte aus der Ferne bewegte. Drachen vermochten sich und ihre Reiter ohne nennenswerte Zeitverzögerung über große Entfernungen hinweg zu transportieren. Auch Zeitreisen waren möglich, erst vor kurzem hatte Golanth Menschen und deren Hab und Gut mit Hilfe von Zeitsprüngen gerettet. Doch dieses Bewegen von Gegenständen oder Lebewesen, ohne sie anzufassen, war etwas völlig anderes. Er hatte es noch nie versucht und wusste nicht, wie er es hätte anstellen sollen.
»Dann suchen wir welche«, sprach F'lessan laut aus. Eine vage Erinnerung versuchte, sich in sein Bewusstsein zu drängen - es ging um Farli und Rutil, die sich damals auf die Yoko begeben hatten. »Könntest du uns morgen helfen, Wanderkäfer zu suchen?«, fragte er Tai.
»Am Nachmittag hätte ich vielleicht Zeit. Vorher muss ich Erragon helfen, Orbits zu berechnen.«
»Solltest du auf dem Landsitz an der Meeresbucht Wanderkäfer sehen, gib uns Bescheid.«
»Komm doch mit und hilf mir beim Rechnen.«
»Eine ausgezeichnete Idee. Es kann mir nicht schaden, meine Kenntnisse aufzufrischen. Da wir gerade von guten Ideen sprechen …« Behutsam nahm er ihr das Fernglas ab und legte es zur Seite. Dann liebten sie sich leidenschaftlich.
***
Am nächsten Tag trafen sie sich auf dem Landsitz an der Meeresbucht. Tai hatte bereits eine Schar Wanderkäfer ausgemacht, und sie flogen mit ihren Drachen an die Stelle. Golanth, der der Angelegenheit ziemlich skeptisch gegenüberstand, musste sich hinlegen und einem Käfer mit zwei Nachkömmlingen den Weg versperren. Zaranth versteckte sich in einem Dickicht, und F'lessan und Tai bezogen im Schatten eines riesigen Baumfarns Stellung.
Ohne den massigen Leib des Drachen zu beachten, zog der Wanderkäfer mitsamt seinen Sprösslingen weiter.
»Zaranth erklärt Golanth, dass er den Käfer einfach nur umzudrehen braucht.«
In gespannter Erwartung griff F'lessan nach Tais Hand.
»Mein Liebling, ich verstehe jedes Wort, das sie sagt.«
»Tatsächlich?« Überrascht sah sie ihn an. Aber sie wusste, dass Ramoth und Mnementh, und sogar Monarth und Path, mit den jeweiligen menschlichen Partnern ihrer Gefährten kommunizierten.
Der ekelhafte Gestank, den der Wanderkäfer absonderte, unterbrach ihr Gespräch.
Was hast du getan? riefen beide Reiter. Sich die Nasen zuhaltend, rannten sie zu ihren Drachen, um die Lichtung zu verlassen, ehe ihnen übel wurde.
Ich habe den Käfer umgedreht, erwiderte Golanth und sprang in die Luft. Er hoffte, in der Kälte des Dazwischen würde der widerliche Geruch verfliegen.
Du hast ihn zerquetscht! hielt Zaranth ihm entgegen.
Hoch über der Meeresbucht tauchten sie wieder in den Normalraum ein. Unter ihnen lagen die Ansiedlung und das auf einer Anhöhe stehende Observatorium.
Ich kann mich selbst nicht riechen, jammerte Golanth.
Mir tut jeder Leid, der in den nächsten Tagen diese Lichtung betritt, erklärte F'lessan.
Tai hat eine neue Lichtung zum Landen entdeckt, und sie meint, Golanth sollte es noch einmal versuchen. Ich glaube, ich weiß, was er falsch gemacht hat, meldete sich Zaranth.
Tai gab F'lessan ein Zeichen, in den Landeanflug zu gehen. Zaranth drehte nach links ab und schwebte in elegantem Bogen nach unten. Ein paarmal umkreisten beide Drachen die Lichtung, auf der sich nach der Überflutung schon wieder ein dichter Pflanzenteppich breit machte.
Wieder setzte sich Golanth einem zielstrebig vorwärts krabbelnden Wanderkäfer mit fünf Jungen in den Weg. Das größte Tier aus der Nachkommenschaft war beinahe ausgewachsen und würde sich bald von der Mutter lösen.
Und jetzt stubst du die Käfer ganz sachte an. Ein winziger Schubs genügt, damit sie die Richtung ändern, unterwies Zaranth Golanth. Du darfst sie auf keinen Fall in den Boden drücken. Dreh sie in Richtung Osten und versetze ihnen einen sanften … SANFT, HABE ICH GESAGT! Wo sind die Käfer jetzt? Was hast du mit ihnen gemacht?
Ich hab sie nach Osten gedreht, verteidigte sich Golanth.
Zaranth und beide Reiter spähten in die angegebene Richtung. Durch das struppige Gras verlief eine schnurgerade Furche, gerade so breit wie ein Wanderkäfer mit seinem Nachwuchs, die im Wasser der Bucht mündete.
»Sagtest du nicht, Wanderkäfer könnten schwimmen?«, wandte sich F'lessan zerknirscht an Tai.
»Doch, ja. Und wenn diese es bis jetzt nicht konnten, werden sie es heute lernen. Wanderkäfer überleben in jeder Situation«, entgegnete Tai.
Jedenfalls hat er begriffen, wie es geht, stellte Zaranth fest. Er war wohl nur ein bisschen … übereifrig?
»Ich glaube«, ergänzte F'lessan und schlang seinen Arm um Tais Taille, »mit ein wenig mehr Übung kriegt er den Dreh bald raus und weiß genau, wie viel Kraft oder Energie nötig sind, um das Ziel zu erreichen.«