Burg Fort - 2.13.31
Als Tenna von ihrem Einsatz heimkam und Torlo den Packen Briefe von den Kurierstationen in Süd-Boll überreichte, notierte er ihre Ankunft auf dem Dienstplan und beugte sich dabei zu ihr herüber.
»Ich muss mit deinem Freund sprechen …« Torlo legte eine bedeutungsvolle Pause ein, damit Tenna wusste, welchen Freund er meinte. »Heute Abend. Du kommst mit. Der übliche Platz. Zehn Uhr dreißig.«
Mittlerweile hatte sich Tenna daran gewöhnt, Treffen mit Haligon und Torlo zu arrangieren.
»Morgen nimmst du die Route über die Berge«, fügte Torlo mit lauter Stimme hinzu.
Sie lächelte amüsiert. »Wenn das so ist, dann gönne ich mir gleich ein ausgiebiges Bad und eine Beinmassage.«
»Kann nicht schaden«, entgegnete er, und sie entfernte sich. Zuerst begab sie sich in den Schlafsaal, den sie mit anderen Mädchen teilte. Das Fenster ging auf die Hauptstraße, und sie zog den Vorhang halb zu. Das war das vereinbarte Zeichen, dass sie Haligon sehen wollte. Sie hatte keine Ahnung, welches Kind für ihn die Botengänge erledigte, doch er erhielt jede versteckte Nachricht, die sie ihm übermittelte. Dann zog sie saubere Kleidung aus ihrem Packsack und nahm ein ausgiebiges heißes Bad mit anschließender Massage, ehe sie zum Abendessen in den Speisesaal ging.
Die Nacht war klar, aber frisch, und von den Bergen blies ein böiger Wind, sodass sie ihre gefütterte Jacke bereithielt, als Haligon in der Tür auftauchte. Sie lächelte ihm zu und freute sich, als sich seine Miene bei ihrem Anblick erhellte. Lord Groghe übertrug ihm immer mehr verantwortungsvolle Aufgaben, und Haligon bezeichnete sich selbst scherzhaft als ›Kurier des Burgherrn‹. Doch er blieb stets gut gelaunt und hilfsbereit. Jedenfalls behauptete das Torlo.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang, Tenna?«, fragte Haligon, nachdem er Torlo und dessen Gemahlin freundlich zugenickt und die anderen Anwesenden in den Gruß miteinbezogen hatte.
Die üblichen Neckereien wie ›Nach dem Kurierdienst wird ihr ein Spaziergang gut tun‹ und ›Lauft nur nicht zu weit weg‹, begleiteten sie nach draußen. Doch diese anzüglichen Frotzeleien waren besser als ein missbilligendes Schweigen.
Die Hauptstraße wurde von den neuen elektrischen Lampen erhellt, die wie Leuchtkörbe geformt waren und an hohen Masten hingen, deshalb waren trotz der nächtlichen Kühle viele Fußgänger unterwegs. Haligon und Tenna schlugen indessen einen dunkleren Seitenpfad ein, der zu den Viehställen und einer Scheune führte. In diesem verschatteten Winkel konnten sie sich umarmen, ohne beobachtet zu werden, und sie tauschten ungehemmt Zärtlichkeiten aus. Sie war eine Siebenspanne lang fort gewesen und hatte Haligon sehr vermisst. Und falls die Leidenschaft, mit der er sie liebkoste, ein Maßstab war, so hatte sie ihm gleichfalls gefehlt.
Bis jetzt hatten sie noch nie über ihre Beziehung gesprochen. Sie fand, sie sei nicht gut genug für den Sohn eines Burgherrn, der einem der ältesten und angesehensten Geschlechter Perns entstammte. Und er ahnte zumindest, was sie dachte.
Haligon hingegen befürchtete, Tenna würde in einer Ehe die Freiheit vermissen, die ihr Beruf ihr verschaffte, und er wollte sie nicht einschränken. Doch da er lediglich ein jüngerer Sohn war, spielte es keine so große Rolle, wen er heiratete. Durch die Schäden, die der Feuerball - den Haligon einen Kometen nannte - und die Überflutungen angerichtet hatten, waren Lord Groghe und seine Söhne sehr beschäftigt gewesen. Groghe hatte Haligon nach Süd-Boll geschickt, um dort zu helfen, und insgeheim fragte sich Tenna, ob der alte Lord vielleicht hoffte, Haligon würde sich in Lady Janissian verlieben. Sie wäre die passende Frau für ihn, dachte sich Tenna. Aber Haligons Bemerkungen über Janissian beschränkten sich darauf, dass sie sehr nett und eine tüchtige Burgherrin sei.
Beide waren sich darüber im Klaren - obwohl niemand in Fort es laut aussprach - das Lord Groghes Kräfte nachließen. Kein Wunder, denn er war immerhin neunundachtzig. Der Vandalismus am Ende des Planetenumlaufs hatte den alten Mann zutiefst erschüttert, und er hatte sich geschworen, die Leute, die dahinter steckten, zu enttarnen und zu bestrafen. In seinem Machtbereich sollten derlei Akte sinnloser Zerstörungswut nie wieder passieren.
Torlo und viele andere Stationsmeister unterstützten ihn bei seinem Kampf gegen die Reaktionäre, aber längst nicht alle Kuriere ergriffen für ihn Partei. Es herrschte die verdeckte Furcht, die tragbaren Fernsprechgeräte, die laut Anweisungen des Akki konstruiert wurden, könnten sie ihre Existenz kosten. Doch die meisten Eilläufer schlossen sich der generellen Politik der Stationsmeister an, die darauf abzielte, jede Form von Vandalismus - vor allen Dingen, wenn sich die Attacken gegen die Heilerhallen richteten - zu ächten. Die vernünftigste Einstellung hatte Tenna, und sie wurde nicht müde, Lady Lessas Worte zu wiederholen, die gesagt hatte, Kuriere hätten Pern seit jeher gedient, und für sie gäbe es immer eine Zukunft.
Doch wenn sie in Haligons Armen lag, vergaß sie alles - Pflichtbewusstsein, Verantwortung - und gab sich ganz den Wonnen der Liebe hin. Für Tenna gab es keine halben Sachen, und auch Haligon schmuste mit ungeteilter Begeisterung.
Aber nach einer Weile meldete sich bei ihr das instinktive Zeitgefühl, das die meisten Kuriere besaßen, und widerstrebend löste sie sich aus der Umarmung. Züchtig strich sie sich die verrutschten Kleidungsstücke glatt und lächelte, als sie Haligons enttäuschten Seufzer vernahm.
Haligon kämmte sich mit den Fingern das Haar, das er sich längst hätte schneiden lassen müssen, schlug den Jackenkragen hoch und musste sich anstrengen, um mit Tenna Schritt zu halten. Das Mädchen konnte marschieren!
Torlo, als schemenhafte Gestalt erkenntlich, saß bereits am vereinbarten Treffpunkt auf einer Bank. Hier trafen sich Haligon und Tenna oft, weil sie in diesem lauschigen Winkel vor neugierigen Blicken geschützt waren. Wortlos nahmen sie rechts und links vom Stationsmeister Platz.
»Die Kuriere haben festgestellt, dass die verdächtigen Botschaften aus Keroon stammen«, erzählte Torlo. »Genauer gesagt, aus der Gegend der Weiten Bucht und zwei Siedlungen im Binnenland, die sehr abgeschieden liegen. Es dauerte so lange, den Ursprung der Briefe herauszubekommen, weil viele Botschaften nicht in Kurierstationen abgegeben wurden. Man drückte sie Kurieren, die unterwegs waren, einfach in die Hand.«
»Ach, wirklich?«, staunte Tenna.
»Die Gebühren wurden bezahlt, deshalb ist nichts dagegen einzuwenden. Doch es passierte ziemlich häufig, deshalb wurde Chesmic misstrauisch und fragte Kuriere und Stationsmeister hinter vorgehaltener Hand ein bisschen aus. Immerhin ist das Wegenetz der Kuriere bewusst so angelegt, dass jeder einen Brief in eine Station bringen kann, wo die Nachricht dann ordnungsgemäß registriert wird. Chesmic fiel auf, dass sich diese irregulär abgegebenen Mitteilungen immer auf ganz eng begrenzte Zeiträume konzentrierten.«
Er legte eine Pause ein. »Dann erhielt ich die Bestätigung, dass etwas Ähnliches auch anderenorts passiert war. In Keroon zum Beispiel. Während der vergangenen Siebenspanne wurden Kuriere mehrere Male auf ihrem Weg angehalten, um Botschaften mitzunehmen. Chesmic ist zwar nicht mehr der Jüngste, aber er vergisst nie ein Gesicht. Und eines hat er ein bisschen zu oft gesehen. Der Mann trug jedes Mal andere Kleidung und erzählte, er würde für jemanden Briefe abschicken, beziehungsweise abholen. Es scheint, als verschickten die Reaktionäre Botschaften. Sorge dafür, dass Pinch auch davon erfährt«, wandte er sich an Haligon.
Haligon staunte, dass Torlo über Pinch und dessen Agententätigkeit Bescheid wusste. Und sein Respekt für Torlo wuchs. Der Stationsmeister war klug und besaß ein gesundes Urteilsvermögen. Er kannte sich nicht nur in den Angelegenheiten von Burg Fort aus, sondern war auch bestens über die Zustände auf beiden Kontinenten im Bilde.
»Sag dem Meisterdrucker, er soll besonders wachsam sein«, fuhr Torlo fort. »In seiner Halle wurden die Bilder und Texte gedruckt, über die die Leute sich so fürchterlich aufregten. Du solltest so schnell wie möglich eine Feuerechse mit einer Botschaft losschicken.«
»Ich werd's veranlassen.«
»Am besten jetzt gleich«, entgegnete Torlo trocken. »Bring Tenna in die Kurierstation zurück. Sie hat morgen einen anstrengenden Tag.«
Daraufhin standen beide auf. Als sie um die Ecke bogen und auf die Tür zusteuerten, legte Haligon Tenna einen Arm um die Schultern. Er wünschte sich, sie könnten länger beisammen sein. Vor der Tür drückte er das Mädchen noch einmal fest an sich und ließ sie dann los. Er wusste nicht, ob ihm jemand hinterherblickte, als er die Treppe zum Burghof hinaufstieg, doch er sorgte dafür, dass niemand bemerkte, wie er sich auf Schleichpfaden zur Harfnerhalle begab. Und in der mondlosen Nacht bekam nur der Wachdrache mit, dass aus einem hoch gelegenen Fenster der Halle eine Feuerechse flog. Er wünschte Menollys Beauty eine sichere Reise.
Druckerhalle an der Weiten Bucht - in derselben Nacht
Beauty weckte den Meisterdrucker, indem sie sachte an seinem Ohr zupfte. Und er besaß die Geistesgegenwart, nicht wild nach dem Störenfried zu schlagen. Die unverhoffte Ankunft der Feuerechse bestätigte ihm, dass Rosheen mit ihren düsteren Vorahnungen Recht hatte. Irgendetwas braute sich zusammen.
Und erst tags zuvor hatte Stationsmeister Arminet die Halle aufgesucht, vorgeblich, um eine Liste der Kuriergebühren drucken zu lassen. Dabei stromerte er überall herum und erkundigte sich, ob Morilton die Glasscheiben hergestellt hätte, oder ob sie nach herkömmlicher Perneser Art fabriziert worden seien. Mittlerweile wusste jeder, dass die Glasscheiben, die aus Norists Halle stammten, beim Einschlag des Kometen zu Bruch gegangen waren, Moriltons Gläser dem Druck jedoch standgehalten hatten.
»Wir benutzen nur Glas, das Morilton produziert hat, was denn sonst?«, hatte Tagetarl entgegnet.
»Starke Schlösser an den Fenstern.« Arminet kniff vielsagend ein Auge zu. »Die Türen aus Skybroom-Holz … was will man mehr?«
Fragend hob Tagetarl die Brauen, doch Arminet ging nicht näher auf das Thema ein, sondern sprach über die Liste, die er drucken lassen wollte. Am Abend hatte Tagetarl persönlich kontrolliert, ob sämtliche Fenster und Türen versperrt waren. Das äußere Tor sicherte er zusätzlich mit dem wuchtigen Riegel aus Skybroom-Holz. Dieser Verschluss war so beschaffen, dass man sich mit dem Mechanismus auskennen musste, wollte man ihn öffnen. Skybroom-Holz war extrem hart und splitterte nicht, deshalb fühlte er sich gut beschützt.
Zuerst Rosheens Unbehagen, dann Arminets seltsame Bemerkungen, und nun ein nächtlicher Besuch von Beauty, Menollys goldener Königin. Grund genug, um alarmiert zu sein, fand Tagetarl. Er wunderte sich, warum Ola, Rosheens Feuerechsenkönigin, nicht auf der Stelle erschienen war, um den ›Gast‹ zu beaufsichtigen. Im Allgemeinen war Ola immer da, wenn man sie brauchte.
Er streckte die Hand aus und Beauty setzte sich darauf. Am linken Vorderbein trug sie eine Nachrichtenkapsel, doch im Zimmer war es zu dunkel, um den Brief zu lesen. Vorsichtig stieg er aus dem Bett - er wollte Rosheen nicht stören - griff nach dem Hemd und der Hose vom Vortag und verließ den Raum. Dann versetzte er Beauty einen leichten Schubs und bedeutete ihr, den Treppenaufgang hinunterzufliegen. Während er hastig in seine Kleidung schlüpfte, hallte ihm ihr empörtes Gezeter in den Ohren. Er war barfuß, und der Boden unter dem dünnen Teppich eiskalt, ein Grund mehr, sich zu beeilen.
Als er nach unten ging, spähte er aus einem Fenster in den dunklen, stillen Hof hinab. Vielleicht hockte Ola irgendwo da draußen, auf einem der vielen Dachfirste. Das Dach des Weberhauses grenzte an die Außengebäude der Halle. Von dort aus hatte sich Pinch schon häufig Einlass verschafft. Aber Ola kannte ihn. Auf dem Treppenabsatz blieb Tagetarl stehen und lauschte. Nichts Verdächtiges zu hören. Aus der großen Küche, die gleichzeitig als Wohnraum diente, erklang ein aufforderndes Zirpen, und seufzend setzte er seinen Weg fort.
Tagetarl schalt sich, weil er automatisch angenommen hatte, die Botschaft hätte mit der Druckerhalle zu tun. Es gab viele gewichtige Gründe, die Menolly veranlassen konnten, ihm mitten in der Nacht Beauty zu schicken. In der Harfnerhalle war es noch nicht so spät. Vielleicht erkundigte sie sich auch nur nach den Partituren, die er für sie drucken sollte. Obwohl Beauty ungeduldig schimpfte, ging Tagetarl zuerst zur Verandatür. Sie hatte ein starkes Metallschloss mit einer trickreichen Verriegelung. Und das Glas kam aus Moriltons Werkstatt.
Erst dann betrat Tagetarl die dunkle Küche. Das heruntergebrannte Feuer in dem großen Herd verbreitete eine wohlige Wärme. Die orangerote Glut malte ein unheimliches Licht auf die Bodenplatten, doch zum Lesen reichte es nicht aus. Wegen der winterlichen Kälte waren die Fensterläden geschlossen, deshalb knipste er eine kleine Lampe an und sah Beauty, die sich auf einer Stuhllehne niedergelassen hatte und umständlich ihre Flugmembranen zusammenfaltete. Sie hielt ihm ihr linkes Vorderbein hin, damit er die Nachrichtenkapsel entfernen konnte, wobei sie ihn mit schräg gelegtem Kopf fixierte, als wolle sie ihn für seine Langsamkeit tadeln. Tief Luft holend, entrollte Tagetarl den Brief.
Läufer bestätigen, dass es in der Weiten Bucht Probleme gibt. Du musst die Halle gut bewachen. Beistand ist unterwegs.
Rosheen hatte Recht. War Arminet aus einem bestimmten Grund zu ihm gekommen, um sich vielleicht von den Sicherheitsvorkehrungen in der Druckerhalle zu überzeugen? Und was bedeutete ›Probleme‹? Wer verursachte sie? Natürlich dachte er sofort an die Reaktionäre. Doch seit dem Ende des Planetenumlaufs hatten sie keinen Ärger mehr gemacht. Allerdings hatten die Folgen des Kometeneinschlags die Leute so sehr beschäftigt, dass sie gar nicht erst auf dumme Gedanken kamen.
Aus Gewohnheit füllte er den Kessel mit Wasser, stellte ihn auf den Herd und schürte das Feuer. Plötzlich beschlich ihn eine vage Angst. Papier war leicht brennbar. Angenommen, jemand wollte aus purer Niedertracht die Druckerei in Brand setzen? In der Halle lagen kostbare Folianten zur Ansicht aus, ganze Kisten voller Bücher warteten nur darauf, verschifft zu werden. Mit einem Hammer konnte man Druckerpressen genauso leicht zertrümmern wie Glasflaschen und anderes medizinisches Gerät, Toner und Tinte ließen sich auskippen. Die Schuppen, in denen das Papier lagerte, hatten Holztüren, weil er sich welche aus Stahl nicht leisten konnte.
Aber in dem Brief stand nichts von Reaktionären. Was veranlasste ihn zu denken, sie könnten seine Halle angreifen? Es gab jede Menge Gründe für eine Attacke, vergegenwärtigte er sich. Er arbeitete mit einem Verfahren, das ihn das Akki gelehrt hatte. Und das allein genügte, um die Fanatiker in Rage zu bringen.
Vielleicht sollte er ein paar der jungen Burschen, die bei ihm in die Lehre gingen, ab sofort in der Halle schlafen lassen. Oder in den Lagerschuppen. Ola war normalerweise eine gute Wächterin. Wo steckte sie eigentlich? Menolly hatte geholfen, sie auszubilden, und wenn Rosheen sie mit einer Nachricht losschickte, verhielt sie sich sehr verantwortungsbewusst und dehnte ihre Kurierflüge nicht unnötig in die Länge.
»Musst du denn nicht zu Menolly zurückfliegen?«, fragte er Beauty, die ihn von ihrem Sitz auf der Stuhllehne unverwandt betrachtete.
Die Feuerechse blinzelte ihn aus strahlend grünen Augen an, traf jedoch keine Anstalten, sich zu entfernen.
Schwingen klatschten, und Rosheens goldene Königin, Ola, kam hereingeflattert. Mit trillernden Lauten begrüßte sie die Königin der Harfnerhalle und nahm Besitz ergreifend auf Tagetarls Schulter Platz. Beautys Augen wirbelten, und sie antwortete mit einer komplizierten, dominierend klingenden Tonfolge, als wollte sie die vorwitzige junge Feuerechse abkanzeln.
Und tatsächlich richtete sich Ola zu ihrer vollen Größe auf und grub dabei ihre Krallen in Tagetarls Rücken.
»So gib doch Acht, Ola. Du tust mir weh!«, rief Tagetarl gereizt. Abbittend streichelte die Feuerechse mit ihrem Kopf seine Wange.
Beauty gab noch ein paar durchdringende Triller von sich und verschwand.
»Hat sie auf dich gewartet, weil sie dir etwas mitteilen wollte, Ola? Was hat sie gesagt?«
Ola klappte die Nickhäute über die Augen und blickte ihn an, als wollte sie ihm sagen, dass es ihn nichts anginge. Doch unter den transparenten Lidern kreiselten ihre Augen immer schneller und färbten sich strahlend gelb. Tagetarl vermochte die Körpersprache von Feuerechsen nicht so gut zu lesen wie Rosheen, doch er wusste, dass das Tier beunruhigt war. Orange oder gar Rot bedeuteten Gefahr. Ola schmiegte sich an seine Schulter, grub ihre Krallen noch einmal so tief in seine Haut, dass er zusammenzuckte, und flatterte gleichfalls davon.
Tagetarl ging ans Fenster und öffnete die Läden. Vielleicht hatte Beauty ja angeordnet, Ola solle die Halle bewachen. Es war kurz vor Tagesanbruch - die hellsten der im Norden stehenden Sterne verblassten - und vor dem dunkelblauen Himmel hoben sich die verwinkelten Dachfirste der Außengebäude ab. Plötzlich entdeckte er die Silhouette einer Feuerechse, die mit hoch erhobenen Schwingen und emporgerecktem Kopf auf einem Giebel hockte. Ihre Augen glänzten in einem grünlichen Gelb. Mit seinem feinen Gehör bekam er mit, wie sie einen Lockruf ausstieß. Nicht lange, und ein großer Schwarm Feuerechsen sammelte sich auf den Dachfirsten.
Im Brief hatte es geheißen, Beistand sei unterwegs. Zwar waren Feuerechsen dafür bekannt, dass sie ihre menschlichen Freunde bis aufs Blut verteidigten, doch in der Gegend um die Weite Bucht gab es nur wilde Feuerechsen, auf die man sich nicht verlassen konnte. Menolly hatte sicher nicht gemeint, dass diese quecksilbrigen, unbezähmbaren Kreaturen die Bewachung der Druckerhalle übernehmen sollten.
Das Wasser im Kessel begann zu sieden. Er gab Klah in die große Kanne und goß Wasser darauf. Hatte Benelek ihm nicht bei der letzten Versammlung erzählt, man stellte jetzt Experimente mit elektrisch betriebenen Wasserkochern an? Weil sein Magen knurrte, ging er an den Brotschrank und schnitt sich ein paar Scheiben ab, die er über dem mittlerweile munter prasselnden Feuer rösten wollte. Gerade als er nach der Süßwürze suchte, hörte er ein leises Scharren. Hatte er etwa versehentlich die Außentür entriegelt, als er sich davon überzeugen wollte, ob sie abgesperrt war? Er griff nach der Kanne mit dem heißen Klah und pirschte leise in die Eingangshalle, bereit, einem unbefugten Eindringling das kochend heiße Getränk ins Gesicht zu schütten.
»Es ist mich«, wisperte eine vertraute Stimme.
»Bitte, Pinch, es heißt, ich bin es!«, verbesserte Tagetarl ihn gereizt und senkte die Kanne.
Pinch trat über die Schwelle; seine goldene Feuerechse Bista klammerte sich an seine Jacke.
»Wie bist du hereingekommen? Nein, lass mich raten. Du bist über das Dach geklettert.«
Pinch blickte unschuldig drein.
»Aber wie kamst du durch das Außenportal?« Tagetarl war ernsthaft erschüttert, weil er sich mit dem Schloss so viel Mühe gegeben hatte und es für absolut einbruchsicher hielt.
Pinch hielt einen Schlüssel in die Höhe. »Als du mir erklärt hast, wie das Sicherheitsschloss funktioniert, gabst du mir diesen Schlüssel. Ich wollte dich nicht wecken, also habe ich ihn benutzt.« Er steckte den Schlüssel in eine Innentasche seiner Jacke, wo er mit einem gedämpften Klirren landete. Tagetarl fragte sich wie viele Schlüssel Pinch noch in dieser Tasche aufbewahrte.
»Auf den Dächern hocken Ola und ein Schwarm Feuerechsen.« Was nützten diese Bewacher, wenn sie bei einem Eindringling nicht mal Alarm schlugen?
»Ola kennt mich. Und bei den anderen hat Bista für mich gebürgt. Du solltest Ola keine Vorwürfe machen, denn sie schickte sich an, zusammen mit dem Schwarm auf mich loszugehen.« Pinch hob schnüffelnd die Nase und blickte vielsagend auf die Kanne mit dem Klah, die Tagetarl noch immer in der Hand hielt. »Hast du mit meinem Besuch gerechnet?«, fragte er gelinde überrascht.
»Beauty brachte mir eine Nachricht. Seid ihr zwei, du und Bista, die angekündigte Verstärkung?«
Pinch schmunzelte. »Ja, wir gehören dazu. Es freut mich, dass die Warnung bis zur Harfnerhalle durchgedrungen ist.« Er peilte über die Schulter und rief mit halblauter Stimme: »Ihr könnt jetzt nachkommen. Es gibt Klah.« Den verdutzten Tagetarl anblickend, fügte er hinzu: »Im Übrigen glaube ich, dass jeder, der sich unbemerkt hier hereinschleichen will, über das Dach des Weberhauses klettert. Der Weber ist durch das dauernde Klappern seines Webstuhls mittlerweile stocktaub.«
Pinch trat an den Wandschrank und holte Becher heraus, die er auf den Tisch stellte. Derweil pilgerten seine Gefährten in feierlichem Ernst in die Küche.
»Ich halte es für das Beste, diesen Weg nicht zu versperren«, schlug Pinch vor. »Sollen sie ruhig eine Schwachstelle ausnutzen, die wir kennen und gut im Auge behalten werden. Was gaffst du so, Tag? Diese Leute sind die versprochene Verstärkung. Schenk schon mal Klah ein, und ich stelle sie dir vor.«
Fünf junge Burschen und drei Mädchen standen in der Küche, bepackt mit Rucksäcken und Eimern. Schüchtern lächelnd betrachteten sie den Meisterdrucker und nickten ihm zur Begrüßung zu.
»Lasst das Zeug draußen im Gang, hier ist zu wenig Platz dafür«, meinte Pinch, ehe er die Becher verteilte. Dann nannte der die Namen der unverhofften Gäste. Macy, Chenoa, Egara, Magalia, Fromelin, Torjus, Garrel und Niness.
»Sehr erfreut, dich kennen zu lernen, Meister.«
»Es ist mir eine Ehre.«
»Danke für den Klah, Meister Tagetarl.«
»Ein heißes Getränk ist jetzt genau das Richtige.«
»Ist das der Verstärkungstrupp, Pinch«, fragte Tagetarl und hoffte, dass auch für ihn noch ein Becher Klah übrig blieb. »Acht junge Leute?«
»Ja. Wir dachten uns, so viele würden genügen, um alles, was in der Halle aus Holz gefertigt ist, anzustreichen«, erwiderte Pinch. Er setzte sich auf einen Stuhl und bedeutete seinen Gefährten, sie sollten sich gleichfalls eine Sitzgelegenheit suchen. »Zum Glück besteht der größte Teil der Druckerhalle aus Naturstein. Aber Fußböden, Türen und Fensterrahmen sind aus Holz. Diese Flächen wollen wir mit einer Feuer abweisenden Farbe anstreichen. Es dauert nicht lange, im Handumdrehen sind wir mit der Arbeit fertig. Die Farbe soll angeblich nicht mal stinken und trocknet sehr schnell. Da die Reaktionäre mit Sicherheit keine Ahnung haben, dass ein solcher Anstrich überhaupt existiert, können wir ihre infamen Pläne wunderbar vereiteln.«
»Weiß man denn mit Bestimmtheit, dass die Rebellen einen Angriff auf die Druckerhalle planen?« Tagetarl war so erschüttert, dass er um ein Haar heißen Klah auf Macys Hand gekippt hätte.
»Aufgrund bestimmter Informationen, die uns zugespielt wurden, gehen wir davon aus«, erklärte Pinch herablassend.
»Aber warum suchen sie sich ausgerechnet die Druckerhalle als Ziel aus? Wir unterstützen das Lehrprogramm und …«
»Nun ja, sie haben dich auf dem Kieker, weil du einen Bericht über den Feuerball und die wahren Ausmaße der Flutkatastrophe gedruckt hast«, erwiderte Pinch. »Die Reaktionäre hingegen streuten das Gerücht aus, das Akki hätte den natürlichen Rhythmus von Pern aus dem Gleichgewicht gebracht, und als Folge davon traf uns dieser Brocken aus dem Weltall. Sie fordern, alles, was auch nur entfernt mit dem Akki zusammenhängt, zu vernichten und das Rad der Zeit zurückzudrehen. Wir sollen wieder so leben wie früher, als das Akki noch schwieg, und wir keine anderen Sorgen hatten, als gegen die Fäden zu kämpfen, die in Intervallen von ungefähr zweihundertundfünfzig Planetenumläufen vom Himmel regneten.«
»Ist das alles, was diesen Typen dazu einfällt?«, ereiferte sich Tagetarl. »Berücksichtigen sie denn nicht, welche Fortschritte die Medizin durch das Akki gemacht hat? Jetzt kann man Krankheiten heilen, die früher unweigerlich zum Tode führten.«
Tagetarl war sichtlich erschüttert. Pinch schenkte ihm Klah nach.
»Trink. Du bist noch gar nicht richtig wach. Die Reaktionäre haben ihre eigenen Gründe, die Druckerhalle zu ruinieren.«
»Zum Beispiel?«
»Das geschriebene Wort besitzt eine Macht, gegen die kein Gerücht ankommt. Du veröffentlichst die Wahrheit. Die Rebellen bedienen sich der Flüsterpropaganda. Was ich schwarz auf weiß in der Hand halte, kann ich immer wieder studieren und mir eine eigene Meinung bilden. Und der Text ändert sich nicht. Gerüchte hingegen kann man meistens nicht zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, derjenige, der irgendwelchen Klatsch in die Welt setzt, darf dies ungestraft tun, sofern er nicht auffällt. Und Legenden haben die Neigung, immer extremer zu werden, je mehr Leute sie weitererzählen. Gedrucktes bleibt dagegen immer gleich. Nun trink schon endlich deinen Klah, Tagetarl«, munterte Pinch den wie benommen dasitzenden Meisterdrucker auf.
Tagetarl nippte an dem heißen Getränk. »Was soll ich jetzt tun? Ich brauche Wachen. Meine Lehrlinge reichen nicht aus, um den gesamten Komplex zu schützen.«
Pinch hob beschwichtigend eine Hand. »Natürlich nicht. Und sie sind nicht für solche Aufgaben trainiert. Ich glaube, Marley würde bei einer Prügelei seinen Mann stehen, aber diese jungen Leute hier …« - er deutete auf seine Gefährten, die ruhig ihren Klah tranken - »sind ausgefuchste Kämpfer und haben ein paar raffinierte Tricks parat. Doch zuerst werden wir unsere Malerarbeiten in Angriff nehmen.« Er schenkte Tagetarl ein breites Grinsen. »Drachenreiter sind nicht die Einzigen, die prompt zur Stelle sind, wenn Gefahr droht.«
Diese Bemerkung - zumal von einem Harfner ausgesprochen - grenzte an Ketzerei, und vor Verblüffung klappte Tagetarl die Kinnlade herunter.
»Nun, Jungs und Mädels, da ihr euren Klah ausgetrunken habt, geht es los. Es gibt eine Menge zu tun. Verteilt die Farbe auf sämtliche Holzflächen. Benutzt Handschuhe, damit nichts auf eure Haut spritzt. Und arbeitet möglichst leise, wie ihr es geübt habt. Ich will nicht einmal das Klatschen eines Pinsels auf Holz hören.«
Während zwei aus der Gruppe die Becher einsammelten und in den Spülstein stellten, gingen die anderen nach draußen, holten ihre Sachen und verließen die Küche über die Veranda. Tagetarl spähte aus dem Fenster. Noch graute der Morgen nicht, und in der herrschenden Düsternis konnte er kaum bis zur anderen Seite des großen Hofs blicken.
Pinch setzte noch einmal Wasser zum Kochen auf. Dann zog er ein Blatt Papier aus einer Tasche, entfaltete es und legte es vor Tagetarl auf den Tisch. »Hast du diesen Kerl in letzter Zeit hier gesehen?«
Tagetarl furchte die Stirn. »Das ist der Mann, von dem du eine Zeichnung angefertigt hast, als du neulich bei mir warst. Ich wunderte mich, dass er zu mir kam und nach einem Band mit den Lehrballaden fragte. Da ich sämtliche vorrätigen Exemplare gerade an Lord Kashman geschickt hatte, musste ich ihm sagen, er solle in einer Siebenspanne wieder herkommen.«
Pinch nickte, als wüsste er dies bereits. »Das wäre dann morgen.«
»Meinst du, er würde einfach hier hereinspazieren … Damals führte ich ihn durch die Druckerhalle. Ich hielt es für ein Gebot der Höflichkeit.«
Pinch grinste ironisch. »Hoffentlich hast du es bei der Halle belassen.«
»Das tat ich, aber ich erzählte ihm, wie viele Lehrlinge bei mir in der Ausbildung sind.« Tagetarl schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wie naiv er doch war. Ließ ihn sein gesunder Harfnerverstand im Stich? Bei ihm lernten sieben junge Burschen, und bis auf Marley war keiner von ihnen erwachsen. Zudem gingen bei ihm drei Mädchen in die Lehre. Acht Helfer hatte Pinch mitgebracht …
»Mach dir keine Sorgen, Tagetarl«, winkte Pinch ab. »Als dieser Kerl bei dir war, hattest du keinen Grund, misstrauisch zu sein.«
Tagetarl schluckte nervös. Der heiße Klah schien in seinem Magen viel zu schnell abzukühlen und wirkte nicht so tröstend auf ihn wie sonst. »Wie viele Personen waren an der Attacke auf die Heilerhalle beteiligt? Zehn? Nein, es waren fünfzehn!«
»Um etwas gegen die Druckerhalle auszurichten, müssten sie schon mit mindestens zehn Leuten anrücken«, meinte Pinch. »Hattest du außer diesem Typen noch weitere neugierige Besucher?«
Tagetarl kratzte sich am Kopf. »Oh ja. Aber alle machten einen vernünftigen Eindruck.«
»Die meisten Menschen sind ja auch vernünftig«, entgegnete Pinch. »Außer diesen Traditionalisten, die es dir verübeln, dass du auf mechanischem Wege binnen weniger Tage jede Menge Bücher drucken kannst, wozu die Kopisten früher viele Monate brauchten.«
Tagetarl stöhnte.
Pinch klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Hauptsache, wir sind gewarnt. Und ich weiß, nach wem ich Ausschau halten muss.«
»Damals zeigtest du mir drei Skizzen. Glaubst du, diese Personen wären an einem eventuellen Angriff auf meine Halle beteiligt?«
»Das hoffe ich sehr.« Pinch setzte eine unergründliche Miene auf. »Wir werden sie gebührend empfangen.« Er rutschte von dem Schemel herunter, und Bista, die auf der Fensterbank Posten bezogen hatte, setzte sich auf seine Schulter. »Ich gehe den jungen Leuten zur Hand.« Als Tagetarl sich ebenfalls erheben wollte, deutete Pinch auf den Wasserkessel. »Wir brauchen mehr Klah. Und solltet du mir später am Tag begegnen, nimm keine Notiz von mir. Die anderen verstecken sich auf dem Dachboden. Schicke bitte niemanden dorthin. Proviant und Trinkwasser haben wir mitgebracht. Keiner darf wissen, dass wir hier sind.«
Er rüstete sich zum Gehen, doch dann hielt er inne und streichelte beruhigend seine Feuerechse, die auf seiner Schulter hin und her tänzelte.
»Da wäre noch etwas, Tag«, fuhr er fort. »Vielleicht erhältst du ein unerwartetes Geschenk, beispielsweise einen Schlauch mit gutem Wein. Koste nicht einmal aus Höflichkeit davon. Und lehne Tauschwaren ab, die man dir als Entgelt für Bücher anbietet.«
»Ach was!« Dieses Ansinnen ging Tagetarl gehörig gegen den Strich. Als Lohn für Druckereierzeugnisse nahm er gern frisches Obst oder Fleisch an. Hatte man Angst, die Reaktionäre könnten ihn vergiften? Dann fiel ihm ein, dass Meister Robinton während einer Versammlung in Ruatha mit Drogen betäubt und entführt worden war - im Beisein von mehreren Hundert Leuten. »Wie viele Rebellen haben sich zusammengerottet?«
Pinch hob die Schultern. »Keine Ahnung. Aber sie scheinen in Gruppen zu arbeiten, selten allein. Und wenn sie vorhaben, die Druckerhalle anzugreifen, bringen sie genug kräftige Männer mit, die alles kurz und klein schlagen können. Es gibt genug Leute, die für ein paar Marken vor nichts zurückschrecken.«
Tagetarl erschauerte. In Gedanken sah er die verwüstete Halle vor sich, die Bücher und Papiervorräte in Flammen, das Tonerpulver auf die weiß getünchten Wände gespritzt, die Druckerpressen zertrümmert.
»Du verstehst es, mir Mut zu machen, Pinch«, versetzte er ironisch.
»Wir wollen, dass sie in die Halle eindringen, damit ihre verbrecherischen Absichten deutlich werden«, erklärte Pinch ungerührt. »Aber wir lassen sie nicht mehr hinaus. Das ist der Trick an der Sache, weißt du.« Ein listiges Lächeln umspielte seine Lippen.
»Nein, ich weiß gar nichts. Ich habe nur den Eindruck, dass du dieses Abenteuer noch genießt.«
»Hör auf, Tag, als du noch jung warst, warst du auch für jedes Abenteuer zu haben«, zog Pinch ihn auf. »Übrigens, wenn du jemanden pfeifen hörst«, er gab einen trillernden Ton von sich, »dann bin ich es. Und bei dieser Notenfolge«, der komplizierte Pfiff, den er trällerte, erinnerte stark an die Quartettmusik, die Menolly für Musikvirtuosen schrieb, »ist höchste Alarmstufe geboten. Kapiert?«
»Was dachtest du denn«, erwiderte Tagetarl unwirsch. »Ich bin Meisterharfner. Wo hast du eigentlich deine Mannschaft rekrutiert? In einer der Zunfthallen?« Etwas an den jungen Leuten kam Tagetarl vertraut vor, obwohl er nicht in Worte fassen konnte, was es war.
»Ach, hier und da«, wich Pinch zuerst aus. Dann fügte er in einer Anwandlung von Offenheit hinzu: »Ein paar von ihnen sind Kuriere, andere Seeleute, die auf ein Schiff warten. Alle verstehen zu arbeiten und können ordentlich zupacken, wenn es Not tut. An ihrer Zuverlässigkeit besteht kein Zweifel, dafür verbürge ich mich höchstpersönlich.«
Ehe Tagetarl weitere Fragen stellen konnte, schlüpfte Pinch mit Bista auf der Schulter aus der Küche. Verstört über die zu erwartende Attacke gegen seine Halle blieb Tagetarl in der Küche zurück und überlegte, wie er Rosheen diese Nachricht beibringen sollte. Zuerst wollte er die Becher abspülen und wieder an ihren Platz stellen. Dann merkte seine Frau nicht auf den ersten Blick, dass er zu so früher Stunde Besucher empfangen hatte.
Festung Honshu - 2.9.31
»Komm rein, mein Liebling«, rief F'lessan erfreut, als Tai die Küche in Honshu betrat. »Wir essen einen Happen, und dann beginnen wir mit der Arbeit.« Er stand auf und ging ihr entgegen.
Glücklich lächelte sie ihn an. Sie hatte befürchtet, dass F'lessan das Interesse an ihr verlieren würde, nachdem Golanth Zaranth beflogen hatte. Doch das Gegenteil trat ein. Er bestand darauf, dass sie nach Honshu umzog und sich dort ein eigenes Zimmer aussuchte, obwohl sie sich meistens in dem Raum aufhielten, den er für sich eingerichtet hatte. Voller Enthusiasmus zeigte er ihr die gewaltige Felsenburg, die einstmals vielen Menschen als Heimstatt gedient haben musste. Tai staunte, wie groß die Anlage war. Sie liebte den gut ausgestatteten Werkzeug- und Maschinenraum, in dem sich auch der Flugschlitten befand, ein Gerät, das die ersten Kolonisten nach Pern mitgebracht hatten.
F'lessan ermutigte Tai, sich mit ihm über Astronomie zu unterhalten, und er brachte Bücher aus den Archiven mit, wobei sie argwöhnte, dass Meister Esselin über deren Ausleihe nicht immer informiert war.
»Es wird allmählich Zeit, finde ich.«
Dann nahm er sie in die Arme und schwenkte sie übermütig herum. Sie hielt sich an seinen Schultern fest, nicht, weil sie Angst hatte, er könnte sie fallen lassen, sondern weil sie ihn so gern berührte. Seine grauen Augen funkelten vergnügt.
»Wozu? Was hast du vor?«
»Es ist einen herrlich klare Nacht, und ich möchte das Teleskop in Betrieb nehmen.«
Tai stieß einen Jubelruf aus. »Du hast einen Monitor besorgt.«
»Ja. Und die Disketten mit den erforderlichen Betriebssystemen. Erragon hat sie für uns kopiert. Er stellte auch ein Suchmuster zusammen.«
Er sprühte vor Begeisterung. Seine vielseitige Persönlichkeit faszinierte sie immer wieder aufs Neue. Nun schalt sie sich, weil sie ihn anfangs für oberflächlich gehalten hatte. Während der letzten Tage hatte sie ihn sehr gut kennen gelernt und wusste, dass er vor keiner Verantwortung zurückscheute und selbst bei niedrigen, unangenehmen Arbeiten anpackte, wenn Not am Mann war. Auf gar keinen Fall war er der rücksichtslose, verwegene Bursche aus dem Weyr, als den Mirrim ihn dargestellt hatte.
»Mit Suchmustern kenne ich mich aus«, erklärte sie. »Erragon hat mich in dieser Hinsicht gut geschult.«
»Aber bevor der Ernst des Lebens beginnt, sollten wir uns noch ein wenig Spaß gönnen, mein Liebling«, flüsterte er und tupfte weiche Küsse auf ihren Hals. Seine Lippen lagen warm auf ihrer Haut, die noch kalt war von dem Ritt durch das Dazwischen. »Erragon schicken wir regelmäßig unsere Forschungsergebnisse, damit er nicht auf den Gedanken kommt, dich auf den Landsitz an der Meeresbucht zurückzuholen.«
Er drückte sie fest an sich. Sie genoss es, seinen Körper dicht an ihrem Leib zu spüren. F'lessan strotzte vor Energie und Lebensfreude. Dann ließ er sie los und legte nur ganz locker einen Arm um ihre Schultern.
»Ich habe heute ein paar Stunden damit verbracht«, fuhr er fort, »Grundkenntnisse aufzufrischen, die das Akki mir beibrachte. Jetzt tut es mir Leid, dass ich damals nicht besser aufgepasst habe.«
Es klang so zerknirscht, dass sie sanft seine Wange streichelte. »Du konntest ja nicht wissen, dass die Tage des Akki gezählt waren.«
»Recht hast du!«, seufzte er erbittert.
Dann entdeckte sie den dampfenden Kochtopf auf dem Herd. »Du hast gekocht?«, wunderte sie sich. »Aber der Topf stammt nicht aus den alten Honshu-Beständen. Er ist neu.«
F'lessan schmunzelte. »Auf dem Rückweg machte ich bei Sagassy Halt. Ich brachte ihr eine Schachtel Nägel, die sie in der Schmiedehalle von Landing bestellt hatte. Und zum Dank für die Lieferung gab sie mir dieses leckere Eintopfgericht mit. Erinnere mich daran, dass ich ihr den Topf bei Gelegenheit zurückbringe.«
»Ich werd's mir merken«, erwiderte sie. Mit einem großen Holzlöffel rührte sie in dem Topf herum. »Um ein Haar hättest du das Essen anbrennen lassen.«
»Dann muss es ja heiß genug sein, um gegessen zu werden.«
F'lessan bedeutete ihr, sich an den Tisch zu setzen, den er für zwei Personen gedeckt hatte, dann löffelte er den Eintopf in zwei Schüsseln. Mirrim würde nicht schlecht staunen, wenn sie F'lessan so geschickt am Herd hantieren sähe, dachte Tai amüsiert. Probeweise befühlte sie den Laib Brot. Er war knusprig und frisch. F'lessan hatte auch einen Salat angerichtet. Sie schenkte Wein in Gläser, während F'lessan die Schüsseln auf den Tisch stellte.
»Sagassy erzählte mir, Riller, Jubb und Sparling hätten im Tal Spuren von Raubkatzen entdeckt«, fuhr er fort. »Und die Herden sind sehr unruhig. Vielleicht jagen diese Ungeheuer jetzt auf dieser Seite des Bergkamms.« Er blies auf seinen Löffel, um die in einer würzigen Tunke schwimmenden Fleischstücke zu kühlen.
Acht Familien hatten sich in dem Tal nördlich von Honshu niedergelassen. Sie rodeten gerade so viel Land, um Getreide für den Eigenbedarf anzubauen. Ihre Heimstätten und die Viehställe schützten sie mit Wällen aus Drachendung und zerstampftem Feuerstein, das beste Mittel auf dem Südkontinent, um gefährliche oder lästige Kreaturen abzuwehren, bis auf die Wanderkäfer.
Tai und F'lessan hatten bereits in diesem Tal gejagt, allerdings ohne Erfolg. Und bis jetzt waren sie anderweitig so beschäftigt gewesen, dass sie keine Zeit mehr fanden, den Raubkatzen nachzustellen.
»Wir sollten die Grenzen der Siedlung abfliegen und allein durch die Anwesenheit der Drachen die Räuber verscheuchen«, schlug F'lessan vor und bot Tai von dem Brot an, ehe er sich selbst ein Stück abbrach. »Mit dem Verarbeiten der letzten Felle bist du sicher bald fertig, oder?«
»Jedenfalls dauert es nicht mehr lange. Als ich sie an der Felswand aufspannte, sah ich, dass ich nicht die Erste war, die dort Felle zum Trocknen aufgehängt hat. Im Gestein steckten bereits Pflöcke.«
»In den alten Aufzeichnungen über Honshu steht, dass diese Festung völlig autonom war.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was aus den Menschen wurde, die so erfolgreich hier siedelten. Was mag passiert sein, dass sie Knall auf Fall diesen Ort verließen?«
»Vielleicht brach eine Seuche aus«, mutmaßte sie. »Viele Burgen und Festungen standen leer, nachdem sie durch eine Krankheitsepidemie buchstäblich entvölkert wurden.«
»Unwahrscheinlich. Es fanden sich keine Skelette.«
»Mit den Toten könnten Insekten kurzen Prozess gemacht haben.«
»Aber die Habseligkeiten der Bewohner waren fein säuberlich verstaut, nichts ließ auf ein Chaos schließen.«
»Ob sie damit gerechnet hatten, nach Honshu zurückzukehren?«, spekulierte sie.
F'lessan hob ratlos die Schultern. Die Einrichtung der Festung faszinierte Tai. Zu gern stöberte sie in den Schränken und Schubladen herum. Alle Gerätschaften und Werkzeuge waren in Wachstuch oder Plastikhüllen verpackt. Auch die Flugmaschine war durch eine staub- und luftdichte Hülle vor äußeren Einflüssen geschützt. Tai hatte noch keine Gelegenheit gefunden, die Catherine-Höhlen zu besichtigen - so wie F'lessan - und er meinte, das System sei noch längst nicht erforscht. Dort könnten noch ungeahnte Schätze lagern, ähnlich den Objekten, die in Landing zur Schau gestellt wurden. Manche der Artefakte steckten noch in der Verpackung, in der sie die Reise von der alten Erde zum Rubkat-System überstanden hatten. Oftmals hatten sich Tai und andere Betrachter den Kopf über deren Sinn und Verwendungszweck zerbrochen.
»Ich finde es unbegreiflich, wie man einen so idealen Siedlungsplatz verlassen kann«, rätselte Tai.
»Sowie keine Fäden mehr vom Himmel fallen, werde ich nur noch in Honshu anzutreffen sein«, versicherte F'lessan.
Zwanzig Minuten später kletterten er und Tai die steile Treppe zum Observatorium hinauf. »Ich hätte nicht so viel essen sollen«, stellte er keuchend fest. »Gut, dass wir keine Sachen mitschleppen müssen.«
Das Observatorium lag an einem schwer zugänglichen, fast schon geheim zu nennenden Ort. Kenjo, sein Erbauer, hatte dafür gesorgt. Allein der Treppenschacht zog sich über sechs Stockwerke durch das Felsmassiv nach oben.
»Beobachtet Golanth zusammen mit dir die Sterne?«, erkundigte sie sich. Zaranth hatte nichts dagegen, wenn Tai mitunter stundenlang auf ihrem Rücken hockte und in den nächtlichen Himmel spähte.
»Er heuchelt Interesse«, erwiderte F'lessan und grinste verschmitzt auf sie hinunter. Mittlerweile klommen sie eine schmale, metallene Wendeltreppe hoch.
Hoffentlich mache ich nichts kaputt, wenn ich die Sachen zu euch ins Observatorium bringe, meldete sich Golanth besorgt.
»Golanth, du trägst das Zeug so sorgfältig, als würdest du Eier von Feuerechsen transportieren«, entgegnete F'lessan mit aufgesetztem Ernst und zwinkerte Tai dabei zu. »Als ich diesen Ort entdeckte, war er natürlich schrecklich verwahrlost, und kaum eines der Sonnenpaneele funktionierte noch. Es sah hier schlimmer aus als im Akki-Gebäude.« Er blieb kurz auf der Treppe stehen und schöpfte Atem. »Golanth hat mir sehr bei den Instandsetzungsarbeiten geholfen. Natürlich passt er ins Observatorium nicht hinein, aber er versteht es, mich zur Eile anzutreiben. Müßiggang duldet er nicht.« Mit polternden Stiefeln setzte er den Weg fort.
Auch Tai spürte, wie sehr der Aufstieg ihre Wadenmuskeln strapazierte. Aufmerksam hörte sie F'lessan zu, der erklärte: »Zum Glück war der Zylinder vakuumverpackt - was mich in meiner Ansicht bestärkt, die Bewohner von Honshu hätten eine Rückkehr geplant.« Tai sah, dass F'lessan sich nun am Handlauf abstützte. Eine gute Idee, die sie sogleich nachahmte. »Wir säuberten und reparierten die Sonnenpaneele und speicherten die so gewonnene Energie. Kannst du dir meine Aufregung vorstellen, als ich mich davon überzeugte, dass das Teleskop noch funktionierte? Ich war ganz aus dem Häuschen vor Freude.« Er seufzte zufrieden. »Wir müssen das Objektiv neu kalibrieren, und sobald wir den Computer angeschlossen haben, können wir jeden beliebigen Punkt des Himmels anvisieren. Das System ermöglicht es uns, den Primärspiegel zu bewegen. Die Bilder erscheinen auf dem Monitor, und alle Aufnahmen, die uns interessant erscheinen, werden wir speichern.«
Nach einer weiteren Verschnaufpause legte er von neuem los. »Der Generator funktioniert auch wieder, deshalb sind wir nicht nur auf Sonnenenergie angewiesen. Die Solarzellen sind schon eine tolle Erfindung. Unsere Vorfahren waren sehr geschickt darin, erneuerbare Energien zu nutzen. Und ich schwöre dir, Tai, das Akki hat tatsächlich gelacht, als wir ihm erzählten, wir hätten die alten Maschinen gefunden.«
»Das Akki hat gelacht?« Es wäre Tai im Traum nicht eingefallen, dem Akki einen Sinn für Humor zu unterstellen. Vor Verblüffung wäre sie beinahe gestolpert und musste sich am Handlauf festhalten.
»Ach, das Akki konnte sogar sehr witzig sein. Du kennst das doch, wenn Menschen manchmal im Gespräch innehalten, weil sie innerlich lachen. Genauso war das beim Akki. Es schwieg ein paar Takte und fuhr dann mit seiner Rede fort. Piemur war fest davon überzeugt, während dieser Augenblicke, in denen das Akki schwieg, würde es sich über irgendetwas köstlich amüsieren. Als er es Jancis erzählte, war die jedoch schier entsetzt. Die bloße Andeutung, eine Maschine könnte lachen, also menschliche Empfindungen hegen, machte sie schaudern.«
Tai konnte F'lessans Gesicht nicht sehen, doch wenn er über das Akki sprach, schlug er mitunter einen ehrerbietigen Ton an, den er selbst seinen Weyr-Führern gegenüber nicht pflegte. Damals, als die Geschichte mit dem Akki passierte, war sie, Tai, noch sehr jung und naiv gewesen. Zusammen mit ihren Eltern war sie aus den Bergen von Keroon nach Landing gezogen, in der Hoffnung, dort ein besseres Auskommen zu finden. Sie selbst hatte sich aufs Lernen gestürzt, weil man ihr eingebläut hatte, wie wichtig eine gediegene Bildung war.
»Aber wieso fand das Akki es komisch, dass ihr dieses wertvolle optische Instrument und den Energieerzeuger entdecktet?«, wunderte sich Tai.
F'lessan kraxelte ein paar Stufen hoch, ehe er antwortete. »Vielleicht, weil wir Kenjo - unbeabsichtigt, versteht sich - ausgetrickst hatten. Kenjo war in vielerlei Hinsicht sehr schlau. Jedes Mal, wenn er ein Shuttle von der Yoko zur Planetenoberfläche steuerte, sparte er Treibstoff, den er dann für sich hortete. Auf diese Weise konnte er ein kleines, selbst gebautes Fluggerät fliegen, als anderen hier längst die Energievorräte ausgegangen waren. Er benutzte die Steinschneider auch viel geschickter und extensiver als jeder andere Kolonist. Und was für eine wunderbare Festung er geschaffen hat! Seine Frau, Ita, war künstlerisch begabt, und vermutlich stammen die Wandgemälde in der Großen Halle und die Gobelins von ihr.« Er legte eine Verschnaufpause ein.
»Wir sind da!« In seiner Stimme schwang Erleichterung mit. Drachenreiter waren lange Aufstiege nicht gewöhnt, wollten sie Höhe gewinnen, ließen sie sich von ihren Drachen befördern.
Tai machte kein Geheimnis daraus, dass sie nach dem langen Anstieg außer Atem war. Ihre Beine schmerzten, und während F'lessan nach dem Schlüssel fischte, der ihnen Einlass in den geheimnisvollen Raum gewähren sollte, massierte sie ihre Waden.
Eine Weile sah Tai nichts außer den glatten Felswänden des senkrechten Schachts, der von kleinen Lämpchen matt erhellt wurde. Sie spürte einen aufwärts strömenden kalten Luftzug, dann ging eine Tür auf. F'lessan hievte sich hindurch, ihr den Blick versperrend, und rückte zur Seite, damit sie ihm folgen konnte. Sie kletterte die letzten Stufen hoch und gelangte in ein so wundervolles Gelass, dass es ihr vor Staunen die Sprache verschlug. Ein wuchtiges schwarzes Gerät schien alles dominierend über dem hölzernen Fußboden zu schweben.
F'lessan drückte auf ein paar Schalter neben der Tür, und eine Lampe nach der anderen ging an. Durch eine Art Ventilation begann die Luft zu zirkulieren.
Sowie es hell genug war, erkannte sie den gewaltigen, von einer Gabelhalterung gestützten Tubus des Teleskops. Als sie näher herantrat, sah sie, dass die Gabel selbst auf einer schweren Metallplatte ruhte, die wiederum mit einer Rotationsscheibe verbunden war. Diese Knicksäulenaufstellung ermöglichte eine parallaktische Montierung, die sich von der azimutalen Montierung des Teleskops vom Landsitz an der Meeresbucht stark unterschied. Das Gerät in Honshu bestand aus einer cremefarbenen Legierung und enthielt einen 620 mm Spiegel.
Im Gegensatz zu dem anderen Teleskop, wo man den Spiegel innerhalb des Gerüstes deutlich sehen konnte, steckte hier der Reflektor in dem Zylinder. Lediglich die Bedienungselemente verrieten, was sich noch in dem Rohr befand. Sie entdeckte die Kühlleitungen und die Elektrokabel, die, wie sie wusste, zu einer Kamera führten. Das so genannte Suchfernrohr war außen an den Tubus angebracht.
Das Instrument vom Landsitz an der Meeresbucht, ein klassisches Cassegrain-Teleskop, besaß eine Ein-Meter-Linse; die optischen Systeme basierten auf einem konvex hyperbolisch geschliffenen Fangspiegel, der vor dem Primärfokus angebracht war und die vom Hauptspiegel reflektierten Strahlen durch eine Bohrung im Hauptspiegel zum Okular lenkte. Beide Teleskope standen jedoch auf hölzernen Podesten, sodass man um sie herumgehen konnte, ohne dass sich etwaige Vibrationen durch Schritte auf die Instrumente übertrugen. Hier wie dort war der Boden massiv und bebensicher. Die Felsbastion von Honshu reckte sich unerschütterlich in den Himmel empor, und beim Landsitz an der Meeresbucht hatte man auf einem hoch über das Meer aufragenden Felsvorsprung zusätzlich einen Sockel aus Zement gegossen.
Beinahe andächtig näherte sie sich dem Zylinder, sah, dass die Öffnung eine Schutzkappe trug und zügelte ihre Ungeduld, das Gerät zu sehen. Sie verstand F'lessans Besitzerstolz, und dass er das Teleskop eifersüchtig hütete. Umso glücklicher machte es sie, dass er gewillt war, diesen Schatz mit ihr zu teilen.
»Schau!«, rief er munter und hielt die linke Hand hoch. Mit der Rechten drückte er auf ein paar Schalter.
Sie erschrak, als sich plötzlich in der Zimmerdecke ein Spalt auftat. Was aussah wie solider Fels, geriet in Bewegung. Maschinen surrten, und die beiden Hälften der Kuppel glitten langsam auseinander.
»Golly entdeckte die Fugen im Stein, als wir die Sonnenpaneele reparierten. Kein Fels besitzt schnurgerade Risse, also konnten sie nur von Menschenhand gemacht sein. Jancis, Piemur und ich brauchten mehrere Tage, um die Maschinerie wieder instand zu setzen.«
Offenen Mundes stand Tai da und starrte fassungslos in den prachtvollen südlichen Himmel. Sie stieß einen leisen Schrei aus, als sich zwei dunkle Schatten über die Öffnung in der Kuppel beugten.
Wir sind es, erklärte Zaranth und trällerte vergnügt, weil es ihr gelungen war, ihre Reiterin zu erschrecken. Sie hatte die Augen geschlossen gehalten, und als sie nun die Lider hob, funkelten zwei strahlend grüne Lichter auf Tai hinab.
Du hast mich mit Absicht erschreckt! schalt Tai.
Es war Golanths Idee, verteidigte sich Zaranth kleinlaut. In einer um Vergebung heischenden Geste legte sie den Kopf schräg.
Golanth gab fröhliche Laute von sich und bleckte seine weißen Zähne.
»Den beiden sitzt der Schalk im Nacken«, meinte F'lessan und drückte Tai kurz an sich, ehe er sich an Golanth wandte. »Golly, zertrampele bitte nicht die Sonnenpaneele, wenn du die Kontrollgeräte herunterlässt. Tai, kümmerst du dich um den Apparat, den Zaranth dir anreicht? Vor Morgengrauen möchte ich das System gern in Betrieb nehmen.«
Er hob die Arme und griff nach den Kisten, die Golanth durch den Spalt nach unten manövrierte. Tai erholte sich von ihrem Schreck und nahm ein gut gepolstertes viereckiges Objekt an, das Zaranth ihr reichte.
»Wir packen die Sachen hier aus, Tai. Zum Regieraum geht es diese kurze Treppe hinunter.« Er deutete auf die hintere Wand, wo sie ein paar Stufen entdeckte.
Hast du dich sehr erschreckt, Tai? fragte Zaranth zerknirscht und klappte reumütig die Nickhaut über ihre Augen.
»Natürlich, was dachtest du denn?«, erwiderte Tai. Dann lenkte sie ein. Bringt Golanth dir schlechte Manieren bei?
Nur solche, an denen ich Gefallen finde, entgegnete der grüne Drache kokett.
Tai räusperte sich. »Was ist das, F'lessan?«, erkundigte sie sich und zeigte auf den kantigen Gegenstand.
Er hielt mit dem Auspacken irgendwelcher Sachen inne und warf ihr einen Blick zu. »Der Monitor! Warte, ich schalte das Licht im Regieraum ein.« Er ging zu dem Treppenschacht und tippte mit dem Finger auf ein paar Tasten. »Kenjo muss sehr sicherheitsbewusst gewesen sein«, meinte er. »Das merkt man an der ganzen Art, wie er das Observatorium anlegte. Als befürchtete er, jemand könnte etwas demolieren oder stehlen.«
Tai stieg die beleuchteten zehn Stufen hinab, die in den Regieraum führten. Die Arbeitstische waren blitzsauber, und die Regale darüber enthielten Anschlüsse für die diversen Geräte. Zwei Stühle auf Rollen standen unter dem Treppenaufgang. Sie setzte den flachen Monitor auf ein Gestell, das haargenau zu den Abmessungen des Bildschirms passte. Nun ja, der längst verstorbene Kenjo hatte ein ähnliches Gerät benutzt, um die Bilder auszuwerten, die das Teleskop - wie sie inständig hoffte - immer noch liefern würde.
F'lessan polterte mit dem Keypad, der Decoder Box und den Speichermodulen die Stufen hinunter. Seine Augen glänzten in freudiger Erwartung, als er die Apparaturen ans Energienetz anschloss. Danach stemmte er die Hände in die Hüften und atmete tief durch. Er suchte nach dem Speichermodul, das er für die Kalibrierung brauchte, und schob es in den entsprechenden Steckplatz.
»Mal sehen, ob es klappt! Ach du meine Güte …« Er hetzte die Treppe hoch. »Zuerst muss ich natürlich die Schutzhülle entfernen.«
Sie hörte das Knarren der Schritte auf dem Holzfußboden und seine Ermahnungen an die beiden Drachen, sich einen bequemen Platz zu suchen und ja nicht auf die Solarzellen zu treten.
Sich die Hände reibend, kam er zurückgeflitzt. Er zog die beiden Stühle unter dem Treppenaufgang hervor, schob einen in Tais Richtung und nahm selbst auf dem anderen Platz. Eine geraume Zeit lang saß er mit erhobenen Händen vor den Kontrollen.
»Jetzt!«, verkündete er und strahlte Tai enthusiastisch an. »Es werde Licht!« Er tippte ein paare Codes ein, blies erleichtert den Atem aus, als der Monitor sich einschaltete, hackte weiter auf der Tastatur herum und verschränkte die Arme über der Brust. »Vergiss das Atmen nicht, Tai.«
Sie holte tief Luft und lächelte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie vor Anspannung die Luft angehalten hatte.
Der Monitor leuchtete auf und zeigte ein Bild des gestirnten nördlichen Himmels. Eine halbe Ewigkeit lang hatte das in einer Schutzhülle steckende Fernrohr in diese Richtung gewiesen. »Und jetzt wollen wir eine Peilung vornehmen. Für den ersten Test nehme ich Acrux als Bezugspunkt.« Er schmunzelte, als er sie daran erinnerte, wie sie ihm bei ihrer ersten Himmelsbeobachtung in Honshu die Sterne gezeigt hatte.
Tai freute sich über seine Wahl. Es bewies, wie wichtig er sie nahm, und dass er sich ihr gegenüber zuvorkommend verhalten wollte.
»Ein guter Stern für den Anfang, finde ich.« Sie stellte sich hinter ihn, als er die Befehle eintippte, und legte leicht die Hände auf seine Schultern. Während sie auf das Ergebnis warteten, zog er eine ihrer Hände an seine Lippen und drückte einen Kuss auf die Innenfläche, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. Gezielt suchte das Teleskop nach den Koordinaten für Acrux. »Man kann das System auch automatisieren, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein bisschen anzugeben. Im Umgang mit einem Teleskop bist du mir weit voraus.«
Er legte ihre Hand auf seine Schulter zurück und tätschelte sie kurz. »Ah, das hätten wir!« Aufgeregt schnippte er mit den Fingern, als Acrux, ein pulsierender Lichtpunkt, auf dem Schirm erschien und langsam über die Bildfläche wanderte. Auf einer Seite des Schirms erschienen die eingegebenen Koordinaten und bestätigten die präzise Zielerfassung. »Und keine merklichen optischen Aberrationen.«
Lächelnd blickte er zu Tai hoch. Seine grauen Augen blitzten, und mit seinem ungekünstelten Elan steckte er sie an. Wie ein Junge freute er sich darüber, dass sein Teleskop funktionierte - als hätte er es selbst gebaut - und voller Übermut zerstrubbelte sie sein dichtes Haar. Leise lachend genoss er ihre spontane Liebkosung.
»Und nun Becrux«, verkündete er. Er gab die Position ein, und gehorsam veränderte sich der Fokus. »Gerade kommt mir eine Idee.« Er kehrte ihr sein vor Überschwang glänzendes Gesicht zu. »Sowie wir uns davon überzeugt haben, dass das Fokussieren fehlerfrei läuft, pfeifen wir auf unsere Aufgabe, einen Sternenkatalog zu erstellen, und richten das Teleskop auf kosmische Objekte, die unsere Phantasie anregen. Diese Galaxienhaufen haben mich schon immer interessiert. Oder die Spiralnebel. Objekte, die sich möglichst weit weg von Pern befinden!«
Der Vorschlag versetzte sie in eine kaum nachvollziehbare Erregung. Seit jeher hatte sie sich gewünscht, den Weltraum hinter dem Rubkat-System zu erforschen, festzustellen, was sich hinter diesem dunklen Winkel des Weltalls befand. Sie wollte die von finsteren Schluchten und schwarzen Löchern durchzogenen Staubwolken sehen, die sich in Spiralarme aufspaltenden Sterneninseln erforschen, mit eigenen Augen die gespenstischen, kreisrunden planetaren Nebel schauen, in ehrfurchtsvollem Staunen erleben, wie inmitten flammender Schleier junge Sterne geboren wurden. Sie brannte darauf, die in ewigem Wandel begriffene Magie des Universums kennen zu lernen.
»Und von den Bildern, die uns am besten gefallen, fertigen wir Abzüge an«, schlug er vor.
Beseligt erwiderte sie sein Lächeln. Doch ehe er seine Idee in die Tat umsetzte, küsste er die Grübchen in ihren Wangen.
Des Nachts an der Weiten Bucht - 2.9.31
Tagetarl verbrachte einen fürchterlichen Tag, indem er versuchte, sich vor seinen Lehrlingen und den Kunden möglichst ›normal‹ zu geben. Die ganze Zeit über fragte er sich, wie er ›Normalität‹ mimen sollte, wenn schlagartig alles anders war als sonst. Normalerweise hätte er quasi mitten in der Nacht niemals so viele Kannen Klah gekocht oder so viele Becher abgespült.
Als er zur gewohnten Zeit für seine Lehrlinge das Außenportal aufsperrte und die breite Flügeltür zur Halle aufschloss, stand schon wieder eine große Kanne mit frisch gebrühtem Klah bereit.
Der feuerfeste Anstrich, der nun sämtliche brennbaren Flächen überzog, war angeblich farb- und geruchlos, aber glänzte das Holz nicht ein wenig mehr als sonst? Schnüffelnd pirschte er an den Wänden entlang, wobei sein ältester Lehrling, Marley, ihn argwöhnisch ins Auge fasste. Doch er erschnupperte nur den Fischgeruch vom Hafen und die Ausdünstungen des Tonerpulvers. Indem er die Aufgaben für den Tag verteilte, erlangte er einen Teil seines seelischen Gleichgewichts zurück.
Als er einen Pfiff hörte, stutzte er zwar, musste jedoch einen Moment lang in seinem Gedächtnis kramen. Dann sah er zwei schmuddelige Burschen, die zwei große Fässer hereinrollten.
»Die Lieferung, die du bestellt hast, Meister Daggedall«, nuschelte der ältere der beiden Kerle und wuchtete das Fass in die Ecke neben der Tür. Typisch Pinch, seinen Namen so zu verhunzen, dachte Tagetarl und nickte dem schäbig gekleideten Knecht kurz zu. Sein gleichfalls in Lumpen gewandeter Kumpan verfrachtete das zweite Fass in die gegenüberliegende Ecke. »Wie befohlen.« Mit dieser nebulösen Bemerkung verabschiedeten sich die beiden.
»Du weißt, was du zu tun hast, Marley«, wandte sich Tagetarl an seinen Gesellen und klopfte mit den Fingern auf die zu druckenden Seiten, um seine volle Aufmerksamkeit zu erregen.
Er versuchte, sich auf die übliche Tagesroutine zu konzentrieren und schickte sich an, einen komplizierten Auftrag auszuführen - um ihn dann doch auf den nächsten Tag zu verschieben. Sollte Meister Bendarek ruhig warten. Um sich zu beschäftigen, kontrollierte er die Mädchen, die an Bucheinbänden herumstichelten, überzeugte sich davon, dass Delart das Leder sparsam schnitt und Will mit dem extrem scharfen Buchbindermesser die Papierkanten stutzte und nicht seine Fingerkuppen. Beiläufig überlegte Tagetarl, ob er den Breiten Kneif nicht vielleicht abmontieren und als Waffe bei eventuellen Übergriffen der Rebellen benutzen sollte.
Jedes Mal, wenn er den Hof überquerte, fiel ihm auf, dass Ola unentwegt zwischen dem Dachfirst und dem Küchenfenster hin und her flitzte, vermutlich um auf Rosheen Acht zu geben, wo immer die sich aufhalten mochte. Noch hatte er Rosheen nicht erzählt, was auf sie zukam, denn sie wirkte ausgeglichen und guter Dinge, als hätte sie ihre bösen Vorahnungen vergessen. Außerdem musste sie ein schwieriges Handbuch für die Schmiedehalle Korrektur lesen.
Zwischen all den Feuerechsen, die kreuz und quer über die Dächer flitzten, vermochte er Bista nicht zu entdecken, doch die war genauso schlau wie Pinch. Es schien, als würden sich nicht mehr als die üblichen wilden Feuerechsen auf den Schieferplatten sonnen. Oder waren es gar keine frei lebenden Schwärme, sondern gezähmte Tiere? Tagetarl war sich nicht sicher, doch er fand, es sei ohnehin einerlei. Feuerechsen waren nun mal quecksilbrige, launische Kreaturen, auf die man sich im Notfall besser nicht verließ.
Er verspürte keinen Appetit auf ein Mittagessen und fürchtete schon Rosheens Vorwürfe, wenn sie erfuhr, dass er ihr verheimlicht hatte, welche Gefahr der Halle drohte. Normalerweise erzählte er ihr alles. Aber noch sah er keinen Sinn darin, sie mit Sorgen zu belasten. Sie war vollauf mit dem Redigieren des Handbuchs beschäftigt. Und ausnahmsweise konnte er ihr hierbei keine Hilfe anbieten. Nicht an einem Tag wie diesem.
Von Pinchs Gefährten sah er keine Spur, und auch Pinch war nirgends zu entdecken, nicht einmal in Verkleidung. Er wusste nicht recht, ob er auch heute Papier vom Lager in die Halle bringen lassen sollte, wie es sonst am Ende eines jeden Arbeitstages geschah. Es wäre sicher besser, die Routine aufrecht zu erhalten, damit niemand Verdacht schöpfte. Nervös strich er immer wieder mit den Händen über die Holztüren, konnte aber keinen Unterschied zu früher ertasten, geschweige denn eine Substanz erkennen, die angeblich Feuer abwies.
Er war beunruhigt, weil niemand mit einem neuen Auftrag zu ihm ins Büro kam, jedoch gleichzeitig erleichtert. Woran erkannte man einen Traditionalisten? Inwiefern unterschieden sich die Rebellen von ganz gewöhnlichen Männern und Frauen? Die Abweichung lag in der inneren Einstellung, die Erzkonservativen trachteten danach, ihren Willen anderen aufzuzwingen, sämtliche Neuerungen, die bereits bestanden, wieder abzuschaffen.
Das Akki hatte den Pernesern viel nützliches Wissen geboten, Informationen, von denen sämtliche Zunfthallen profitierten. Nicht alles, was neu war, bedeutete eine Verbesserung, doch die Menschen hatten ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, welche Modernisierungen sie übernahmen und welche nicht.
Der komplizierte Warnpfiff, den Pinch von sich gab, riss Tagetarl aus seinen Überlegungen. Er spitzte die Ohren, konnte jedoch die Richtung, aus der die Tonfolge kam, nicht bestimmen. Vor Anspannung und Furcht wie gelähmt, fasste er das Außentor scharf ins Auge. Was sollte er sagen, wenn einer der Rebellen hier auftauchte? Wie behandelte man einen Menschen, der die Absicht hegte, einem die Lebensgrundlage, die gesamte Existenz zu vernichten?
Auf dem Weg, der an der Halle vorbeiführte, gingen ein paar Leute. Dann erkannte er den Mann, den Pinch skizziert hatte. Der Zeigefinger der linken Hand war verstümmelt, und die schwarze Strickmütze vermochte die gezackte Stirnnarbe nicht ganz zu verbergen. Der Mann blieb stehen und spähte mit halb zusammengekniffenen Augen über den Hof. Seine Miene wirkte verächtlich, und die Lippen waren zu einem spöttischen Lächeln verzogen, als stellte er sich bereits in Gedanken vor, wie die Druckerhalle nach dem Überfall der Rebellen aussehen würde.
»Guten Abend«, grüßte Tagetarl mit gekünstelter Höflichkeit und griff nach dem Buch, das er auf eines der Fässer gelegt hatte.
»Ich wollte das Buch abholen. Du sagtest, in einer Siebenspanne wäre es fertig«, erwiderte der Mann mit skeptischem Unterton, als bezweifelte er, ob dies überhaupt möglich sei.
Der Kerl stank nach altem Schweiß, Rauch und Viehdung. Er war nicht gekleidet wie ein Gebirgler, sondern trug Sachen aus schwarzem Leder, die ziemlich neu zu sein schienen. Ohne Eile schlenderte der Mann zur Mitte des Hofs. Tagetarl folgte ihm. Er wollte ihm das Buch geben, damit er keinen Vorwand hatte, noch länger in der Halle zu verweilen.
»Das macht drei Marken«, erklärte Tagetarl und wunderte sich, wie fest seine Stimme klang. War dieses Narbengesicht der Anführer der Reaktionäre? Der Kerl blickte um sich, als wollte er die Gegebenheiten ein letztes Mal einschätzen. Kurz entschlossen stellte sich Tagetarl ihm in den Weg und hielt eine Hand auf. »Drei Marken.«
Narbengesicht kramte in der Tasche und drückte Tagetarl zwei volle Marken und zwei halbe Marken in die Hand. Die Marken trugen den Stempel der Weberhalle.
»Sind Webermarken gut genug für dich, Meisterharfner?«, erkundigte sich der Kerl mit seiner seltsam monotonen Stimme.
»Meisterdrucker«, korrigierte Tagetarl ihn automatisch. »Webermarken gelten als sichere Währung.« Splitter und Scherben, wollte der Mann einen Streit vom Zaun brechen? Oder das Gerücht verbreiten, die Druckerhalle verschmähte Webermarken?
Narbengesicht fischte mit spitzen Fingern nach dem Buch mit den Balladen, als sei es etwas Schmutziges oder Widerwärtiges. Tagetarl, der die Bücher, die er veröffentlichte, mitunter so sehr schätzte, dass es ihm schwer fiel, sich von ihnen zu trennen, musste an sich halten, um dem Kerl den Band nicht wieder zu entreißen. Stattdessen schloss er die Faust um die abgewetzten Webermarken. Der Mann stopfte das Buch achtlos in eine Jackentasche.
»Meisterdrucker«, fuhr er hämisch grinsend fort. »Hast du viel Arbeit?« Seine Blicke huschten über die Gebäude und den Hof, wo ein paar Lehrlinge gerade dabei waren, die Pflastersteine zu fegen. Dann richtete er sein Augenmerk auf die wuchtigen Flügel des Außenportals.
»Über einen Mangel an Aufträgen kann ich mich nicht beklagen«, räumte Tagetarl ein und überlegte krampfhaft, wie er den Mann loswerden konnte. Draußen auf der Straße näherte sich rumpelnd ein Karren. Kurz darauf wurde das Vehikel durch das Tor geschoben. Die Ladung bestand aus Weinschläuchen, die in Stroh verpackt waren. Tagetarl wusste sehr wohl, dass niemand Wein bestellt hatte und schickte sich an zu protestieren, doch dann fiel ihm ein, was Pinch gesagt hatte. Gleichgültigkeit mimend, betrachtete er das Strohhalme verstreuende Gefährt.
In dem Moment, als er von dem heranrollenden Karren abgelenkt wurde, verschwand das Narbengesicht.
»Eine Lieferung für den Meisterharfner!«, rief der Weinhändler und hob die Hand, um sich bemerkbar zu machen.
»Meisterdrucker!«, berichtigte Tagetarl zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten und ärgerte sich, weil ihn niemand mit seinem korrekten Rang ansprach.
»Ähem, 'tschuldigung, Sir. Bist du Meisterdrucker Tagetarl?«
»Der bin ich.«
»Ich hatte versprochen, die Lieferung persönlich zu überwachen«, fuhr der vierschrötige Händler fort.
»Nanu! Und wer besaß die Dreistigkeit, diesen besonderen Dienst von einem so viel beschäftigten Mann wie dir zu verlangen?«, ging Tagetarl auf das Spiel ein. Wie der Kerl mit dem vernarbten Gesicht, so trug auch dieser Geselle eine Kluft aus schwarzem Leder. Er verbreitete Ausdünstungen, die an schalen, säuerlichen Wein erinnerten, und seine Schulter zierte der korrekte Knoten, der ihn als Gesellen der Winzerzunft auswies.
»Hat man dir nicht mitgeteilt, dass die Lieferung heute erfolgen würde?« Der Weinhändler schaute verdutzt drein. »Die Kuriere werden auch immer nachlässiger.«
Tagetarl hörte einen gedämpften Fluch und sah zu dem zerlumpten Knecht hin, der die Strohhalme vom Pflaster auflas.
»Wie du siehst, ist es ein guter Rotwein aus Benden.« Der Händler zeigte Tagetarl ein Etikett.
»Tatsächlich!« Tagetarl tat so, als sei er beeindruckt. »Ein Zweiundvierziger obendrein! Ausgezeichneter Jahrgang. Der wird mir munden. Auf wessen Gesundheit darf ich trinken, da der großzügige Spender unbekannt ist?«
»Na ja, der Burgherr schickt dir den Wein, wer denn sonst?«, erwiderte der Mann glattzüngig.
Tagetarl bedeutete dem Knecht, den Besen aus der Hand zu legen. »He, du da! Bring den Wein in die Küche, und heute Abend trinken wir alle auf das Wohl des Burgherrn. Vermutlich war er mit meinen neuesten Veröffentlichungen sehr zufrieden«, fügte er scheinheilig hinzu.
»Von Keller zu Keller lautet unser Motto. Ich trage den Schlauch selbst hinein. Wein muss vorsichtig transportiert werden.« Der Händler hob beide Arme, um jedwede Hilfe abzulehnen.
»Da hast du sicher Recht«, erwiderte Tagetarl. »Aber ich will dich nicht über Gebühr beanspruchen.« Er gab dem Knecht einen Wink, mit dem Abladen zu beginnen, weil er nicht wollte, dass der Händler die Halle betrat. »Wie ich gerade sehe, hast du auch einen Weißwein aus Benden dabei. Ist es ein guter Jahrgang?« Er wollte näher an den Karren heranrücken, um die an den Schläuchen angebrachten Etiketten zu lesen.
»Nein.« Nun versperrte der falsche Weinhändler Tagetarl den Weg. Das gleicht ja einer Posse auf dem Jahrmarkt, dachte Tagetarl amüsiert und wich dem Kerl aus. »Nicht zu vergleichen mit dem edlen Tropfen, der für dich bestimmt ist.«
Mit überraschender Behändigkeit schulterte der Knecht den Weinschlauch in einer Weise, der den Inhalt nicht über Gebühr durchschüttelte und trug ihn in die Halle. Der Händler war sichtlich enttäuscht, weil Tagetarl ihn nicht gewähren ließ. Doch der Meisterdrucker rechnete sich aus, dass der Mann vermutlich die Situation im Innern der Halle erkunden wollte.
»Schade«, bedauerte Tagetarl. »Hätte nämlich ein paar Marken übrig.« Er festigte den Griff um die Webermarken in seiner Hand. »Komm einfach bei mir vorbei, wenn du einen Weißwein Jahrgang fünfundvierzig auftreibst. Ein exzellenter Tropfen.« Aus Boshaftigkeit nannte Tagetarl einen, wie er wusste, ungewöhnlich minderwertigen Jahrgang.
»Gute Wahl! Du scheinst mir ein echter Weinkenner zu sein, Meister-äh-drucker.«
Tagetarl begleitete ihn bis vor das Außenportal und sah ihm hinterher, wie er den Karren hügelan schob. Dann hetzte er in die Halle zurück, um nachzusehen, was Pinch - falls er die zerlumpte Gestalt war, die so beflissen den Hof gefegt hatte - mit dem Weinschlauch anstellte. In der Küche hielt sich der Bursche nicht auf - sehr zu Tagetarls Erleichterung, denn dort bereitete Rosheen das Abendessen zu. Sie hätte wissen wollen, wer dieser unansehnliche Kuli war, und woher der Wein stammte. Als Tagetarl drunten im Kellergewölbe Schritte hörte, stieg er die Treppe hinab. Der Weinschlauch lag in einem der steinernen Wäschebottiche, während der Knecht unter seinem löchrigen Kittel in einer Gürteltasche stöberte.
»Gieß ein bisschen Wein in einen Becher, Tag«, bat Pinch und zückte ein kleines Fläschchen. Tagetarl wusste, dass es ein sehr wertvolles Pulver enthielt, mit dem Reisende prüften, ob sie gefahrlos Wasser aus einem Fluss trinken konnten.
Tagetarl nahm ein altes, angeschlagenes Glas von einem Bord, öffnete den Schlauch und entnahm eine Probe. Vorsichtig gab Pinch ein paar Körner von dem Pulver hinzu. Langsam begann der Wein zu schäumen.
»Wer von dem Wein trinkt, schläft bald wie ein Toter - oder ist tatsächlich tot«, meinte Pinch. Er stöpselte den Schlauch wieder zu. »Offenbar wollte man dich betäuben, damit du die Halle bei einem Angriff nicht verteidigen kannst. Wo können wir den Schlauch verstecken?« Er blickte sich in dem Gewölbe um.
»Am Besten unter dem Spülstein, hinter den großen Seifenstücken«, schlug Tagetarl vor und half Pinch, den Schlauch zu verstauen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Stöpsel auch wirklich fest saß. »Hat man denn angenommen, wir würden heute Abend den Schlauch leer trinken?«
»Normalerweise trinkst du zum Abendessen Wein.«
»Apfelwein«, stellte Tagetarl richtig. »Rot- oder Weißwein nur bei besonderen Anlässen. Aber woher wissen diese Leute über meine Trinkgewohnheiten Bescheid?«
»Indem sie dich beobachten. Das Fenster in deiner Küche geht auf die Straße. Und die Läden schließt du erst, wenn ihr zu Bett geht.« Pinch zuckte die Achseln. »Im Übrigen trinken die meisten Leute reichlich Wein, wenn es ihn umsonst gibt. Obendrein hast du laut verkündet, du würdest auf das Wohl des Burgherrn anstoßen.«
»Ob er vielleicht Lord Kashman gemeint hat?«, grübelte Tagetarl.
Pinch schürzte die Lippen. »Einen Namen hat er nicht genannt, oder? Möglicherweise steckt auch die Absicht dahinter, Lord Toronas in Verruf zu bringen, denn immerhin stammt der Wein aus Benden.« Dann hob Pinch schnüffelnd die Nase. Von der Küche wehten köstliche Düfte bis in den Keller herunter. »Wann sagtest du, gibt es Abendessen?«
Rosheen erschien auf der Kellertreppe. »Ich dachte, ich hätte einen Fremden gesehen. Pinch?«, setzte sie hinzu und starrte den Harfner an, der hastig den schmutzigen Kittel abstreifte. »Was tust du denn hier?«
»Ich vermute, du hast es ihr noch nicht erzählt«, sagte Pinch und seufzte ergeben.
»Was soll er mir nicht erzählt haben?« Sie funkelte die beiden Männer wütend an.
»Du hattest mit deinen Vorahnungen Recht, Rosheen«, erwiderte Tagetarl. »Es wird Ärger geben.«
»Die Rebellen?«, rief sie entsetzt, nachdem Tagetarl und Pinch sie in alles eingeweiht hatten.
Wie immer, reagierte Rosheen ganz anders als erwartet.
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Freunde mitgebracht hast, Pinch?«, schimpfte sie. »Dann hätte ich für sie etwas Besonderes gekocht. Und sie mussten sich den ganzen Tag lang auf diesem grässlichen Dachboden verstecken?«
»Sie brachten sich ihren eigenen Proviant mit, und die meiste Zeit haben sie geschlafen«, verteidigte sich Pinch. »Es durfte doch niemand wissen, dass sie hier sind.«
Jählings setzte sich Rosheen auf die Treppenstufen. Ihr Gesicht war kreidebleich, als sie begriff, in welcher Gefahr die Halle schwebte.
Dann erschienen auf ihren Wangen zwei hektische rote Flecken »Und ihr brachtet es tatsächlich fertig, mich die ganze Zeit über im Ungewissen zu lassen?«, empörte sie sich.
»Beruhige dich, Rosheen«, versuchte Tagetarl einzulenken. »Einer von uns musste sich doch ganz natürlich geben.«
»Meisterdrucker Tagetarl, darüber werden wir uns noch ausführlich unterhalten …«
»Später, Rosheen«, warf Pinch ein. »Wenn alles vorbei ist, kannst du deinem Mann nach Herzenslust die Leviten lesen.«
Sie senkte die erhobene Hand, mit der sie Tagetarl gedroht hatte. »Wann geht es los?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Wenn wir Glück haben, heute Nacht«, antwortete Pinch.
»Das nennst du Glück?« Sie blinzelte verdattert. »Ist der geplante Angriff der Grund, weshalb Ola mich heute nicht aus den Augen gelassen hat?«
»Höchstwahrscheinlich«, räumte Pinch ein. »Und jetzt wollen wir essen und einen guten Tropfen trinken, der nicht mit einer Droge versetzt ist. Vielleicht euren köstlichen Apfelwein?«, fügte er mit gespielter Naivität hinzu.
Rosheen holte tief Luft und setzte zu einer Entgegnung an, besann sich jedoch anders. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie in eine Ecke des Kellers. »Harfner, du weißt genau, wo ich den Apfelwein aufbewahre!« Dann drehte sie sich um und stürmte vehement die Treppe hinauf, um ihren Groll abzureagieren.
»Ich finde, sie hat es ganz gut aufgenommen«, äußerte Pinch und schlüpfte wieder in den zerfetzten Kittel. »Gleich schlurft ein Knecht zum Tor hinaus und verliert sich in irgendwelchen Gässchen und Schleichpfaden. Nicht lange, und vom Hafen her erscheint ein seriös gekleideter Gentleman mit einem Auftrag für den Meisterdrucker, über den man ausgiebig diskutiert, derweil ostentativ auf das Wohl des Burgherrn getrunken wird.«
***
Genau das geschah, als sich die Abenddämmerung über die Weite Bucht senkte. Leicht torkelnd, als seien sie beschwipst, überquerten Tagetarl und Pinch später den Hof, um das Außentor für die Nacht zu versperren. Es dauerte eine Weile, bis der schwere Holzriegel in den Halterungen saß und Tagetarl die komplizierte Verschlussvorrichtung befestigt hatte.
»Keine Bange, mein Freund«, erklärte Pinch, als sie zur Küchenveranda zurückgingen. »Vielleicht gelingt es ihnen, in die Halle einzudringen, aber ich versichere dir, so schnell kommen sie nicht wieder hinaus. Und sie werden keine Gelegenheit erhalten, Schaden anzurichten. Lass uns jetzt hineingehen, als argwöhnten wir nichts Böses, und die Tür abschließen.«
Obwohl Pinch ihm dargelegt hatte, welche Vorkehrungen er getroffen hatte und wo seine Helfer sich versteckten, war Tagetarl realistisch genug um zu wissen, dass Unwägbarkeiten immer eintreten konnten.
»Versuch dich zu entspannen, Tag«, riet Pinch. »Ich glaube, jede Feuerechse in der Nachbarschaft kommt herbeigeflitzt, sowie Ola den Alarmschrei ausstößt.«
»Auf Feuerechsen möchte ich mich lieber nicht verlassen«, brummelte Tagetarl und erschauerte. Die Nachtluft war empfindlich kalt.
Pinch lachte leise. »Bista ist auch noch da. Und auf sie ist Verlass. Und jetzt muss ich mich darum kümmern, dass ein bestimmter Trick funktioniert.« Er klopfte Tagetarl ermutigend auf die Schulter und huschte auf einem Nebenweg in Richtung Halle.
»Ich soll mich entspannen, sagt er!«, knurrte Tagetarl.
»Wie konntest du mir das alles verheimlichen, Tag?«, zeterte Rosheen, aus der Küche kommend.
»Jetzt weißt du es ja. Was hätte es genützt, wenn du dir schon früher Sorgen gemacht hättest?«, versetzte er bissiger als gewollt und zog sie gleich darauf abbittend in die Arme. Er spürte, wie sie zitterte.
»Es hätte gar nichts genützt. Du warst sehr tapfer, Tag.«
»Ich habe Angst. Jetzt tut es mir Leid, dass wir keine Stahltüren einsetzen ließen.«
»Stahltüren haben die Rebellen auch nicht davon abgehalten, in die Heilerhalle einzudringen, oder? Sie sind einfach durch die Tür marschiert. Jedenfalls können sie hier nicht ungesehen in den Hof gelangen.«
Er löschte das Licht in der Küche.
»Soll ich jetzt vielleicht kichern wie eine Betrunkene? Beschwipst vom Wein, den uns der Burgherr spendiert hat? Oder sollen wir auf allen vieren die Treppe hinaufkrabbeln?«
Obwohl sie um einen lockeren Ton bemüht war, merkte er ihr die Besorgnis an.
»Uns würde doch niemand sehen, Liebste. Jetzt, wo die Tore geschlossen sind, kann uns keiner beobachten.«
Er legte einen Arm um ihre Taille, und sie stiegen die Treppe zu ihrem Schlafgemach empor, unterwegs die einzelnen Lampen ausschaltend. Danach schlichen sie leise die Stiege wieder hinunter und machten es sich auf der langen Küchenbank bequem. Rosheen hatte Kissen besorgt, damit ihre Wache nicht zu ungemütlich wurde.
»Passt Ola auch auf?«, flüsterte er.
»Was dachtest du denn?« Nur als länglicher Schatten erkennbar, lauerte die Feuerechse auf dem breiten Fenstersims.
Doch selbst die weichen Kissen verhinderten nicht, dass die Warterei auf der Bank zu einer Strapaze wurde. Nach dem anstrengenden Tag war für Tagetarl das Herumsitzen und Ausharren die schlimmste Prüfung. Rosheen legte den Kopf auf seine Schulter und döste ein. Er hielt sich krampfhaft wach und lauschte auf die unterschiedlichsten Geräusche, die von überall her zu ertönen schienen.
Dennoch musste er eingenickt sein, denn Olas leises Zischen weckte ihn aus seinem leichten Schlummer. Sanft schüttelte er Rosheen, und sie murmelte verschlafen ein paar Worte, ehe sie sich erinnerte, dass sie keinen Laut von sich geben durfte. Er spürte, wie sie sich vor Anspannung verkrampfte.
Die Feuerechse verschwand. Was mochte sie gehört haben? Konnte er einen Blick aus dem Fenster riskieren?
Ein Geräusch! Draußen! Gedämpft klapperte der Skybroom-Riegel in seinen Verankerungen. Er grinste. Wer immer sich daran zu schaffen machte, versuchte, den Sicherheitsmechanismus mit Gewalt auszuschalten. Plötzlich flackerte eine kleine Flamme auf. Ein Streichholz? In gebückter Haltung stahl er sich bis zur Küchentür, von wo aus er einen Teil des Außenportals sehen konnte. Da seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, gewahrte er zwei schemenhafte Gestalten, die mit dem schweren Riegel kämpften. Ein weiterer Schatten huschte über den Hof, um seinen Kumpanen zu helfen.
Pinch hatte damit gerechnet, dass drei Personen über das Dach des Weberhauses klettern würden, um das Außenportal zu öffnen und die anderen hereinzulassen. Abermals ertönte ein dumpfes Poltern, als der Skybroom-Balken sich nicht aus den Halterungen lösen wollte. Schadenfroh schmunzelte er in sich hinein. Alsdann tauchten über dem Tor die dunklen Umrisse von drei Gestalten auf, um jedoch gleich wieder zu verschwinden. Bildete er es sich ein, oder hörte er tatsächlich unterdrückte Schreie? Die drei Typen, die von innen an dem Portal herumfuhrwerkten, drängten sich einen Moment lang dicht aneinander, um dann in einem neuerlichen Anlauf den wuchtigen Balken zu attackieren.
Wieder züngelte eine Flamme, sorgfältig abgeschirmt, und Tagetarl konnte erkennen, dass die Eindringlinge damit den Sicherheitsmechanismus beleuchteten. Er lachte verhalten. Selbst bei Tageslicht fiel es einem Uneingeweihten schwer, die trickreiche Verriegelung zu begreifen.
Noch ein Streichholz wurde angezündet, und zwei Fackeln loderten auf. Im Feuerschein sah Tagetarl, wie einer der Männer über den Hof rannte und die Fackeln direkt vor den beiden Türen des Schuppens ablegte. Die Fackeln brannten lichterloh, und Tagetarl hielt den Atem an. Vielleicht hielt der Feuer abweisende Anstrich nicht, was er versprach. Voller Furcht beobachtete er die beiden Türen, doch das Einzige, was abbrannte, waren die Fackeln. Der Feuerschein spiegelte sich in dem Lack, der die Holztüren überzog. Der Kerl, der die Fackeln abgelegt hatte, schien nichts davon zu bemerken. Er rannte zum Portal zurück, um seinen Spießgesellen bei dem widerborstigen Riegel zu helfen.
Aus dem Augenwinkel nahm Tagetarl eine Bewegung wahr. Nun huschten mindestens zehn Personen über den Hof, trotz des nach wie vor versperrten Portals. Man gab die Bemühungen an dem Riegel auf, und die Gruppe schlich lautlos in Richtung der Druckerhalle.
Was mochte sich in den Fässern befinden, die neben der Eingangstür zur Halle standen? Der Blick zu diesem Tor war ihm versperrt, doch er hörte, wie jemand die steinerne Treppe zur Küchenveranda hinaufstieg. Der Umriss eines groß gewachsenen, kräftigen Mannes hob sich schwarz gegen den Schein der Fackeln ab, die immer noch wirkungslos vor den Türen zum Schuppen brannten.
Pinch hatte Tagetarl angewiesen, jeden daran zu hindern, den Verbindungsgang, der von der Burg zur Halle führte, zu betreten. Der Meisterdrucker festigte seinen Griff um den Knüttel, mit dem er sich vorsorglich bewaffnet hatte, und wünschte sich, er hätte sich einen dickeren ausgesucht. Vor den lodernden Flammen sah der Kerl hünenhaft aus. Seit seiner Gesellenzeit hatte sich Tagetarl nicht mehr geprügelt. Der Hüne pirschte sich an die Verandatür heran, und Tagetarl vernahm ein dumpfes Pochen. Er schmunzelte voller Genugtuung. Das Glas aus Meister Moriltons Manufaktur ging nicht so leicht zu Bruch. Es bedurfte schon einer gewaltigen Kraftanstrengung, um eine dieser Scheiben zu zertrümmern, und das würde einen ungeheuren Lärm verursachen.
Doch er hatte sich geirrt. Der Kerl hielt etwas über die Scheibe, ehe er ein zweites Mal zuschlug. Es gab ein klirrendes Geräusch, als das Glas zersplitterte. Mit einem knirschenden Laut barst das Schloss. Wenn er und Rosheen von dem mit Drogen versetzten Wein getrunken hätten, hätten sie nichts gehört. Der Kerl stieß die Verandatür auf und verharrte ein Weilchen mit schräg geneigtem Kopf, als würde er lauschen. Tagetarl hob den Knüppel, und als der Eindringling die Küche betrat, sprang er ihn an. Doch der Kerl stolperte plötzlich und stürzte fluchend zu Boden. Auf seinen Kopf zielend, schlug Tagetarl zu und glaubte, er hätte sich die Schulter ausgerenkt, als der Knüttel auf einen viel härteren Widerstand traf als erwartet.
»Dich hab ich erwischt!«, zischte Rosheen voller Genugtuung. Dann sah sie Tagetarls Knüppel, der über der schweren eisernen Bratpfanne lag, mit dem sie den Einbrecher bewusstlos geschlagen hatte. »Meine Güte. Ich habe dich gar nicht gesehen, Tag.«
Tagetarl taumelte und hielt sich den schmerzenden Arm. Seine Hand hingegen fühlte sich wie taub an. Aufgeregt zirpend, mit klatschenden Schwingen, kam Ola angeflogen und vollführte hektische Scheinangriffe gegen den am Boden liegenden Mann. Drei weitere Feuerechsen fädelten sich geschickt durch das Loch in der Glasscheibe.
»Wie hast du ihn zum Stolpern gebracht?«, flüsterte Tagetarl.
»Mit dem Besenstiel. Ich hörte, wie das Glas zersplitterte. Wo warst du?«
Mit dem Kinn deutete Tagetarl über seine Schulter.
»Wir werfen ihn die Kellertreppe hinunter, da kann er keinen Schaden mehr anrichten«, schlug Rosheen so kaltblütig vor, dass Tagetarl sie verdutzt anstarrte. Sonst war seine Frau die Gutmütigkeit in Person. »Ola und die anderen Feuerechsen werden dafür sorgen, dass er nicht flieht.«
»Hoffentlich hast du ihn nicht umgebracht.«
»Wenn ja, dann hat er sich sein Schicksal selbst zuzuschreiben«, versetzte sie ungerührt. »Was hatte der Kerl bei uns zu suchen?«
Doch der Mann lebte noch, als sie ihn bei den Schultern packten und zum Kellereingang schleiften. Unsanft ließen sie ihn die Stufen hinunterrollen. Böse zischend folgten ihm die Feuerechsen in das finstere Gewölbe.
In geduckter Haltung pirschten sich Tagetarl und Rosheen zur offen stehenden Küchentür zurück.
Rosheen schnappte nach Luft und ruderte wild mit den Armen, als sie die brennenden Fackeln sah. Tagetarl hielt seine Frau fest, ehe sie hinlaufen konnte. »Sieh genau hin«, raunte er ihr ins Ohr. »Nur die Fackeln brennen, die Türen fangen kein Feuer.«
»Sicher, aber was passiert, wenn die Rebellen merken, dass ihr Plan schief gegangen ist?«, hielt sie ihm entgegen.
Verflixt, wo blieb Pinch?
Plötzlich hörte er das Splittern von Holz und das penetrante, scharrende Geräusch, wenn Schrauben mit Gewalt herausgezogen werden. Dann erklang triumphierendes Gemurmel, und im Schein der Fackeln sah er, dass die Flügeltür der Halle aus ihren Angeln gehoben und auf die Pflastersteine gelegt wurde. Die Eindringlinge, wie berauscht von ihrem Erfolg, trampelten über die demolierten Türflügel hinweg.
Im nächsten Moment erklang ein ohrenbetäubendes Kreischen. Tagetarl zuckte zusammen, und dann schien der Hof angefüllt zu sein mit wild schlagenden Schwingen und heftig züngelnden Flammengarben, die auf den Eingang zur Druckerhalle zielten. Menschen schrien vor Angst und Schmerzen, dazwischen mischten sich Protestrufe. Den Knüppel schwingend, stürmte Tagetarl über die Veranda, gefolgt von Rosheen, die kampfeslustig die eiserne Bratpfanne schwenkte.
Zum Glück hielten sie sich dicht an der Mauer und rannten nicht quer über den Hof, denn etwas Großes, Helles senkte sich hernieder und wäre sonst auf ihnen gelandet. Tagetarl drückte sich noch dichter an die Gebäudewand und zog Rosheen mit sich. Im ersten Augenblick vermochte er nicht zu erkennen, welchen geheimnisvollen Trick sich die Reaktionäre noch ausgedacht hatten. Derweil schraubten sich die schrillen Stimmen, die in der Halle Zeter und Mordio schrien, weiter in die Höhe.
»Nicht das Gesicht zerkratzen!«
»Du brichst mir die Rippen!«
»Au weh, mein Kopf, mein Kopf!« Schreie wie diese wurden begleitet von donnernden Schlägen gegen das Außenportal und besorgten Rufen. »Was ist los da drinnen? Macht endlich das Tor auf! Tagetarl! Meisterdrucker!«
»Meister Tagetarl, ich bin's, Venabil! Was geht hier vor?«
»Gib Obacht!«
»Splitter und Scherben, das darf doch nicht wahr sein!«
»Heda! Aus dem Weg! Ihr da hinten! Macht Platz!«
Zwischen der Oberkante des Außenportals und dem Torbogen klaffte eine Lücke von ungefähr anderthalb Metern Breite, und diese war ausgefüllt mit zwei aufgeregt kreisenden, orangerot glühenden Augen.
»Tagetarl! Öffne das Tor!«
»Gleich, gleich, habt einen Augenblick Geduld!« brüllte Pinch zurück. »Wer hat die Taschenlampen? Torjus, Chenoa, löscht die Fackeln. Macy, hilf mir, den Riegel zu entfernen!«
Plötzlich war der Hof in gleißendes Licht getaucht. Jemand in der Halle besaß die Geistesgegenwart, auf den Hauptschalter zu drücken. Das große, helle Objekt, dem Tagetarl ausgewichen war, richtete seine bunt glitzernden Augen auf ihn, und der Meisterdrucker erkannte den weißen Drachen Rutil und den Reiter, der gerade absaß.
»Du bist es also, den Rutil retten möchte«, lautete Lord Jaxoms leicht amüsierter Gruß.
»Wer hat euch Bescheid gegeben?«, fragte Tagetarl unendlich erleichtert.
»Wir wussten lediglich, dass wir unverzüglich hierher aufbrechen sollten.« Jaxom öffnete seine Jacke, und darunter trug er ganz normale Sachen, keine vollständige Reitmontur. »Rutil sagt, Lioth und N'ton seien auch um Hilfe gebeten worden. Gehe ich Recht in der Annahme, dass deine Halle überfallen wurde?« Er deutete auf die klaffende Türöffnung, in der ein zappelndes, sich windendes Bündel baumelte. »Habt ihr die ganze Bande in diesem einen Netz gefangen?«
Noch halb benommen von den sich überstürzenden Ereignissen, hatte Tagetarl gar nicht genau hingesehen. Also hatten sich Netze in den Fässern befunden. Hatte Pinch nicht erwähnt, einige seiner Helfer seien Seeleute? Eine glänzende Idee! Nun bemerkte er, dass die Schwärme von Feuerechsen, die kreischend und Flammen speiend herbeigeflitzt kamen, die Gefangenen in den Netzen mit ihren Krallen attackierten. Die Schreie der so gepeinigten übertönten den Lärm der Gruppe, die draußen vor dem Portal stand und lautstark Einlass verlangte.
»Da ist noch ein Kerl«, flocht Rosheen atemlos ein. »Er versuchte über die Küche einzudringen. Wir schlugen ihn bewusstlos und warfen ihn die Kellertreppe hinunter.«
»Gut gemacht«, lobte Lord Jaxom. Er musste die Stimme heben, um sich über dem allgemeinen Radau Gehör zu verschaffen. »Aber was um alles in der Welt hast du getan, Tagetarl, um den Hass der Rebellen auf dich zu ziehen?«
»Steht es denn fest, dass es tatsächlich Rebellen sind, die die Halle angegriffen haben?«, fragte Rosheen.
»Wer sonst könnte die Druckerhalle zerstören wollen, wenn doch die meisten Perneser kaum abwarten können, richtige Bücher zu besitzen? Und warum wohl sind N'ton und ich herbeigeeilt? Um als Zeugen für diesen Angriff auf eine wehrlose Halle aufzutreten.«
Just in diesem Moment entfernten Pinch und Macy den Riegel vom Außenportal. Die Türflügel wurden aufgestoßen, und in den Hof ergoss sich eine Traube von aufgebrachten Menschen, die Knüppel, Messer und Fackeln schwenkten. Die Leute stürmten bis zum Eingang der Halle und blieben verdutzt stehen, mit offenen Mündern die im Netz strampelnden Rebellen begaffend.
»Jaxom? Geht es dir gut?« übertönte eine Stimme das zornige Gebrüll. Eine hoch gewachsene Gestalt in lederner Reitkluft pflügte sich durch die Menge. »Lioth erhielt den Befehl, mich sofort zur Weiten Bucht zu bringen. Tagetarl? Ist das nicht deine Druckerhalle?« N'ton unterbrach sich, als er das hin und her pendelnde Netz in der offenen Tür erblickte. »Was habt ihr denn da gefangen?«
»Das bleibt noch festzustellen«, entgegnete Pinch und trat ein paar Schritte vor. Dem Burgherrn und dem Weyr-Führer nickte er höflich zu. »Ich mag ja eigenmächtig gehandelt haben, aber mir kam zu Ohren, dass die Rebellen die Druckerhalle als nächstes Ziel ins Auge fassten. Und da wir auf eine so wichtige Einrichtung nicht verzichten können, wollte ich einen Angriff vereiteln.«
Nach einer kurzen Pause fuhr Pinch fort: »Drei Typen kletterten über die Dächer, in der Absicht, das Hauptportal für ihre nachrückenden Spießgesellen zu öffnen. Das gelang ihnen zwar nicht, dank des komplizierten Verriegelungsmechanismus, aber sie versuchten, einen Brand zu legen und zerstörten das Tor zur Druckerhalle.«
»Ein Kerl zertrümmerte die Glastür der Küchenveranda, aber Rosheen schlug ihn mit einer eisernen Bratpfanne k.o.«, ergänzte Tagetarl, nicht ohne Stolz auf seine beherzte Frau, obwohl sein Arm und das Schultergelenk immer noch schmerzten.
»Da wäre noch die Sache mit dem Wein, dem eine Betäubungsdroge beigemischt war«, erinnerte Pinch. »Er wurde geliefert, in der Hoffnung, der Meisterdrucker und Rosheen würden ihn trinken und das Eindringen der Rebellen nicht hören.«
»Und diejenigen, die es tatsächlich bis in die Druckerhalle schafften, habt ihr in einem Netz gefangen?«, fragte N'ton.
»Ja, nachdem sie die Tür aufgebrochen hatten«, bestätigte Pinch mit schalkhaftem Grinsen.
»He, die Feuerechsen beanspruchen das ganze Vergnügen für sich!«, rief jemand von der Halle her.
Die Feuerechsen, die kampfeslustig die im Netz schaukelnden Rebellen umschwirrten, hinderten die Menge daran, die Gefangenen näher in Augenschein zu nehmen. Jaxom wandte sich an Rutil und tätschelte seine Schulter. »Schick sie fort, Rutil, und richte ihnen unseren Dank aus. Sie haben eine ausgezeichnete Vorstellung geliefert.«
Rutil hob den Kopf und stieß einen schrillen Trompetenton aus. Nicht nur die Menschen schwiegen erschrocken, auch die Feuerechsen suchten in einem kunstvollen Flugmanöver das Weite, wobei sie so niedrig über dem Boden dahinsausten, dass die Leute hastig die Köpfe einzogen. Lord Jaxom bedeutete seinen Freunden, ihm zu folgen, und marschierte zu dem pendelnden Netz. Nur noch vereinzelt wurden Stimmen laut, jetzt, da jemand das Kommando übernommen hatte, warteten alle gespannt darauf, wie die Dinge sich entwickeln würden.
»Lasst das Netz herunter!«, befahl Jaxom und vier von Pinchs Helfern schritten beflissen zur Tat.
»Stop! Haltet ein!«, donnerte eine Stimme, und ein Mann mit Seemannsmütze und Meisterabzeichen trat vor. »Wenn man sie im Netz lässt, Lord Jaxom, schaffen wir die ganze Blase in den Hafen und binden sie an das Heck meines Schiffs. Ich schleppe sie in tiefes Wasser, und das Problem ist gelöst.«
Die Menge grölte vor Begeisterung angesichts dieser als gerecht empfundenen Strafe.
»Das geht leider nicht«, erwiderte Jaxom bedauernd, »denn ich bin hier, zusammen mit dem Weyr-Führer N'ton und dem Meisterdrucker. Wir müssen uns an die Vorschriften halten.«
»Und wie lauten die?«, erkundigte sich der Kapitän unwirsch, weil sein Vorschlag auf Ablehnung traf.
»Die Charta, die uns während der letzten zweitausendfünfhundert Planetenumläufe klug geleitet hat«, langsam drehte sich Jaxom im Kreis und fixierte die ihm am nächsten Stehenden, »verleiht einem Burgherren, einem Weyr-Führer und einem Zunftmeister das Recht, Straftäter zu verurteilen.«
»Dann verurteilt die Halunken doch!«, rief der Kapitän unter dem beifälligen Gemurmel der Menge.
»Das könnt ihr uns nicht antun!«, schrie einer der Gefangenen. »Wir haben nichts verbrochen!«
Durch die Maschen im Netz polterte ein wuchtiger Hammer zu Boden, und dann sah Tagetarl, dass auf den Steinplatten noch mehr Werkzeuge lagen.
Der Kapitän legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Aber nur, weil ihr dazu keine Gelegenheit bekamt!«
Die Umstehenden johlten vor Vergnügen.
»Zieht ihr eine Bestrafung durch den Kapitän vor?«, fragte Jaxom.
»Das ist doch keine Gerechtigkeit!«, keifte eine Frauenstimme. »Hör auf, mich zu begrabschen!«, fuhr sie einen Mann an, der neben ihr im Netz baumelte. »Ihr habt kein Recht, uns so schändlich zu behandeln!«
Wieder landete ein schweres Werkzeug klirrend auf dem Pflaster.
»Sammle die Werkzeuge ein, Pinch, und dann lasst das Netz herunter«, ordnete Lord Jaxom an. »Mal sehen, was ihr gefangen habt. Schwarzgesichtige Eisenflossen? Einen ganzen Schwarm?« Er wandte sich an Tagetarl und fragte leise: »Sag mal, kennst du diesen Kapitän?«
»Das ist Kapitän Venabil«, erwiderte Tagetarl. »Ein Mann, der weiß, was er will, und keinen Unfug duldet.«
Das Netz plumpste auf den Boden, und die darin Gefangenen wurden gehörig durchgerüttelt. Man hörte Schreie und Flüche. Ohne viel Umstände kippte man die Leute aus den Maschen wie eine Ladung Fische. Manche blieben mit dem Gesicht nach unten auf den Steinen liegen, andere rappelten sich auf alle viere hoch, noch ganz benommen von der Schaukelei in dem Netz.
»Ihr da!«, ergriff Pinch das Wort. »Steht auf und stellt euch in einer Reihe hin.« Grob riss er einen Mann auf die Füße und gab seinen Freunden einen Wink, den anderen gleichfalls auf die Sprünge zu helfen. »Durchsucht sie!«
Während man den Eindringlingen Meißel, Stemmeisen, Streichhölzer und Hämmer abnahm, marschierte Pinch an den halbwegs in Reih und Glied stehenden Gefangenen auf und ab.
»Habt ihr sonst nichts bei ihnen gefunden?«, erkundigte sich N'ton, dem einfiel, dass man bei den in Burg Fort festgenommenen Rebellen nichts entdeckt hatte, was zu ihrer Identifizierung hätte dienen können.
»Was für ein trauriger Haufen!«, bemerkte Kapitän Venabil kopfschüttelnd. »Ich hoffe nur, dass diese Leute ihre gerechte Strafe bekommen werden. Sie sind mitten in der Nacht hier eingedrungen, haben Eigentum der Druckerhalle beschädigt und versucht, den Schuppen in Brand zu setzen. Solche Haderlumpen haben hier nichts zu suchen. Was hast du mit ihnen vor, Lord Jaxom? Ich wäre gern dabei, wenn das Urteil gesprochen wird, doch vor Tagesanbruch muss ich wieder auf meinem Schiff sein.«
Lord Jaxom deutete eine Verbeugung an und nickte ihm verständnisvoll zu.
»Sollten wir nicht Lord Kashman hinzuziehen?«, schlug jemand aus der Menge vor. »Er ist unser Burgherr und für die Gerichtsbarkeit zuständig.«
»Aber nur bei Straftaten, die eher allgemeiner Natur sind und die Gesetze der Burg betreffen«, hielt Pinch dem Mann entgegen. »Diese Angelegenheit hier gehört in den Zuständigkeitsbereich der Harfnerhalle. Doch falls jemand von euch Lord Kashman untersteht«, wandte er sich an die Gefangenen, »soll er sich melden. Dann übergeben wir ihn diesem Burgherrn, der sicher weiß, wie man mit Übeltätern verfährt.«
Einer der Zuschauer fing an zu lachen und meinte, in dem Netz sei ein Delinquent besser aufgehoben als in einem von Keroons Verliesen.
»Trotzdem«, bekräftigte Pinch, »jeder, der Lord Kashman seinen Herrn nennt, hat einen Anspruch darauf, sich von ihm aburteilen zu lassen.«
Keiner der Gefangenen gab eine Antwort.
Mit herrischer Miene trat N'ton vor die Rebellen. »Name, Burg, Halle und Rang, falls vorhanden!«, verlangte er zu wissen.
Wieder erfolgte keine Reaktion, und N'ton zuckte die Achseln.
»Die Gefangenen werden des unbefugten Eindringens und der Sachbeschädigung angeklagt«, fuhr N'ton nach kurzem Überlegen fort. »Ziel des Vandalismus war eine ordnungsgemäß zugelassene Zunfthalle. Meister Tagetarl, Meister Mekelroy, wie wollt ihr mit den Beschuldigten verfahren?«
Überrascht, welche Wut auf einmal in ihm hochzüngelte, baute sich Tagetarl vor der Reihe der Rebellen auf und funkelte sie zornig an. Den falschen Weinhändler hatte er auf Anhieb erkannt, doch das Narbengesicht und das Frauenzimmer, dessen Konterfei Pinch skizziert hatte, fehlten in der Bande. Die Abwesenheit dieser beiden offenkundigen Rädelsführer bereitete dem Meisterdrucker erhebliche Sorgen.
»Warum wolltet ihr die Halle zerstören?«, herrschte er die Rebellen so böse an, dass einige von ihnen erschrocken zurückzuckten. »WARUM?« Empört stemmte er die Fäuste auf seinen Gürtel und trat noch einen Schritt näher.
»Wegen der Lügen!« Der Mann, der direkt vor ihm stand, hob schützend die Hände vor sein Gesicht. »Wir müssen verhindern, dass noch mehr Lügen verbreitet werden!«
»Was für Lügen?«, grollte Tagetarl, der mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte.
»Ihr druckt die Lügen, die die Harfner erfinden und streut sie über ganz Pern aus!«, schrie der Kerl und deutete mit wild fuchtelnden Armen in die Halle, wo auf Regalborden Stapel von Büchern lagen.
»Ich drucke keine Lügen!«, fauchte Tagetarl drohend.
»Aber du druckst Bücher. Und das Monstrum hat dir beigebracht, wie du in Windeseile Schund zu Papier bringen kannst, um harmlose, gutgläubige Leute zu verderben.«
Kapitän Venabil platzte der Kragen. Mit erhobener Faust sprang er den Mann an, der dem Hieb gerade noch rechtzeitig auswich.
»Die wahren Ungeheuer seid ihr«, polterte der Seemann. »Ein feiges Lumpenpack, das nächtens durch die Gegend schleicht und das vernichtet, was von klügeren Leuten geschätzt und respektiert wird.«
»Wir wollen nicht, dass weiterhin Lügenmärchen in die Welt gesetzt werden«, ereiferte sich eine Frau, die gleichfalls in der Reihe der Rebellen stand. »Pern soll sauber bleiben. Für diesen neumodischen Humbug haben wir nichts übrig!«
»Ich höre wohl nicht recht!«, konterte Venabil verächtlich. »Gerade jetzt braucht Pern modernste Hilfsmittel um zu überleben!«
»Was wäre aus uns geworden, hätten die Akki-Geräte uns nicht vor der Überflutung gewarnt?«, schrie einer der Umstehenden und schüttelte seine geballte Faust. »Ich stimme für den Vorschlag des Kapitäns. Wir sollten die ganze Bande im Meer ertränken.«
»Ertränkt sie! Ertränkt sie!«, skandierten die Leute, wobei die Rufe immer lauter und bedrohlicher wurden.
»Steckt sie wieder ins Netz! Schleppt das Pack ins tiefe Wasser!«
»Das würde nur unseren Hafen verschmutzen!«
Rutil stieß einen schmetternden Trompetenton aus, der die aufgeregt brüllende Menge im Hof zum Schweigen brachte. Lioth antwortete, und erst eine Weile danach nahmen die Leute im Flüsterton die Diskussion wieder auf.
»Seid ihr Traditionalisten?«, wandte sich Lord Jaxom streng an einen kräftigen Kerl, der eine unbeteiligte Miene aufsetzte und ins Leere starrte.
»Und ob wir das sind!«, schrie die Frau trotzig, während der falsche Weinhändler gleichzeitig brüllte: »Wir geben nichts zu!«
»In diesem Fall«, versetzte Venabil trocken, »möchte ich der Frau Glauben schenken.«
»Sie stecken alle unter einer Decke«, rief der Mann, der drohend die Faust geschüttelt hatte. »Gemeinsam haben sie die Tür aufgebrochen und Feuer gelegt.«
»Jawohl, sie haben versucht, einen Brand zu entfachen.« Ein schmächtiger, gebeugter Mann schob sich durch die Menge und zeigte heftig gestikulierend in die Pachtung, in der der Schuppen lag. »Und wäre ihnen das gelungen, hätte auch mein Haus niederbrennen können. Ich bin Colmin, Webergeselle, und die gesamte Arbeit eines Winters lagert auf diesem Dachboden dort hinten. Dabei benutze ich ausschließlich traditionelle Muster. Diese Gauner hätten mich ruiniert, wäre ihnen nicht Einhalt geboten worden. Ruiniert hätten sie mich!«
»Die Anwohner der Weiten Bucht haben mit Brandstiftern kein Mitleid«, rief eine Frau, die Hände trichterförmig an den Mund legend. »Und nun sprich du, Harfner! Immerhin war es eine Zunfthalle, die angegriffen wurde.«
»Mit Rebellen muss man anders umgehen als mit gewöhnlichen Missetätern«, erwiderte Pinch. Dann wandte er sich an Jaxom und N'ton. »Das Beste ist, man isoliert sie«, fügte er leise hinzu.
»Ich bin ganz deiner Meinung«, pflichtete Venabil ihm bei. »Und woran genau hast du gedacht, Meister Mekelroy?«
Gespannt wartete man auf Pinchs Antwort.
»Der Rat empfiehlt, Reaktionäre, die Straftaten begangen haben, ins Exil zu schicken.«
Der allgemeine Tumult, der auf diese Ankündigung erfolgte, legte sich erst, als Rutil und Lioth gellende Trompetentöne ausstießen.
»Ihr könnt uns nicht ins Exil schicken!«, jammerte der vorgebliche Weinhändler. In seiner Angst trat er aus der Reihe und versuchte, nach Pinch zu greifen. Sofort schnappten ihn zwei von Pinchs Helfern, die nur auf eine solche Gelegenheit gewartet zu haben schienen.
»Und warum nicht?«, fragte Jaxom.
»Alle Inseln sind doch überschwemmt.«
»Ach«, gab N'ton betont gleichmütig zurück. »Wir finden schon einen passenden Felsbrocken für euch.«
»Es ist eine Schande, wie ihr uns behandelt!«
»Wir wollen Pern retten!«
»Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!«
In ihrer Verzweiflung versuchten die Gefangenen einen Ausbruch. Sie rannten blindlings los, auf der Suche nach einem Fluchtweg. Doch die Menge ließ sie nicht weit kommen. Man verlangte nach Stricken, um die Bande zu fesseln, und nach Knebeln, damit die Schreie aufhörten.
»Nun, wollt ihr nicht endlich die Regeln der Charta anwenden, Lord Jaxom?«, rief Kapitän Venabil herausfordernd.
Jaxom räuspert sich. »Ein Burgherr, ein Weyr-Führer und ein Zunftmeister dürfen Strafen verhängen und für deren Vollstreckung sorgen. Es steht in der Charta, falls jemand nachschauen möchte. Wenn ein Urteil ergeht, muss dies vor Zeugen geschehen.«
»Es sind genug Zeugen vorhanden!«
»Ich habe alles mitangesehen, ich war dabei!«
»Ertränken geht schneller!«
»Ab ins Exil mit ihnen!«
»Schickt das Gesocks auf die Inseln!«
Mit hoch erhobenen Armen stellte sich Jaxom vor die Menge. »Jeder, der nicht als Zeuge fungieren will, soll zurücktreten. Aus seiner Weigerung darf ihm kein Nachteil erwachsen!«
Zufrieden bemerkte Tagetarl, dass sich kein Einziger davonstahl.
»Hiermit verkünde ich, dass die Verurteilten verbannt werden«, erklärte der Burgherr von Ruatha förmlich. »Weyr-Führer N'ton, fordere Unterstützung an.«
»Setzt ihr sie einfach auf einer einsamen Insel ab und überlasst sie dann ihrem Schicksal?«, erkundigte sich Venabil, sichtlich beeindruckt von der Härte des Urteils.
»Nein, das wäre unmenschlich«, klärte N'ton ihn auf. »Sie erhalten genügend Proviant, Trinkwasser und andere Dinge, die ihnen das Überleben ermöglichen, bis sie sich in der neuen Umgebung eingerichtet haben.«
»Aber … aber …«
N'ton warf Venabil einen Blick zu, der ihn verstummen ließ. »Ich«, er deutete mit dem Daumen auf seine Brust, »bin der Einzige, der die Koordinaten der Insel kennt. In Perns Ozeanen gibt es genug Eilande, um alle aufzunehmen, die mutwillig dem Allgemeinwohl schaden.«
»Sie hätten eine viel härtere Strafe verdient, Weyr-Führer. Wenn es nach mir ginge …« Venabil trat einen Schritt zurück und verbeugte sich vor den drei Männern, durch die das Urteil rechtskräftig wurde. Dem Kapitän imponierte deren souveräne Haltung. Entscheidungen zu fällen, bei denen es um Menschenleben ging, war keine leichte Angelegenheit.
Die Zuschauer hatten sich ein wenig beruhigt, das Geschrei legte sich, und nun wurde in normaler Lautstärke weiterdiskutiert. Pinch schickte zwei seiner Leute in den Keller, um den Kerl zu holen, den Rosheen bewusstlos geschlagen hatte. Man band ihm die Hände hinter dem Rücken zusammen und reihte ihn in die Schlange der Rebellen ein.
Tagetarl merkte, wie Rosheen erschauerte und zog sie fest an sich.
»Der Vorgang ist vollkommen legal«, wisperte er ihr zu.
»Ich weiß. Ich kenne die Charta. Ich hätte nur nie gedacht, dass ausgerechnet bei uns einmal ein solches Urteil gesprochen würde.«
»Man muss solche Typen vom Rest der Menschheit isolieren«, murmelte Tagetarl. Trotz seines gerechten Zorns verspürte er eine Anwandlung von Mitleid. »Aus den Minen könnten sie entkommen und erneut irgendwelchen Schaden anrichten. Ich für meinen Teil fühle mich sicherer, wenn ich weiß, dass diese Vandalen uns nichts mehr anhaben können.«
Rosheen klammerte sich wie Halt suchend an ihn. Er verschwieg ihr, dass zwei wichtige Mitglieder der Rebellengruppe, mit deren Erscheinen Pinch fest gerechnet hatte, nicht unter den Exilanten waren. Es handelte sich um das Narbengesicht und um die seltsam aussehende Frau aus Tillek, die scheinbar keiner Burg oder Siedlung angehörte. Das bedeutete, dass der Ärger noch lange nicht vorbei war.
***
Ein halbes Drachengeschwader tauchte am Himmel auf und kreiste majestätisch über dem Hof. Die Facettenaugen der Drachen funkelten heiter. Wie aus dem Nichts erschienen Schwärme von Feuerechsen, tollten in ausgelassenen Kapriolen durch die Luft und trillerten dabei ungewohnt harmonische Melodien.
»Sie landen im Hafen«, erklärte N'ton und deutete in diese Richtung.
Von der Druckerhalle bis zu den Kaianlagen war es nicht weit, und viele kräftige Männer und Frauen halfen nur zu gern, die sich sträubenden Rebellen zum Hafen zu befördern. Rutil folgte hinterdrein und bezog Posten auf einem riesigen Poller, derweil man die Exilanten auf die Drachen hievte und Packsäcke mit der notwendigsten Überlebensausrüstung an die Reitgeschirre band.
N'ton schwang sich auf den Rücken seines Drachen. »Reiter, lasst euch von Lioth den Bestimmungsort zeigen!«, befahl er mit vernehmlicher Stimme. Dann hob er den Arm und gab das Signal zum Aufbruch.
Tagetarl fand, er habe noch nie ein so imposantes Schauspiel gesehen, als zwölf Drachen vollkommen synchron in den nächtlichen Himmel aufstiegen, begleitet von Kapriolen schlagenden Feuerechsen, und wie auf ein stummes Kommando hin gleichzeitig aus dem Gesichtskreis verschwanden.
Es herrschte ein halb erlöstes, halb beklommenes Schweigen, als die Zeugen dieser unglaublichen Ereignisse den Hafen verließen oder an Bord ihrer Schiffe gingen.
»Es musste getan werden, Lord Jaxom, Meister Tagetarl«, verlautbarte Kapitän Venabil resolut. »Ihr konntet gar nicht anders handeln.« Er verabschiedete sich von den Männern mit einem kräftigen Händedruck und steuerte auf den Landesteg zu, an dem sein Boot lag.
»Er hat Recht«, warf Pinch ein, während sie zur Halle zurückgingen.
Dann trödelte er ein wenig, bis Jaxom, der gesenkten Kopfes den anderen in einem gewissen Abstand folgte, zu ihm aufschloss.
»Dorse war einer von ihnen, nicht wahr, Jaxom?«, fragte Pinch so leise, dass nur Jaxom ihn hören konnte. Jaxom bedachte ihn mit einem so niederschmetternden Blick, wie Pinch ihn seit seiner Lehrlingszeit nicht mehr zu spüren bekommen hatte.
»Keine Zugehörigkeit zu einer Burg oder Halle«, antwortete Jaxom schließlich. »Auch wenn er mein Ziehbruder ist, ich konnte nicht anders handeln.«
»Ich beobachte ihn schon seit geraumer Zeit«, gab Pinch zu.
»War er von Anfang an mit dabei?«, erkundigte sich Jaxom.
Pinch zuckte die Achseln. »Wir wissen nicht einmal, wann die Reaktionäre anfingen, sich wieder zusammenzurotten, um ihre Untaten zu planen. Nicht alle, die sich den Rebellen anschließen, sind wirklich daran interessiert, Perns Traditionen zu wahren. Manche hören blindlings auf das, was ihre Eltern ihnen beigebracht haben, andere sind schlichtweg zu blöde, um die Bedeutung von Fortschritt und Wandel zu begreifen. Ich denke da an die Hinterwäldler von Süd-Boll, Telgar und Lemos, und auch an die Wüstennomaden, die in Igen leben. Die meisten fürchten sich vor Veränderungen jeglicher Art. Einige bedauern vielleicht sogar, dass der Rote Stern aufgehört hat, eine Bedrohung zu sein, denn diesen vermaledeiten Wanderplaneten konnten sie für jedes Unglück verantwortlich machen, das sie heimsuchte. Leider sind zwei der Leute, die die Traditionalisten anführen, bei der heutigen Attacke nicht dabei gewesen.«
Dann überließ er Jaxom seinen Gedanken und beeilte sich, Tagetarl einzuholen. »Es wäre klug, Meisterdrucker, die jüngsten Vorfälle in einem präzisen Bericht festzuhalten. Die Kuriere sollen ihn verbreiten.«
Doch in diesem Schriftstück würde nicht der Name von Lord Jaxoms Ziehbruder auftauchen, der zusammen mit den anderen Vandalen auf die Inseln verbannt wurde.
Vor dem Außenportal der Halle hatte sich eine Hand voll Leute versammelt. Rutil wartete gelassen auf die Rückkehr seines Reiters.
»Wenn du Hilfe brauchst, Meister Tagetarl«, begann einer der Männer und trat vor, »dann übernehmen wir gern die Reparaturarbeiten.«
Tagetarl bedankte sich und dachte daran, dass die Tür zur Druckerhalle ausgebessert werden musste. Am liebsten hätte er ein neues Tor aus Stahl anfertigen lassen, doch dazu reichte das Geld nicht.
»Ist einer von euch ein Zimmermann?«
»In dieser Gruppe befinden sich gleich fünf Tischler und Schreiner, Meister Tagetarl, deshalb bieten wir dir ja unsere Unterstützung an.«
»Dafür bin ich euch sehr dankbar. Kommt morgen früh wieder, wenn ihr es einrichten könnt.«
Tagetarl und seine Begleiter setzten ihren Weg fort. Plötzlich stießen zwei Feuerechsen aus der nächtlichen Dunkelheit herab und landeten auf den Schultern von Rosheen und Pinch.
Jaxom begab sich schnurstracks zu seinem Drachen und schwang sich auf dessen Rücken. Zum Abschied winkte Tagetarl ihm zu, doch er glaubte nicht, dass der Burgherr ihn sah. Schweigend schlossen Pinch und Tagetarl das Tor. Dann kletterte Pinch auf den Dachboden, wo seine Helfer sich bereits schlafen gelegt hatten. Tagetarl und Rosheen schlugen den Weg ein, der sie in ihr privates Quartier führte.
***
Am nächsten Morgen erschienen die fünf Zimmerleute und setzten neue Türpfosten ein - aus Skybroom-Holz, wie sie Tagetarl stolz erzählten. Der Meisterdrucker nahm den Bericht, den er und Rosheen noch in der Nacht verfasst hatten, und ging damit zur Kurierstation.
Stationsmeister Arminet schürzte die Lippen und las den Text. »Das ist gut geschrieben, Meister Tagetarl. Ehrlich und objektiv. Den Bericht gebe ich jedem Kurier mit, der hier vorbeikommt. Wahrscheinlich brauche ich noch mehr Exemplare.«
Tagetarl gab zu bedenken, die Kosten würden zu hoch.
»Behalte deine Marken«, lehnte Arminet das Geld ab, als Tagetarl ihn für die Kurierdienste bezahlen wollte.
»Es ist eine Verlautbarung der Harfnerhalle …«
»Die das Allgemeinwohl betrifft«, ergänzte Arminet und setzte eine würdevolle Miene auf. »Ich entscheide, welche öffentlichen Mitteilungen in meiner Station an die Kuriere verteilt werden. Die Anwohner der Weiten Bucht wissen bereits Bescheid, welche Abscheulichkeiten von einer Gruppe heimat- und herrenloser Rebellen begangen wurden, und diese Nachricht muss sich überallhin verbreiten. Jeder soll aus erster Hand erfahren, was sich in der letzten Nacht zugetragen hat.«
Er zeigte auf einen Absatz im Text. »Ich war einer der Zeugen, die alles mitangesehen haben, und ich weiß, dass in diesem Bericht die lautere Wahrheit steht. Sei bedankt, Meister Tagetarl. Die Kuriere werden ihren Teil dazu beitragen, dass bezüglich dieser Angelegenheit keine wilden Gerüchte entstehen.«
Burg Ruatha - am späten Abend - 2.9.31
»Du hast einen von ihnen erkannt, stimmt's, Jaxom?«, fragte Sharra leise, nachdem der Burgherr den ganzen Tag über schweigend vor sich hin gebrütet hatte. Sie wusste, dass er mitten in der Nacht zu einer Hilfsaktion aufgebrochen war. Nach seiner Rückkehr hatte er sich bemüht, seine Niedergeschlagenheit und seine Erschöpfung zu verbergen. Doch das Mittag- und Abendessen hatte er kaum angerührt. Und selbst als er mit seinen Söhnen spielte, ließ er es an der gewohnten Begeisterung vermissen.
Sie hielt sich bereit, falls er mit ihr über die Sorgen, die ihn offensichtlich quälten, sprechen wollte. Nur einmal hatte sie ihn ähnlich deprimiert erlebt, als er die Leute, die für Meister Robintons Entführung verantwortlich waren, ins Exil schicken musste.
Geduldig wartete sie, bis sie in ihrem Quartier waren und er aus dem Fenster starrte, ohne etwas zu sehen. Gerade als sie sich anschickte, ihn offen nach dem Grund für sein Verhalten zu fragen, stieß er einen tiefen Seufzer aus und begann von sich aus zu reden.
»Rutil und ich flogen zur Weiten Bucht, um Tagetarl zu helfen. Es gab einen Angriff auf die Druckerhalle.«
»Wieder diese Rebellen?« Wer sonst würde die Druckerhalle zerstören wollen, die von jeder Zunft voller Enthusiasmus begrüßt wurde.
Er nickte, ging jedoch nicht ins Detail.
In der eintretenden Stille sah Sharra, wie ihr Gemahl zerstreut mit der Hand über den schweren Brokatvorhang strich, der den Raum vor Zugluft schützte. Sie gab ihm Zeit, sich zu sammeln. Sie wusste immer, wann ihn etwas bedrückte.
»Dorse war bei der Bande.«
Sharra lief es kalt den Rücken hinunter. Jaxom hegte keine freundlichen Erinnerungen an seinen Ziehbruder, doch er hatte nie aufgehört, an seinen guten Kern zu glauben, auch nachdem seine Ziehmutter längst gestorben war. Dorse kehrte seiner Familie den Rücken, ehe sich Jaxom gezwungen sah, ihn wegen einer weiteren Missetat fortzuschicken.
»Ich dachte, er sei in den Süden gegangen. Um dort für Toric zu arbeiten.«
Jaxom nickte bedächtig. »Er sprach kein Wort. Schwieg beharrlich.«
Sharra trat neben Jaxom und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie spürte seine innere Anspannung. »Aber er hätte doch nur zu sagen brauchen …«
»Man fragte die Übeltäter, zu welcher Burg oder Halle sie gehörten.« Jaxoms Finger krallten sich so fest in den Vorhang, dass die Naht oben an der Stange einriss.
»Bist du so betroffen, weil er sich nicht zu seiner Herkunft bekannt hat?«
»Ich bin mir nicht sicher.« In seiner Stimme schwang Verzweiflung mit. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube …« - er barg das Gesicht in den Falten des Vorhangs -, »dass er der Anführer war. Fast schien es, als wollte er mich herausfordern. Mir und allem, wofür ich stehe, die Stirn bieten. Was erwartete er von mir? Dass alle lediglich in die Minen geschickt werden anstatt ins Exil?«
Ehe er den Vorhang herunterzerren konnte, löste sie sanft seine Finger von dem Stoff.
»Vielleicht tat er das Ganze nur, um sich an dir zu rächen, Jaxom«, mutmaßte sie in sachlichem Ton. »Hat jemand anders ihn noch erkannt? Rutil erzählte mir, dass du nicht der Einzige warst, der zu Hilfe eilte.« Er maß sie mit einem durchdringenden Blick. »Oh nein, Liebster, ich frage ihn nie. Aber er weiß, dass ich mir manchmal Sorgen mache, ihr beide könntet in Schwierigkeiten geraten. Deshalb spricht er mir Mut zu.« Sie schlug einen betont leichtherzigen Ton an, denn Jaxom mochte es ganz und gar nicht, wenn sie sich ›unnötig aufregte‹, wie er es nannte.
»Pinch hatte Dorse seit einer Weile beschattet und wusste natürlich gleich, wer er war. Vielleicht hat N'ton ihn erkannt, obwohl er Dorse seit vielen Planetenumläufen nicht mehr begegnet ist.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu. »Ich hätte mich persönlich an ihn wenden müssen. Möglicherweise hätte er mir doch etwas erzählt.«
»Was hätte es ihm genützt? Er wurde auf frischer Tat ertappt, wie er die Druckerhalle demolierte, eine auf Pern geschätzte und wichtige Einrichtung.«
Jaxom maß sie mit einem langen, unergründlichen Blick. Sie ahnte, dass er etwas vor ihr verbarg, und das stimmte sie traurig, denn normalerweise hatten sie keine Geheimnisse voreinander.
»Und ich nahm an, er sei drunten im Süden bei Toric gut aufgehoben«, seufzte Jaxom.
Sharra schüttelte den Kopf. »Mein Bruder Toric war schon als Kind habgierig und ließ sich durch nichts und niemand davon abbringen, sich das anzueignen, was er gern besitzen wollte. Wie du sehr wohl weißt, hat er sich mit allen seinen Brüdern und Schwestern überworfen. Von uns hält keiner mehr zu ihm. Selbst seine Söhne haben sich von ihm distanziert. Ich dachte, als die Burgherren und Weyr-Führer ihn vor ein paar Planetenumläufen an die Kandare nahmen, hätte er begriffen, dass es für alles Grenzen gibt.«
Jaxom zog sie in seine Arme und legte seine Wange an die ihre.
»Wir können nur spekulieren, was Dorse dazu trieb, sich den Traditionalisten anzuschließen, Sharra.«
Sie schmiegte sich an ihn und schöpfte frische Kraft aus seiner Stärke. »Hältst du es für möglich, dass Toric sich gegen ganz Pern stellt, nur um zu beweisen, dass er es kann?«
»Bald werden wir mehr darüber wissen, wer die Leute zu diesem Vandalismus anstiftet.«
»Tatsächlich? Hat Pinch diesbezüglich etwas durchblicken lassen?« Sharra lehnte sich zurück und blickte ihm in die Augen. »Wir sind noch dabei, uns von einer Katastrophe zu erholen, da passiert schon das nächste Unglück.«
»Nur die Ruhe bewahren, Liebste.« Sanft wiegte er sie in den Armen. »Nur die Ruhe bewahren.«
Und wir sind ja auch noch da, Sharra!
Sie war es gewohnt, dass Rutil zu ihr sprach, doch dieses Mal empfand sie seinen Trost noch wohltuender als sonst.
Landsitz an der Meeresbucht –
zwei Tage vor der Ratsversammlung - 2.26.31
Von ihrem Platz am Fenster im Landsitz an der Meeresbucht konnte Lessa beobachten, wer den frisch bekiesten Weg vom Strand herauf kam. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass Robintons Heimstatt von der Überflutung verschont geblieben war, während die meisten anderen Küstensiedlungen schwerste Schäden erlitten hatten. Die Halle sah fast genauso aus wie vor seinem Tod. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass er gemütlich auf der Veranda säße oder forschen Schrittes aus dem Haus trat, um seine Gäste zu begrüßen. Der Geist des vortrefflichen Meisterharfners durchdrang nach wie vor auf eine subtile Weise dieses Anwesen, als würde er weiterhin hier zusammen mit seinen Freunden Lytol, Meister Wansor und D'ram wohnen. Was für ein hervorragendes Quartett diese Männer abgaben!
Nun sah sie zu, wie Drachen paarweise eintrafen, sich im Sinkflug dem Meer näherten, das in einer leichten Dünung den Strand benetzte.
Diese Ankunft erinnerte sie an einen komplizierten Tanz. Sie bemühte sich, an schöne Dinge zu denken, um die Schrecknisse der durch den Feuerball hervorgerufenen Katastrophe allmählich zu verdrängen. Aus dem Norden und dem Hochland kamen die neuen Weyr-Führer, G'bear auf Winlath und Neldama auf Yasith. Dieser Paarungsflug gehörte zu den wenigen erfreulichen Dingen, die in letzter Zeit passiert waren.
Ein Stück weiter westlich, wo Telgar lag, tauchten J'fery und Palla auf Willerth und Talmanth auf. Ein einzelner Drache mit zwei Passagieren trat in Erscheinung - Jaxom und Sharra auf Rutil. Sie nahm sich vor, mit den Burgherren von Ruatha über den Vorfall in der Druckerhalle zu sprechen. Es musste so bald wie möglich eine zweite Druckerhalle gegründet werden. Gedruckte Dokumente waren ungeheuer wichtig. Das menschliche Gedächtnis konnte niemals so viele Einzelheiten speichern, und das Kopieren von Hand war ein mühsamer, zeitraubender und oftmals fehlerhafter Prozess.
Die erheblich größeren Drachen von Fort, Lioth und Ludeth mit N'ton und Margatta, kamen gleich nach Rutil an. Igens Gyarmath und Baylith mit G'narish und Nadira trudelten aus dem Westen ein. Lessa hörte die Trompetensignale der Drachen, die das Eintreffen von K'van und Adrea auf Heth und Beljeth meldeten. Aus östlicher Richtung erschienen T'gellan, Talina und Mirrim. Nun ja, dass Mirrim hier aufkreuzen würde, stand zu erwarten, und obwohl Lessa ihr herrschsüchtiges Wesen kannte, hegte sie eine große Sympathie für die junge Frau, bei deren Ausbildung sie maßgeblich mitgewirkt hatte.
Erragon, kürzlich zum Meister ernannt, hatte außerdem F'lessan und eine grüne Reiterin aus dem Monaco-Weyr namens Tai eingeladen. Tai ging bei Meister Erragon in die Lehre. Die Weyr-Führer von Benden wussten, dass dieses Mädchen aus Monaco half, die Vandalen in Landing zu fassen, und dass sie sich bei der Evakuierung von Monaco hervorgetan hatte.
Als die Weyr-Führer den Landsitz betraten, wurden sie von Meister Wansor, dem Gastgeber, begrüßt. Wansor stand an der Tür zu dem Zimmer, das alle der Anwesenden mit liebevollen Erinnerungen verbanden. Lächelnd wandte er sein Gesicht den Eintretenden zu, wie wenn er sie immer noch sehen könnte. Erragon wartete in gebührendem Respekt hinter Wansor. Er trug den diamantenen Anhänger als Zeichen seines neuen Ranges, den er sich durch seinen Einsatz während der Katastrophe aus dem Kosmos wahrlich verdient hatte.
Man stellte ihn den Weyr-Führern vor, die er noch nicht persönlich kannte. Lytol und D'ram sortierten an einem Tisch emsig Papiere und schichteten sie zu neun Stapeln auf. Acht Weyr waren vertreten - für wen war der neunte Stapel bestimmt? Lessa richtete ihr Augenmerk wieder auf die Tür, um F'lessan zu mustern, der gerade die Treppe heraufstieg, eine Hand unter den Ellbogen einer groß gewachsenen jungen Frau gelegt, die ihn begleitete. Das Erste, was Lessa an ihr auffiel, waren der breite Mund und die schräg gestellten grünen Augen.
Zaranths Reiterin, erklärte Ramoth mit einem beinahe wohlwollenden Beiklang. Lessas gerunzelte Stirn glättete sich. F'lessan war kein Kind mehr. Bei der Rettungsaktion nach dem Kometeneinschlag hatte er bis zur Erschöpfung gearbeitet. Unter anderem hatte er Fischerboote befördert, wusste sie von Ramoth. Und dass er diesen Küstenbewohner davor bewahrt hatte, von dem Tsunami an den Klippen zerschmettert zu werden, galt als Glanzleistung, obwohl an jenem denkwürdigen Tag so manche Heldentat vollbracht wurde.
F'lessan hatte schon immer ein extrem feines Gespür für Zeitsprünge gehabt, und sie nahm sich vor, ihn zu fragen, wie er es geschafft hatte, den Mann in buchstäblich allerletzter Sekunde zu retten. Mittlerweile hielt sich F'lessan nur noch in Benden auf, wenn seine Pflichten als Geschwaderführer es verlangten. Die meiste Zeit verbrachte er in Honshu.
Dort gefällt es ihm besser, erklärte Ramoth in unergründlichem Ton.
F'lessan erspähte seine Mutter, lächelte ihr herzlich zu und richtete dann das Wort an Wansor. Sein lässiger Gruß amüsierte Lessa. Zu ihrer Verwunderung griff Wansor nach Tais Hand und strahlte über das ganze Gesicht. Er hob die Augenbrauen, wie wenn er sie dadurch trotz seiner Blindheit sehen könnte. Offenbar war diese grüne Reiterin im Landsitz an der Meeresbucht ein gern gesehener Gast. Erragon begrüßte das Mädchen wie ein zufriedener Lehrer, der seine beste Schülerin willkommen heißt.
»Attraktiv, wenn auch keine Schönheit«, murmelte F'lar Lessa ins Ohr, nachdem er F'lessans Begleiterin flüchtig gemustert hatte. »Kein Wunder, dass er von Honshu gar nicht mehr weg will.«
Er ist gern dort, mischte sich Ramoth abermals ein.
T'gellan, Mirrim und Talina stiegen die Treppe hinauf. Lessa fand, Monacos Weyr-Führer sei viel zu dünn, und in seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck. Er hatte schwer gearbeitet, um seinen Weyr wiederaufzubauen. Auch Mirrim und Talina machten einen abgekämpften Eindruck.
Lessa stellte fest, dass alle geladenen Gäste erschienen waren, und F'lar führte sie zu ihren Plätzen an einem Ende des großen ovalen Tisches.
»Wir sind vollzählig, nicht wahr?«, vergewisserte sich F'lar. Er wartete, bis jeder Platz genommen hatte.
Zweiundzwanzig Reiter beziehungsweise Reiterinnen, drei Männer, die alt genug waren, um ihren Lebensabend in Ruhe zu genießen, zwei Zunftmeister und ein Burgherr: achtundzwanzig Personen, die sich anschickten, nach der Lösung für ein Problem zu suchen, das nach Lessas Ansicht unlösbar schien. Aber es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie es auch für unmöglich gehalten, dem Tyrannen Fax Einhalt zu gebieten. Bis er in einem von ihm selbst angezettelten Kampf zu Tode kam. Auch mit der Fädenplage waren sie fertig geworden. Wieso glaubte sie dann, die derzeitige Krise könnte nicht bewältigt werden? Energisch straffte sie die Schultern und setzte sich neben ihren Weyr-Gefährten. Sie hörte, wie er leise seufzte. Dann drückte auch er die Schultern durch und sprach die Versammelten an.
»Ein jeder von euch hat sicher schon gehört, dass man von den Drachenreitern verlangt, sie sollten etwas gegen diese Objekte unternehmen, die gelegentlich vom Himmel fallen.« Er legte eine Pause ein, bis sich die zornigen Kommentare gelegt hatten. »So lächerlich es erscheinen mag, aber wenn in zwei Tagen der Rat zusammentritt, wird er uns als Erstes mit dieser Frage konfrontieren. In den Köpfen der Leute hat sich offenbar festgesetzt, dass wir für den Einschlag des Feuerballs verantwortlich sind.« Er schlug einen quengelnden Ton an. »›Drachen können im Dazwischen fliegen. Können sie diese Brocken aus dem Weltall nicht einfach vernichten? Sie mit ihrem Flammenatem verglühen? Sie werden doch wohl imstande sein, uns vor diesen Brocken zu schützen!‹«
»Haben wir nicht schon genug getan?«, versetzte F'lessan gereizt. In der Runde fielen Worte wie ›Undankbarkeit‹ und ›Ignoranz‹.
»Die Drachenreiter haben schier Unmögliches vollbracht«, rief Lytol empört.
»Jeder Weyr hat sein Bestes gegeben«, pflichtete D'ram ihm bei.
»Und das in einem ständigen Wettlauf gegen die Zeit«, meinte Jaxom zufrieden schmunzelnd.
»Mir ist immer noch schleierhaft, wie die Drachenreiter dieses Kunststück bewerkstelligt haben«, sagte Wansor in aller Unschuld. »Ihr habt wahre Wunder bewirkt. Ohne diese Taten, die an Hexerei grenzten, hätte es zu einer Katastrophe kommen können. Dagegen war der letzte schreckliche Orkan ein lindes Lüftchen!«
»Zum Glück macht man uns nicht auch noch für das Wetter haftbar«, warf F'lessan spöttisch ein.
»Noch nicht!«, versetzte G'dened säuerlich. Obwohl Ista von den schlimmsten Auswirkungen der Tsunamis verschont worden war, hatte der berüchtigte Orkan dort verheerende Schäden angerichtet.
»Es gibt tatsächlich Leute, die behaupten, wir hätten sie damals bei dem Sturm im Stich gelassen!«, erklärte G'narish kopfschüttelnd.
»Lasst uns wieder zum Thema kommen, F'lar«, rief N'ton. »Für die Drachen wäre es unmöglich, Objekte im Weltall mit ihrem Feueratem zu verbrennen. Denn ohne Sauerstoff würden sich gar keine Flammen entwickeln.«
»Meteoriten oder Kometen fliegen so schnell, dass die Drachen gar nicht mithalten könnten«, ergänzte N'ton. »Ganz zu schweigen von der extremen Hitze, die diese kosmischen Bomben abstrahlen. Ein Einsatz von Drachen wäre sinnlos und eine Verschwendung von Zeit und Energie.«
F'lar lächelte halbherzig. »Ihr habt ja Recht. Aber manche Burgherren und Zunftmeister neigen dazu, diese Tatsachen zu vergessen. Trotzdem würde ich gern die Initiative ergreifen. Seit dieser Feuerball auf Pern prallte, befinden wir uns in der Defensive.«
»Willst du damit sagen, wir könnten doch etwas unternehmen?« G'dened hob interessiert den Kopf.
»Allerdings«, antwortete Wansor und setzte ein mildes Lächeln auf. »Meine Zunft war seit jenem Ereignis nicht müßig. Wir haben solide Pläne und Vorschläge entwickelt, die wir dem Rat unterbreiten werden.«
»Vorschläge?«, schnauzte G'dened und fürchte die Stirn. »Die Leute verlangen nach konkreten Antworten.« Er hieb mit der Faust auf den Tisch. Er kämpfte seit Beginn der neunten Annäherungsphase gegen die Fäden, und Lessa merkte, dass seine Kräfte sich erschöpften. Er hatte es satt, den Burgherren und Zunftmeistern Rechenschaft abzulegen.
»Sie wollen immer Antworten!«, pflichtete G'narish ihm bei. Auch er war von den ständigen Kampfeinsätzen ausgebrannt.
Lessa überlegte, ob man diesen alten Kämpen nicht nahe legen sollte, abzutreten und jüngeren Reitern das Feld zu überlassen. Sie war froh, dass M'rand und R'mart sich in den Ruhestand begeben hatten. Die neuen Weyr-Führer machten einen selbstsicheren Eindruck, obwohl nicht zu übersehen war, dass sie das erste Mal an einer Besprechung wie dieser teilnahmen.
»Antworten können sie gern haben«, warf F'lessan ironisch ein. »Das Problem ist nur, dass sie dieses Mal Taten sehen wollen.«
»Aber was könnte man denn unternehmen?«, wollte G'dened wissen und blickte F'lessan herausfordernd an.
Sein scharfer Ton gefiel Lessa nicht, und sie rüstete sich zum Einschreiten. Doch dann spürte sie, wie F'lar beruhigend ihren Arm drückte, und sie hielt sich zurück.
Nun fühlte sich Wansor angesprochen. »Die Pläne, die wir ausgearbeitet haben, kommen nicht billig und erfordern die Zusammenarbeit aller Zunfthallen und Burgherren«, hob er freundlich an. »Die Vorbereitungen sind im Gange, und dank der Unterstützung unseres jüngsten Meisters«, der alte Sternenmeister deutete eine Verbeugung vor Erragon an, »sowie der Assistenz von Meister Idarolan, F'lessan, Tai und drei weiteren engagierten Helfern, die heute nicht bei uns weilen, können wir mit einem effektiven Programm dienen.«
»Was sind das für Vorbereitungen?«, erkundigte sich G'dened.
»Wer sind die drei engagierten Helfer?«, fragte Mirrim und blickte Tai beinahe vorwurfsvoll an.
»Wir berechnen den günstigsten Standort für eines der Teleskope, die in den Catherine-Höhlen lagern, damit wir ein Projekt zur Himmelsüberwachung einleiten können«, entgegnete Meister Wansor.
Lessa entsann sich, wie Wansor vor vielen Planetenumläufen in den Catherine-Höhlen ein hoch auflösendes Cassegrain-Teleskop entdeckt hatte. Das Akki hatte bei der Installation geholfen, und auf diese Weise hatten sie den Vorsatz, den Roten Stern von seiner Bahn abzulenken, in die Tat umsetzen können.
F'lessan fand das Teleskop in Honshu und hatte es erst kürzlich in Betrieb genommen. Es war ihr jedoch schleierhaft, wieso die Aufstellung eines dritten Teleskops erforderlich war, wenn man kosmische Geschosse daran hindern wollte, auf Pern einzuschlagen. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Beschäftigte sich F'lessan vielleicht so intensiv mit der Beobachtung des Himmels, dass er und Tai sich deshalb so häufig in Honshu aufhielten?
So ist es, sagte Ramoth in ihre Gedanken hinein.
»Wenn wir die Yoko nicht gehabt hätten, die uns mittels ihrer Telemetrie den Feuerball so früh gemeldet hätte, wäre es zu einem richtigen Desaster gekommen«, sagte Wansor. »Und Dank der speziellen Fähigkeiten der Drachen und ihrer Reiter haben wir alles in allem noch mal Glück gehabt.«
»Splitter und Scherben, mir hat es gereicht!«, polterte T'gellan los und sprang auf die Füße. Verdattert über diesen Gefühlsausbruch glotzen Mirrim und Talina ihn an.
»Entschuldigung, ich hatte gewiss nicht die Absicht, das Ausmaß der Katastrophe herunterzuspielen«, wiegelte Wansor ab.
Lessa wusste, hätte Wansor die überflutete Monaco Bucht sehen können, hätte er eine etwas taktvollere Formulierung gewählt. Einlenkend fuhr er fort: »Ich wollte nur sagen, dass die Schäden ohne das Frühwarnsystem der Yoko und ohne Perns treffliche Luftgeschwader noch viel verheerender gewesen wären.«
T'gellan schien besänftigt und nahm seinen Platz wieder ein.
»Welchen Nutzen verspricht man sich denn von einer Himmelsbeobachtung?«, warf F'lar ein.
D'ram räusperte sich. »Zum einen weiß der Rat Bescheid, dass die Drachenreiter eine Bedrohung aus dem Kosmos ernst nehmen - auch wenn sie nicht dafür verantwortlich sind. Die Teleskope ermöglichen uns, die Objekte, die sich Pern nähern, zu identifizieren. Zum anderen …« - und nun setzte er ein hintergründiges Lächeln auf - »könnte aus dieser Himmelsüberwachung eine ordentliche Zunft erwachsen. Nach dem Ende der derzeitigen Annäherungsphase gäbe es dann einen völlig neuen Berufszweig, der speziell auf die Drachenreiter zugeschnitten ist.«
Ein verblüfftes Schweigen trat ein, während die Weyr-Führer sich diesen Vorschlag durch den Kopf gehen ließen.
Auch Lytol lächelte nun, und Lessa fand, so gelöst und glücklich habe sie ihn seit langem nicht gesehen.
»Indem wir unsere eigene Zunft gründen, tragen wir dazu bei, dass sich die Situation zwischen den Drachenreitern und bestimmten Berufsgruppen entspannt. Es gibt nämlich traditionelle Zünfte, die befürchten, die Drachenreiter könnten sie eines Tages überflüssig machen.«
»Aber so viele Himmelsbeobachter wird man nicht brauchen, dass alle von uns beschäftigt sind«, versetzte G'dened streitlustig.
F'lessan lachte. »Das jetzige Kontingent der Drachenreiter wird nicht ausreichen, um eine lückenlose Überwachung des Weltalls zu gewährleisten.« Seine Augen funkelten. »Wenn wir die Sache richtig angehen, benötigen wir jede Menge Mitarbeiter. Das Teleskop von Honshu hat bereits Bilder vom Asteroidengürtel geliefert, gleich nachdem ich die ersten Suchprogramme gestartet habe.«
»Suchprogramme?«, nörgelte G'dened.
Nach einem Blick auf Erragon fuhr F'lessan fort: »Wir wissen, welche Sterne an unserem Himmel konstante Positionen einnehmen. Unsere Suche gilt Objekten, die sich zwischen diesen Fixsternen bewegen. Schaut bitte her!« Er verteilte mehrere Bilder auf dem Tisch. »Erkennt ihr, was das ist?«
»Ich sehe einen Streifen auf einem schwarzen Hintergrund und einen verschwommenen hellen Fleck«, erwiderte G'dened verächtlich.
»Bei diesem Lichtstreifen handelt es sich um einen Asteroiden. Wir gaben ihm den Namen Aliana. Tai fand, wir sollten diese kosmischen Körper mit Namen kennzeichnen und nicht mit Nummern. Ich hielt es für angebracht, den Asteroiden nach einer der ersten Drachenreiterinnen zu benennen. Und es gibt viele davon.«
»Was denn, Drachenreiterinnen oder Asteroiden?«, warf Lessa ein. Sie lächelte um zu bekunden, dass sie die Idee billigte. Und sie merkte, dass sich sowohl Wansor als auch Erragon für dieses System erwärmten.
»Beides.«
»Woher weißt du, dass es ein Asteroid ist?«, fragte G'dened ungeduldig.
»F'lessan hat die Aufnahme mit Beobachtungen, die im Landsitz an der Meeresbucht stattfanden, gegengecheckt und die Messwerte der Yoko zu Rate gezogen«, erklärte Erragon.
»Was du als verschwommenen hellen Fleck siehst«, erläuterte F'lessan, »ist ein Stern namens Acrux. Acrux verändert seine Position nicht - jedenfalls nicht bei einer Belichtungszeit von fünfundvierzig Minuten - derweil sich der Asteroid so schnell bewegt, dass dieser Streifen entsteht. Berechnungen ergeben, dass er aus dem Asteroidengürtel stammt. Indem wir den Weltraum besser kennen lernen und fotografische Aufnahmen anfertigen, können wir beurteilen, welche Objekte Pern gefährlich nahe kommen.«
»Das ist jetzt ein einziges Mal passiert!«, hielt G'dened ihm entgegen und schob das Bild von sich weg.
F'lessan schmunzelte. »Oh nein. Auf Pern sind schon einige Himmelsgeschosse herabgestürzt.«
»Fang du nicht auch noch mit der Geschichte von der Ringfestung an!«, stöhnte der Weyr-Führer von Ista und winkte ab.
»Wenn ich jetzt etwas sagen dürfte«, meldete sich Tai so energisch, dass aller Augen sich überrascht auf sie richteten. »Laut Aufzeichnungen der Yoko war der Feuerball, der kürzlich hier aufprallte, der einzige kosmische Körper, der diesem Planeten wirklich gefährlich werden konnte.«
»Das ist richtig, Tai. Und erst kurz vor dem Einschlag ins Meer wussten wir mit Bestimmtheit, dass er Pern treffen würde. Aber im Weltall schwirren noch viele Meteore, Kometen und Asteroiden herum, die eine eventuelle Bedrohung darstellen.«
Davon hörten die Weyr-Führer aus dem Binnenland zum ersten Mal. G'deneds Stirn legte sich in tiefe Falten.
Lessa überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, M'rand zu diesem Treffen einzuladen. Er stellte einen guten Ausgleich zu dem pessimistischen, mit Vorurteilen behafteten G'dened dar.
»Wir bekamen die Gelegenheit, die Aufzeichnungen der Yoko genau zu prüfen«, bemerkte Lord Lytol mit ernster Miene. »Bis zum Ende des Planetenumlaufs hob sich der Feuerball als erkennbarer Lichtstreif am Firmament ab.«
»Damals waren wir mit anderen Dingen beschäftigt und kümmerten uns nicht um das, was sich am Himmel abspielte«, meinte G'dened.
Lytol warf ihm einen tadelnden Blick zu und fuhr fort: »Die Yoko hatte die Bahn des Kometen berechnet und ihn bereits sehr früh als eventuell gefährliches Objekt eingestuft.«
»Das heißt«, ergriff nun Wansor das Wort, »dass wir die Bedrohung viel früher hätten erkennen können, wenn es auf Pern eine effiziente, organisierte Himmelsüberwachung gegeben hätte.«
»Selbst wenn dem so gewesen wäre«, gab T'gellan skeptisch zu bedenken, »was hätten wir denn tun können, um die Katastrophe abzuwenden?«
Diese Frage wurde mit beklemmendem Schweigen quittiert.
»Die Drachenreiter standen einer viel größeren Herausforderung gegenüber, als Benden nur über eine Hand voll Reiter verfügte, die Pern vor den Fäden schützen sollten«, warf F'lar ein. »Damals seid ihr - er zeigte auf D'ram, G'dened und G'narish - aus eurer eigenen Zeit in die Zukunft gereist, um uns zu beizustehen. Nun profitieren wir von dem umfangreichen Wissen der ersten Kolonisten, und wenn ich mich recht erinnere, hat das Akki uns erzählt, dass auch die Bewohner der alten Erde von Bedrohungen aus dem Weltall nicht verschont geblieben sind. Erragon, wie haben unsere Vorfahren dieses Problem gelöst?«
Erragon lachte in sich hinein. »Sie beobachteten den Kosmos durch extrem leistungsstarke Teleskope, wobei sie von vielen engagierten Leuten unterstützt wurden, die weniger anspruchsvolle optische Instrumente besaßen. Das Akki behauptete, die Menschen hätten einen großen Teil der Galaxis kartographisch bis auf Mikrobogensekunden genau erfasst. Unsere Teleskope sind bei weitem nicht so gut, aber wir müssen uns ja auch nur mit dem Raum um Rubkat beschäftigen …«
»Ja, ja«, schnitt G'dened ihm brüsk das Wort ab. »Aber auf welche Weise haben sie die Objekte unschädlich gemacht, die ihrem Planeten zu nahe kamen?«
»Jetzt zitiere ich das Akki - ›kosmische Objekte, die sich auf einer für die Erde kritischen Bahn befanden, wurden abgelenkt.‹«
»Wie denn? Womit?«, wollte G'dened wissen.
»Das«, betonte Erragon ironisch, »hat das Akki uns nicht verraten.«
»Offensichtlich kannten sie einen Weg, diese Gefahr von sich abzuwenden!«, brummte G'dened.
»Jedenfalls besaßen sie eine Raumüberwachung«, stellte F'lessan mit Nachdruck fest. »Und eine solche brauchen wir auch. Wir müssen den Himmel beobachten, damit wir Objekte, die aus den Tiefen des Weltalls in unseren Sektor eindringen, identifizieren können.«
»In den Dateien des Akki steht ausdrücklich, dass derart katastrophale Einschläge sehr selten sind«, erklärte Lytol.
»Warum sollen wir dann überhaupt mit dieser blödsinnigen Himmelsbeobachtung beginnen?«, meckerte G'dened.
»Erstens beweisen wir dadurch dem Rat, dass wir gewillt sind, in Aktion zu treten«, entgegnete F'lar. »Zweitens erfahren wir nur durch eine minutiöse Raumüberwachung, ob und wann Pern Gefahr aus dem Kosmos droht. Den Weyrn ist es gelungen, die Schäden, die durch den Feuerball entstanden, in Grenzen zu halten, vor allen Dingen wurden Menschenleben gerettet. Notfalls könnten wir diese Aktion wiederholen. Im Übrigen finde ich auch, dass Drachenreiter sich bestens dazu eignen, den Himmel zu überwachen. Gleichzeitig würde dadurch das Problem gelöst, welchen Beruf sie ergreifen sollen, wenn es in absehbarer Zeit keine Fäden mehr regnet.«
»F'lar!« Unvermittelt erhob sich G'narish von seinem Platz. »In Igen munkelt man, der Feuerball sei dadurch entstanden, dass der Rote Stern aus seiner Bahn geworfen wurde!«
»Splitter und Scherben. Diesem Unfug hast du doch hoffentlich widersprochen!« versetzte F'lar angewidert.
»Das Akki weist eindeutig darauf hin, dass die Bahnveränderung des Roten Sterns Pern nicht gefährdet«, protestierte Lytol. »Ich habe mich hinreichend mit der diesbezüglichen Physik und Mathematik befasst. Die vom Akki errechneten Gleichungen sind absolut korrekt. Der Rote Stern wurde erst abgelenkt, als er weit genug von Pern entfernt war. Aus diesem Grund haben wir unseren Einsatz so lange hinausgezögert.«
»Wir haben offensichtlich noch viel zu lernen«, meinte D'ram.
»Anscheinend kannte das Akki den uns umgebenden Weltraum sehr gut«, brummte G'dened. »Warum benutzen wir dann nicht einfach seine Aufzeichnungen, anstatt selbst den Himmel zu studieren?«
F'lessan antwortete ihm. »Weil ständig neue Objekte in unseren Sektor des Weltraums eindringen. Kometenbahnen können durch Gravitationswirkung so stark gestört werden, dass sie aus ihrem eigenen Sonnensystem entweichen und dabei in andere Systeme hineingelangen. In der Oort'schen Wolke befinden sich schätzungsweise mehrere Milliarden Kometen, deren Bahnen alles andere als stabil sind. Manchmal kollidieren Meteore und Asteroiden miteinander, und die Trümmerstücke verbreiten sich in alle Richtungen. Darüber müssen wir Bescheid wissen. Ehe wir uns Gedanken darüber machen, wie wir einen eventuellen Einschlagskörper daran hindern, auf Pern zu fallen, sollten wir lernen, diese kosmischen Bomben rechtzeitig zu entdecken.«
Jaxom, N'ton und D'ram klatschten Beifall. Wansor strahlte über das ganze Gesicht. Erragon schaute erleichtert drein, und selbst Lytol rang sich ein sparsames Lächeln ab.
»Ich denke, damit ist deine Frage beantwortet, G'dened«, äußerte F'lar und hob die Hand, bis wieder Ruhe eintrat.
»Dieses Projekt sollten wir dem Rat vorstellen«, erklärte D'ram. »Und uns Drachenreitern macht es Mut. F'lessan, hast du noch mehr Fotos dabei?«
»Selbstverständlich. Auch Erragon und Stinar verfügen über Bilder, die durch das hiesige Teleskop und die Yoko aufgenommen wurden.« F'lessan schickte sich an, weitere Aufnahmen an die Weyr-Führer zu verteilen. »Tai hat Fotos von Objekten gemacht, die weit hinter unserem Sonnensystem liegen. Dies zum Beispiel ist ein Nebel, in den Sterne eingebettet sind.«
»Können Sterne denn rosarot gefärbt sein?«, wunderte sich T'gellan und hielt das Foto so, dass auch Mirrim und Talina es betrachten konnten.
F'lessan schmunzelte. »Und ob. Das Licht, das sie abstrahlen, kann blau, lavendelfarben oder weiß sein. Dieses Foto hier wurde angefertigt, als wir das Teleskop in Honshu mit dem Computer koppelten. Was aussieht wie ein Wagenrad, ist eine weit entfernte Galaxis. Der Himmel im Bereich von Pern ist jedoch ziemlich dunkel, mit Ausnahme der Milchstraße und der Magellan-Wolken.«
»Und was stellen diese Spiralen dar?«, fragte Lessa sichtlich beeindruckt. »Davon gibt es ja furchtbar viele.«
»Sind diese Klumpen Ansammlungen von Sternen?«, wandte sich F'lar an Tai und zeigt ihr das Bild, das er vom Tisch genommen hatte.
»Das nennt man Kugelsternhaufen«, erklärte sie.
»Gute Arbeit«, lobte Erragon. »Habt ihr auch die Zeiten und Positionen notiert?«
»Natürlich. Aber diese Bilder entstanden willkürlich, weil ich verschiedene Filter ausprobieren wollte«, erwiderte Tai.
»Stellt euch vor«, meinte F'lessan mit vor Begeisterung blitzenden Augen, »was wir noch alles sehen könnten, wenn wir mehr Observatorien und geschulte Himmelsbeobachter hätten.«
G'dened stieß einen brummenden Laut aus und funkelte F'lessan ärgerlich an. »Du erzählst uns was von weit entfernten Objekten. Wäre es nicht wichtiger, den nahen Weltraum um Pern zu erkunden?«
»Das geschieht bereits«, gab F'lessan zurück und legte ein paar Bilder vor G'dened auf den Tisch.
Der alte Drachenreiter zog ein säuerliches Gesicht und musterte missmutig die Fotos. »Das Ding sieht aus wie eine angeknabberte Gemüseknolle«, motzte er. Er nahm das Bild in die Hand, betrachtete es genauer und warf es verächtlich auf den Tisch zurück. »Hat mehr Löcher als ein Riff im Ozean.«
F'lessan wackelte mit dem Zeigefinger. »Diese Asteroiden sind nicht allzu weit von uns entfernt. Was aussieht wie Pockennarben, sind Einschlagskrater von anderen Objekten, die gleichfalls durchs All sausen, oder Pusteln, die entstanden, nachdem eingeschlossene Gase durch Hitzeeinwirkung entweichen konnten. Einer der Asteroiden ist zehn, der andere fünfzig Kilometer lang. Sollten sie mit Pern zusammenprallen, bricht unser Planet auseinander.«
G'dened schluckte und richtete den Blick auf Erragon, der zustimmend nickte.
»Bei unserem heutigen Treffen geht es darum«, ergriff Wansor das Wort, »ob eine ständige Himmelsüberwachung eingerichtet wird, um beispielsweise Asteroiden wie diese im Auge zu behalten.«
»In den Catherine-Höhlen lagern vier Teleskope«, warf Lessa ein.
»Vielleicht hatten die ersten Siedler gleichfalls eine Raumüberwachung geplant«, mutmaßte F'lessan, »ehe die Fäden diese Projekte zunichte machten.«
»Daran hatte ich auch schon gedacht«, gab Wansor zu. »Und ich frage mich, warum es im Norden keine Satellitenphalanx gibt. Sicher, anfangs besiedelten die Kolonisten den Südkontinent, deshalb brauchten sie vielleicht kein nördliches Satellitensystem.«
»Eine Phalanx im Norden hätte uns vor dem Sturm gewarnt«, warf G'dened ein.
»Werden vier weitere Teleskope denn genügen?«, erkundigte sich K'van.
»Um den Himmel zu beobachten, braucht man nicht einmal ein besonders großes Teleskop«, versicherte Erragon. »Jancis stellt laufend Feldstecher her, die von vielen Leuten benutzt werden.«
»Alle unsere Wachreiter sind mit guten Ferngläsern ausgerüstet«, räumte N'ton ein. »Und wenn wir auf dem Kraterrand Wache schieben, betrachten wir auch den Himmel. Ich kenne die Namen der meisten Sterne.«
»Leider sind es nicht die Sterne, die wir beobachten müssen«, seufzte Wansor, »sondern die Objekte, die durchs Weltall rasen. Trotzdem ist es wichtig, die Fixsterne zu kennen und sie zu kartographieren.«
»Der Himmel ist groß, F'lessan«, gab K'van zu bedenken.
»Deshalb sollten sich möglichst viele Drachenreiter seiner Beobachtung widmen«, antwortete F'lessan dem Weyr-Führer aus dem Süden. »Dein Weyr wäre dazu ideal geeignet, da er besonders hoch im Gebirge liegt.«
»Sollen sich die jungen Reiter damit befassen«, betonte G'dened.
»Bevor ich eine Bindung mit Talmanth einging«, sagte Palla und hob die Hand, »habe ich Astronomie studiert.«
»Tatsächlich?«, staunte J'fery und betrachtete seine Weyr-Gefährtin mit Respekt.
»Sie ging bei mir in die Lehre«, bestätigte Erragon, »und ich muss gestehen, dass ich sie nur ungern an den Weyr verlor.«
Als Palla merkte, dass alle in der Runde sie interessiert anstarrten, senkte sie schüchtern den Kopf und richtete den Blick auf ihre gefalteten Hände. Lessa sah, dass J'fery sich zu ihr herüberneigte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, worauf sie erfreut lächelte.
»Es klingt ganz so, als würde die Himmelsüberwachung viel Zeit in Anspruch nehmen«, sagte G'dened mit einem kritischen Unterton.
»Da hast du Recht«, pflichtete Erragon ihm bei. »Aber wenn alle mithelfen, können wir dem Rat bald differenzierte und akribisch genaue Sternkarten präsentieren. Meister Idarolan sichert jedem seine volle Unterstützung zu, der seinen Beistand anfordert. Er kann neue Beobachter ausbilden und selbst Himmelsbeobachtungen vornehmen. Außerdem hat er mir erzählt, dass die meisten Seeleute nach den Sternen navigieren und sich in Himmelskunde ein fundiertes Wissen angeeignet haben. Die Seemänner, die im Ruhestand leben, so wie er, wären sicher gern bereit, Neulingen unter die Arme zu greifen.«
»Die Himmelsüberwachung muss so effizient wie möglich sein. Meister Wansor, ist es sinnvoll, ein weiteres Teleskop aufzustellen und den Himmel rund um die Uhr zu beobachten?«, wandte sich F'lar an den alten Sternenmeister.
»Eine solche Maßnahme ist längst überfällig«, warf F'lessan ein.
»Der Meinung schließe ich mich an«, bekräftigte Wansor.
»Wir haben das Teleskop beim Landsitz an der Meeresbucht und das Observatorium in Honshu«, zählte Meister Erragon auf. »Mindestens eines der Teleskope aus den Catherine-Höhlen sollten wir so schnell wie möglich im Norden aufstellen.« Erragon hüstelte. »Das Beste wäre natürlich, wenn wir zusätzlich auf dem Westkontinent ein Observatorium gründen.«
»Aber dieser Kontinent ist doch eine Einöde, praktisch unbewohnbar!«, rief Lessa.
»Trotzdem wölbt sich darüber der Himmel«, hielt F'lessan ihr entgegen. »Später können wir überlegen, wie wir die Gegend wirtlicher machen.«
»Mit der Aufstellung eines Teleskops auf dem Westkontinent dürfen wir nicht zu lange warten«, mahnte Erragon.
Wansor stärkte ihm den Rücken. »Es spielt keine Rolle, dass dieser Kontinent nicht erschlossen ist. Aber hätten wir dort ein Observatorium, könnten wir viel genauere Messungen vornehmen, und das ist von allergrößter Wichtigkeit!« Zur Betonung schlug Wansor mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Das Geräusch erschreckte jeden. Meister Wansor galt als ungeheuer sanftmütig, und seine heftige Reaktion schien besonders G'dened und G'narish zu überraschen. »Ohne ein Teleskop im Westen ist das gesamte Projekt auf lange Sicht hin zum Scheitern verurteilt. Meister Idarolan meint, man könne dort ohne weiteres eine kleine Siedlung gründen. Er kennt eine geschützte Bucht zwischen den beiden Hälften des Westkontinents, die für eine Besiedlung geeignet wäre. Es gibt trinkbares Wasser, und sogar ein paar Bäume wachsen dort.«
»Davon hatte ich gar nichts gewusst«, gestand Lessa.
»Es ist aber so«, versicherte Wansor. »Für Drachenreiter wäre es ohnehin kein Problem, sich zur Himmelsbeobachtung an diesen fernen Posten zu begeben.«
»Und wo sollen die übrigen Teleskope stehen?«, erkundigte sich K'van.
Jaxom räusperte sich. »In Ruatha gäbe es den perfekten Standort. In der Nähe des Eis-Sees, der relativ leicht zugänglich ist. Ich bin gern bereit, den Platz zur Verfügung zu stellen und außerdem genügend Geld für die Errichtung einer unabhängigen Sternenhalle zu stiften.«
Diese Großzügigkeit wurde beifällig aufgenommen.
»Bei allem gebührenden Respekt, Lord Jaxom«, hielt J'fery ihm höflich entgegen, »aber da Palla bereits Astronomie studiert hat, würde es sich doch anbieten, das Teleskop bei uns aufzustellen. Nicht weit von unserem Weyr wüsste ich einen ausgezeichneten Ort …«
»Ich bin jedenfalls mit der Führung eines Weyrs voll ausgelastet«, stichelte Cosira und wandte sich demonstrativ von Palla ab.
Lessa fühlte sich bemüßigt, Palla zu verteidigen. »Palla ist von uns allen die Jüngste, Cosira. Und da sie bei Erragon Astronomie gelernt hat, sollten wir ihre Kenntnisse nutzen. Es schadet gewiss niemandem, wenn sie einen Teil ihrer Weyr-Pflichten an die anderen Königinreiterinnen weitergibt.«
»Das lässt sich sicher in aller Güte regeln«, wandte F'lar ein und streifte die Frauen mit tadelnden Blicken.
»Ja, ja«, stimmte Meister Wansor ihm zu. »Ich danke euch allen, Lord Jaxom, Weyr-Führer J'fery, Lady Palla. Deine Astronomiekenntnisse wirst du allerdings auffrischen und erweitern müssen. Ich helfe dir dabei. Mein Augenlicht habe ich verloren, aber dafür ist mein Gedächtnis immer noch ausgezeichnet. Meister Samvel hat in seiner Schule in Landing eine Klasse von jungen Leuten, denen ich die Grundzüge der Astronomie beibringe. Und auch ältere Menschen würden sich vielleicht gern nützlich machen, indem sie den Himmel beobachten. Alte Leute brauchen nicht viel Schlaf, ich selbst komme mit ein paar Stunden Schlaf aus.«
»Für mich und Tiroth wäre es kein Problem«, erbot sich D'ram, »Studenten zu Meister Wansor zu befördern. Wir haben keine Zeit zu verschenken, denn das Aufstellen von neuen Teleskopen ist kein Kinderspiel. Außerdem sollten wir dem Rat zeigen, dass wir mit den Vorbereitungen für das Projekt nicht trödeln. Zufällig weiß ich, dass die Schmiedehalle im Akkord arbeitet, um Ferngläser herzustellen …«
»Seit der Feuerball hier aufgeschlagen ist«, sagte Wansor, »hat sich die Nachfrage nach Feldstechern verdoppelt.«
»Kein Wunder«, meinte D'ram trocken. »Meister Morilton versucht bereits, Spiegel für kleine Teleskope anzufertigen.«
»Angenommen, man entdeckt am Himmel ein gefährliches Objekt«, warf G'dened spöttisch ein, »verlangt man dann von den Drachen, den Brocken von seiner Bahn abzulenken?«
Lessa merkte, dass F'lessan und Tai seltsame Blicke tauschten. Und F'lessan sah aus, als müsse er an sich halten, um nicht mit einer bedeutenden Bemerkung herauszuplatzen.
»Man kann nie wissen, G'dened«, gab Jaxom zurück. »Wenn ich nur daran denke, welche verblüffenden Dinge unsere Drachen bereits zustande gebracht haben. Und ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass ich die Gründung eines Observatoriums in den Bergen von Ruatha in jeder Weise unterstütze.«
»Ich stimme für ein Observatorium in Telgar. Meister Fandarel wird begeistert sein«, sagte J'fery grinsend, »und Lord Larad steht neuen Projekten offener gegenüber als die meisten anderen Burgherren.«
»Es wäre klug«, gab Jaxom zu bedenken, »möglichst viele Pächter und Handwerker in die Himmelsüberwachung einzubeziehen.«
»Ich dachte, dieser Beruf sei den Drachenreitern vorbehalten«, widersprach G'dened.
Jemand sollte sich dazu aufraffen, dachte Lessa, diesem Querulanten gehörig die Meinung zu sagen. Seine ständigen Einwände und abfälligen Bemerkungen ärgerten sie über alle Maßen.
»Wir brauchen jeden, der bereit ist mitzumachen«, erklärte Wansor. »Wie schon gesagt wurde, der Himmel über Pern ist groß. Und es gilt, so viele Objekte wie möglich zu entdecken. Die meisten werden sich als harmlos erweisen, wie die geisterhaften Kometenschauer, die zum Ende eines jeden Planetenumlaufs erscheinen.«
»Das ist ja alles schön und gut, Meister Wansor«, entgegnete G'dened, der sich nicht überzeugen lassen wollte. »Trotzdem bleibt die Frage bestehen, was wir konkret unternehmen könnten, wenn wieder ein gefährlicher Brocken aus dem All auf Pern einzuschlagen droht.«
Im Raum wurde es so still, dass man das leise Plätschern der Wellen und die vergnügten Schnalz- und Klicklaute der Delfine hören konnte, die sich zu ihrem abendlichen Spiel versammelten.
»Wir werden uns etwas einfallen lassen«, verkündete F'lar nach einer Weile.
»Was ist eigentlich los mit euch …?«, rief F'lessan und sprang auf die Füße. »Wir haben erst damit begonnen, die Fülle an Informationen zu sichten, die das Akki uns hinterlassen hat. Ich bin sicher, dass wir dort auf die Lösung für unser Problem stoßen. Es muss einen Weg geben, Pern vor kosmischen Objekten zu schützen. Als die ersten Siedler hier eintrafen und von den Fäden überrascht wurden, wussten sie sich auch zu helfen. Aus einer einheimischen Spezies, den Feuerechsen, züchteten sie die Drachen, die ihnen beim Kampf gegen die tödlichen Organismen halfen. Hätten die Kolonisten gleich bei den ersten Schwierigkeiten den Mut verloren, gäbe es uns heute nicht. Die Kolonie wäre kurz nach ihrer Gründung zerstört worden. Wir sollten einen Anfang machen und die Mittel nutzen, die uns zu Gebote stehen. Das heißt, wir müssen mit Hilfe der Teleskope den Himmel absuchen und darüber nachdenken, wie wir künftigen Gefahren begegnen.«
Lessa betrachtete ihren Sohn voller Stolz. Sie stimmte seiner Ansicht aus vollem Herzen zu.
»Wer weiß, welche Auskünfte sich noch in den Akki-Dateien verbergen«, fuhr F'lessan fort. »Wir wissen nicht einmal die Hälfte von dem, was uns weiterbringen könnte. Um den Roten Stern abzulenken, mussten wir auch viel lernen.«
»Die meisten Informationen sind doch überflüssig«, knurrte G'dened. »Das sollte auch einmal gesagt werden.«
»Als Drachenreiter sind wir verpflichtet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die dem Schutz des Planeten dienen«, beschied ihm F'lessan.
F'lar nickte seinem Sohn beifällig zu und erhob sich ebenfalls. »Die Weyr werden nie aufhören, Pern zu dienen. Wenn wir dem Rat den Vorschlag unterbreiten, eine ständige Himmelsüberwachung einzurichten, dann - beim Ersten Ei, das hier auf Pern ausgebrütet wurde - fügen die Drachenreiter der Zukunft eine neue Dimension hinzu.«
Er hieb mit der Faust auf den Tisch und blickte herausfordernd in die Runde.
Endlich spricht mal jemand ein Machtwort, dachte Lessa zufrieden. Die beiden neuen Weyr-Führer, die bestrebt waren, ihre Pflichten gut zu erfüllen, würden jeder starken Führungspersönlichkeit folgen. Mit F'lessan und F'lar gab es sogar zwei Männer, die Autorität besaßen. Und tatsächlich standen alle am Tisch Sitzenden auf, klatschten Beifall und jubelten Vater und Sohn zu. T'gellans Miene erhellte sich, Cosira blickte ein wenig verschnupft drein, bekundete aber gleichfalls ihre Begeisterung, und selbst G'nared wirkte nicht mehr so pessimistisch.
»Vermutlich ist es wirklich das Beste, Schulterschluss zu zeigen«, murmelte G'dened und schloss sich, wenn auch zögernd, der Mehrheit an.
»Das ist ja höchst erfreulich«, meinte Wansor zufrieden. »Nun, da Einstimmigkeit herrscht, können wir gleich konkrete Pläne schmieden. Die Yoko, der Landsitz an der Meeresbucht und Honshu fahren mit der Beobachtung des Weltraums fort. Wir bitten den Rat um die Erlaubnis, drei weitere Teleskope aus den Catherine-Höhlen entfernen und anderenorts aufstellen zu dürfen. Eines wird auf den Westkontinent gebracht, ein anderes kommt nach Ruatha - wobei ich Lord Jaxom noch einmal für seine Großzügigkeit danken möchte. Das dritte soll in Telgar stehen - sofern Lord Larad nichts dagegen einzuwenden hat. Lady Palla, Lord J'fery, eure Unterstützung ist von unschätzbarem Wert. Natürlich müssen wir uns der Mithilfe von Meister Fandarel versichern. Außerdem werben wir Freiwillige an, die den Himmel beobachten, und starten ein Ausbildungsprogramm. Ich bin sicher, dass die Harfnerhalle dies begrüßen wird. Ich bitte Meister Tagetarl, einen Bericht über die heutige Sitzung zu drucken. Damit der ganze Planet Bescheid weiß, was hier und heute beschlossen wurde!« Voller Enthusiasmus breitete er die Arme aus.
»Damit wäre wohl alles gesagt«, erklärte F'lar. »Jetzt, da wir uns endlich einig geworden sind, sollten wir mit einem guten Tropfen darauf anstoßen. Eigens für diese Gelegenheit haben wir Wein aus Benden mitgebracht.«
Alle - außer vielleicht G'dened - nahmen diesen Vorschlag nur zu gern an. Mirrim eilte in die Küche, gefolgt von Talina, Adrea und Sharra. Tai wollte hinterhergehen, doch F'lessan hielt sie zurück. Sie sollte ihm helfen, Palla, J'fery und K'van die Fotos von Objekten aus dem Weltall zu erklären. Erragon holte ein paar alte Akki-Projektionen, um zu verdeutlichen, welche Teile des Himmels von einem im Westen aufgestellten Teleskop erfasst würden.
Lessa fühlte sich unendlich erleichtert. Mit einem so günstigen Ausgang der Konferenz hatte sie nicht gerechnet. Nun konnten die Weyr-Führer von Pern dem Rat voller Selbstvertrauen Rede und Antwort stehen, und sie war fest davon überzeugt, dass der Vorschlag einer gewissenhaften Himmelsüberwachung von vielen Burgherren und Zunftmeistern positiv aufgenommen würde. Besonders erfreulich fand sie die Aussicht, den Drachenreitern nach dem Ende des Fädenfalls eine sinnvolle Aufgabe zu verschaffen. Erlöst atmete sie auf. Sharra brachte ihr ein Glas Wein und eine kleine Schale voller Naschwerk. Dann hörte sie, wie G'dened Meister Wansor fragte:
»Du erwähntest vorhin drei weitere engagierte Leute, die bei dieser Konferenz nicht anwesend sind. Um wen handelt es sich?«
»Der eine ist Meister Stinar, die beiden anderen sind ehemalige Schüler von mir. Mittlerweile bekleiden sie selbst Meisterränge und stehen ihren eigenen Hallen vor. Ich spreche von Tippel in Crom und Murolin, der in Süd-Boll tätig ist. Sie haben sich sogar selbst Teleskope gebaut - mit lediglich Einhundert-Millimeter-Spiegeln - doch für ihre Zwecke reichen diese Instrumente aus. Tippel bedauert es unendlich, dass er den Feuerball nicht sehen konnte. Aber in jener Nacht war es in Crom so bitterkalt, dass er seinen Beobachtungsposten frühzeitig verließ.« Meister Wansor setzte eine drollige Miene auf. »Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten, Weyr-Führer G'dened. Schau heute Nacht durch unser Teleskop.«
Insgeheim amüsierte sich Lessa, als sie G'deneds verblüfften Gesichtsausdruck sah.
»Eine ausgezeichnete Idee, Wansor.« Sie stand auf. »Ich würde auch gern einen Blick hindurchwerfen. Wäre das wohl möglich, Erragon?«, fügte sie hinzu, als sie merkte, wie der Meister zögerte. »Oder brächte das irgendein Suchprogramm durcheinander?«
»Es geschieht ja zu einem guten Zweck, Lady Lessa.« Höflich verbeugte sich Erragon vor ihr.
»Wer beaufsichtigt das Teleskop, wenn du nicht anwesend bist?«, erkundigte sich G'dened.
»Lofton, ein tüchtiger Geselle«, antwortete Erragon, derweil F'lessan zu seiner Mutter kam.
»Tai und ich möchten jetzt das Teleskop in Honshu vorführen«, erklärte er stolz. »Ich habe K'van, Adrea, Palla und J'fery zum Mitkommen überredet.«
G'dened und Cosira waren die Einzigen, die keine Lust verspürten, die Sterne zu beobachten, sei es in Honshu oder beim Landsitz an der Meeresbucht. G'dened versprach indessen, sich bei seinen Reitern umzuhören, ob jemand sich für eine Teilnahme an dem Projekt zur Himmelsüberwachung interessierte.
»Erragon«, wandte sich F'lar an den Meister, »sagtest du nicht, du hättest noch mehr Bilder, die wir dem Rat vorlegen könnten, um dessen Befürchtungen zu zerstreuen?«
»Die meisten Pächter und Handwerker leiden ebenfalls unter Ängsten, die beschwichtigt werden müssen«, murmelte K'van so leise, dass nur F'lessan und Tai ihn hörten. »Ganz zu schweigen von den Sorgen der Drachenreiter, die ja einen aktiven Part übernehmen sollen.«
***
Erst als Lessa und F'lar sich wieder daheim in ihrem Weyr befanden, fiel ihr ein, dass sie es versäumt hatte, mit Jaxom zu sprechen. Er und Sharra waren gegangen, während die anderen noch in aller Ruhe ihren Wein austranken. Und weil F'lessan mit seinen Gästen so schnell nach Honshu aufgebrochen war, fand sie keine Zeit, mit Tai, dieser grünen Reiterin, ein privates Wort zu wechseln. Noch nie zuvor hatte sie es erlebt, dass ihr Sohn sich so fürsorglich um ein Mädchen kümmerte. Dabei sah die junge Dame nicht aus, als hätte sie Schutz nötig.
»Sie ist genau die Richtige für ihn«, erklärte F'lar, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er legte ihr den Arm um die Schultern, und im Bett kuschelte sie sich dicht an ihn heran.