Matt wachte langsam und nur widerwillig auf. Er hatte so gut geschlafen wie seit Wochen nicht mehr – und diesmal sogar, ohne zu träumen.
Er brauchte einen Moment, um die ungewohnte Umgebung in sich aufzunehmen und sich wieder daran zu erinnern, wo er war. Sein Blick wanderte über die schrägen Wände, das schmale Fenster, durch das die Sonne schien, einen Karton mit alten Taschenbüchern und einen Wecker, der auf zehn Uhr stand. Dann fielen ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder ein. Das Kraftwerk, die Hunde und wie sie ihn durch den Wald gehetzt hatten. Und dass er Richard alles erzählt hatte, sogar die Wahrheit darüber, wie seine Eltern gestorben waren. Sechs Jahre lang lebte er nun schon mit dem Gefühl seiner Schuld.
Ich hätte sie warnen können. Aber ich habe es nicht getan.
Und jetzt hatte er sich einem Reporter anvertraut, der ihm wahrscheinlich sowieso nicht glaubte. Matt wünschte, es nicht getan zu haben. Es war ihm peinlich. Er musste wieder daran denken, wie Richard seine Theorie über Hexerei abgetan hatte. Eigentlich kein Wunder. Wäre es andersherum gewesen, hätte er Richard auch kein Wort geglaubt.
Und doch …
Er wusste, was passiert war. Er hatte es erlebt. Die Hunde waren aus dem Feuer gekommen. Tom Burgess und Stephen Mallory hatten den Versuch, ihn zu warnen, mit dem Leben bezahlt.
Und dann war da noch die Frage, was es mit seiner eigenen Kraft auf sich hatte.
Er hatte den Autounfall seiner Eltern vorhergesehen. Das war der Grund, warum er noch lebte. Und da waren auch andere Dinge gewesen. Der Wasserkrug, den er in der Haftanstalt zerbrochen hatte. Und letzte Nacht hatte er Richard irgendwie dazu gebracht, sein Auto anzuhalten. Mal angenommen …
Matt streckte sich im Bett aus. Seine Hände lagen flach auf der Bettdecke.
Mal angenommen, er hatte wirklich irgendwelche besonderen Fähigkeiten. In dem Polizeibericht, den er in Mrs Deverills Schrank gefunden hatte, hatte etwas von präkognitiven Fähigkeiten gestanden. Damit war wohl seine Fähigkeit gemeint, die Zukunft vorauszusehen. Irgendwie war Mrs Deverill in den Besitz dieses Berichts gekommen, und deshalb wollte sie ihn. Sie interessierte nicht, wer er war, sondern was er war.
Aber das war lächerlich. Matt hatte X-Men und Spiderman im Kino gesehen. Superhelden. Er mochte auch die Comics. Aber bildete er sich wirklich ein, auch solche Superkräfte zu haben? Er war nie von einer radioaktiven Spinne gebissen oder von einem verrückten Wissenschaftler ins Weltall geschossen worden. Er war nur ein ganz normaler Junge, der sich durch seine Blödheit selbst in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Aber er hatte diesen Wasserkrug zerbrochen. Er hatte ihn quer durchs Zimmer angesehen, und da war er zerplatzt.
Auf dem Fensterbrett stand eine etwa fünfzehn Zentimeter hohe Vase aus Glas, die mit Kugelschreibern gefüllt war. Matt starrte sie an. Also gut. Warum nicht? Er konzentrierte sich, atmete langsam ein und aus. Ohne sich zu bewegen, richtete er seine ganze Willenskraft auf diese Vase. Er konnte es. Wenn er der Vase befahl, zu zerspringen, würde sie es tun. Er hatte es schon einmal getan. Er würde es wieder tun. Und dann würde er es für Richard noch einmal machen, dann musste der Reporter ihm glauben.
Er spürte, wie die Gedanken aus seinem Kopf strömten. Er sah nur noch die Vase. Zerbrich! Los, du Mistding, brich endlich!
Er versuchte sich vorzustellen, wie das Glas zerplatzte, als würde seine Vorstellung es tatsächlich geschehen lassen. Aber es passierte nichts. Matt konzentrierte sich so sehr, dass er mit den Zähnen knirschte und den Atem anhielt.
Schließlich gab er es auf und schnappte nach Luft. Wem machte er hier eigentlich etwas vor? Er war kein Superheld – eher eine Nullnummer.
Am Fußende des Bettes entdeckte er neue Sachen: Jeans und ein Sweatshirt. Richard musste irgendwann an diesem Morgen in seinem Zimmer gewesen sein. Und obwohl er gedroht hatte, sie wegzuwerfen, hatte er sogar Matts Turnschuhe gewaschen. Sie waren zwar noch feucht, aber wenigstens sauber. Matt zog sich an und ging nach unten. Richard war in der Küche und kochte Eier.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du aufwachst«, sagte er. »Hast du gut geschlafen?«
»Ja, danke. Wo hast du die Klamotten her?«
»Ein paar Häuser weiter ist ein Laden. Ich musste deine Größe schätzen.« Er deutete auf das brodelnde Wasser im Topf. »Ich mache Frühstück. Willst du deine Eier hart oder weich?«
»Ist mir egal.«
»Sie sind jetzt zwanzig Minuten drin. Ich denke mal, dass sie hart sein werden.«
Sie setzten sich an den Küchentisch und aßen. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Matt.
»Wir werden uns bedeckt halten. Mrs Deverill und ihre Freunde suchen sicher schon nach dir. Vielleicht haben sie auch die Polizei angerufen und dich als vermisst gemeldet, und wenn sie dich hier finden, haben wir beide ein Problem. Heutzutage kann man keine vierzehnjährigen Jungen auflesen und mit ihnen herumhängen. Nicht, dass ich die Absicht hätte, mit dir herumzuhängen. Sobald wir rausgefunden haben, was los ist, heißt es Adios. Nimm es nicht persönlich, aber in dieser Wohnung ist nur Platz für mich.«
»Klar, kein Problem.«
»Ich war heute Morgen schon fleißig. Als du noch geschlafen hast, habe ich ein paar Leute angerufen. Sir Michael Marsh war der Erste.«
»Der Wissenschaftler.«
»Er hat sich bereit erklärt, sich um halb zwölf mit uns zu treffen. Und danach fahren wir nach Manchester.«
»Wozu?«
»Neulich in der Redaktion hast du mir von einem Buch erzählt, das du in der Bücherei entdeckt hast. Geschrieben von einer Elizabeth Ashwood. Sie ist ziemlich bekannt. Und das wird dir sicher gefallen – sie schreibt über schwarze Magie und Hexerei … solches Zeug eben. Wir haben eine Akte über sie in unserem Archiv, und ich habe eine unserer Mitarbeiterinnen angerufen, die mir ihre Adresse herausgesucht hat. Leider keine Telefonnummer. Aber wir können hinfahren und hören, was sie uns zu sagen hat.«
»Das ist super«, freute sich Matt. »Danke.«
»Dank mir nicht. Wenn ich dadurch zu einer Story komme, bin ich derjenige, der dir danken muss.«
»Und wenn nicht?«
Richard überlegte kurz. »Dann werfe ich dich zurück in den Sumpf.«
Sir Michael Marsh sah noch immer aus wie der Wissenschaftler im Auftrag der Regierung, der er einst gewesen war. Er war zwar schon weit über siebzig, aber seine Augen hatten nichts von ihrer Intelligenz verloren und schienen Respekt zu verlangen. Obwohl es Sonntagmorgen war, trug er einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine blaue Seidenkrawatte. Seine Schuhe waren auf Hochglanz geputzt und seine Fingernägel manikürt. Sein Haar war sicher schon vor langer Zeit weiß geworden, aber es war immer noch dicht und akkurat geschnitten. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da, eine Hand auf dem Knie, und hörte sich an, was seine Besucher zu berichten hatten.
Richard übernahm das Reden. Er war ordentlicher gekleidet als sonst. Er hatte sich rasiert und ein sauberes Hemd und ein Jackett angezogen. Matt saß neben ihm. Sie befanden sich in einem gemütlichen Raum im ersten Stock, durch dessen große Fenster man einen schönen Blick auf den Fluss hatte. Das Haus war wirklich eindrucksvoll. Das Zimmer hatte mit dem polierten Tisch, den langen Reihen ledergebundener Bücher, dem Kamin aus Marmor und den antiken Stühlen fast etwas Bühnenhaftes an sich. Und Richard hatte recht gehabt, was die Streichholzschachteletiketten anging. Es waren Hunderte. Sie stammten aus allen Ländern der Erde, und sie hingen in schmalen Vitrinen an den Wänden.
Richard hatte eine Kurzfassung von Matts Geschichte erzählt. Er hatte Sir Michael nicht gesagt, wer Matt war oder wie er nach Lesser Malling gekommen war, sondern nur berichtet, was Matt bei Omega Eins beobachtet hatte. Matt war gespannt, wie Sir Michael reagieren würde.
»Sie sagen, dass im Kraftwerk elektrisches Licht gebrannt hat?«, vergewisserte er sich. »Und der Junge hat ein Summen gehört?«
»Das stimmt.«
»Er hat einen Lastwagen gesehen, aus dem irgendein Kasten ausgeladen wurde?«
»Ja.«
»Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus, Mr Cole?«
»Matt konnte im Dunkeln nicht viel sehen. Aber er konnte erkennen, dass die Leute, die den Kasten schleppten, merkwürdige, unförmige Kleidung trugen. Ich frage mich, ob das Strahlenschutzanzüge gewesen sein können.«
»Sie glauben, dass jemand versucht, Omega Eins wieder in Betrieb zu nehmen?«
»Das wäre doch möglich.«
»Nein, ist es nicht.« Sir Michael sah Matt an. »Was weißt du über Kernenergie, junger Mann?«
»Nicht viel«, musste Matt zugeben.
»Dann werde ich dir kurz erklären, worum es dabei geht. Ich kann verstehen, dass du nicht an einer Physikstunde interessiert bist, aber du solltest zumindest wissen, wie ein Atomkraftwerk funktioniert.« Sir Michael überlegte kurz. »Lass uns mit der Atombombe anfangen. Du weißt natürlich, was das ist.«
»Ja.«
»Eine Atombombe hat eine ungeheure Kraft. Sie kann eine ganze Stadt zerstören, wie es im Zweiten Weltkrieg in Hiroshima geschehen ist. Bei Versuchen in der Wüste von Nevada hat eine kleine Atombombe einen so tiefen Krater hinterlassen, dass das größte Hochhaus der Welt darin verschwunden wäre. Die Kraft der Bombe besteht in der Energie, die bei der Explosion freigesetzt wird. Kannst du mir noch folgen?«
Matt nickte. Wäre dies eine Schulstunde gewesen, hätte er sicher längst abgeschaltet, aber hier war er fest entschlossen, aufmerksam zuzuhören.
»Ein Atomkraftwerk arbeitet ganz ähnlich. Es spaltet die Atome in einem Metall, das Uran heißt, aber dabei kommt es nicht zu einer Explosion, die unkontrollierbar ist, sondern die Energie wird allmählich in Form von Hitze abgegeben. Diese Hitze ist unglaublich. Sie verwandelt Wasser in Dampf, der dann die Turbinen eines Generators antreibt, und am Ende kommt Strom heraus. Das ist alles, was ein Atomkraftwerk macht. Es verwandelt Hitze in elektrischen Strom.«
»Und was spricht gegen Kohle?«, fragte Matt.
»Kohle, Erdgas, Öl … Das ist alles viel zu teuer. Und eines Tages werden die Vorräte erschöpft sein. Aber bei Uran ist das anders. Schon ein winziges Stück davon, ein Stück, das du in der Hand halten könntest, hat genug Kraft, um eine Million elektrischer Heizungen vierundzwanzig Stunden ohne Pause betreiben zu können.«
»Nur dass es einen umbringen würde … wenn man es in der Hand hielte«, fügte Richard hinzu.
»Ganz recht, Mr Cole. Die Strahlung wäre tatsächlich tödlich. Deswegen wird Uran grundsätzlich in schweren, mit Blei verkleideten Behältern transportiert.«
»Wie der Kasten, den ich gesehen habe!«, triumphierte Matt.
Sir Michael ignorierte ihn. »Das Herz jedes Kernkraftwerks ist der Reaktor«, fuhr er fort. »Der Reaktor ist im Grunde ein Kasten aus dickem Beton, in dem kontrollierte Explosionen stattfinden. Das Uran ist von langen Stäben, den sogenannten Brennstäben, umgeben. Wenn man die Brennstäbe hochfährt, beginnt die Explosion. Und je höher sie sind, desto kraftvoller ist die Explosion.
Der Reaktor ist der gefährlichste Teil der Anlage. Du weißt vielleicht, was in Tschernobyl passiert ist. Ein Fehler, und es kommt zu einem radioaktiven Ausschlag, der Hunderte oder sogar Tausende von Menschen das Leben kosten und ganze Landstriche auf Jahre hinaus unbewohnbar machen kann.«
War es das, was sie planten?, überlegte Matt. Waren Mrs Deverill und die anderen Dorfbewohner Terroristen? Nein. Das ergab keinen Sinn. Wenn das der Fall war, wozu brauchten sie dann ihn?
Sir Michael Marsh fuhr fort. »Als die Regierung vor fünfzig Jahren begann, sich mit Atomkraftwerken zu beschäftigen, wurden einige Versuchsreaktoren gebaut, weil man sehen wollte, wie so etwas funktioniert und ob es sicher ist. Omega Eins war die erste dieser Anlagen, und ich habe geholfen, sie zu entwerfen und zu bauen. Sie war nicht einmal achtzehn Monate in Betrieb. Und nachdem wir fertig waren, haben wir sie geschlossen und im Wald ihrem Schicksal überlassen.«
»Vielleicht will jemand den Reaktor wieder in Betrieb setzen«, beharrte Richard auf seiner Theorie.
»Das ist unmöglich – aus mehreren Gründen.« Sir Michael seufzte. »Lassen Sie uns mit dem Uran anfangen. Wie Sie sicher wissen, kann man Uran nicht einfach kaufen. Selbst Diktatoren in Ländern wie dem Irak mussten feststellen, dass sie keins bekommen konnten. Aber lassen Sie uns mal annehmen, dass diese Dörfler, von denen Sie mir erzählt haben, eine eigene Uranmine hätten. Das würde ihnen auch nichts nützen. Wie sollten sie das Uran aufbereiten? Woher sollten sie das technische Wissen und die nötigen Anlagen nehmen?«
»Aber Matt hat doch etwas gesehen …«
»Er hat einen Kasten gesehen, ja. Aber nach allem, was wir wissen, kann auch ein Picknick darin gewesen sein.« Sir Michael sah auf seine Uhr. »Ich habe Omega Eins zuletzt vor ungefähr zwanzig Jahren besucht«, sagte er. »Und es ist vollkommen ausgeräumt. Bei der Stilllegung haben wir alles ausgebaut, was eventuell gefährlich sein könnte. Es war ein ziemlicher Aufwand, das alles durch den Wald zu transportieren.«
»Warum ist es dort gebaut worden?«
Der Wissenschaftler schien die Frage nicht zu verstehen. »Wie bitte?«
»Warum haben Sie es mitten in den Wald gestellt?«
»Ach so. Nun, es musste in eine abgelegene Gegend. Und in diesem Wald gibt es einen unterirdischen Fluss. Das war der Hauptgrund für die Wahl des Standorts. Atomkraftwerke brauchen eine ständige Wasserversorgung.«
Mehr war nicht zu sagen.
»Es tut mir leid, Sir Michael«, sagte Richard beim Aufstehen. »Mir scheint, wir haben Ihre Zeit verschwendet.«
»Aber nein, nicht doch! Ich finde es sehr beunruhigend, was Sie und Ihr junger Freund mir erzählt haben. Zumindest deutet es darauf hin, dass sich jemand unbefugt auf Regierungseigentum aufhält, und ich werde das auf jeden Fall an die zuständige Behörde weiterleiten.« Er stand auf. »Ich war ja dafür, das Gebäude abzureißen, als wir die Versuche beendet hatten, aber das war zu teuer. Wie der Minister damals sagte, ist die Natur der beste Abrissexperte. Doch ich kann Ihnen versichern, dass man in dem feuchten Gemäuer nicht einmal ein anständiges Feuer entzünden könnte, geschweige denn eine Kernreaktion auslösen.«
Sir Michael brachte sie zur Tür. Bevor er sie öffnete, sah er Matt noch einmal an. »Interessierst du dich für Phillumenie?«
»Für was bitte?« Matt hatte keine Ahnung, wovon er redete.
»Für das Sammeln von Streichholzschachteletiketten. Ich habe fast tausend davon.« Er zeigte auf eine der Vitrinen an der Wand. »Die Marke Tekka aus Indien. Und die dort stammen aus Russland. Ich finde es faszinierend, dass etwas so Gewöhnliches so wunderschön sein kann.«
Er öffnete die Tür.
»Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren«, sagte er. »Und ich melde mich, sobald ich mit der Polizei gesprochen habe.«
Elizabeth Ashwood, die Autorin von Wanderungen rund um Greater Malling, lebte in Didsbury, einem Vorort von Manchester. Die Adresse, die Richard ermittelt hatte, führte sie zu einem Einfamilienhaus in einer breiten, baumgesäumten Straße. Der Vorgarten war sehr gepflegt, und die Blumenbeete waren tadellos in Schuss. An der Haustür hing ein altmodischer Türklopfer in Form einer Hand. Richard hob ihn an und ließ ihn gegen die Tür fallen. Das Geräusch hallte durchs ganze Haus, und eine Minute später wurde die Tür geöffnet.
Eine schlanke dunkelhaarige Frau stand vor ihnen. Sie sah sie nicht an, sondern an ihnen vorbei, und sie trug eine Brille mit schwarzen Gläsern. Matt schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Er hatte noch nie zuvor einen blinden Menschen gesehen und fragte sich, wie es wohl sein mochte, in ewiger Dunkelheit zu leben. »Ja?«, sagte sie ungeduldig.
»Hi.« Richard lächelte, obwohl sie es nicht sehen konnte. »Sind Sie Elizabeth Ashwood?«
»Ich bin Susan Ashwood. Elizabeth war meine Mutter.«
»War?« Richard gelang es nicht, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Sie ist vor einem Jahr gestorben.«
Das war es dann also. Sie waren die weite Strecke umsonst gefahren. Matt wollte schon kehrtmachen und zum Auto zurückgehen, als die Frau noch etwas sagte. »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Richard Cole. Ich bin Journalist und arbeite bei der Greater Malling Gazette in Yorkshire.«
»Es ist noch jemand bei Ihnen.«
»Ja.«
Woher wusste sie das? Matt hatte keinen Laut von sich gegeben.
»Ein Junge …« Ihre Hand schoss hervor, und irgendwie schaffte sie es, ihn am Arm zu packen. »Woher kommst du?«, fragte sie. »Warum bist du hier?«
Matt fand es peinlich, wie sie ihn festhielt. »Ich komme aus Lesser Malling«, sagte er. »Wir wollten etwas über ein Buch wissen, das Ihre Mutter geschrieben hat.«
»Komm ins Haus«, sagte die Frau. »Ich kann dir weiterhelfen. Aber dazu musst du hereinkommen.«
Matt warf Richard einen fragenden Blick zu. Richard zuckte nur die Achseln. Sie betraten das Haus.
Miss Ashwood führte sie einen breiten, hellen Flur entlang. Das Haus war schon älter, aber es war mit Eichenböden, indirekter Beleuchtung und deckenhohen Fenstern geschickt modernisiert worden. An den Wänden hingen Bilder – überwiegend abstrakte Gemälde, die sehr teuer aussahen. Matt fragte sich, was das sollte, da ihre Besitzerin sie doch nicht sehen konnte. Natürlich war es denkbar, dass die Frau einen Mann und Kinder hatte. Allerdings hatte Matt schon an der Haustür das Gefühl gehabt, das sie jemand war, der viel Zeit allein verbrachte.
Sie führte sie in ein Wohnzimmer mit flachen Ledersofas und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sich zu setzen. In einer Ecke stand ein schwarzes glänzendes Klavier.
»Welches Buch meiner Mutter hat Sie hergeführt?«, fragte sie.
»Es war ein Buch über Lesser Malling«, sagte Richard.
Matt entschied, sofort zur Sache zu kommen. »Wir wollen wissen, was Raven’s Gate ist.«
Die Frau war plötzlich ganz still. Durch die schwarze Brille war schwer zu erkennen, was sie dachte, aber Matt spürte ihre Aufregung. »Also hast du mich gefunden«, wisperte sie.
»Wissen Sie, was es ist?«
Die Frau antwortete nicht. Die schwarzen Gläser waren auf ihn gerichtet, bis er ganz verlegen wurde. Er wusste genau, dass sie nichts sehen konnte, und trotzdem starrte sie ihn an. »Ist dein Name Matt?«, fragte sie.
»Ja.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Richard.
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte Miss Ashwood, die Richard nicht beachtete. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Matt. »Ich wusste, dass du mich finden würdest. Es war so vorherbestimmt, und ich bin froh, dass du rechtzeitig den Weg hierhergefunden hast.«
»Wovon reden Sie da«, fragte Richard wütend. »Ich glaube, wir reden aneinander vorbei«, fuhr er fort. »Wir sind hergekommen, um mit Ihrer Mutter zu sprechen …«
»Ich weiß. Sie hat mir erzählt, dass du ihr Buch gesehen hast.«
»Sagten Sie nicht, dass sie gestorben ist?« Zum ersten Mal sprach Miss Ashwood jetzt Richard an. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«
»Doch, klar.« Richard sah Matt an und zuckte die Achseln. »Sie sind Susan Ashwood.«
»Sie haben noch nie von mir gehört?«
»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber sollte ich das? Sind Sie berühmt? Was machen Sie? Spielen Sie Klavier? Oder Geige?«
Anstelle einer Antwort tastete die Frau auf einem Tischchen neben der Couch herum. Sie fand eine Visitenkarte und hielt sie Richard hin. Er drehte sie um und las:
Susan Ashwood
Hellseherin und Spiritistin
Ihre Verbindung zur anderen Seite
»Sie sind ein Medium?«
»Was?«, fragte Matt.
»Miss Ashwood spricht mit Geistern«, erklärte Richard verächtlich. »Zumindest glaubt sie, dass sie das tut.«
»Ich spreche mit den Verstorbenen genauso, wie ich jetzt mit euch spreche. Und wenn du sie hören könntest, wüsstest du, dass die Welt der Geister in Aufruhr ist. Schreckliche Dinge werden passieren. Genau genommen passieren sie schon jetzt. Das ist es auch, was euch zu mir geführt hat.«
»Was uns zu Ihnen geführt hat«, fuhr Richard sie an, »war die Autobahn. Und ich denke, wir verschwenden hier unsere Zeit.« Er stand auf. »Komm, Matt, lass uns gehen.«
»Wenn Sie dieses Haus verlassen, ohne sich anzuhören, was ich zu sagen habe, machen Sie den größten Fehler Ihres Lebens.«
»Das behaupten Sie!«
»Matt, du bist in etwas Größeres und Unglaublicheres verwickelt, als du dir vorstellen kannst. Ob es dir gefällt oder nicht – du hast eine Reise angetreten, ohne es zu wissen und ohne die Möglichkeit der Umkehr.«
»Also, ich werde jetzt umkehren«, sagte Richard.
»Sie können gern Witze machen, aber Sie haben keine Ahnung, was vorgeht. Sie tun mir leid, Mr Cole. Sie wissen anscheinend nicht, dass es zwei Welten gibt. Sie existieren nebeneinander, manchmal nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und die meisten Leute verbringen ihr ganzes Leben in einer von beiden, ohne etwas von der Existenz der anderen zu ahnen. Es ist, als lebte man auf einer Seite eines Spiegels: Man glaubt, auf der anderen Seite ist nichts, bis eines Tages ein Schalter umgelegt wird, und der Spiegel plötzlich durchsichtig ist. Dann sieht man die andere Seite. Das ist mit dir passiert, Matt, an dem Tag, als du von Raven’s Gate gehört hast. Dein Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Wie ich schon sagte – du hast eine Reise angetreten. Und jetzt musst du weitermachen, bis du am Ziel bist.«
»Was genau ist denn Raven’s Gate?«, fragte Matt.
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß, wie unsinnig das klingt, aber du musst das verstehen.« Miss Ashwood holte tief Luft. »Ich gehöre zu einer Organisation«, fuhr sie fort. »Man könnte sagen, wir sind so etwas wie eine Geheimgesellschaft. Aber genauer gesagt sind wir eine Gesellschaft, die Geheimnisse bewahrt.«
»Sie meinen … so etwas wie der Geheimdienst?«, murmelte Richard abschätzig.
»Wir nennen uns Nexus, Mr Cole. Und wenn Sie mehr über uns wüssten, wer wir sind und was wir tun, wären Sie vielleicht weniger sarkastisch. Aber so gern ich es tun würde, ich kann nicht allein mit dir sprechen, Matt. Du musst mit mir nach London kommen. Dort ist ein Mann, den du treffen musst. Sein Name ist Professor Sanjay Dravid.«
»Dravid!« Matt kannte diesen Namen. Er hatte ihn schon irgendwo gehört.
»Das ist doch lächerlich!«, empörte sich Richard. »Warum wollen Sie uns erst nach London schleppen? Warum können Sie uns nicht hier und jetzt sagen, was wir wissen wollen?«
»Weil ich einen Eid geschworen habe, niemals mit jemandem über dieses Thema zu sprechen. Das haben wir alle. Aber wenn Sie mit mir nach London kommen und den Nexus treffen, können wir Ihnen helfen. Sie wollen alles über Raven’s Gate erfahren? Wir werden Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen … und noch mehr.«
»Und wie viel Kohle müssen wir lockermachen, um diesem Nexus-Verein beizutreten?«, fragte Richard bissig.
Miss Ashwood richtete sich kerzengerade auf, und Matt spürte, wie wütend sie war. Ihre Fäuste waren geballt. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme eisig. »Ich weiß, was Sie über mich denken«, fuhr sie Richard an. »Sie halten mich für eine Betrügerin, die hier herumsitzt und die Leute um ihr Geld bringt. Ich nenne mich selbst Hellseherin, also muss ich eine Schwindlerin sein. Ich erzähle Geschichten über Geister, und dumme, schwache Menschen fallen auf mich herein.« Sie verstummte kurz. »Aber der Junge versteht es«, fuhr sie fort und drehte ihr Gesicht zu Matt. »Du glaubst mir, nicht wahr, Matt? Du weißt über Magie Bescheid. Ich habe deine Kraft sofort gespürt. So etwas wie sie habe ich noch nie gefühlt.«
»Wo ist Professor Dravid?«, fragte Matt.
»In London. Das sagte ich doch. Wenn ihr nicht mit mir hinfahren wollt, gebt mir wenigstens eure Telefonnummer, damit er mit dir sprechen kann.«
»Ich gebe Ihnen ganz sicher nicht meine Telefonnummer«, widersprach Richard. »Und es ist mir egal, was Sie sagen, Miss Ashwood. Wir sind mit einer einfachen Frage zu Ihnen gekommen. Und wenn Sie nicht bereit sind, uns eine Antwort zu geben, können wir ebenso gut wieder gehen.«
»Professor Dravid ist im Museum für Naturgeschichte in South Kensington. Dort findest du ihn.«
»Klar. Wir schicken Ihnen eine Postkarte.« Richard stand auf und zerrte Matt mehr oder weniger aus dem Zimmer.
Das Auto stand auf der anderen Straßenseite. Sie blieben stehen, und Richard suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel. Matt spürte, wie aufgebracht er war.
»Ich hatte schon Kontakt mit einem Mann namens Dravid«, bemerkte Matt.
»Was?«
»Das war in der Bücherei von Greater Malling. Ich war im Internet, und da tauchte er plötzlich auf. Du weißt schon, in einem dieser Pop-up-Fenster.«
»Was wollte er?«
»Ich habe nach Raven’s Gate gesucht, und er wollte wissen, warum.«
»Was hast du ihm geantwortet?«
»Gar nichts.«
»Nun, du kannst ihn vergessen.« Richard hatte den Schlüssel gefunden, und sie stiegen ein. Dann startete er den Wagen. »Wir werden ganz sicher nicht nach London fahren. Ich kann kaum fassen, dass wir den ganzen Weg hierhergefahren sind, nur um mit einer Frau zu sprechen, bei der offensichtlich ein paar Schrauben locker sind. Du willst mir doch nicht wirklich erzählen, dass du ihr geglaubt hast, oder?«
Matt sah durchs Rückfenster auf das Haus, bis es nicht mehr zu sehen war. »Ich weiß nicht …«, murmelte er.