DAS HAUS IM WALD

 

Zwischen London und York lagen über dreihundert Kilometer öder Autobahn, und die Fahrt dauerte mehr als vier Stunden.

Der Bus hielt zweimal an einer Raststätte, aber weder Matt noch Mrs Deverill verließen ihre Plätze. Mrs Deverill hatte Sandwiches mitgebracht, die in braunes Papier eingewickelt waren. Sie holte sie aus ihrer Handtasche und bot Matt davon an.

»Hast du Hunger, Matthew?«

»Nein, danke.«

»Wenn wir erst in Yorkshire sind, erwarte ich, dass du isst, was man dir vorsetzt. In meinem Haus wird kein Essen verschwendet.«

Sie wickelte eines der Päckchen aus, und Matt musste feststellen, dass es zwei Scheiben Weißbrot waren, die mit kalter Leber belegt waren. Jetzt war er froh, dass er abgelehnt hatte.

»Ich nehme an, dass du dich fragst, was du eigentlich von mir halten sollst«, sagte Mrs Deverill und begann zu essen. Sie nahm kleine Bissen und kaute methodisch. Beim Schlucken verzerrte sich ihre Kehle, als fiele es ihr schwer, das Essen hinunterzubekommen. »Falls du es noch nicht mitbekommen haben solltest: Ich bin jetzt dein gesetzlicher Vormund«, fuhr sie fort. »Du bist ein Dieb und ein Taugenichts, und die Regierung hat dich mir anvertraut. Ich bin jedoch bereit, deine Vergangenheit zu vergessen, Matthew. Ich kann dir versichern, dass mir deine Zukunft entschieden mehr am Herzen liegt. Wenn du tust, was ich dir sage, werden wir uns gut vertragen. Aber wenn du dich widersetzt oder mir widersprichst, schwöre ich dir, dass es dir schlechter gehen wird, als du dir vorstellen kannst. Hast du das verstanden?«

»Ja«, sagte Matt.

Ihr Blick bohrte sich in seinen, und er schauderte. »Vergiss nicht, dass sich niemand für dich interessiert. Du hast keine Eltern. Keine Familie. Du bist ungebildet und hast keine Zukunftsaussichten. Ich will ja nicht grausam sein, aber genau genommen bin ich alles, was dir geblieben ist.«

Sie wandte sich von ihm ab und aß ihr Sandwich auf. Dann holte sie eine Landwirtschaftszeitschrift aus der Tasche und begann zu lesen. Es war, als hätte sie ihn vollkommen vergessen.

Die Autobahn nahm kein Ende. Da es draußen nichts zu sehen gab, ließ sich Matt von den vorbeiflitzenden weißen Linien und der endlosen Leitplanke hypnotisieren.

Ohne dass es ihm bewusst war, ging sein Geist auf Wanderschaft. Er schlief nicht, war aber auch nicht ganz wach – es war irgendetwas dazwischen.

 

Er war wieder in ihrem Haus in Dulwich, einem grünen freundlichen Vorort von London. Dort hatte er mit seinen Eltern gelebt. Es war sechs Jahre her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte, aber jetzt sah er sie wieder vor sich.

Da war seine Mutter, die in der Küche herumwirbelte, der Küche, in der immer Chaos herrschte, sogar, wenn sie gerade aufgeräumt hatte. Sie trug die Sachen, die sie an diesem letzten Tag angehabt hatte: ein rosafarbenes Kleid und eine weiße Leinenjacke.

Immer wenn Matt sich an sie erinnerte, sah er sie so. Es war ein ganz neues Kleid, das sie extra für die Hochzeit gekauft hatte.

Und da war auch sein Vater, der sich in Anzug und Krawatte sichtlich unwohl fühlte. Mark Freeman war Arzt, und wenn er zur Arbeit ging, zog er meistens das an, was er gerade finden konnte – in der Regel waren das Jeans und Pullover … Er trug nicht gern formelle Kleidung. Aber einer seiner Kollegen heiratete, und da ließ es sich nicht vermeiden, schicke Klamotten zu tragen. Nach der Trauung war ein Essen in einem vornehmen Hotel geplant.

Sein Vater saß in der Küche und frühstückte. Er warf sein Haar zurück, wie er es immer tat, und fragte: »Wo ist Matthew?«

Und dann tauchte Matt auf. Damals war er natürlich noch nicht Matt, sondern Matthew. Und jetzt, sechs Jahre später, in einem Bus, der ihn an einen Ort bringen würde, von dem er noch nie gehört hatte, sah Matt sich selbst, wie er damals ausgesehen hatte: ein kleiner, etwas pummeliger Junge mit dunklen Haaren, der in eine leuchtend gelbe Küche kam. Sein Vater saß am Tisch. Seine Mutter hielt die Teekanne in der Hand, die geformt war wie ein Teddybär.

»Beeil dich ein bisschen, Matthew, sonst kommen wir noch zu spät.«

»Ich will da nicht hin.«

»Was? Wovon redest du?«

»Matthew …?«

»Mir geht es nicht gut. Könnt ihr nicht alleine fahren? Ich will da nicht hin.«

Im Bus legte Matt eine Hand über seine Augen. Er wollte sich nicht länger erinnern. Die Erinnerung tat ihm nur weh … jedes Mal.

»Was heißt das, du willst da nicht hin?«

»Bitte, Dad, bitte zwing mich nicht dazu … Ich kann einfach nicht!«

Sie hatten versucht, ihn zu überreden, aber nicht sehr lange. Er war das einzige Kind seiner Eltern, und sie gaben ihm fast immer nach. Sie hatten gedacht, dass ihm die Hochzeit gefallen würde, weil man ihnen gesagt hatte, dass auch andere Kinder dort sein würden und dass es ein Extrazelt mit einem Zauberer und Luftballons geben würde.

Und nun das! Sein Vater löste das Problem innerhalb weniger Minuten mit einem kurzen Anruf. Rosemary Green, ihre nette, immer hilfsbereite Nachbarin, erklärte sich bereit, den Rest des Tages auf Matthew aufzupassen. Seine Eltern fuhren ohne ihn.

Und deswegen war er nicht bei ihnen im Auto gewesen, als sie den Unfall hatten. Deswegen waren sie jetzt tot, und er lebte.

 

Matt ließ seine Hand fallen und sah hinaus. Der Bus war langsamer geworden. Es ging ihm nicht gut. Ihm war abwechselnd heiß und kalt, und er hatte dumpfe Kopfschmerzen.

»Wir sind da«, sagte Mrs Deverill und stand aus ihrem Sitz auf. »Los, wir müssen aussteigen!«

Sie waren an einem Busbahnhof angekommen, der moderner und kleiner war als der von Victoria. Der Bus hielt, und sie folgten den anderen Fahrgästen hinaus. Draußen war es kälter als in London, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Matt ließ sich seinen Koffer geben und folgte Mrs Deverill.

Ein Mann erwartete sie neben einem verbeulten alten Landrover, der aussah, als hielte ihn nur noch der Matsch zusammen, der an ihm klebte. Der Mann war klein und dick, hatte blondes fettiges Haar und ein Gesicht, das ihm langsam, aber sicher vom Kopf zu rutschen drohte. Er trug dreckige Jeans und ein Hemd, das ihm zu klein war. Matt sah, wie es zwischen den Knöpfen aufklaffte. Der Mann war um die vierzig. Er hatte wabbelige Lippen, die sich bei ihrem Anblick zu einem unangenehmen, feuchten Lächeln verzogen.

»Guten Tag, Mrs Deverill«, sagte er und streckte seine schmutzige Hand aus.

Mrs Deverill ignorierte ihn. Sie sah Matt an. »Das ist Noah.«

Matt sagte nichts. Noah musterte ihn auf eine Weise, die ihm nicht gefiel.

»Herzlich willkommen in Yorkshire«, sagte Noah. »Es freut mich, dich kennenzulernen.« Er streckte seine Hand aus. Die Finger waren kurz und fett, die Nägel mit Schmutz verkrustet. Matt rührte sich nicht.

»Noah arbeitet für mich auf der Farm«, erklärte Mrs Deverill. »Er ist nicht besonders redegewandt, also verschwende deine Zeit nicht damit, mit ihm zu sprechen.«

Der Landarbeiter starrte ihn immer noch an. Sein Mund war offen, und ihm hing Spucke am Kinn. Matt wandte sich ab.

»Steig ins Auto«, befahl Mrs Deverill. »Es wird Zeit, dass du dein neues Heim siehst.«

 

Sie fuhren eine Stunde lang, erst auf einer zweispurigen Straße, dann auf einer Nebenstrecke und schließlich auf einer gewundenen Landstraße. Je weiter sie kamen, desto öder wurde die Landschaft. Lesser Malling schien irgendwo am Rand der Moore von Yorkshire zu liegen, doch Matt konnte kein einziges Hinweisschild entdecken. Er fühlte sich jetzt noch schlechter als vorher und fragte sich, ob das an Noahs Fahrstil lag oder ob er sich irgendein Virus eingefangen hatte.

Sie kamen an eine Kreuzung aus fünf Straßen, die absolut identisch aussahen. Überall waren Bäume. Matt hatte nicht gemerkt, dass sie in einen Wald gefahren waren, doch plötzlich waren sie mittendrin. Der Wald war offensichtlich erst vor Kurzem angepflanzt worden. Alle Bäume – Matt vermutete, dass es sich um Tannen handelte – waren gleich hoch, hatten die gleiche Farbe und standen in akkuraten Reihen mit immer gleichem Abstand zueinander.

In welche Richtung Matt auch schaute, er sah überall dasselbe.

Er musste wieder daran denken, was die Sozialarbeiterin in London gesagt hatte. Das FED-Programm schickte ihn aufs Land, damit er nicht den Versuchungen der Großstadt ausgesetzt war. Eine abgelegenere Gegend hätten sie wirklich nicht finden können.

An der Kreuzung stand ein Hinweisschild, aber es war abgebrochen. Der gesplitterte Pfahl war alles, was davon übrig war.

»Lesser Malling liegt zehn Minuten in diese Richtung«, sagte Mrs Deverill und zeigte nach links. »Ich werde es dir zeigen, wenn du dich ein bisschen eingelebt hast. Wir wohnen in der anderen Richtung.«

Noah drehte das Lenkrad, und sie folgten einer der anderen Straßen noch ein Stück weit, bis sie an ein Tor kamen. Matt konnte den mit brauner Farbe ans Tor geschriebenen Namen erkennen: Hive Hall. Dann fuhren sie einen Sandweg zwischen zwei Stacheldrahtzäunen entlang, der sie auf einen Hof mit Scheunen und anderen Gebäuden führte. Noah hielt an. Sie waren da.

Matt stieg aus.

Es war ein fürchterlicher Ort. Das schlechte Wetter half nicht gerade, aber selbst bei strahlendem Sonnenschein hätte Hive Hall kaum besser ausgesehen. Das Wohnhaus war aus großen Steinblöcken erbaut und hatte ein Schieferdach, das unter dem Gewicht des riesigen Schornsteins nachzugeben schien. Die Nebengebäude bestanden aus Brettern, die so alt und feucht waren, dass sie schon halb verrottet waren. Dunkelgrünes Moos überzog sie wie eine Krankheit.

Der Hof selbst war annähernd rechteckig und vollkommen aufgeweicht. Hühner humpelten darauf herum. Sie hatten sich kaum die Mühe gemacht, den Rädern des Landrovers auszuweichen. Sechs Schweine standen zitternd im Schlamm.

»Das ist es«, sagte Mrs Deverill, als sie ausstieg und ihre Beine streckte. »Es sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber es ist mein Zuhause, und mir ist es gut genug. Natürlich gibt es hier keine Computerspiele. Und keinen Fernseher. Aber wenn du erst mit der Arbeit anfängst, wirst du für diese Dinge ohnehin zu müde sein. Auf dem Land gehen wir früh zu Bett. Du wirst dich bald an unsere Lebensweise gewöhnen.«

Sie betraten das Haus. Durch die Haustür kam man in eine große Küche mit einem Steinfußboden. In einer Ecke war der altmodische Herd, über dem Töpfe und Pfannen hingen, und auf hölzernen Regalen standen unzählige Gläser und Flaschen. Mrs Deverill führte Matt in ein Wohnzimmer mit alten, verschlissenen Möbeln und Regalen voller angestaubter Bücher. Über dem Kamin hing ein riesiges Gemälde, das aussah, als zeige es Mrs Deverill, obwohl es vor vielleicht fünfhundert Jahren gemalt worden war. Die Frau auf dem Bild hatte dieselben grausamen Augen und dieselben eingefallenen Wangen. Nur das Haar war anders, es war länger und schien im Wind zu wehen.

»Das ist eine meiner Vorfahrinnen«, erklärte Mrs Deverill und lächelte für den Bruchteil einer Sekunde.

Matt betrachtete den Hintergrund des Bildes. Die Frau war vor einem Dorf abgebildet, das aus wenigen heruntergekommenen Häusern bestand. Matt sah wieder in ihr Gesicht und schauderte. Es hatte sich nichts bewegt, aber er hätte schwören können, dass sie vorher nach links, in Richtung Rahmen geschaut hatte. Jetzt waren ihre Augen auf ihn gerichtet. Er schluckte hörbar. Seine Fantasie ging mit ihm durch. Er drehte sich um und musste feststellen, dass auch Mrs Deverill ihn anstarrte. Er war zwischen ihnen gefangen.

Mrs Deverill lächelte kurz. »Sie sieht aus wie ich, nicht wahr? Sie war auch eine Deverill. In diesem Teil von Yorkshire gibt es schon seit dreihundert Jahren Deverills. Sie hieß Jayne, genau wie ich. Sie wurde verbrannt. Man sagt, wenn der Wind günstig steht, kann man ihre Schreie noch heute hören. Komm mit nach oben …«

Matt folgte Mrs Deverill über eine gewundene Treppe in den ersten Stock und zu einem Zimmer am Ende des Flurs. Das würde sein Zimmer sein … und es war das Zimmer, das ihn am meisten interessierte. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Er fürchtete, sich übergeben zu müssen.

Das Zimmer hatte eine niedrige Decke mit frei liegenden Balken und einen Holzfußboden, in dessen Mitte ein kleiner Teppich lag. Durch die winzigen Fenster konnte er ein Feld sehen und dahinter den Wald. Das durchhängende Bett war gemacht, allerdings gab es keine Steppdecke, sondern nur Laken und Wolldecken. An der Wand gegenüber befanden sich ein Waschbecken und eine Kommode, auf der eine Vase mit Trockenblumen stand. Die Bilder an den Wänden waren mit Wasserfarben gemalt und zeigten Ansichten von Lesser Malling.

»Ich musste das Zimmer für dich schmücken«, bemerkte Mrs Deverill mürrisch. Natürlich hatte sich jemand vom FED-Programm die Farm angesehen und darauf bestanden, dass sein Zimmer sauber und gemütlich war. »Ich habe die Blumen selbst getrocknet. Tollkirsche, Oleander und Mistel. Drei meiner Lieblinge. Natürlich alle giftig, aber sie haben so schöne Farben …«

Matt legte seinen Koffer aufs Bett und bemerkte, dass sich zwischen den Kissen etwas bewegte.

»Das ist Asmodeus«, sagte Mrs Deverill. »Mein Kater.«

Es war ein riesiger schwarzer Kater mit gelben Augen. Sein Bauch war dick, als hätte er vor Kurzem gefressen, und Matt fiel eine graue Stelle auf, an der sein Fell abgewetzt aussah. Der Kater schnurrte faul vor sich hin. Matt streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Der Kater schnurrte lauter. Langsam drehte er den Kopf und sah Matt in die Augen. Dann schlug er ihm die Zähne in die Hand.

Mit einem Aufschrei riss Matt die Hand zurück. Blut quoll aus der Bisswunde in seinem Daumen. Ein Tropfen fiel auf den Boden. Mrs Deverill wich einen Schritt zurück. Matt sah, wie sich ihre Augen weiteten, und zum ersten Mal an diesem Tag war ihr Lächeln echt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem leuchtend roten Blut auf dem Boden.

Das war zu viel für ihn.

Das Zimmer drehte sich. Matt schwankte. Er wollte etwas sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Die Wände wirbelten um ihn herum. Er hörte, wie eine Tür aufgestoßen wurde. Er blickte hindurch und sah einen Kreis aus riesigen Granitblöcken – oder zumindest glaubte er, dass er das sah. Jemand hielt ein Messer. Er sah es über seinem Kopf schweben, die Spitze auf sein Auge gerichtet. Der Fußboden schien zu beben, und dann brachen die Holzdielen eine nach der anderen auf. Die Splitter flogen durch die Luft. Grelles Licht kam aus dem Boden, und Matt glaubte, in dem Licht eine riesige, unmenschliche Hand zu erkennen.

Eine Stimme hallte in seinen Ohren.

»Einer der Fünf!«, wisperte sie.

Das Licht umhüllte ihn. Er spürte, wie es ihn durchdrang und das Innere seines Kopfes verbrannte. Um es auszusperren, drückte er sich beide Hände fest auf die Augen. Dann kippte er hintenüber. Er war schon bewusstlos, als er auf dem Boden aufschlug.