EIN NEUES LEBEN

 

Vier Leute sahen Matt von der anderen Seite eines langen Tisches aus prüfend an. Es war einer von diesen Räumen, in denen Leute heirateten – oder sich scheiden ließen. Nicht ungemütlich, aber nüchtern und formell, mit holzgetäfelten Wänden, an denen Porträts von vermutlich längst toten Leuten hingen. Matt war in London, wo genau, wusste er nicht. Auf der Fahrt hatte es so sehr geregnet, dass er nichts gesehen hatte, und der Wagen hatte direkt vor der Tür eines modernen, unscheinbaren Gebäudes gehalten. Matt hatte keine Zeit gehabt, sich umzusehen.

Seit Matts Verhaftung war eine Woche vergangen. In dieser Zeit hatte man ihn verhört, untersucht und viele Stunden alleingelassen.

Er hatte unzählige Fragebögen ausfüllen müssen, die ihn an Klassenarbeiten erinnerten, aber vollkommen sinnlos schienen. »2, 8, 14, 20 … Welches ist die nächste Zahl in dieser Zahlenfolge?« Und: »Wie viele Schreibfehler findest du in diesem Satz?« Verschiedene Männer und Frauen – Ärzte und Psychologen – hatten ihn aufgefordert, über sich zu sprechen. Sie hatten ihm Farbkleckse auf Papier gezeigt. »Wonach sieht das für dich aus? Woran musst du denken, wenn du diese Form siehst?« Und sie hatten Spiele mit ihm gemacht – Wortspiele und solches Zeug.

Schließlich hatten sie ihm gesagt, dass er abreisen würde. Ein Koffer mit seinen Sachen war aufgetaucht, den seine Tante für ihn gepackt haben musste. Und nach einer zweistündigen Fahrt in einem ganz normalen Auto – nicht einmal einem Polizeiwagen – war er hier gelandet. Der Regen prasselte immer noch gegen die Fensterscheiben und nahm ihm jede Sicht nach draußen. Er hörte, wie die Tropfen gegen die Scheibe hämmerten, als verlangten sie Einlass.

Es kam ihm vor, als hätte sich die gesamte Außenwelt aufgelöst und nur die fünf Leute in diesem Raum wären übrig geblieben.

Ganz links saß seine Tante, Gwenda Davis. Sie betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch und verschmierte dabei ihre Wimperntusche. Ein schmutzig brauner Mascara-Streifen zog sich quer über ihr Gesicht. Neben ihr saß Detective Superintendent Mallory und sah demonstrativ in die andere Richtung. Die dritte Person am Tisch war eine Richterin, die Matt heute zum ersten Mal sah. Sie war ungefähr sechzig Jahre alt, sehr korrekt gekleidet, trug eine Brille mit Goldrand und machte einen ernsthaften Eindruck. Im Laufe der Jahre schien sich ein missbilligender Blick tief in ihr Gesicht eingegraben zu haben. Rechts von ihr saß Matts Sozialarbeiterin Jill Hughes, eine grauhaarige Frau, die etwa zehn Jahre jünger war als die Richterin. Sie war für Matt zuständig, seit er elf Jahre alt war.

Die Richterin sprach.

»Matthew, hör mir genau zu. Du musst begreifen, dass das ein überaus feiges Verbrechen war, bei dem es außerdem noch zu einer Gewalttat gekommen ist«, sagte sie. Sie hatte eine sehr präzise und knappe Art zu sprechen. »Dein Mittäter, Kelvin Johnson, wird vor Gericht gestellt werden und mit ziemlicher Sicherheit in einer Jugendstrafanstalt enden. Er ist siebzehn. Du dagegen bist jünger, hast aber dennoch das Alter der Strafmündigkeit erreicht. Wenn du angeklagt würdest, müsstest du damit rechnen, für etwa drei Jahre in eine Besserungsanstalt oder in ein geschlossenes Heim für schwer erziehbare Kinder zu kommen.«

Die Richterin verstummte und öffnete eine Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Das Umblättern der Seiten kam Matt in der plötzlichen Stille sehr laut vor.

»Du bist ein intelligenter Junge«, fuhr sie fort. »Ich habe hier die Ergebnisse der Tests vorliegen, denen du in der vergangenen Woche unterzogen wurdest. Obwohl deine schulischen Leistungen zu wünschen übrig lassen, scheinst du im Rechnen und Schreiben gute Anlagen zu haben. Dem psychologischen Bericht zufolge bist du kreativ und hast ein rasches Auffassungsvermögen. Deshalb bin ich erstaunt, dass du dich für die Kriminalität entschieden hast.

Aber natürlich müssen wir deine unglücklichen Familienverhältnisse in Betracht ziehen. Du hast deine Eltern plötzlich und in sehr jungen Jahren verloren, was dich vermutlich aus der Bahn geworfen hat. Ich denke, uns allen ist klar, dass deine Probleme auf dieses tragische Ereignis zurückzuführen sind. Trotzdem musst du die Kraft finden, diese Probleme zu überwinden, Matthew. Wenn du weiterhin dem Weg folgst, für den du dich entschieden hast, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du im Gefängnis enden wirst.«

Matt hörte der Richterin kaum zu. Er versuchte es, aber die Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen und nichts weiter zu bedeuten – wie die Durchsage auf einem Bahnhof, die einen Zug ankündigte, mit dem er ohnehin nicht fahren wollte. Er hörte lieber dem Regen zu, der an die Fensterscheiben prasselte. Doch plötzlich wurde er aufmerksam.

»Es gibt ein neues Programm der Regierung, das speziell für junge Leute wie dich entworfen wurde«, sagte die Richterin gerade. »Die Wahrheit ist, dass wir junge Menschen wie dich, Matthew, nicht in unseren Besserungsanstalten haben wollen. Das würde uns viel Geld kosten, und außerdem gibt es nicht genug freie Plätze. Aus diesem Grund hat die Regierung das FED-Programm ins Leben gerufen. FED steht für Freiheit, Erziehung, Disziplin. Du wirst zu einer Pflegemutter kommen und bei ihr ein neues Leben beginnen.«

»Ich hatte schon eine Pflegemutter …« Matt warf seiner Tante, die auf ihrem Stuhl zusammenzuckte, einen Blick zu. »… und es war nicht gerade ein Erfolg.«

»Das ist wahr«, bestätigte die Richterin. »Und ich fürchte, dass sich Mrs Davis auch nicht länger imstande sieht, für dich zu sorgen. Ihr reicht es.«

»Ach, tatsächlich?«, sagte Matt verächtlich.

»Ich habe getan, was ich konnte!«, rief Gwenda Davis und drückte sich das Taschentuch gegen die Augen. »Und du hast es mir nie gedankt. Du warst nie ein netter Junge. Du hast es nicht einmal versucht.«

Die Richterin hüstelte. Mrs Davis schaute auf und verstummte. »Leider empfindet deine Sozialarbeiterin, Miss Hughes, dasselbe«, fuhr die Richterin fort. »Das bedeutet, dass dieses Programm deine einzige Chance ist. Dir bleibt keine andere Wahl.«

»Was ist das für ein Programm?«, fragte Matt. Er wollte nur noch aus diesem Raum heraus. Es war ihm egal, wohin sie ihn schickten.

»Du kommst erst einmal zu einer Pflegemutter«, erklärte Jill Hughes. Sie war eine sehr kleine Frau, die fast von dem Tisch verdeckt wurde, an dem sie saß. Für ihren Job hatte sie eindeutig die falsche Größe. »Wir verfügen über eine ganze Reihe von Leuten, die in abgelegenen Teilen des Landes leben – «

»Auf dem Land ist die Versuchung geringer«, mischte sich die Richterin ein.

»Alle wohnen weit entfernt von städtischen Regionen«, sprach Jill Hughes weiter. »Sie nehmen junge Leute wie dich auf und bieten ihnen ein altmodisches Familienleben. Sie sorgen für Nahrung, Kleidung, Zuwendung und, was am wichtigsten ist, für Disziplin. Das F in FED steht für Freiheit – aber die musst du dir erst verdienen.«

»Deine neue Pflegemutter darf dich zu leichten körperlichen Tätigkeiten heranziehen. Stell dich also schon mal darauf ein«, sagte die Richterin.

»Soll das heißen, ich muss arbeiten?«, fragte Matt angewidert.

»Was ist dagegen einzuwenden?«, fuhr ihn die Richterin an. »Die Arbeit auf dem Land ist gesund, und viele Kinder wären froh darüber, draußen bei den Tieren und auf den Feldern sein zu können. Niemand zwingt dich, am FED-Programm teilzunehmen, Matthew. Du musst dich freiwillig dafür entscheiden. Aber ich kann dir sagen, dass dies eine echte Chance für dich ist, die dir sicher mehr zusagen wird als die Alternative.«

Drei Jahre eingesperrt sein. In der Besserungsanstalt. Oder im Heim. Das meinte sie damit.

»Wie lange werde ich dort draußen auf dem Land bleiben müssen?«, fragte er.

»Mindestens ein Jahr. Danach werden wir deinen Fall noch einmal prüfen.«

»Es gefällt dir bestimmt«, sagte Stephen Mallory, um Optimismus bemüht. »Es ist ein ganz neuer Anfang für dich, Matt. Und du wirst sicher schnell neue Freunde finden.«

Matt war nicht überzeugt. »Und wenn es mir nicht gefällt?«, fragte er.

»Wir stehen in ständigem Kontakt mit deiner Pflegemutter«, versicherte ihm die Richterin. »Sie muss einmal pro Woche einen Bericht bei der Polizei abgeben, und deine Tante kann dich dort besuchen. In der dreimonatigen Eingewöhnungszeit zwar noch nicht, aber danach kann sie jeden Monat kommen.«

»Sie wird das Bindeglied zwischen der Pflegemutter und dem Jugendamt sein«, erklärte Jill Hughes.

»Und wie soll ich das bezahlen?«, murmelte Gwenda Davis. »Was ist mit den Reisekosten und allem? Und wer soll sich um Brian kümmern, während ich weg bin? Ich habe wirklich genügend andere Dinge zu tun, müssen Sie wissen …«

Sie verstummte. Im Zimmer war es plötzlich ganz still. Nur von draußen hörte man den Verkehrslärm und das Prasseln des Regens.

»Von mir aus.« Matt zuckte gelangweilt die Achseln. »Sie können mich hinschicken, wohin Sie wollen. Es ist mir egal. Alles ist besser, als wieder bei ihr und Brian zu landen.«

Gwenda Davis wurde rot. Mallory schaltete sich ein, bevor sie etwas sagen konnte. »Wir lassen dich nicht im Stich, Matt«, versprach er. »Wir werden dafür sorgen, dass du zu anständigen Leuten kommst.«

Die Richterin war verärgert. »Du kannst dich nun wirklich nicht beklagen«, fauchte sie und sah Matt über den Rand ihrer Brille hinweg streng an. »Ich finde, du solltest dankbar sein, dass wir dir überhaupt so eine Chance bieten. Und ich warne dich. Wenn deine Pflegemutter mit deinen Fortschritten unzufrieden ist oder du ihre Gastfreundschaft missbrauchst, wirst du sofort zu uns zurückkehren. Und dann landest du in der Besserungsanstalt. Ist das klar?«

»Ja, klar.« Matt warf einen Blick zum Fenster. Der graue, endlose Regen ließ kaum Licht durch die Scheibe dringen. »Und wann treffe ich meine Pflegemutter?«

»Ihr Name ist Jayne Deverill«, sagte die Sozialarbeiterin. »Und sie müsste jede Minute hier sein.«

 

An der U-Bahn-Haltestelle Holborn wurde die Rolltreppe repariert, und als die Frau die Treppe hinaufstieg, spritzten hinter ihr die Funken von den Schweißarbeiten durch die Luft. Doch Jayne Deverill nahm sie nicht wahr. Sie blieb auf der obersten Stufe stehen, die lederne Handtasche fest unter den Arm geklemmt, und sah sich missbilligend um.

Jemand rempelte sie an, und eine Sekunde lang flackerte etwas Dunkles in ihren Augen auf. Doch gleich darauf ging sie ruhig die Straße entlang. Sie trug hässliche, altmodische Lederschuhe und bewegte sich hölzern, als stimmte etwas mit ihren Beinen nicht.

Mrs Deverill war eine kleine Frau, mindestens fünfzig Jahre alt, und sie trug ihr weißes Haar kurz geschnitten. Ihre Haut war noch nicht sehr runzlig, aber sie wirkte irgendwie leblos. Sie hatte harte, eiskalte Augen, und ihre Wangenknochen traten deutlich hervor. Es war schwer, sich vorzustellen, dass sie jemals lächelte. Gekleidet war sie in ein graues Kostüm, und ihre Bluse war bis zum Hals zugeknöpft. Am Hals trug sie eine silberne Kette, am Revers ihrer Kostümjacke steckte eine silberne Brosche, die wie eine Eidechse geformt war.

Mrs Deverill merkte nicht, dass sie verfolgt wurde.

Der Mann mit dem Kapuzenanorak war keine zehn Schritte hinter ihr. Er war zwanzig Jahre alt, hatte fettige blonde Haare und ein schmales, krank aussehendes Gesicht. Er hatte sofort erkannt, dass die Frau vom Land kam. Er wusste nicht, wer sie war, und es war ihm auch egal. Ihn interessierten an ihr nur zwei Dinge: ihre Handtasche und ihr Schmuck.

Der Mann hoffte, dass sie die belebte Hauptstraße verlassen und in eine der stilleren Seitenstraßen abbiegen würde. Es war ihm ein paar Minuten seiner Zeit wert, sie zu verfolgen. Er war immer noch hinter ihr, als die Frau an einer Ecke stehen blieb und dann nach links abbog. Er lächelte. Das war perfekt. Die Straße war leer, rechts und links lagen keine Geschäfte, nur Anwaltskanzleien und öffentliche Gebäude. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass wirklich niemand in der Nähe war, und griff dann in die Tasche seines schäbigen Anoraks. Sekunden später holte er ein gezahntes Messer heraus und wog es in der Hand. Er genoss das Gefühl der Macht, das es ihm gab. Dann rannte er los.

»He, du da!«, brüllte er.

Die Frau blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

»Her mit der Tasche! Und ich will auch die Kette …«

Einen Moment lang geschah nichts.

Dann drehte sich Jayne Deverill um.

 

Zehn Minuten später nippte Jayne Deverill ein wenig atemlos an der Tasse Tee, die man ihr angeboten hatte. Sie saß im Verhandlungsraum des Jugend- und Familiengerichts, in dem sich auch Matt befand.

»Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung«, sagte sie. Sie hatte die tiefe, ein wenig heisere Stimme von jemandem, der zu viele Zigaretten raucht. »Das ist sehr unhöflich von mir – und ich verabscheue Unhöflichkeit. Pünktlichkeit ist das beste Zeichen einer guten Erziehung.«

»Hatten Sie Probleme bei der Anreise?«, fragte Mallory.

»Der Bus hatte Verspätung. Ich hätte ja vom Busbahnhof aus angerufen, aber leider besitze ich kein Mobiltelefon. Wir sind auf dem Land in Yorkshire noch nicht so fortschrittlich wie Sie hier in London. Und da es dort, wo ich lebe, ohnehin keinen Empfang gibt, wäre es sinnlos, sich ein Mobiltelefon anzuschaffen.« Sie sah Matt an. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, junger Mann. Ich habe schon viel von dir gehört.«

Matt betrachtete die Frau, die sich bereit erklärt hatte, seine neue Pflegemutter zu sein. Was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht.

Jayne Deverill hätte aus einem anderen Jahrhundert kommen können, einem Jahrhundert, in dem es Lehrern noch erlaubt war, Kinder zu schlagen, und in dem man jeden Morgen vor dem Frühstück in der Bibel lesen musste. Matt hatte noch nie jemanden gesehen, der so streng aussah. Jill Hughes hatte die Frau begrüßt wie eine alte Freundin, doch es stellte sich heraus, dass sich die beiden noch nie begegnet waren und sich nur vom Telefon kannten.

Stephen Mallory sah betroffen aus. Auch er hatte Mrs Deverill erst jetzt kennengelernt, und obwohl er ihr die Hand gegeben hatte, hatte er seitdem keinen Ton mehr gesagt und schien in seine eigenen Gedanken versunken zu sein. Die Richterin interessierte sich mehr für den Papierkram als für alles andere, als hätte sie es eilig, die ganze Angelegenheit hinter sich zu bringen.

Matt musterte Mrs Deverill erneut. Sie tat, als schlürfte sie unbekümmert ihren Tee, doch sie konnte ihren Blick offenbar nicht von ihm abwenden. Sie verschlang ihn förmlich mit den Augen.

»Kennst du Yorkshire schon?«, fragte sie.

Matt brauchte einen kurzen Moment, um zu begreifen, dass sie mit ihm sprach. »Nein«, sagte er. »Ich war noch nie da.«

»Der Ort, in dem ich lebe, heißt Lesser Malling. Er ist ein bisschen abgelegen. Die nächste Stadt ist Greater Malling, und auch die ist ziemlich unbekannt. Kein Wunder. Die Gegend hat nichts zu bieten. Wir sind sehr bodenständige Leute. Wir kümmern uns um das Land, und das Land kümmert sich um uns. Ich nehme an, dass es dir nach dem Leben in der Stadt dort sehr ruhig vorkommen wird. Aber daran gewöhnst du dich schnell.« Sie sah die Richterin an. »Ich kann ihn also gleich mitnehmen?« Die Richterin nickte.

Mrs Deverill lächelte. »Und wann darf ich mit Ihrem ersten Besuch rechnen?«

»In sechs Wochen. Wir wollen Matthew Zeit geben, sich einzuleben.«

»Nun, ich kann Ihnen versichern, dass Sie ihn nach sechs Wochen bei mir nicht wiedererkennen werden.« Sie schaute Gwenda Davis an. »Sie brauchen sich um Ihren Neffen keine Sorgen zu machen, Mrs Davis. Sie dürfen ihn natürlich jederzeit anrufen, und wir freuen uns schon jetzt auf Ihren Besuch.«

»Also, das kann ich nicht versprechen«, murmelte Gwenda Davis. »Es ist eine lange Fahrt, und ich weiß nicht, ob mein Freund …« Sie verstummte.

»Sie müssen noch einige Formulare ausfüllen, Mrs Deverill«, sagte die Richterin. »Aber dann können Sie beide sich auf den Weg machen. Mrs Davis hat für Matthew einen Koffer gepackt.« Sie sah Matt erwartungsvoll an. »Ich nehme an, du möchtest jetzt ein paar Minuten mit deiner Tante allein sein, um dich von ihr zu verabschieden.«

»Nein. Ich habe ihr nichts zu sagen.«

»Es war nicht meine Schuld!«, sagte Mrs Davis, die plötzlich wütend wurde. »Ich hatte nie etwas mit deiner Familie zu tun. Ich hatte nie etwas mit dir zu tun. Ich wollte dich nicht einmal nehmen, nachdem das mit deinen Eltern passiert war. Aber ich habe es trotzdem getan, und du hast nichts als Ärger gemacht. Du hast dir das alles selbst zuzuschreiben.«

»Das muss doch wohl nicht sein«, mischte sich Mallory beschwichtigend ein. »Viel Glück, Matt. Ich hoffe, dass jetzt alles besser wird.« Er hielt ihm die Hand hin. Matt zögerte, dann schüttelte er sie. Das Ganze war schließlich nicht Mallorys Schuld.

»Zeit zu gehen!«, sagte Mrs Deverill. »Wir wollen doch den Bus nicht verpassen!«

Matt stand auf.

Mallory sah ihm nachdenklich und auch ein wenig besorgt hinterher, als er den Raum verließ.

 

Eine Stunde später ging Matt neben Mrs Deverill durch den Busbahnhof von Victoria. In der Hand hatte er den Koffer, den seine Tante für ihn gepackt hatte. Er sah sich um. Busse kamen und fuhren wieder ab, überall drängten sich Reisende, und hinter Schaufenstern reihten sich Imbissbuden und Zeitschriftenstände aneinander. Er konnte nicht fassen, dass er hier war. Er war frei … endlich aus der Haft entlassen. Nein, nicht frei, dachte er. Man hatte ihn dieser Frau übergeben, die seine neue Pflegemutter sein sollte.

»Da ist unserer.« Mrs Deverill zeigte auf einen Überlandbus, auf dem York stand.

Matt gab seinen Koffer einem Mann, der ihn in das Gepäckfach schob, dann stieg er ein. Sie hatten Plätze in der hintersten Reihe. Mrs Deverill überließ Matt den Fensterplatz und setzte sich neben ihn. Kurze Zeit später war der Bus voll. Um Punkt ein Uhr schlossen sich die Türen, der Motor wurde gestartet, und die Reise begann.

Matt presste die Stirn an die Scheibe und sah zu, wie sie den Busbahnhof verließen und durch die Straßen von Victoria fuhren. Es regnete immer noch, und die Regentropfen verfolgten einander über das Glas. Mrs Deverill saß mit halb geschlossenen Augen neben ihm und atmete schwer.

Er versuchte, sich zu konzentrieren und herauszufinden, was er fühlte. Doch dabei wurde ihm bewusst, dass er gar nichts fühlte. Er war in das System gesaugt worden. Dort hatte man ihn gewogen, als tauglich für das FED-Programm befunden und wieder ausgespuckt. Wenigstens hatten sie ihn nicht wieder nach Ipswich geschickt. Das war etwas, wofür er dankbar sein konnte. Die sechs Jahre mit Gwenda und Brian waren endlich vorbei. Was vor ihm lag, konnte sicher nicht schlimmer sein.

 

Zur selben Zeit sperrten zwei Polizeiautos und ein Rettungswagen eine Gasse in Holborn. Dort war ein Toter gefunden worden – ein junger Mann in einem Kapuzenanorak.

Die Spurensicherung war gerade erst eingetroffen, aber schon jetzt wussten die Kriminalbeamten, dass dies einer der bizarrsten Fälle ihrer Laufbahn war. Sie kannten den Toten. Sein Name war Will Scott. Er war ein Drogensüchtiger, auf dessen Konto viele Raubüberfälle gingen. Seine Hand war um ein Küchenmesser gekrallt, und das war es auch, was ihn getötet hatte. Aber niemand hatte ihn angegriffen. Es gab keine Fingerabdrücke. Keine Spuren eines Kampfes, keine Anzeichen, dass auch nur jemand in seine Nähe gekommen war.

Der Mund des Toten war zu einer Grimasse verzerrt, und aus seinen Augen sprach das blanke Entsetzen. Er hielt das Messer fest umklammert.

Will Scott hatte es sich Zentimeter für Zentimeter ins eigene Herz gestoßen. Es war unklar, wie er das gemacht hatte – oder warum –, aber der Pathologe hatte keinen Zweifel.

Aus irgendeinem Grund hatte Will Scott Selbstmord begangen.