DIE WARNUNG

 

»Was ist los mit ihm?«

»Er hat eine Lungenentzündung.«

»Was?«

»Er wird vielleicht sterben.«

»Das darf er nicht!«

»Heilen Sie ihn, Mrs Deverill. Sie sind für ihn verantwortlich. Sorgen Sie dafür, dass er am Leben bleibt!«

Matt hörte die Stimmen zwar, aber er wusste nicht, wem sie gehörten. Er spürte ein Kissen unter seinem Kopf und wusste deshalb, dass er im Bett lag. Aber er hätte nicht sagen können, ob er wach war oder schlief. Er stützte sich mühsam auf einen Ellbogen und öffnete die Augen zur Hälfte. Schweiß rann ihm übers Gesicht. Diese kleine Bewegung hatte ihn seine ganze Kraft gekostet.

Die Tür hatte sich gerade geschlossen. Jemand – der, der als Letzter gesprochen hatte – war gegangen. Es war ein Mann gewesen, aber Matt hatte sein Gesicht nicht sehen können. Mrs Deverill war bei ihm im Zimmer und noch eine andere weißhaarige Frau, die ein großes Feuermal im Gesicht hatte. Noah drückte sich im Hintergrund herum und rieb sich die Hände.

Dann verschwamm das Zimmer wieder, und plötzlich waren die Vorhänge zugezogen. Flammen schlugen hoch, direkt neben dem Bett. Brannte das Haus? Nein. Sie hatten ein dreibeiniges Metallgestell mit einer Feuerschale neben sein Bett gestellt. Die beiden Frauen flüsterten in einer Sprache, die er nicht verstand. Sie warfen schwarze und grüne Kristalle ins Feuer. Matt sah, wie die Kristalle zu brodeln begannen und dann schmolzen, und sofort füllte sich das Zimmer mit gelbem Rauch. Schwefelgeruch drang ihm in die Nase. Matt würgte, seine Augen tränten.

Er wollte sich über die Lippen lecken, aber sein Mund war zu trocken.

Noah trat mit einer Schale vor. Die Frau mit dem Feuermal hielt eine Schlange fest. Woher war die gekommen? Sie war eklig braun, einen halben Meter lang und wand sich hin und her. War es vielleicht eine Viper? Die Frau hatte ein Skalpell in der Hand, wie es Chirurgen benutzen. Entsetzt sah Matt, wie sie die Schlange am Kopf packte und der Länge nach aufschlitzte. Eine dunkelrote Flüssigkeit tropfte in einen Metallbecher. Die Schlange erstarrte und bewegte sich nicht mehr.

Mrs Deverill schlug die Bettdecke zurück. Matt trug nur eine Unterhose und zuckte zusammen, als sie sich über ihn beugte. Sie tauchte einen Finger in das Schlangenblut und zog damit einen Strich über seine Brust und seinen Bauch. Das Blut war warm und klebrig. Matt wollte sich bewegen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Er konnte nur zusehen, wie Mrs Deverill ihm noch irgendein Muster auf die Stirn strich.

»Mach den Mund auf«, befahl sie.

»Nein …« Matt konnte nur flüstern. Er versuchte, es zu verhindern, aber plötzlich war sein Mund offen, und Mrs Deverill hielt ihm den Becher an die Lippen. Er wusste, dass er Blut trank. Es schmeckte bitter und war widerlicher als alles, was er sich vorstellen konnte. Ihm wurde übel. Er wollte es nicht, aber es kroch in seinen Magen wie der Geist der Schlange, von der es gekommen war. Gleichzeitig wurde er nach hinten gesogen, in die Matratze, in den Boden, lebendig begraben, bis … Er öffnete die Augen.

Mrs Deverill saß in seinem Zimmer und las. Sie war allein. Das Fenster war offen, und eine leichte Brise wehte herein. Matt schluckte. Es ging ihm gut.

»Bist du endlich aufgewacht«, murmelte Mrs Deverill und schlug das Buch zu.

»Was ist passiert?«, fragte Matt.

»Du warst krank. Nichts Schlimmes. Lungenentzündung. Und eine kleine Brustfellentzündung. Aber das ist jetzt überstanden.«

»Sie haben mir etwas zu trinken gegeben …« Matt versuchte, sich zu erinnern, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Schon der Gedanke an das Blut verursachte ihm Übelkeit. »Da war eine Schlange«, sagte er.

»Eine Schlange? Wovon redest du? Du hast schlecht geträumt, Matthew. Ich vermute, das kommt von zu viel Fernsehen.«

»Ich habe Hunger«, sagte Matt.

»Das wundert mich nicht. Du hast drei Tage nichts gegessen.«

»Drei Tage!«

»So lange warst du bewusstlos.« Mrs Deverill stand auf und schlurfte zur Tür. »Ich bringe dir Tee«, sagte sie. »Morgen kannst du dich noch ausruhen, aber danach wirst du aufstehen. Die frische Luft wird dir guttun. Außerdem wird es Zeit, dass du mit der Arbeit anfängst.«

Sie warf ihm einen letzten Blick zu, nickte zufrieden und schloss die Tür.

 

Zwei Tage später stand Matt im Schweinestall. Der stinkende Schlamm reichte ihm fast bis zu den Knien. Mrs Deverill hatte zwar von frischer Luft gesprochen, aber der Stall stank so, dass er kaum atmen konnte. Noah hatte ihm Stiefel und Handschuhe gegeben, aber weitere Schutzkleidung gab es nicht. Seine Jeans und das Hemd waren über und über mit dem schwarzen Schleim beschmiert. Das Desinfektionsmittel, das sie ihm gegeben hatten, brannte ihm im Hals und ließ seine Augen tränen.

Er stach mit dem Spaten zu und schaufelte einen weiteren Eimer voll Mist. Bald war Mittagszeit, und er freute sich schon aufs Essen. Die schreckliche Mrs Deverill war wenigstens eine gute Köchin. Als Matt noch bei Gwenda Davis gewohnt hatte, waren all seine Mahlzeiten aus dem Gefrierschrank direkt in die Mikrowelle gewandert. Hier war das Essen viel besser: selbst gebackenes Brot, dicke Eintopfgerichte und Obstkuchen mit knusprigem Rand.

Matt hatte sich verändert. Er spürte, dass im Verlauf seiner Krankheit etwas mit ihm geschehen war, auch wenn er nicht wusste, was es war. Es war, als wäre in ihm ein Schalter umgelegt worden. Er konnte es nicht erklären, aber er fühlte sich jetzt stärker und zuversichtlicher als je zuvor.

Matt war froh über diese Veränderung, denn er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde weglaufen. Er fand es immer noch empörend, dass das FED-Programm ihn in diese gottverlassene Gegend geschickt hatte, damit er Sklavenarbeit für eine verbitterte, niemals lächelnde Frau verrichtete. Matt konnte Mrs Deverill nicht leiden, doch Noah war fast noch schlimmer. Normalerweise war er draußen auf den Feldern und holperte auf einem uralten Traktor herum, der schwarzen Rauch ausstieß. Aber wenn er auf dem Hof war, starrte er Matt pausenlos an, und sein abschätziger, schadenfroher Gesichtsausdruck schien anzudeuten, dass er etwas wusste, was Matt nicht wusste. Matt fragte sich, ob er geistig behindert war. So benahm sich doch kein normaler Mensch.

Matt war egal, was aus ihm wurde, er wusste jedenfalls genau, dass er nicht in Hive Hall bleiben konnte. Kein ganzes Jahr. Nicht einmal mehr eine Woche. Er hatte kein Geld, aber er war sicher, dass er im Haus welches finden würde, wenn er nur gründlich genug danach suchte. Dann würde er entweder per Anhalter oder mit dem Zug nach London fahren und dort untertauchen. Er hatte zwar schon jede Menge Horrorgeschichten über ein solches Leben gehört, aber er war überzeugt davon, dass er es durchstehen würde. Und in zwei Jahren würde er sechzehn sein und selbst über sein Leben bestimmen können. Dann würde ihm nie wieder ein Erwachsener Vorschriften machen.

Mrs Deverill erschien an der Tür des Farmhauses und rief nach ihm. Matt hatte seine Uhr nicht um, aber er vermutete, dass es ein Uhr war. Sie war immer pünktlich. Er ließ den Spaten fallen und kletterte aus dem Pferch. In einiger Entfernung kam Noah mit zwei Eimern Tierfutter über den Hof. Noah aß nie im Haus. Er hatte ein Zimmer auf dem Heuboden der Scheune, und dort kochte er, schlief und wusch sich – allerdings wohl nicht allzu oft, denn er stank schlimmer als die Schweine.

Matt zog die Stiefel vor der Haustür aus und wusch sich am Spülbecken die Hände. Mrs Deverill stellte einen Topf mit Gemüsesuppe auf den Tisch, auf dem schon Brot, Butter und Käse standen. Auf der Kommode saß Asmodeus, und Matt lief eine Gänsehaut über den Rücken. Er verabscheute diesen Kater noch mehr als Noah – und das lag nicht nur an der gezackten Narbe auf seiner Hand. Genau wie Noah beobachtete ihn der Kater ständig. Er schien einfach überall zu sein. Matt brauchte nur den Kopf zu wenden, und prompt sah er ihn – auf einem Baum sitzend, auf dem Fensterbrett oder auf einem Stuhl, und immer waren seine hässlichen gelben Augen auf ihn gerichtet. Normalerweise starrte Asmodeus Matt nur an, doch wenn er dem Kater zu nahe kam, machte er einen Buckel und fauchte ihn an.

»Bitte verlass die Küche, Asmodeus«, sagte Mrs Deverill. Sie sprach mit dem Kater wie mit einem Menschen, und er schien jedes Wort zu verstehen. Er sprang aus dem Fenster und verschwand.

Matt setzte sich und begann zu essen.

»Ich möchte, dass du heute Nachmittag etwas für mich tust, Matthew«, sagte Mrs Deverill.

»Ich miste den Schweinestall aus.«

»Ich weiß, was du tust. Du musst allmählich lernen, dass es dich kein bisschen weiterbringt, unhöflich zu Leuten zu sein, die älter und klüger sind als du. Ich habe eine Aufgabe für dich, die dir wahrscheinlich gefallen wird. Ich möchte, dass du etwas für mich in der Apotheke von Lesser Malling abholst.«

»Was soll ich abholen?«

»Es ist ein Päckchen, auf dem mein Name steht. Du kannst nach dem Mittagessen gehen.« Sie hielt einen Löffel voll Suppe an ihre Lippen. Der Dampf stieg vor ihrem harten, niemals lächelnden Gesicht auf. »In der Scheune steht ein altes Fahrrad, das du benutzen kannst. Es hat meinem Mann gehört.«

»Sie waren verheiratet?« Das war Matt neu. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig sein Leben mit dieser Frau verbrachte. »Nur für kurze Zeit.«

»Was ist mit Ihrem Mann passiert?«

»Kinder sollten keine neugierigen Fragen stellen. Aber gut, wenn du es unbedingt wissen willst …« Sie seufzte und senkte den Löffel wieder. »Mein Mann ist verschwunden. Er hieß Henry Lutterworth. Wir waren erst ein paar Monate verheiratet, als er im Wald spazieren ging und nie wiederkam. Vielleicht hat er sich verlaufen und ist verhungert. Lass dir das eine Lehre sein, Matthew. Die Wälder hier sind sehr dicht, und man kann leicht von ihnen verschluckt werden. Möglicherweise ist er auch in einen Sumpf geraten – das vermute ich. Es muss eine recht unangenehme Art zu sterben gewesen sein. Er wird versucht haben zu schwimmen, aber natürlich sinkt man umso schneller, je heftiger man sich bewegt, und nachdem ihm Wasser und Schlamm bis über die Nase gestiegen waren, war es natürlich aus mit ihm.«

Matt fragte sich, ob sie die Wahrheit sagte oder ob die Geschichte nur dazu diente, ihm Angst zu machen.

»Wenn sein Name Lutterworth war, warum heißen Sie dann Deverill?«, fragte er.

»Ich ziehe meinen eigenen Namen vor. Den Namen meiner Vorfahren. Es gab schon immer Deverills in Lesser Malling. Verheiratet oder nicht, wir behalten unseren Namen.« Sie schniefte. »Henry hat mir Hive Hall in seinem Testament vermacht«, erklärte sie. »Wir hatten Bienen, aber sie sind weggezogen. Das machen sie oft, wenn ihr Besitzer stirbt. Ich habe auch sein ganzes Geld geerbt. Aber für dich läuft die Geschichte nur auf eines heraus: Halte dich vom Wald fern.«

»Das werde ich«, sagte Matt.

»So, und nun zum Apotheker. Sag ihm, dass es für mich ist.«

 

Nach dem Essen ging Matt über den Hof zur Scheune. Er entdeckte das Fahrrad hinter einem alten Pflug. Es war offensichtlich seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Er holte es heraus, ölte die Kette, pumpte die Reifen auf und konnte wenige Minuten später vom Hof radeln. Es fühlte sich gut an, zum Tor hinauszufahren. Er arbeitete zwar immer noch für Mrs Deverill, aber alles war besser als der Schweinestall.

Matt war kaum aufgebrochen, als ihm auf der engen Straße ein Auto entgegengerast kam. Es war ein schwarzer Jaguar mit getönten Scheiben. Einen Moment lang sah es so aus, als wäre ein Zusammenstoß unvermeidlich. Es ging alles so schnell, dass Matt nicht einmal den Fahrer erkennen konnte. Er riss den Lenker herum, das Fahrrad schoss die Böschung hoch, rollte durch ein Gestrüpp aus Brennnesseln und schwenkte dann wieder hinab auf die Straße. Matt hielt an und sah sich um. Der Jaguar war auf die Farm gefahren. Er sah die Bremslichter aufleuchten, dann verschwand das Auto hinter dem Farmhaus. Am liebsten wäre Matt umgekehrt. Das war der erste fremde Wagen, den er seit seiner Ankunft in Hive Hall gesehen hatte. Ob es vielleicht jemand aus London war, jemand vom Jugendamt? Er zögerte, fuhr dann aber doch weiter. Schließlich war dies das erste Mal, dass er die Farm verlassen durfte. Sein erster Ausflug in die Freiheit.

Bis zum Dorf waren es knapp zwei Kilometer. Schon bald erreichte Matt die Kreuzung mit dem abgebrochenen Schild, auf der die fünf Straßen zusammenliefen. Überall um ihn herum war Wald, und Matt war froh, dass Mrs Deverill ihm gesagt hatte, welche Straße er nehmen musste, denn sie sahen alle gleich aus. Auf der Straße war kein Verkehr. Es rührte sich überhaupt nichts. Matt hatte sich noch nie einsamer gefühlt. Das letzte Stück des Wegs führte bergauf, und Matt kam ins Schwitzen, als er die Steigung hochradelte. Trotz des Öls hörte er das Knirschen des alten Fahrrads. Bald sah er die ersten Gebäude von Lesser Malling, und wenige Minuten später erreichte er den Dorfplatz.

Mrs Deverill hatte ihn schon gewarnt, dass in Lesser Malling nicht viel los sei, aber das war noch untertrieben, wie Matt feststellte. Das Dorf war klein und abgeschieden. Es hatte eine langweilige, heruntergekommen aussehende Kirche, eine Kneipe und zwei Reihen aus Häusern und Geschäften, die beiderseits des mit Kopfsteinen gepflasterten Dorfplatzes standen. Mitten auf dem Platz stand ein Kriegerdenkmal, ein schlichter Stein, in den zwanzig oder dreißig Namen eingraviert waren. Alle Geschäfte sahen aus, als hätten sie sich seit fünfzig Jahren nicht verändert. Eines verkaufte Süßigkeiten, das nächste Lebensmittel, ein anderes Antiquitäten. Am Ende der Reihe war der Laden des Schlachters. Tote Hühner hingen mit gebrochenem Genick von der Decke herunter, und graue, schwitzende Fleischstücke lagen auf dem Verkaufstresen. Ein großer, bärtiger Mann mit einer blutbespritzten Schürze schlug mit einem kleinen Beil auf ein Stück Fleisch. Matt konnte hören, wie die Schneide einen Knochen zerteilte.

Es waren einige Leute auf dem Platz unterwegs, und als Matt das Fahrrad gegen das Kriegerdenkmal lehnte, tauchten noch mehr auf. Matt hatte den Eindruck, dass sie seinetwegen gekommen waren. Sie sahen eher neugierig als freundlich aus. Alle blieben in einiger Entfernung stehen und begannen, miteinander zu flüstern. Es war ein komisches Gefühl für Matt, im Mittelpunkt des Interesses dieser weltfernen Gemeinde zu stehen. Er war überzeugt, dass jeder der Dorfbewohner genau wusste, wer er war und warum er hier war.

Eine Frau kam auf ihn zu, die ihm bekannt vorkam. Sie hatte langes weißes Haar, einen winzigen Kopf und schwarze Augen, die aussahen, als gehörten sie einer Puppe. Als sie näher kam, sah Matt, dass sie durch ein Feuermal entstellt war. Ein hässlicher lilafarbener Fleck bedeckte einen großen Teil ihres Gesichts. Er dachte zurück an die Zeit, in der er krank gewesen war. War diese Frau in seinem Zimmer in Hive Hall gewesen?

»Wie schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen«, sagte sie lächelnd. Ihre Stimme klang quietschend und zugleich rau, und sie verschluckte die Endungen aller Worte. »Mein Name ist Claire Deverill. Du lebst bei meiner Schwester.«

Also harte er recht. Er hatte sie schon einmal gesehen.

»Ich bin die Lehrerin der Grundschule von Lesser Malling«, fuhr sie fort. »Vielleicht kommst du bald zu uns.«

»Ich bin zu alt für die Grundschule«, widersprach Matt.

»Das mag sein, aber ich fürchte, für die fünfte Klasse bist du zu dumm. Ich habe deine Zeugnisse gesehen. Du warst faul. Du hast nichts gelernt. Kein gutes Beispiel für die anderen Kinder.«

Eine andere Frau war aufgetaucht. Sie war groß und dünn und schob einen uralten Kinderwagen, dessen Räder bei jeder Umdrehung quietschten.

»Ist das der Junge?«, fragte sie.

»Ja, Miss Creevy, das ist er.« Claire Deverill lächelte.

Matt warf einen Blick in den Kinderwagen. Es lag kein Baby darin. Miss Creevy fuhr eine große Porzellanpuppe spazieren, die mit einem eingefrorenen Lächeln und großen, leeren Augen zu ihm aufschaute.

Matt konnte es nicht länger ertragen. Er wünschte sich, er wäre niemals hergekommen. »Ich suche die Apotheke«, sagte er.

»Sie ist da drüben.« Claire Deverill zeigte ihm die Richtung. »Neben dem Geschäft mit den Süßigkeiten.«

Zwei weitere Frauen, offenbar eineiige Zwillinge, waren auf der anderen Seite des Platzes aufgetaucht. Sie sahen wie Vogelscheuchen aus, ihre schwarzen Mäntel flatterten im Wind. Zur gleichen Zeit kam ein kleiner, dicker Mann mit blauen und grünen Tätowierungen auf den Armen, dem Gesicht und dem ganzen Kopf aus der Kneipe. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine Pfeife aus Ton. Als er Matt entdeckte, fing er an zu lachen. Matt ging weg, bevor er ihm zu nahe kommen konnte.

Eigentlich war es kein Wunder, dass alle Einwohner von Lesser Malling ein bisschen verrückt waren. Das muss man wohl sein, um hier zu leben, dachte Matt. In der Nähe der Kirche war ein Teich, und Matt bemerkte ein paar Kinder, die Enten fütterten. Er ging auf sie zu, aber schon im Näherkommen wurde ihm klar, dass er hier keine Freunde finden würde. Eines der Kinder war ein etwa zehnjähriger Junge mit merkwürdig aussehendem grünlichen Haar und fetten Beinen, die aus seinen Shorts quollen. Zwei Mädchen, die aussahen, als wären sie Schwestern, trugen identische, altmodische Kleider und Zöpfe. Der zweite Junge war ungefähr sieben und verkrüppelt. Er trug eine Metallschiene an einem Bein. Normalerweise hätte er Matt leid getan, doch als er näher kam, hob der Junge ein Luftgewehr und zielte damit grinsend auf die Enten. Hastig holte Matt aus und kickte eine Ladung Kies ins Wasser. Die Enten flogen auf. Der Junge schoss auf sie, traf aber keine.

»Warum hast du das getan?«, fragte eines der Mädchen empört.

»Was macht ihr hier?«, fragte Matt. »Wir füttern die Enten, und dann knallt Freddie sie ab«, erklärte das andere Mädchen. »Das ist ein Spiel.«

»Ein Spiel?«

»Schießbude!«, riefen beide Mädchen gleichzeitig.

Freddie lud sein Luftgewehr nach. Angewidert schüttelte Matt den Kopf. Er verließ die Kinder und ging auf die Apotheke zu.

Eine Apotheke wie diese hatte er noch nie gesehen: Sie war düster und roch widerlich. Auf den Regalen lagen ein paar Packungen mit Kopfschmerztabletten und Seife, aber überwiegend standen dort alte Flaschen. Einige davon waren mit irgendwelchem Pulver gefüllt, andere mit getrockneten Kräutern, in wieder anderen schwammen klumpige Objekte in trübem Wasser. Matt las einige der handschriftlichen Etiketten: Brechnuss, Eisenhut, Wermut. Das sagte ihm nichts. Er entdeckte eine Flasche mit einer gelben Flüssigkeit und drehte sie herum. Fast hätte er aufgeschrien, als ein Auge an die Oberfläche trieb und das Glas berührte. Es musste von einem Schaf oder einer Kuh stammen, und es hingen noch Fetzen der Sehnerven daran. Beinahe hätte Matt sich übergeben. »Kann ich dir helfen?«

Der Apotheker war ein kleiner, rothaariger Mann in einem schmuddeligen weißen Kittel. Seine Haare wuchsen ihm bis in den Nacken herunter, und auch seine Hände waren dicht behaart. Er trug eine dicke schwarze Brille, die sich so tief in seine Nase eingedrückt hatte, dass Matt sich fragte, ob er sie wohl jemals abnahm.

»Was ist das?«, fragte Matt.

»Ein Auge.«

»Was soll das hier?«

Der Apotheker drehte das Glas und betrachtete den Inhalt. Seine eigenen Augen wurden durch die dicken Brillengläser vergrößert wie durch zwei Lupen. »Der Tierarzt wollte es haben«, sagte er gereizt. »Er will Tests damit machen.«

»Ich bin hergekommen, um etwas für Mrs Deverill abzuholen.«

»Ah ja. Dann musst du Matthew sein. Wir haben uns alle schon darauf gefreut, dich kennenzulernen. Wir haben uns sogar sehr darauf gefreut.«

Der Apotheker holte ein kleines Päckchen, das in braunes Papier gewickelt und mit einer Schnur zugeknotet war. »Mein Name ist Barker. Ich hoffe, dich öfter zu sehen. In einem kleinen Dorf wie diesem freut man sich immer über frisches Blut.« Er reichte ihm das Päckchen. »Komm bald mal wieder.«

Als Matt das Geschäft verließ, waren draußen noch mehr Dorfbewohner aufgetaucht. Es waren mindestens ein Dutzend, sie standen in Grüppchen und flüsterten miteinander. Matt eilte zu seinem Fahrrad. Hinter dem Sattel war eine Tasche angebracht, und er stopfte das Päckchen hinein.

Er wollte nur noch weg. Aber das klappte nicht. Als er das Rad wendete, tauchte plötzlich eine Hand auf und packte den Lenker. Matt folgte dem Arm, zu dem sie gehörte, und starrte in das Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes mit strohblondem Haar und einem runden roten Gesicht. Er trug ein sackartiges Hemd und Jeans. Und er war stark. Das spürte Matt an der Art, wie er das Fahrrad festhielt.

»Lassen Sie los!«

Matt versuchte, das Rad wegzuziehen, aber der Mann hielt es eisern fest.

»Das ist aber nicht sehr freundlich«, sagte er. »Wie heißt du?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Du bist doch Matthew Freeman, oder?«

Matt sagte nichts. Sie hielten immer noch beide das Rad fest. Es war wie eine Trennlinie zwischen ihnen.

»Sie haben dich hergeschickt, damit du dieses Programm machst?«

»Das stimmt. Ja. Wenn Sie das alles wissen – warum fragen Sie dann?«

»Hör mir zu, Matthew Freeman«, flüsterte der Mann eindringlich. »Halte dich von diesem Dorf fern. Du bist in Gefahr. Verstehst du das? Ich dürfte dir das nicht sagen. Aber wenn du weißt, was gut für dich ist, verschwindest du von hier. Geh so weit weg, wie du kannst, und komm nicht zurück. Verstehst du? Du musst – «

Er brach ab. Der Apotheker war aus seinem Laden gekommen und beobachtete sie. Der Mann ließ Matts Fahrrad los und eilte davon. Er sah sich nicht mehr um.

Matt schwang sich aufs Rad und fuhr aus dem Dorf. Vor ihm erhob sich der schwarze, bedrohliche Tannenwald. Zwischen den Bäumen wurde es bereits dunkel.