Epilog
Die Zelle
Es war fünf Uhr morgens. Seit drei Nächten schon ging Körner barfuß in der fensterlosen Zelle auf und ab. Der Kunststoffboden war kalt, ebenso die weißen PVC-Fliesen, mit welchen der Raum bis zur Decke verkleidet war. Die Zelle maß nur drei Meter in der Diagonale, mehr Platz stand ihm nicht zur Verfügung. Deshalb waren es seit Tagen immer wieder die gleichen Schritte, vier nach vorne, eine Wendung um die Ölkreidezeichnungen, die auf dem Boden lagen, und vier Schritte zurück.
In der Raummitte stand eine Saftflasche, daneben ein Tablett mit einer Fleischbrühe und Kartoffelbrei. Die Brühe war längst erkaltet und eingetrocknet. Seit Tagen war der Essensgeruch von der in der Ecke stehenden Leibschüssel mit dem Klopapier und der Handflasche geprägt, die halb voll mit Urin stand. Daran konnte selbst das in der Decke eingelassene Belüftungsgitter nichts ändern. Diese Idioten hatten ohnehin nur eine Attrappe an die Mauer montiert, da es in der Zelle immer muffiger wurde. Wozu das Ganze? Er wusste es! Schließlich mussten sie irgendwo ihre Kameras verstecken.
Seit Tagen trug er dieselbe Anstaltskleidung, eine Baumwollhose und ein verschwitztes Hemd. Mittlerweile war es nicht mehr zugeknöpft, da er die Knöpfe abgerissen hatte, um daran zu kauen. Er brauchte den Speichel, um wach zu bleiben, denn eher würde er sich die Zunge abbeißen, als den Saft aus der Plastikflasche zu trinken. Zunächst hatten sie zu offensichtlich fünfzig, viel eher noch neunzig Tropfen flüssiges Valium ins Wasser geträufelt, um ihn müde zu machen. Er hatte den scharfen Alkoholgeruch sofort wahrgenommen. Selbst aus der Saftflasche, die sie ihm gestern in die Zelle gestellt hatten, hatte er den bitteren, widerlichen Geschmack erkannt. Wie raffiniert sie doch waren! Doch er war schlauer.
Seine Zunge klebte am Gaumen. Er kaute an einem Hemdknopf und schluckte, während er einen Fuß vor den anderen setzte, um eine weitere Runde um die Ölkreidezeichnungen zu beginnen. In der Bewegung lauschte er jedem Geräusch, das er jenseits der Wände hörte. Lachen und Geflüster! Die Nervenklinik musste mehrstöckig sein. Seine Zelle lag genau in der Mitte. Er hörte sogar das leise Kichern nebenan, das Kratzen an den Wänden, das Schlurfen der Socken und das Gemurmel der anderen Insassen, wenn sie Selbstgespräche führten. Hatten sie das gleiche Schicksal erlitten wie er? Wohl kaum! Er konnte sich nicht vorstellen, dass das, was er erlebt hatte, ein zweites Mal passieren würde … und falls doch? Das Ohr an die Wand zu legen, um mehr zu erfahren, wäre zu gefährlich. Er war kein Narr, also hielt er sich in der Zellenmitte auf, damit er zu den Wänden spähen konnte, immer auf der Hut.
Er trug das brüchige, schwarze Lederband um den Hals, welches nach Erde, Blut und Schweiß roch, die daran hängende Kugel ständig zwischen den Fingern rollend. Das Projektil hat irgendwann einmal die Brust eines Mannes durchschlagen, den er nie kennen gelernt hatte, und war in dessen Rückgrat stecken geblieben. Das war sein einziges Stück Erinnerung an Grein, den Rest hatte er im Ort zurückgelassen. Immer wieder nahm er das verformte Bleigeschoss in die Hand, spürte die rauen Kanten, rollte es so lange zwischen den Fingern, bis es warm wurde. Er gab den Talisman nicht aus der Hand. Früher hatte er nicht an die Magie geglaubt, dass ein Gegenstand, der schon einmal den Tod gebracht hatte, im Weiteren davor schützen würde - jetzt schon! Der Talisman hatte ihm das Leben gerettet. Trotzdem hatte er neues Glück dringend nötig, denn seine Lage hatte sich kaum verbessert.
Schritte! Er fuhr herum. Schuhe tappten draußen über den Fliesenboden. Es waren die Bewegungen einer Frau, er hörte das Rascheln ihres Rocks, das leichtfüßige Quietschen der Kreppsohlen. Vor seiner Türe verstummte es. Die Klappe des Spions wurde aufgeschoben, ein Auge erschien hinter dem Glas. Für einen Augenblick waren die langen Wimpern einer Frau zu erkennen. Sie beobachtete ihn wieder. Er konnte ihre Gedanken erahnen. Warum schlief er immer noch nicht? Ja, weshalb bloß? Seit Tagen hielt er sich krampfhaft wach. Diejenigen, die den Grund dafür kannten, wussten, dass er nicht aufgeben würde, denn die Schrecken, die ihn während seines Schlafs erwarten würden, waren viel größer als die Schmerzen, die er sich zufügte, um wach zu bleiben. Und diejenigen, welche die Wahrheit nicht kannten, sahen sie im Ausdruck seiner rotgeränderten, panischen Augen. Was um Himmels willen war ihm an diesem Ort nur zugestoßen? Wenn sie doch nur einen Funken davon glauben könnten!
Er kämpfte gegen die Erschöpfung an, durfte sich nicht auf den Boden setzen, durfte sich nicht ausruhen, die Augen schließen, auch wenn es nur für einen Moment war … und er durfte unter keinen Umständen auch nur einer der Wände zu nahe kommen. Sobald er sich bloß für eine Sekunde an die Wand lehnte, hatte er den Kampf verloren. Seine einzige Chance bestand darin, sich in der Mitte des Zimmers zu halten, immer in Bewegung und wach zu bleiben. Wieder ritzte er sich mit der rauen Kante der Bleikugel eine Kerbe in den Unterarm. Die Wunde füllte sich mit frischem Blut. Das Adrenalin schoss ihm durch den Körper, der Schmerz hielt ihn wach. Heute war es bereits die fünfte Schnittwunde, dabei war der Tag erst wenige Stunden alt. Die Kerben der vergangenen Nacht waren bereits verkrustet, das gestockte Blut hatte sich dunkel gefärbt. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er die Schnitte in immer kürzeren Abständen brauchte, um wach zu bleiben. Auf seinem Körper sahen sie wie Runen aus … zweiunddreißig an der Zahl.
Wieder öffnete sich das Guckloch. Diesmal ging auch die Bodenklappe auf, ein Tablett mit frischem Essen wurde über den Boden geschoben. Er rührte weder die Speise noch die Flasche an. Bestimmt hatten sie ein Schlafmittel in den Kartoffelbrei gerieben oder im Getränk aufgelöst. Um sich zu vergewissern, roch er an dem Saft. Diesmal strömte kein beißender Alkoholgeruch aus der Flasche. Auch sie wurden schlauer. Gewiss hatten sie ihm einige Tropfen geruch- und geschmackloses Cisordinol in den Saft gemixt, um seinen Widerstand zu dämpfen, den Prozess des Einschlafens zu beschleunigen. Er kaute wieder am Knopf, um weiteren Speichel zu sammeln. Auch wenn seine Lippen mittlerweile aufgesprungen waren, er würde sich nicht darauf einlassen, von der Flasche zu nippen. Er musste wach und bei klarem Verstand bleiben.
Die Bodenklappe schnappte zu. Wieder war im Spion jenes Auge mit den langen Wimpern zu sehen. Die Pupille musterte ihn neugierig. Er konnte die Fragen nur zu deutlich erahnen, die sich in der Iris spiegelten. Immer wieder die gleichen neugierigen Fragen, warum er die Maschine zerstört hatte, wie der Mechanismus ausgesehen hatte, ob er den Judas-Schrein gesehen und was sich darin verborgen hatte. Er wusste es nicht, er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es war reiner Selbstschutz. Sein Geist blockierte den Zugang zu seinen Erinnerungen, verdrängte das Erlebte. Zudem wollte er sich nicht mehr daran erinnern, was er in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte. Er wollte es verdrängen, alles vergessen … als sei es einer anderen Person geschehen.
Deutlich war die Frage in den Augen der Frau zu lesen: Wovor fürchtete er sich? Die Wahrheit war: Er fürchtete sich vor allem! Zu viele waren darin verstrickt. Nahezu alle, die ihn im Moment umgaben, wussten davon. Möglich, dass das Greiner Wesen vollständig im Ölteppich verbrannt war, doch es gab andere, viel Größere, Gewaltigere. Die Getiere waren hier, sie lebten, existierten überall um ihn herum. Sie witterten ihn, krochen in den Wänden auf und ab, lauerten im Verborgenen und warteten auf jenen Moment, in dem er die Augen schloss. Er erinnerte sich an die zerknitterte Zeichnung der Reporterin, an die aufgerissenen Augen des Mädchens, an das Eisengestell mit den Flaschenzügen. Auf dem Papier, das sie ihm gegeben hatten, malte er ähnliche Bilder, hastige Kritzeleien mit Ölkreiden. Jetzt kannte er die Wahrheit… selbst der Messdiener hatte nicht das gesamte Ausmaß der Tragödie begriffen. In Grein war nicht die einzige derartige Maschine gebaut worden. Es gab mehrere Maschinen, die fremde Kreaturen in diese Welt holten. Die Wesen schlummerten in der Erde, das Gezücht der Schwarzen Ziege war überall, ihre Tausend Jungen verbreiteten sich wie eine Seuche über das Land, und hin und wieder kam es zu Zwischenfällen, die vertuscht wurden.
Die Augen fielen ihm einen Moment lang zu, doch im nächsten Augenblick schreckte er wieder hoch. Beinahe wären seine Beine eingesackt. Er wusste mit jeder Faser seines Körpers, dass es zu Ende ging. Er hielt nicht mehr lange durch, war todmüde und würde bald zusammenbrechen. Der nächste Schub erfasste ihn: Seine Arme zitterten, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Aber er wusste, wenn er sich hinsetzte, war es endgültig vorbei, man hätte ihn zum Schweigen gebracht und die Wahrheit wäre endgültig begraben.
Während er in dieser Zelle wie ein Tier gehalten wurde, lebte seine Tochter vielleicht schon bei ihren Verwandten in Grein. Heute wurde sie vierzehn. Mittlerweile war es bestimmt sechs Uhr morgens geworden. In wenigen Stunden würden ihr die Lederriemen um die Handgelenke gelegt und an das Eisengestell gebunden werden. In wenigen Stunden würde sie zwölf Milligramm Valium gegen die Schmerzen gespritzt bekommen. Nicht vom Dorfarzt, denn der war tot, sondern von jemand anderem. Sie war noch so jung, erst vierzehn, ihr Körper so schmächtig. Sie war doch noch ein Kind, viel zu klein, um die Visionen des Getiers zu ertragen, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Warum taten sie ihr das an?
Er schrie und tobte, brüllte sich die Seele aus dem Leib. Seine Fäuste hämmerten gegen die Tür, bis sich die Mullbinden seiner bandagierten Hand mit Blut tränkten und schmierige Spuren hinterließen.
Er wusste, manchmal siegte das Böse. Vor Erschöpfung taumelte er durch den Raum, brach auf alle Viere zusammen und kauerte sich in die Ecke. Plötzlich war etwas anders, diese Stellung war so ungewohnt. Während eines klaren Moments dachte er noch, dass er sich, bevor er in der Ecke einschlafen würde, mit der spitzen Kante des Bleigeschosses eine allerletzte Wunde zufügen und sich die Pulsadern der Länge nach aufschneiden musste. Er setzte die Kante ans Handgelenk, doch der Talisman entglitt seinen kraftlosen Fingern. Seine Lider flackerten, ihm fielen die Augen zu.
Sein Rücken lehnte an der Wand.
Etwas bewegte sich in der Mauer.