1. Kapitel
Das Landesgendarmeriekommando im dritten Wiener Gemeindebezirk sah aus wie eine abgemusterte Kaserne. Der düstere Koloss wuchs mit rotbraunen Ziegeln und vergitterten Fenstern aus dem Beton der Stadt. In dem alten Gemäuer befanden sich seit Jahren die Büros der Kriminalabteilung für Niederösterreich. Winzig prangte das Emblem des Morddezernats auf der klobigen Holztür.
Die Menschen liefen unter ihren Schirmen versteckt daran vorbei, durch die Pfützen zum nächsten Taxistand, zu den Linienbussen und Straßenbahnen, von deren Oberleitung Funkenbögen in den grauen Himmel schossen. Seit Tagen hingen schwarze Regenwolken über der Stadt, es goss ohne Unterlass. Auf einen milden Altweibersommer wagte niemand mehr zu hoffen, zu kalt und nass war das Wochenende verklungen und hatte die neue Woche begonnen … und für Alexander Körner begann die düsterste von allen.
Körner warf sich den nassen Mantel über den Arm. Wie ein schneidiger Wolf zog er durch die dritte Etage des Landesgendarmeriekommandos. Hier roch es nach Kalk, feuchtem Holz und eisiger Kälte. Das Quietschen seiner Schuhe hallte im Treppenhaus wider. Wie er diesen Weg hasste! Es war wie der Gang zum Scharfrichter - falsch, es war der Gang zum Scharfrichter.
Die letzten Tage hatten an seinen Nerven gezerrt. Er hatte zu wenig gegessen, zu viel gearbeitet und war abgemagert. Seine Hose flatterte an den Knien und wurde lediglich durch den eng gezogenen Gürtel gehalten. Daran änderte nicht einmal der schwarze Pullover etwas, den er sich in den Hosenbund gestopft hatte. Um seine miserable Erscheinung wettzumachen, war er frisch geduscht und rasiert, immerhin musste er einen guten Eindruck machen, bei dem, was auf ihn zukam. Im Lauf des gestrigen Abends hatte er sein Leben und seine Karriere verpatzt, mit einer Panne, die nicht einmal einem Anfänger passieren durfte - und schon gar nicht ihm.
Hastig blickte er auf die große Wanduhr über dem Eingang des Reviers: 8.25 Uhr. Er war spät dran. Die Kollegen vom Morddezernat hatten die Einsatzbesprechung bestimmt schon hinter sich. Jetzt konnten sie sich auf ihn konzentrieren. Gleich würden sie wie blutrünstige Hyänen über ihn herfallen und an seiner Seele nagen. Körner nestelte am Sakko, stopfte die Hand in die Hosentasche und stieß die Tür auf. Im Büro roch es nach Kaffee und Zigaretten.
»Da ist er«, flüsterte jemand, danach war es augenblicklich still. Nur ein Funkgerät knackte. Schwaiger und Kretschmer waren über Schubladen gebeugt und schauten auf, Breitner legte das Schulterholster an, Sedlak schob einen Stapel Akten zusammen … im selben Moment hielten sie in der Bewegung inne und starrten ihn an.
»Na, Körner, hast du deine Glock dabei?«
Verhaltenes Raunen!
»Oder kann man deine Knarre schon am Schwarzmarkt kaufen?«
Schon ging es los! Er ignorierte die Kommentare und ging grußlos zwischen den Schreibtischen hindurch, am Kopiergerät und an den Flipcharts vorbei. Einige Beamte wichen seinem Blick aus, doch gab es andere, für die er leichte Beute war und die sich keine Gelegenheit entgehen ließen, auf ihn loszuhacken. Kretschmer war einer von ihnen.
»Streckst du neuerdings alle deine Verdächtigen mit einem Handkantenschlag nieder, Körner?«
»Wenn du deinen Partner loswerden willst, steckst du ihn am besten zu Körner ins Team, dort hat er gute Chancen, eine Kugel ins Bein zu bekommen.« Breitner zog den Holstergurt straff. Seine Worte klangen veralbernd, doch seine stechenden Augen sprachen einen anderen Ton. Wollte er ihn provozieren oder bloß Dampf ablassen?
Körner wollte es nicht herausfinden. Er ließ die Hyänen hinter sich und ging auf Jutta Korens Büro zu. Erst als seine Hand auf der Klinke lag, fühlte er den kalten Schweiß seiner Finger. Mit den Beamten des eigenen Reviers auf Kriegsfuß zu stehen war schlimmer, als mit der Dienstmarke auf die Brust geheftet im Zellenblock für Schwerverbrecher zu stecken. Er merkte, wie er die Nerven verlor, dabei hatte der Psychoterror gerade erst begonnen.
Er atmete tief durch und betrat das Büro seiner Vorgesetzten. Auch in diesem winzigen Raum mit den hohen Wänden roch es nach Holz und feuchtem Kalk, dazwischen lag der Duft von Damenparfum, eine angenehme Abwechslung in den Trakten dieser alten Kaserne. In den Regalen stapelten sich die Aktenordner, auf dem Schreibtisch standen drei Telefone, und an jedem klebten gelbe Spickzettel. An der Wand hingen die gerahmten Fotos von Korens Vorgängern. Sie selbst bildete den Abschluss in einer langen Reihe grauer Herren im dunklen Nadelstreif.
»Schließen Sie die Tür, Körner. Setzen Sie sich!« Jutta Koren wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Der Regen tränte über die Scheiben, und im grauen Einerlei des Straßenverkehrs blitzten die Autoscheinwerfer und die Neonreklamen der Kaufhäuser.
Körner blieb stehen. Er sah sein Spiegelbild im Fenster, das kantige Gesicht und das zurückweichende Haar, das er sich mit der Maschine so kurz wie möglich stutzte. Er war knapp einundvierzig Jahre alt, die Geheimratsecken machten ihn interessant, wie er fand. Doch sein raues Außeres, die stechenden braunen Augen und das Lächeln, das er zuweilen zu Stande brachte, würden ihm jetzt nicht viel nützen. Jutta Koren würde ihn zur Schnecke machen, so viel war sicher. Die Frage lautete nur: Welche Konsequenzen zog es nach sich? Die Zweifel zermürbten ihn und hatten ihn die halbe Nacht wach liegen lassen.
Die Grande Dame der Kriminalpolizei ließ sich Zeit. Sie neigte den Kopf und blickte immer noch stumm aus dem Fenster. Koren war zehn Jahre älter als er, verdammt attraktiv und sportlich, hatte einen dunklen Teint und war stets perfekt geschminkt. Wie immer machte sie eine elegante Figur. Seine Vorgesetzte trug einen grauen Hosenanzug, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und bohrte mit einem ihrer Pfennigabsätze auf dem Parkett, als denke sie darüber nach, ob sie gemäßigt oder aufgebracht beginnen sollte.
»Seit fünf Jahren leite ich das Mord-, Betrugs- und Entführungsdezernat«, sagte sie leise, als rede sie mit sich selbst, während sie der Straßenbahn nachblickte. »Ich habe einen Sechzehn-Stunden-Tag, siebenmal in der Woche. In dieser von Männern dominierten Arbeitswelt darf ich mir keinen Fehltritt leisten. Seit ich diesen Job erfülle, versuche ich mich von meinen männlichen Kollegen abzuheben: Ich arbeite hart, versuche fair zu sein und lasse mich auf kein Intrigenspiel ein. Das ist der Grund, weshalb in diesem Haus von allen Seiten gegen mich gearbeitet wird. Bisher konnte ich mich aus zwei Gründen halten: ein gutes Team und herausragende Leistungen. So läuft das Spiel.«
Also ging sie es sanft an, überlegte Körner. Die harte Tour wäre ihm lieber gewesen, denn in der vermeintlichen Sanftheit lauerte die Gefahr. Doch wozu die Ansprache? Worauf wollte sie hinaus?
»Ich sage es Ihnen ehrlich.« Sie wandte sich um und musterte ihn mit kalten Augen. Ihre Stirn lag in Falten, von ihrem gewohnten Lächeln war nichts übrig. Sie richtete den Zeigefinger auf ihn. »Ihr Fall könnte mir das Genick brechen«, wisperte sie drohend. »Das Landesgendarmeriekommando wartet nur darauf, mich aus diesem Büro zu jagen. Dennoch versuche ich, Sie so lange wie möglich zu decken.«
»Ich habe …«
»Seien Sie still!« Das Haar fiel ihr mit grauen Strähnen in die Stirn. »Und jetzt setzen Sie sich endlich!«
Körner warf den Mantel über die Stuhllehne, blieb aber stehen. Er senkte den Kopf und starrte das Narbengewebe auf seinem Handrücken an. Der Rest der alten Wunde war durch den Pullover und das Sakko verdeckt.
Koren ignorierte seine Sturheit. Im gemäßigten Ton sprach sie weiter. »Novak war ein alter Fuchs, die graue Eminenz im Morddezernat. Viele haben auf seinen Posten spekuliert. Als Novaks Nachfolger sind Sie einer der jüngsten Chefinspektoren des Morddezernats. Und was machen Sie bei Ihrem ersten Fall als Chefinspektor? Sie rücken mit entsicherter Dienstwaffe aus!«
Die verdammte Waffe! Ja, er hatte geahnt, dass dieser Vorwurf kommen würde. Gestern Abend - er führte Verhandlungen mit einem mutmaßlichen Mörder, den sie in der achten Etage eines Hochhauses gestellt hatten. Die Glock steckte entsichert im Holster, er trug das Sakko offen und beugte sich zu dem Verdächtigen vor. »Ich habe …«
»Sie waren eine Gefahr für das gesamte Team! Sie haben dem Verdächtigen ihre Waffe unter die Nase gehalten. Er wäre ein Idiot, hätte er nicht danach gegriffen. Bilanz: ein schwer verletzter Mittelsmann, ein angeschossener Beamter aus dem Bombenteam, und Doktor Sonja Berger aus Ihrer Gruppe wurde ebenfalls verwundet. Aber das Schlimmste: Sie haben dem Mann mit der Faust den Adamsapfel zertrümmert. Er liegt im Koma - Herrgott! Sein Anwalt hat heute Morgen Verbindung mit der Presse aufgenommen.«
»Was sollte ich machen? Der Kerl hat das Feuer eröffnet, während er in der anderen Hand den Bombenauslöser hielt. Er hatte fünf Geiseln in seiner Gewalt, das gesamte Haus war vermint und …«
»Das ist der nächste Punkt. Wo sind die Zünder?«
»Im Kofferraum meines Wagens sichergestellt. Das habe ich in meinem Bericht erklärt.«
»Ich weiß, der verdammte Bericht.« Sie wehrte den Gedanken mit den Händen ab. »Ihre Aussage liegt seit gestern 22.00 Uhr beim Landesgendarmeriekommando. Das nächste Mal sprechen Sie sich mit mir ab, bevor Sie eine Erklärung abgeben, falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt«, seufzte sie. »Sie haben nicht nur eine Disziplinaranzeige am Hals, sondern Landesgendarmeriekommandant Bejk wird ein Verfahren einleiten; er will das gesamte Programm gegen Sie durchziehen. Sie können sich denken warum, oder? Er war nicht glücklich darüber, dass ausgerechnet Sie Novaks Nachfolger wurden. Der Kommandant hätte lieber seinen Protege auf dem Posten des Chefinspektors gesehen. Seit gestern Abend hat er etwas in der Hand gegen Sie, das ist sein gefundenes Fressen. Offensichtlich läuft es darauf hinaus, dass Sie zu einer Anhörung vor Gericht geladen werden. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Der Kommandant fordert, dass ich Sie bis dahin vom Dienst suspendiere. Aber das ist immer noch meine Entscheidung. Ich erklärte dem Kommandanten, dass ich Sie zurzeit brauche, weil Sie an einem brisanten Fall arbeiten.« Koren verschränkte die Arme hinter dem Rücken und musterte Körner mit lauerndem Blick.
Er schluckte. »Aber ich habe keinen Fall.«
Sie holte tief Luft. »Ab jetzt schon!« Sie griff in die Lade und knallte eine dünne Mappe mit Faxpapieren vor ihm auf den Tisch. »Ist gerade reingekommen. Eine Leiche. Ein dreizehn- bis vierzehnjähriges Mädchen, brutal verstümmelt.«
Sie wartete einen Moment, doch Körner rührte sich nicht. Stumm starrte er auf den blassgrünen Deckel der Flügelmappe und die gerollten Papiere, die daraus hervorsahen.
»Ein Mord in einer Provinzdiskothek. Das sind die Fotos. Na los, machen Sie die Akte auf und schauen Sie es sich an!«
Weshalb suspendierte sie ihn nicht einfach? Breitner, Schwaiger oder Kretschmer konnten den Fall übernehmen, zur Not auch Sedlak. Als er durch die Fotos blätterte, versteifte sich sein Rückgrat. Mit einem Mal wusste er, weshalb sie ausgerechnet ihn am Tatort haben wollte. Auf den lausigen schwarzweißen Kopien der Faxrolle war die Fassade einer Diskothek zu erkennen, mit einem Vordach aus Schindeln, Holzstehern und verbarrikadierten Fenstern. Der Putz blätterte von der Wand, und das Regenwasser sammelte sich in einer Mulde unter der Fensterbank. Den Digitalziffern am Rand des Bildes entnahm er, dass die Aufnahme erst eine halbe Stunde alt war. Weitere Fotos zeigten die Innenräume einer Bar: Tische, Stühle, einen Tresen, speckige Holzbohlen und dunkle Querbalken mit einer Lichterkette aus Glühbirnen. Die Leiche war nur undeutlich zu erkennen. Sie lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten. Ihre Bluse war zerrissen, der Rücken freigelegt. Neben der Leiche glaubte er den Schatten eines Eisengestells auszumachen. Es wirkte wie das geschweißte Stahlgerippe eines Aktionskünstlers, mit einer Sitzbank, Seilen und Flaschenzügen. Stutzig blätterte er zum ersten Foto zurück und betrachtete noch einmal die Außenaufnahme der Diskothek.
»Wo?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sein Gaumen war staubtrocken.
Koren setzte sich und stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »In einem Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze, im Rosaliengebirge.« Sie musterte ihn, er bemerkte es aus dem Augenwinkel.
»Ich kenne diese Diskothek«, murmelte er gedankenverloren.
»Ich weiß. Das ist die Gaslight Bar in Grein am Gebirge.«
Körner versuchte zu schlucken, doch seine Kehle schnürte sich immer enger zusammen. Er schloss die Akte und legte sie beiseite.
»Suspendieren Sie mich! Dorthin gehe ich nicht.« Er wollte es gleichgültig klingen lassen, doch die Worte kamen nur stockend heraus. Unwillkürlich blickte er auf das hellrote Narbengewebe auf seinem Handrücken. Wie auf Befehl begann die alte Brandwunde zu pochen, als sei sie nie geheilt.
»Körner, um Himmels willen! Seien Sie vernünftig! Sie sind mein bester Mann. Soll ich etwa Breitner und Kretschmer in den Ort schicken? Sie kennen die Einheimischen, Sie kennen die Gegend. Sie sind dort aufgewachsen.«
»Ich war seit siebenundzwanzig Jahren nicht mehr dort.«
»Dann frischen Sie Ihre alten Bekanntschaften auf. Bringen Sie mir die ersten handfesten Ergebnisse, zeigen Sie dem Landesgendarmeriekommando was Sie draufhaben!«
Seufzend nahm er die Faxrollen zur Hand und blätterte sie ein weiteres Mal durch. »Die Bilder sehen merkwürdig aus.« Er drehte die Faxrolle und betrachtete die Digitalanzeige am Bildrand. »Wer hat die Fotos gemacht?«
»Ein Pressefotograf von der Rundschau. Er war mit einer Reporterin am Tatort.«
Körner runzelte die Stirn. »Wie konnten die so schnell dort sein?«
»Ich vergaß zu erwähnen, die Reporterin hat die Leiche entdeckt.«
»Aha … die haben die Leiche entdeckt und sofort alles fotografiert. Haben die etwa auch schon den Mörder vernommen?«
»Körner, sparen Sie sich Ihren Sarkasmus.«
Er wurde wieder ernst. »Was hat eine Journalistin in diesem gottlosen Nest zu suchen?«
»Keine Ahnung. Finden Sie es heraus! Rolf Philipp von der Spurensicherung ist schon auf dem Weg dorthin! Ich habe ihm Kralicz samt seinem kompletten Kameraset mitgeschickt. Ich schlage vor, Sie setzen sich sofort in Bewegung. Beeilen Sie sich! Wenn Sie jetzt losfahren, sind Sie um zehn Uhr dort.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Heute Abend möchte ich die ersten Ergebnisse sehen.«
Heute Abend«? Verdammt! Er hatte geahnt, es würde ein mieser Tag werden - aber nicht derart schrecklich. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. »Ich brauche so bald wie möglich ein gerichtsmedizinisches Gutachten. Wer hat gerade Dienst?« Körner überflog die grünen Linien auf dem Tischkalender.
Koren schmunzelte, es war die blanke Schadenfreude. »Jana Sabriski.«
»Oh Gott, nein!«
»Was haben Sie gegen Frauen?«
»Nichts!« Körner hob abwehrend die Hand. »Heute ist nicht mein Tag«, murmelte er. »Ich meine nur, wir sollten …«
»Hören Sie mal!« Korens Stimme bekam einen siebensüßen Ton. »Wir können auch darauf bestehen, Kurt Seiser oder Günter Marks für diesen Fall zu bekommen, aber ich sage Ihnen etwas: Jana Sabriski ist die Beste. Wir können froh sein, dass heute Morgen ihr Vierundzwanzig-Stunden-Dienst begonnen hat. Nur weil Sie mal mit ihr geschlafen haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie nicht gemeinsam an einem Fall arbeiten können.«
Körner stockte der Atem, er fühlte die Röte in sein Gesicht schießen. Woher zum Teufel wusste sie davon? »Ich …«
»Ich gebe Ihnen einen Rat, nicht als Ihre Vorgesetzte, sondern als Freund: Trennen Sie Berufliches und Privates. Dann schlittern Sie nicht in so einen Schlamassel.«
Körner ballte die Hand in der Hosentasche zur Faust. »Sie schicken mich an den Ort zurück, in dem ich als Kind aufgewachsen bin, dann hängen sie mir noch meine Ex-Lebensgefährtin als Gerichtsmedizinerin an den Hals.«
Koren lächelte ihn an. Wie er diesen siegessicheren Gesichtsausdruck hasste!
»Sie haben Ihren vorigen Fall gründlich vermasselt. Vergessen Sie nicht: Diese Ermittlung bewahrt Sie vor der Suspendierung. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Entweder Sie fahren dorthin und bringen mir die ersten Hinweise, oder Sie geben mir Ihre Marke und Ihre Waffe, räumen Ihren Schreibtisch, und wir sehen uns am Montag vor Gericht.«
Körner schwieg. Er kramte die Fotos zusammen, packte seinen Mantel und ging zur Tür.
»Körner! Vergessen Sie nicht die beschlagnahmten Zünder im Spurensicherungsbüro abzuliefern. Dworschak wartet darauf, er muss seinen Bericht schreiben.«
»Ja, heute Abend.« Er verließ grußlos das Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Draußen lauerten die Hyänen. Sie glotzten ihn erwartungsvoll an.
»He, Körner! Suspendiert?«, fragte Kretschmer.
Körner schüttelte den Kopf. »Schlimmer!«
Er verließ das Gebäude.
Der Nieselregen legte sich wie ein schmieriger Film auf die Pflastersteine der Garnisongasse. In den Lachen spiegelte sich die Neonbeleuchtung aus den Fenstern des fünfzehnstöckigen Gebäudes aus Glas, Stahl und Beton. Körner steuerte den schwarzen Audi in eine Parklücke und ließ die Scheibe herunter. Ein grässlicher Montagmorgen. Kälte strömte in den Wagen, und Regenwasser tropfte auf den Beifahrersitz. Aus dem Radio trällerte eine Popmusik, die nicht zum Wetter passte. Körner ließ den Motor laufen und blickte zur Auffahrtsrampe des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien. Drei Rot-Kreuz-Wagen hielten mit Blaulicht vor der Notaufnahme. Die Schiebetüren standen offen, die Pfleger hievten mehrere Personen auf Krankentragen in das Gebäude. Gestern Abend, nachdem die Geiselnahme in einem Fiasko geendet hatte, mussten sich ähnliche Szenen abgespielt haben. Körner verdrängte die Erinnerung.
Er bemerkte die junge Frau im blauen Parka, die am Geländer Halt suchend von der Rampe über die geschwungene Treppe zur Straße lief. Er blinkte sie mit der Lichthupe an. Sie schlug den Kragen auf, zog die Schultern hoch und rannte zwischen den Pfützen auf ihn zu. Er öffnete ihr die Tür. Prustend ließ sie sich in den Sitz fallen.
»Guten Morgen.« Sie zog den Zipp des Parkas auf, schüttelte das blonde Haar aus und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Herrliches Herbstwetter. Der Regen schmeckt nach Blei.«
Dr. Sonja Berger hatte vor Jahren die Ausbildung zur Kriminalpsychologin abgeschlossen. Seit Körner vor drei Wochen zum Chefinspektor ernannt worden war, arbeitete sie in seinem Team, aber wegen seines Missgeschicks war sie gestern angeschossen worden - zum ersten Mal in ihrer Laufbahn.
Körner wusste, dass sie neben dem Job bei der Kripo Vorlesungen an der Uni Wien hielt und gelegentlich Artikel für die Fachpresse schrieb. Ihre Aufgabe war die Erstellung psychologischer Täterprofile - und das machte sie nicht schlecht, auch wenn sie sich für seinen Geschmack zu intensiv in die Arbeit steigerte. Kretschmers Meinung nach war sie mit ihren dreißig Jahren zu jung und hatte bisher zu wenige verstümmelte Leichen gesehen, um genauso zynisch zu werden wie all die anderen Beamten auf dem Revier. Körner hoffte, dass es so weit nicht zu kommen brauchte und sie ihren frischen Elan behielt. Doch er fürchtete, dass sich ihr Enthusiasmus bald einbremsen würde, wenn sie erkannte, dass die kriminalpolizeiliche Ermittlung kein spannendes Spiel sondern eine traurige Notwendigkeit war. Wie die meisten ihrer älteren Kolleginnen würde sie die Konsequenz ziehen: den Unterricht als Uni-Dozentin reduzieren und ihren Schwerpunkt auf die Arbeit bei der Kripo verlagern. Dann war sie eine von ihnen: aus der Spur geraten, verbittert und paranoid. Er hoffte, dass es nicht ausgerechnet dieser Fall war, der ihr das Genick brach. »Was haben Sie?«
»Nichts.« Er schüttelte den Kopf. Ihr sonst so perfektes Makeup war in den Augenwinkeln verschmiert und ihr schulterlanges Haar auch nicht so schick und flott gestylt wie sonst. Sie machte den Eindruck, als habe sie sich die Nacht im Krankenhaus um die Ohren geschlagen. Der blitzblaue, erfrischende Glanz ihrer Augen, den er so mochte, war einem erschöpften Blick gewichen. Sie lächelte ihn müde an. Er lächelte zurück und sah flüchtig auf das zerfetzte Schulterteil ihres Parkas. Der Stoff war aufgerissen und das Futter versengt. Offensichtlich war sie über Nacht wirklich nicht zu Hause gewesen. »Wie geht es Ihnen?«
Sie verzog das Gesicht. »Es ist halb so schlimm. Nur ein Streifschuss. Die haben die Wundränder gereinigt und vernäht. Nach zwei Tagen kann ich den Verband runternehmen und ein Duschpflaster draufkleben.«
Sie hielt ein schmales Lederetui hoch, das sie in der Jackentasche verschwinden ließ.
»Es pocht höllisch.« Sie drückte eine schmerzstillende Pastille aus einem Tablettenstreifen und schluckte das Mittel. »Die Fäden kommen in acht Tagen raus.«
Körner setzte den Blinker, scherte aus der Parklücke und reihte sich in den morgendlichen Verkehr ein. »Es tut mir Leid.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, ich hab es überlebt. Es ist eine neue Erfahrung, angeschossen zu werden, vielleicht schreibe ich einen Artikel darüber.« Sie versuchte zu lächeln, doch dann wurde sie ernst. »Ich habe für nächste Woche Montag eine gerichtliche Vorladung. Ich werde nicht gegen Sie aussagen, ich wollte nur, dass Sie das wissen. Meiner Meinung nach haben Sie richtig gehandelt.«
»Danke.« Süßholzgeraspel, das ihm nichts brachte! Es würden sich andere finden, um gegen ihn auszusagen. Wenigstens eine seiner Kolleginnen fand es richtig, was er getan hatte. Ob es das Gericht auch für richtig halten würde, dass er dem Geiselnehmer die Kehle zertrümmert hatte? Er sah die Schlagzeile der Boulevardpresse bereits vor sich: Chefinspektor Körner stellte den mutmaßlichen Mörder und führte die Verhandlung mit entsicherter Dienstwaffe. Als der Geiselnehmer das Feuer eröffnete, überwältigte der Kripobeamte den Täter mit bloßen Händen. Für einige im Team kam diese Maßnahme zu spät…
Körner griff auf den Rücksitz und legte Berger eine braune Tüte in den Schoß. »Cappuccino und Nusskipferl«, sagte er.
Sie riss die Packung auf und stellte die Papptassen in die Becherhalter des Audis. Auf einmal roch es nach Kaffee und frischem Gebäck. »Das Essen im Krankenhaus ist unter jeder Würde.«
»Ich dachte mir, dass Sie Hunger haben würden.«
Zaghaft nahm sie ein Kipferl und biss hinein.
Körner überholte einen Lieferwagen und wechselte auf den Autobahnzubringer, der aus Wien hinaus führte. Berger sah aus dem Fenster: Graz, Prag und Klagenfurt stand auf den Tafeln angeschrieben.
»Wohin fahren wir eigentlich? Das Revier liegt…«
»In einen Ort fünfzig Kilometer südlich von Wien. Wir haben einen neuen Fall.«
Sie wollte vom Becher nippen und hielt in der Bewegung inne. »Das heißt, Sie sind nicht suspendiert?«
»Vorerst nicht. Ein junges Mädchen wurde in einer Bar ermordet aufgefunden. Hier sind die Fotos.« Er deutete auf die Flügelmappe im Seitenfach der Beifahrertür.
Rasch packte sie das Nusskipferl weg, leckte sich den Zucker von den Fingern und blätterte durch die Faxrollen. Aufmerksam studierte sie die Fotos. Offensichtlich entging auch ihr die digitale Zeitangabe am Rand der Fotos nicht, da sie auf die Uhr am Armaturenbrett blickte. »Eine Stunde alt«, murmelte sie.
Im gleichen Moment ertönte die Kennmelodie der 9.00-Uhr-Nachrichten aus dem Radio.
»Grein am Gebirge! In den frühen Morgenstunden wurde in einem Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze die Leiche eines Schulmädchens gefunden«, begann der Nachrichtensprecher.
»Ist das etwa unser Fall?«, platzte Berger heraus.
Er nickte und schaltete das Radio aus.
»Was? Wir hören uns das gar nicht an?«
»Wir machen uns selbst ein Bild davon, sobald wir am Tatort sind.«
Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken. »Warum sind die Medien schon informiert?«
»Eine Reporterin hat die Leiche entdeckt. Das sind übrigens keine Kripofotos«, informierte er sie. »Die hat der Pressefotograf dieser Reporterin gemacht.«
Sie runzelte die Stirn. »Hoffentlich zertrampelt uns niemand die Spuren. Bis die örtliche Polizei alles gesichert hat…«
Er lächelte. In ihrem Alter war er genauso eifrig gewesen. »Keine Sorge, wir haben Rolf Philipp als Spurensicherer. Der braucht zwar doppelt so lange wie andere, dafür findet er jeden Kuchenkrümel auf dem Boden. Wenigstens brauchen wir uns nicht zu beeilen. Bevor er nicht jedes Staubkorn in eine Tüte gesteckt und nummeriert hat, lässt er uns ohnehin nicht ran.«
Mittlerweile rasten sie über die Südautobahn. Zu dieser Zeit herrschte nicht mehr viel Verkehr auf der Straße. Körners Blick verlor sich hinter den Hügeln am Horizont.
»Sie kennen Philipp aus früheren Jahren, nicht wahr?«, fragte sie.
Aus früheren Jahren! Wie das klang! Als sei er ein steinalter Mann. Körner lächelte, als ihm einige Erinnerungen in den Sinn kamen. »Philipp, Basedov und ich waren Mitte der achtziger Jahre in der Gendarmerieschule in Mödling und anschließend am Gendarmerieposten Mödling stationiert. Wir waren jung und ziemlich verrückt. Ich spielte Saxophon in einem Jazzkeller, Philipp und Basedov genossen freien Eintritt, und wenn Philipp nicht gerade sein gesamtes Geld beim Billard verspielte, versoff er es an der Bar mit den neuen Rekruten aus der Kaserne. Wir waren jeden Abend so stockbetrunken, dass wir am nächsten Morgen eher in die Ausnüchterungszelle gehört hätten als auf Streife. Novak war unser Boss. Der graue Fuchs hat uns geschunden, das können Sie sich nicht vorstellen. Ein Wunder, dass er uns damals nicht rausgeworfen hat.«
»Ich hatte nie das Vergnügen, ihn kennen zu lernen.«
»Ihr Glück!«
Sie dachte einen Moment nach. »Der Kripofotograf heißt doch Kralicz -« Sie verhaspelte sich. »Weshalb nennen ihn alle Basedov?«
Körner schmunzelte. »Erstens geht es uns genauso wie Ihnen: Wir können seinen Namen nicht aussprechen. Und zweitens … haben Sie ihn schon einmal gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dachte ich mir. Warten Sie es ab, bis wir am Tatort sind und Sie ihn kennen lernen, dann wissen Sie Bescheid.«
»Aha.« Mehr sagte sie nicht, stattdessen hielt sie die Faxrolle schief. »Was ist das für eine merkwürdige Bar? Gaslight? Klingt wie ein Lokal in einem Provinznest.«
»Ein ziemlich heruntergekommener Schuppen«, murmelte Körner. Plötzlich war seine gute Laune verflogen. Er merkte, wie sich seine Schultern versteiften und er das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass die Knöchel weiß hervortraten. So konnte es verdammt noch mal nicht weitergehen. Er atmete tief durch und versuchte die Schultern zu lockern. Wie würde er sich erst in einer Stunde verhalten, wenn er sich schon jetzt so anstellte?
»Provinznest ist noch untertrieben. Grein am Gebirge ist eine Fünfhundert-Seelen-Gemeinde. Dort gibt es außer einer Pizzeria und diesem Lokal keine Möglichkeit, um auszugehen.«
Sie rutschte auf dem Beifahrersitz herum. »Sie kennen den Ort?«
»Bin dort aufgewachsen.«
Plötzlich bekam sie große Augen. »Erzählen Sie.«
Er schwieg und starrte auf die regennasse Fahrbahn. Seit er die Fotos in Jutta Korens Büro gesehen hatte, war sein Unterbewusstsein aufgewühlt. Stück für Stück krempelten sich seine verschütteten Erinnerungen um und platzten hervor, wie verstaubte Kartons, die von der Dachbodentreppe polterten und am Fußboden des Wohnzimmers auseinander brachen. Er wollte nicht sehen, was sich darin befand, doch je näher sie Grein kamen, desto mehr Kartons purzelten herunter. Irgendwie wurde er nicht damit fertig, sie alle rechtzeitig wieder zu verstecken.
»Grein ist ein ehemaliger Bergwerksort«, begann er zu erzählen. »Warum das Bergwerk vor über sechzig Jahren geschlossen wurde, weiß niemand. Damals wanderten die meisten Einwohner fort; zurück blieben die Bauernhöfe, Viehställe, Heuschober, die Heurigenlokale und ein paar Lebensmittelläden. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater arbeitete in der Nachbargemeinde als Bauleiter. Ich wurde ’62 geboren und verbrachte meine Kindheit in diesem Nest. Das alte Bergwerk war unser Spielplatz, die meisten Abenteuer trugen sich dort zu. Dann waren da noch die Traktorenhalle, wo wir uns als Jungen herumtrieben, die Gärtnerei, die stillgelegte Mühle, der alte Friedhof, der Wald am Fuß des Hohen Gschwendts und die Aulandschaft entlang der Trier. Mehr gab es nicht. Insgesamt eine trostlose Gegend für ein paar Jugendliche.«
Sie verließen die Autobahn und nahmen die Bundesstraße Richtung Rosaliengebirge. Die Straße wurde unmerklich steiler, und weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Nebel zog auf. Der Nieselregen tippelte gegen die Scheibe, und die Wischblätter hinterließen einen schmierigen Film auf dem Glas.
»Es war im September, drei Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, an einem ähnlich kalten, nebeligen Tag wie heute. In jenem September ’76 brannte unser Haus vollständig nieder. Ich saß bis zum Abend vor den verkohlten Grundmauern, doch Vater und Mutter kamen nicht mehr aus den Flammen.«
Berger räusperte sich. Mit einem Mal schien sie nicht mehr so interessiert. Was hatte sie erwartet? Etwa einen lustigen Bericht aus seiner unbeschwerten Kindheit? Berger brachte nicht einmal das obligatorische Tut-mir-Leid hervor, das an dieser Stelle für gewöhnlich kam, und Körner war dankbar dafür. Schweigen war besser als oberflächliches Gerede. Zumindest hatte er es die letzten siebenundzwanzig Jahre so gehandhabt. Er wusste auch nicht, weshalb er seiner Kollegin das alles erzählte. Ausgerechnet ihr, die er zwar schon seit drei Wochen kannte, aber die so distanziert war, dass sie sich noch immer förmlich mit Sie ansprachen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Berger die Erste war, mit der er über die Ereignisse von damals gesprochen hatte. Warum nur? Befreite es ihn? Fühlte er sich erleichtert? Oder legte die Fahrt nach Grein alles frei?
Seine rechte Hand lag auf dem Lenkrad. Er bemerkte, wie sie auf seinen Handrücken starrte. Die Ärmel von Pullover und Sakko waren heruntergerutscht, und das rosafarbene Narbengewebe war bis zum Gelenk sichtbar, ohne Haare, nur ein Strang aus Knoten und Falten.
»Eine Erinnerung an den Brand«, sagte er knapp.
»Entschuldigen Sie bitte.« Sie wandte den Blick ab.
»Schon gut. Der gesamte Arm sieht schlimm aus, besser Sie bekommen ihn nie zu sehen.« Er kniff die Augen für einen Moment zusammen. »Ich wollte meine Mutter aus den Flammen retten. Sinnloser Versuch, aber probieren Sie das mal einem Vierzehnjährigen beizubringen.«
Wenn er die Augen schloss, sah er noch heute das Feuer. Aber die Flammen waren nicht rot oder gelb, wie man es kannte - sie waren weiß! Noch heute spürte er die Hitze auf seinem Gesicht, die Glut auf den Wangen und den Lippen, roch den Gestank verbrannter Haare und versengter Haut, hörte das Knacken der Holzmöbel und das Schmelzen des Kunststoffbodens.
Da wurde die Scheibe vom roten Schein zweier Bremslichter ausgefüllt.
»Achtung!«
Körner riss das Lenkrad herum. Reifen quietschten.
Berger saß steif wie ein Brett im Sitz. Ihre Rechte umklammerte den Haltegriff über der Tür.
Sein Herz pochte, er nahm den Fuß vom Gaspedal und überholte den Lastwagen, auf den er beinahe aufgefahren war.
Berger stieß die angehaltene Luft aus. »Das war knapp.«
Für den Rest der Fahrt schwiegen sie. Die Wischblätter kämpften gegen den zunehmenden Regen an. Im Wagen wurde es frostig, und die Kälte kroch Körner vom Boden herauf in die Hosenbeine. Als er merkte, wie Berger sich die Handflächen rieb, drehte er die Heizung höher. Die Bundesstraße wurde steiler und die Kurven enger. Bald betrug die Sicht nur noch wenige Meter, und bis zum Rosaliengebirge war es noch ein langes Stück.
2. Kapitel
Die Trier war ein schmutzig grauer Fluss, der in dem nach ihr benannten Tal kilometerlang neben der Bundesstraße verlief. Der anhaltende Regen hatte das sonst sieben Meter breite Gewässer zu einem reißenden Strom anschwellen lassen. Die dramatischen Regenfälle waren ungewöhnlich für diese Jahreszeit; übers Wochenende hatte es so viel geregnet, wie sonst in vier Monaten. Seit Freitagabend gingen schwere Gewitter nieder, und sie hörten nicht auf. Lokale Überschwemmungen und Murenabgänge waren die Folge, die Freiwillige Feuerwehr war im Dauereinsatz. Oberhalb des Trieracher Stausees vereinten sich die Wassermassen der Trier und der Göll, sodass die Schleusen für mehrere Stunden geöffnet werden mussten. Das Flussbett wurde ausgeschwemmt, das Geröll talwärts getragen, und der Fluss führte mittlerweile siebenundzwanzigmal so viel Wasser wie an normalen Tagen. Zwischen der Trier und dem Hohen Gschwendt, dem ersten Berg des Rosaliengebirges, lagen die beiden Dörfer Grein am Gebirge und Heidenhof wie in eine Mulde gebettet. Sonst war die Gegend, von einigen Bauernhöfen abgesehen, so gut wie nicht besiedelt.
Das Schild Grein am Gebirge war im Regen kaum auszumachen. Körner lenkte den Audi von der Bundesstraße und bog auf einen holprigen Forstweg, der nach wenigen Metern an einer Brücke endete. Der Wagen rumpelte über die Bodenschwellen und ratterte über die Holzbalken der Brücke. Bald würden sie den Ort erreicht haben. Augenblicklich versteifte sich Körners Rückgrat, und er atmete so heftig, dass die Seitenscheibe beschlug. Er öffnete das Fenster. Kühle Luft strömte in den Wagen, es roch nach Schnee, die klirrende Kälte biss förmlich in der Nase. Sonja Berger, die bis dahin entspannt im Sitz gelehnt hatte, fuhr erschocken hoch.
»Wir sind bald da«, beruhigte Körner sie.
Er blickte aus dem Fenster. Unvorstellbare Wassermassen schossen unter der Brücke hindurch. Aste, Büsche, Plastikfolien, Holzbohlen und mannsdicke Baumstämme trieben in der grauen Flut. Vor dem Brückenpfeiler, der mitten im Fluss stand, bildeten sich Strudel, die das Geröll für einen Moment einfingen und verschwinden ließen. An anderer Stelle tauchte es wieder auf und wurde von der Gewalt der Strömung mitgerissen.
Auch Berger ließ ihre Seitenscheibe einen Spalt breit herunter. Fasziniert starrte sie den Flusslauf hinauf, der nach einigen Windungen im Nebel verschwand. Am künstlich errichteten Deich standen mehrere Leute in Regenmänteln und Gummistiefeln und starrten auf das trübe Wasser. Sie gestikulierten wild mit den Armen. Körner konnte nicht hören, worüber sie sprachen. Scheinbar machten sie sich Sorgen über den Wasserstand. Als die Männer den Wagen bemerkten, hörten sie auf und beobachteten das Fahrzeug.
»Hier kommen zwar Traktoren und Mopeds, aber selten Autos vorbei, stimmt’s?«, fragte Berger. ■
»Zumindest keine mit Wiener Kennzeichen.«
Sie holperten von der Brücke und fuhren den Forstweg entlang. Nach wenigen Minuten wandelte sich die trostlose, ländliche Gegend in besiedeltes Gebiet. Sie kamen zur Ortstafel, und unmittelbar dahinter stand die gelbe Hütte einer Bushaltestelle am Wegesrand. Gegenüber lag eine winzige Tankstelle mit nur einer Zapfsäule. Wegen Regen geschlossen! stand auf eine Pappschachtel gekritzelt, die unter dem Vordach hing. Der Karton weichte im Regen auf, und die Farbe der Buchstaben begann zu verrinnen.
Der Forstweg ging in eine asphaltierte Straße über, ein Bürgersteig allerdings fehlte, und am Wegrand steckten Eisenstangen in der Erde, an denen verhungerte Weinreben hingen. Die meisten Häuser gruppierten sich längs der Dorfstraße.
»Hier ist Ihre Pizzeria.« Berger lächelte, als sie das schiefwinkelige grüne Gebäude mit dem Gastgarten und den wild wuchernden Hecken sah. Scheinbar amüsierte sie die Tatsache, dass Körner den Ort so treffend beschrieben hatte.
Sie kamen an einem Fußballplatz vorbei, dessen Rasen unter Wasser stand, an der Volksschule, einigen Bauernhöfen, Viehställen und einstöckigen Wohnhäusern, deren Dachschindeln längst einer Erneuerung bedurften. Diffuse Kindheitserinnerungen drängten sich in Körners Gedächtnis. Plötzlich sah er eine russische Fellmütze vor sich, mit Ohrenschützern, die ihm bis in den Nacken reichten. Er erinnerte sich an den winterlichen Fußmarsch entlang der Straße, vom Haus seiner Eltern bis zur Schule, einem einfachen Gebäude mit nur einer Klasse, in der alle Sechs- bis Zehnjährigen unterrichtet wurden.
»Ich war seit meiner Jugend nicht mehr hier, doch nichts hat sich verändert.«
Und schließlich war es so weit. Langsam fuhren sie an einem verkohlten Gebäude vorbei, das einmal ein Einfamilienhaus gewesen sein mochte. Das schwarze Gerippe des Daches war schon längst eingestürzt. Bloß die Grundfestung und eine Mauer standen noch, die Fenster waren ausgebrannte Löcher, die Ziegel schwarz. Körner ballte die Hand ums Lenkrad. Seine Brandwunde begann zu pochen, als rebelliere sie gegen den Anblick, der sich ihnen bot.
Nachdem sie den Ort zur Hälfte durchquert hatten, gelangten sie zum Hauptplatz. Körner parkte den Wagen an den Randstein und sie stiegen aus. Die örtliche Polizei hatte den Hauptplatz mit einem gelben Plastikband abgeriegelt. Der Wind zerrte an dem Band und ließ es schnalzen. Vor der Absperrung drängten sich einige Männer und Frauen, die sich unter ihren Schirmen dicht aneinander kauerten. Einheimische waren das nicht, dachte Körner, und schon brach das Blitzlichtgewitter los.
»Kein Kommentar.« Körner wedelte abwehrend mit der Hand. Mehr sagte er nicht. Er hob das Band, und Berger und er schlüpften durch die Absperrung.
Sie marschierten quer über den Hauptplatz, der leicht bergauf führte. Das Regenwasser schnellte ihnen zwischen den Rillen der Pflastersteine in Rinnsalen entgegen. Körners Magen krampfte sich zusammen. Hier hatte sich nichts verändert. Auf einer Anhöhe über dem Platz thronte die Kirche, ein verwinkeltes Gebäude mit Erkern und einer zugebauten Sakristei auf einem verwucherten Hügel, der von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war und wohl immer noch einen Garten darstellen sollte. Der Kirchturm war ein gedrungener Klotz aus rohen, unverputzten Ziegeln. In seiner Kindheit war Körner das Gebäude viel größer erschienen, mächtiger und unheimlicher, und der sonntägliche Gang zur Messe war für ihn stets der Ausflug in eine von Weihrauch geschwängerte und von tropfenden Wachskerzen erhellte Dunkelheit gewesen. Doch jetzt hatte die Kirche nichts mehr von dem Flair vergangener Tage, sie war lediglich ein altes, verkommenes Gebäude - weiter nichts. Der Zeiger der Kirchturmuhr sprang mit einem lauten Klack!um: zehn Uhr. Augenblicklich begannen die Kirchenglocken zu läuten.
Mitten auf dem Dorfplatz stand ein riesiger Springbrunnen, der mit seiner Höhe eher an eine Pestsäule erinnerte. Aus den Gefäßen der Marmorengel sprudelte das Wasser, welches von ovalen Becken aufgefangen wurde. Ein junger Setter mit verfilztem, rotbraunem Fell trottete heran und schnüffelte an der Steinbalustrade. Rechts von der Skulptur lag die Lebensmittelhandlung, ein schmuddeliger Krämerladen, den es schon vor dreißig Jahren gegeben hatte, und zu der ihn seine Mutter dreimal die Woche mit dem Fahrrad geschickt hatte, um einzukaufen. Mit Milch, Obst, Wurst, Käse und einem Laib Brot im Korb war er durch den Ort geradelt, bei strahlendem Sonnenschein und ebenso bei einem Sauwetter wie heute. Er erinnerte sich an die in buntem Papier eingewickelten Schlecker mit dem Brausepulver - und plötzlich spürte er den prickelnden Cola-Geschmack im Mund. Wie hartnäckig Erinnerungen doch waren!
Linker Hand, gegenüber dem Laden, befand sich der Braune Fünfender, oder auch Kirchenschenke genannt, jenes Gasthaus, in dem sich die Bauern auf einen Schnaps trafen, die Feuerwehrleute ihre Kartenspiele austrugen und die Mitglieder des Kirchenchors nach den Proben ihr Bier tranken. Als Jugendlicher hatte er das Gasthaus so gut wie nie von innen gesehen, denn weder seine Mutter noch sein Vater zählten zu den Stammgästen. Im oberen Stockwerk des Wirtshauses lagen die Fremdenzimmer, welche unter der Bezeichnung Frühstückspension vermietet wurden. Doch schon damals hatten sich nie viele Gäste nach Grein verirrt, und so stand auch jetzt noch die ausgeblichene Tafel Zimmer frei im Fenster.
Auf einer Holzbank unter dem Vordach saßen drei alte Männer mit breiten Hutkrempen und dicken Steppmänteln. Er kannte die Alten, es waren Bauern aus Heidenhof. Einer von ihnen bewirtschaftete sogar die Viehställe neben dem Wohnhaus, in dem Körners Exfrau wohnte. Vor den Männern plätscherte das Regenwasser vom Dach und lief das Gefälle hinunter. Da verstummten die Kirchenglocken, und Körner hörte das Gemurmel der Greise. »Der Exmann der Schabinger Marli.«
Natürlich! Das hätte er sich denken können! Wenn er den Namen Marli schon hörte, krampfte sich ihm der Nacken zusammen. Seine Ex hieß Maria, doch jeder in den beiden Orten nannte sie Marli - die kleine Marli, und das würde sie für immer bleiben, auch wenn sie mittlerweile vierzig Jahre alt war.
»Woher kennen die Ihre Exfrau?«
Körner zuckte zusammen. Seiner Kollegin war der Kommentar der Alten also nicht entgangen.
»Sie wohnt im Nachbarort.« Er nickte die Straße entlang, über die sie gekommen waren, die zum Hauptplatz führte und sich danach zwischen den Häusern verlor. »Einige Kilometer flussaufwärts, in Heidenhof.«
»Sie scheinen hier nicht beliebt zu sein«, stellte Berger fest.
»Wer ist hier schon beliebt? Schauen Sie sich die Kerle an!« Er deutete auf die alten Männer, die auf der Bank saßen, als habe man sie an die Rückenlehne genagelt. »Die sind doch wie Schiffbrüchige, die nie aus dem Ort herauskommen! Die behandeln alle anderen wie Eindringlinge.«
Berger lächelte. »Sie übertreiben.«
»Sie haben keine Ahnung.« Dabei beließ er es. Sie würde es noch früh genug merken. Der Scheidungsrichter hatte Vor Jahren festgelegt, dass er seine Tochter einmal im Monat besuchen durfte. Wegen seines Jobs bei der Kripo hatte er nicht jeden Monat die Möglichkeit, doch wenn er nach Heidenhof kam, fuhr er nie durch Grein. Er blieb auf der Bundesstraße, raste neben der Trier entlang, ließ Grein links liegen und nahm die nächste Brücke nach Heidenhof. Keine zehn Pferde hätten ihn je in dieses Dorf gebracht. Bisher hatte er die Erinnerung an den Ort seiner Kindheit erfolgreich verdrängt, wie ein Buch mit schrecklichen Bildern, das man zuschlug, unter dem Bett versteckte und nicht mehr hervorkramte. Doch jetzt kroch es heraus und blätterte sich von allein auf. Plötzlich sah er aberwitzige Parallelen: Immer wenn er zu Maria kam, um die Kleine abzuholen, saß seine Ex aufrecht und steif in der Küche, ähnlich wie die drei Alten, als habe man auch sie an die Rückenlehne der Bank genagelt. Das musste an der Gegend liegen, vielleicht am Kalkgehalt des Brunnenwassers oder weiß Gott woran. Jedenfalls hielt er sich nie lange bei ihr auf, schnappte Verena und verschwand mit ihr so schnell es ging, in eine Pizzeria, in einen Tiergarten, ins Kino, oder einfach nur in die Einkaufsparks der nächstgrößeren Stadt, nach Neunkirchen. Das Mädchen hatte sich nie darüber beschwert - obwohl, klein war sie bei Gott nicht mehr. Verena reichte ihm bis zur Schulter. Früher hatte er sie Vreni genannt, doch seit drei Jahren fand sie das uncool. Jedes Mal, wenn er sie so nannte, stieg ihr eine peinliche Röte ins Gesicht, besonders vor ihren Schulkollegen. Jetzt war sie knapp vierzehn, rauchte heimlich, hatte ein Piercing unter der Lippe und wollte sich sogar ein Celtic-Tattoo in die Schulter stechen lassen. So viel er wusste, hörte sie Offspring und Puddle of Mudd, mit ein Grund, weshalb sie zu den Außenseitern des Ortes gehörte. Vielleicht lag das auch daran, dass sie in Neunkirchen zur Schule ging und ein wenig Abstand zu den Dorfgewohnheiten gewann. Bestimmt saß sie auch jetzt in der Schule und ahnte nicht, dass ihr Vater im Nachbarort in einem Mordfall ermittelte.
»Die Diskothek sieht verkommener aus als auf dem Foto.« Berger wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht.
Sie folgte Körner quer über den Platz, zu einem unscheinbaren, schwarzen Holzschuppen, dem letzten Gebäude, das den Hauptplatz umsäumte: die Gaslight Bar. Ein Pressefahrzeug stand vor der Tür, doch rannten keine Presseleute herum, wie es sonst üblich war. Eine ungewohnte Ruhe lag über dem Platz. Daneben parkten ein weinroter Kastenwagen mit Wiener Kennzeichen, das Auto von Rolf Philipp, dem Spurensicherer, und ein Rettungsfahrzeug. Die beiden Hecktüren standen offen, und im Ambulanzbereich brannte Licht. Körner erhaschte einen Blick in das Innere des Sanitätsautos, wo eine Frau mit schwarzem Lockenschopf und hochgekrempeltem Ärmel auf der Liege kauerte. Ein Mann saß ihr gegenüber und bereitete eine Injektion vor. Mit der freien Hand malte sie auf einem Papierblock. Körner hörte sie schluchzen. War das die Reporterin, welche die Leiche entdeckt hatte? Falls ja, würde er sich später um sie kümmern. Zuerst wollte er den Tatort sehen.
Sie kamen unter dem Vordach der Diskothek zum Stehen, da ihnen ein Mann in grüner Uniform und Dienstmütze den Weg versperrte. Er war an die fünfzig, hatte dichte Augenbrauen, einen treuseligen Hundeblick und eine Knollnase. Er sah aus, wie die Dorfgendarmen in dieser Gegend eben aussahen, als hätte er genauso gut auf einem Traktor den Maisacker pflügen können. Mit einer Hand lehnte er an einem Holzsteher und starrte Berger unverhohlen auf die Brüste. Erst jetzt bemerkte Körner, dass seine Kollegin den Parka offen trug, die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und das Kreuz durchstreckte, damit sie größer wirkte. Sonja Berger war eine kleine, stramme Person, sie war nicht größer als Körners Tochter, doch hatte sie eine tolle Figur, die man selbst unter dem Parka erkennen konnte. Auf Männer wirkte sie eben nicht wie eine Profilerstellerin der Kripo. »Sie sind die Ermittler von St. Pölten?«
»Vom Landesgendarmeriekommando Wien«, korrigierte Berger. Sie stellte Körner und sich selbst vor.
Der Gendarm schnalzte mit der Zunge. »Mein Name ist Friedl, ich bin der Postenkommandant von Grein. Wobei…« Er lächelte. »Posten ist übertrieben, ich bin allein für die beiden Orte verantwortlich. Ich habe Unterstützung vom Gendarmerieposten Neunkirchen erhalten. Der liegt nur fünfzehn Kilometer entfernt von hier, die Männer waren gleich zur Stelle. Die örtliche Polizei hat alles abgeriegelt. Die Beamten suchen in einem Radius von fünfhundert Metern nach Spuren.« Er machte eine Pause und musterte Körner. »Stimmt es, dass das Haus vermint war und Sie den Geiselnehmer mit bloßen Händen überwältigt haben?«
Im ersten Moment war Körner sprachlos. Er hätte alles erwartet, nur das nicht. Mittlerweile schien es jeder zu wissen; sogar bis zu einem Nest wie Grein hatte sich die Geschichte durchgesprochen.
»Dehnen Sie den Radius auf eintausend Meter aus«, antwortete er kühl.
Der Gendarm stieg von einem Bein aufs andere. »Ich denke fünfhundert genügen. Wenn wir nichts finden, können wir immer noch …«
Körner kam näher auf ihn zu und fixierte ihn. »Leiten Sie die Ermittlungen?« Er wartete keine Antwort ab. »Wie wollen Sie einen zu klein festgelegten Sperrbereich nachträglich vergrößern, ohne dass Spuren verloren gehen! Und jetzt machen Sie schon, bevor uns der Regen alles wegspült!«
Er ging um den Gendarmen herum, schlüpfte unter dem gelben Plastikband hindurch und betrat die Bar. Berger folgte ihm. Zunächst fiel ihm auf, dass in der schweren Holztür das Schloss fehlte. Es war fachmännisch aus der Vertiefung entnommen worden. Körner fasste jedoch nichts an, sondern notierte das Detail in Gedanken. Wie er schon auf den Fotos gesehen hatte, war der Raum dunkel. Der Boden bestand aus speckigen Holzbohlen, über die bestimmt schon literweise Bier geflossen war, die Wände waren ebenfalls mit Brettern verkleidet, und unter der Decke verliefen schwere Holzbalken, um die ein Kabel mit Glühbirnen geschlungen war - die behelfsmäßige Ausstattung, um das Flair einer Diskothek zu erzeugen.
In dem Raum roch es nicht nur nach Bier und kaltem Zigarettenrauch, wie er es von den Tatorten in Diskotheken kannte, sondern auch nach Eisen. Doch das war nicht alles. Darüber lag der penetrante Geruch verfaulter Eier, wie im Schwefelbad eines Seniorenheims. Von der Leiche konnte der Gestank nicht stammen. Leichen rochen anders!
»Puuuh«, stöhnte Berger.
»Passen Sie auf!« Körner deutete auf den Weg, den die Spurensicherung für die Ermittler gelegt hatte. Winzige Zapfen stecken im Boden, an denen Schnüre gespannt waren. Berger folgte ihm entlang der Wegführung, ohne einen Schritt über die Markierung zu setzen. Sie kamen zu den Barhockern. Der Tresen war alles andere als blank poliert, Bierdeckel lagen herum und Reste von Kerzenwachs klebten am Holz. Durch den großen Spiegel hinter der Bar wirkte der Raum doppelt so groß. Von dem Deckenaufbau hingen die Gläser und Portionierer der Bourbon- und Barcadiflaschen. Körner hatte als Jugendlicher nie in dieser Bar herumgelungert, die es damals schon gegeben hatte. Zigaretten, Schnaps und Frauen waren für ihn tabu gewesen. Wie er jetzt bemerkte, hatte er mit diesem Schuppen nicht viel versäumt.
Entlang mehrerer Holzsäulen und Balustraden, an denen Plakate von Livebands und Showevents hingen, gelangten sie zur Tanzfläche. Der enge, kreisrunde Platz wurde von Tischen und Stühlen umrahmt, dahinter befand sich das Podest für die Band.
Eine Elektroorgel stand darauf, Mikrofonständer, Boxen und lose Kabel lagen herum.
Basedov hatte auf Stative montierte Scheinwerfer um die Tanzfläche gestellt, um den letzten Winkel des Tatorts ausleuchten. Er selbst war nicht zu sehen. Hinter einem Paravent aus Alufolie flammten Blitzlichter auf. Offensichtlich war er schon bei der Leiche angelangt.
Vor dem Paravent kroch Rolf Philipp auf allen Vieren; er trug Plastiküberzieher an Händen und Schuhen. Mit seiner Statur wirkte er wie ein Bär, der mit seinen Tatzen in einem Dekontaminierungsanzug steckte. Von Beginn an hatte jeder gewusst, dass er der geborene Spurensicherer war. Nach der Eignung am Gendarmerieposten Mödling waren sie zur Erprobung nach Erdberg gekommen, in den dritten Wiener Gemeindebezirk, und damit hatte festgestanden: Philipp ging zur Spurensicherung, Basedov wurde Kripofotograf und er selbst wechselte zum Morddezernat. Manchmal arbeiteten sie gemeinsam an einem Fall … heute war so ein Tag.
Philipp drehte ein dunkel schimmerndes Objekt zwischen den Fingern.
»Fragment des dritten oder vierten Lendenwirbels«, murmelte er in das Diktafon, das er sich dicht vor den Mund hielt. »Vier Zentimeter, elf Gramm. Entfernung zur Leiche …« Er las die Ziffern auf einem Maßband ab, das unter dem Paravent verschwand. »Drei Meter vierzig. Nummer siebzehn.«
Er packte den Teil in eine Folie, nummerierte sie mit einem Stift und markierte den Fundort mit einer Steckfahne. Danach legte er die Folie zu einem Berg von Tüten, der sich hinter ihm angesammelt hatte. Zuletzt fotografierte er den Platz.
»Der intensive Eisengeruch rührt von der hohen Blutmenge und den Knochenbrüchen der Wirbelsäule«, murmelte er in das Diktafon. »Auffällig ist jedoch der starke Schwefelgeruch. Möglicherweise ist die Wunde des Opfers mit Fluimucil versetzt.«
Körner und seine Kollegin beobachteten ihn fasziniert bei der Arbeit. Er hatte ihr Eintreten nicht bemerkt. Da knirschte Körner mit dem Schuh, Philipp schaute kurz hoch und beendete die Aufzeichnung. »Die Kavallerie ist da«, sagte er ironisch.
Philipp richtete sich vollends auf. Er war annähernd so groß wie Körner, nur sah er stämmiger aus und hatte gut den doppelten Brustumfang, ohne dabei dick zu wirken. Er hatte buschige Augenbrauen, einen dichten Kinn- und Oberlippenbart und eine Halbglatze, wodurch die hohe Denkerstirn voll zur Geltung kam. Dennoch trug er das nach hinten gekämmte Haar schulterlang und wirkte dadurch wie ein Künstler, der die Öffentlichkeit mit seinem unangepassten Auftreten schockieren will.
Als er Körner erkannte, hellte sich sein Blick auf. »He, du bist da? Dir hat Koren den Fall übertragen? Unglaublich! Ich hätte drauf wetten können, dass dich der alte Drachen suspendiert.«
Körner ging nicht darauf ein. Er war es leid, über den gestrigen Abend zu sprechen, dazu würde er noch früh genug die Gelegenheit haben. Körner deutete auf die Tanzfläche. »Fehlt etwas?«
»Kann ich zaubern?« Philipp breitete die Arme aus. »Ich bin gerade mal eine Stunde hier. Ich muss erst alles einsammeln und ins Labor bringen. Zieh dir Handschuhe an und hilf mir!«
»Danke! Wenn der Killer ein Stück von der Leiche als Andenken mitgenommen hat, möchte ich das wissen.«
»Du bist der Erste, der es erfährt.«
»Ist dir schon aufgefallen, dass das Türschloss fehlt?«, fragte Körner.
Philipp schüttelte den Kopf, als habe er es mit einem Dilettanten zu tun. »Schlaumeier! Ich habe das Zylinderschloss ausgebaut und werde es der Kriminaltechnik schicken. Ich glaube, jemand hat daran rumgefummelt.«
»Sonst noch etwas gefunden?«
»Ja! Das Ausweisetui des Mörders«, fauchte Philipp. »He, was glaubst du, was ich hier mache? Es gibt nichts Schrecklicheres als eine Spurensicherung in einer Diskothek: Hunderte frische Fingerabdrücke am Geländer und an den Gläsern, Stofffasern an den Stühlen, Hunderte Fußabdrücke. Finde da mal raus, welche zur Tat gehören und welche nicht.«
»Ja, ja, ich habe verstanden: Wir lassen dich in Ruhe arbeiten.« Körner hob beschwichtigend die Hände. »Das ist übrigens Dr. Sonja Berger. Sie …«
»Guten Morgen.« Berger nickte knapp.
»Lady! Sie sind diese junge Kriminalpsychologin an der Seite unseres Helden.« Philipp setzte ein charmantes Lächeln auf.
»Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Passen Sie gut auf sich auf, wenn Sie in seiner Nähe sind. Ich habe gehört, er reicht seine Waffe öfter mal an verdächtige Personen. Um so eine attraktive, intelligente Frau wie Sie wäre es verdammt schade.«
Berger rümpfte die Nase. »Ich weiß sehr wohl, dass ich auf dem Revier Psychotante genannt werde, auch von Ihnen. Sparen Sie sich also Ihre Schmeicheleien.«
Körner schluckte und starrte betroffen zu Boden. Schlagartig herrschte ein frostiges Klima im Raum.
»Sie haben mich ertappt, Psychotante. Eins zu Null für Sie.« Philipp widmete sich wieder seiner Arbeit, ihn schien Bergers Vorwurf nicht wesentlich aus der Fassung zu bringen. Körner nahm ihm das sogar ab. Philipp war abgebrüht genug - und mit Frauen hatte er sowieso kein Problem: Entweder konnte er schamlos mit ihnen flirten, oder er beleidigte sie, und dann war der Fall für ihn erledigt.
Körner wandte sich ab und ging den markierten Weg entlang.
»Zertrampel mir bloß keine weiteren Spuren. Ein Hund ist vorhin in die Bar gelaufen. Der Köter hat wichtige Spuren verwischt«, rief ihm Philipp nach.
»Ja, ja! Ich muss mir ansehen, wie der Killer den Tatort arrangiert hat. Wenn man den Künstler verstehen will…«
»… muss man sein Werk betrachten. Ich weiß, das ist ein alter Hut.« Philipp deutete auf die ausgesteckte Wegführung. »Aber nur da entlang, du Kunstkenner!«
Berger folgte ihm nicht, sie blieb zurück und plauderte mit Philipp. Er hörte nicht, worüber sie sprachen, doch am Tonfall merkte er, dass Berger interessiert Fragen stellte. Auch wenn Philipp ein Ekel war, beruflich konnte man einiges von ihm lernen. Möglicherweise renkte sich die Beziehung zwischen den beiden wieder ein. Er war es gewöhnt, dass Philipp die Menschen bei seiner ersten Begegnung vor den Kopf stieß. Er war wie ein Großwesir, man musste sich seine Gunst hart erarbeiten, und wenn Berger ein wenig von ihrer kühlen, distanzierten Art ablegte, würden die beiden sogar miteinander zurechtkommen.
Körner ging auf den Paravent zu und war auch schon am Ende des Raums angelangt. Durch einen Torbogen führte nur noch ein Gang an den Toiletten vorbei und endete in einem Hinterhof mit Parkplatz, wie er vermutete. Jede Bar hatte einen! Schließlich mussten sich die Jugendlichen irgendwo heimlich treffen, um Tabletten zu tauschen und mit den Mädchen auf den Autorücksitzen zu fummeln.
Hinter der Alufolie, die Kralicz, genannt Basedov, zum Erhellen des Raumes verwendete, zuckte noch immer das Blitzlicht. Wie eine Supernova flammte es auf, und Körner sah für einen Moment nur grell blitzende Sterne. Basedov stand hinter der Nikon und presste das Auge an den Sucher der Kamera. Er hantierte am Blitzlicht und betätigte den Auslöser. Wenn man ihm bei der Arbeit zusah, glaubte man, er blicke mit einem Auge in den Sucher, während er mit dem anderen Auge einen selbst mustere. Sein basedofscher Blick sah noch schlimmer aus, als habe man einen Frosch mit der Fahrradpumpe aufgeblasen, zumindest behauptete das Philipp immer, wenn er über Basedov scherzte. Der Fotograf war ein netter Kerl; offensichtlich war das der Grund, weshalb er die ständigen Witze auf seine Kosten erduldete. Er trug das kurze Haar exakt gescheitelt und wirkte so bieder wie ein Familienvater, der tagsüber beim Finanzamt die Eingangspost stempelt. Der Spitzname Basedov war letztendlich eine von Philipps Kreationen, Basedow mit russischem Akzent gesprochen - geprägt an jenem Tag, als Basedov eine Ukrainerin heiratete, mit der er mittlerweile zwei Kinder großzog. Körner hatte den Spitznamen nie besonders geschmackvoll gefunden, doch auf dem Revier hatte er wie ein Blitz eingeschlagen und war seitdem nicht mehr wegzudenken gewesen.
Basedov glotzte Körner an. »Morgen, Alex. Wieder mal vereint, wie in den alten Zeiten in Mödling.«
»Ja, war eine tolle Zeit…«
»Wir waren schon damals ein einmaliges Team«, brüllte Philipp jenseits des Paravents. »Seitdem hat sich nicht viel verändert, stimmt’s?«
»Du hattest mehr Haare«, konterte Basedov. »Schnauze!«
Basedov verstummte. Er besaß nicht die Nerven, sich mit Philipp auf niveaulose Wortgefechte einzulassen.
»Warten wir es ab, ob wir diesmal auch so gut sind. Basedov, ich wollte …«
Das Blitzlicht flammte auf, und Körner stockte. Das Eisengestell, welches er bereits auf dem Foto gesehen hatte, stand wie ein Gerippe an der Wand. In dem Gerät befand sich tatsächlich eine eingeschweißte Sitzbank. Auf den ersten Blick sah es wie das Trainingsgerät eines Fitnessstudios aus, doch mit den Seilen, Flaschenzügen und Lederriemen wirkte die Konstruktion befremdend und ließ keinen Sinn erkennen. Noch nicht! Die Jungs im Labor würden sich darum kümmern. Neben dem Gestell lag die Leiche auf dem Bauch: ein Mädchen in Jeans, in Bluse und Turnschuhen, Arme und Beine von sich gestreckt. Basedov hatte eine Kreidelinie um den Leichnam gezeichnet. Unschwer ließ sich erkennen, woran sie gestorben war. Jetzt wusste er, weshalb die Wirbelteile auf der gesamten Tanzfläche verstreut lagen. Körner ging in die Hocke und betrachtete die Leiche, die rund zwei Meter von ihm entfernt lag. Philipps Wegmarkierung ließ ihn nicht näher heran, doch diese Distanz reichte vollkommen aus.
Der Tatort war sauber arrangiert worden, wie für das Ermittlerteam inszeniert, und wirkte, als sei ein Serienkiller am Werk gewesen, der an der Grenze seines Verstandes experimentierte - und der Gefallen an seinem Spiel hatte. Was wollte ihnen der Mörder mit seiner Inszenierung mitteilen? Hallo Leute, das ist mein erstes Opfer. Weitere folgen in Kürze!
Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten, als wollte der Mörder vermeiden, seinem Opfer in die Augen zu sehen. Vermutlich kannte er die Tote, war vielleicht benachbart oder sogar mit ihr verwandt. Die Bluse war am Rücken in zwei Hälften zerrissen und hing ihr über die Schultern. Der Anblick ihres Rückens wirkte auf Körner verstörend. Wie oft musste der Killer mit dem Messer in ihren Rücken gehackt haben, um so eine Wunde zu bewirken? Warum war es ausgerechnet so passiert und nicht anders? Warum war der Mord ausgerechnet an dieser Stelle in diesem Lokal passiert und nicht woanders? Warum hatte der Killer von allen Mädchen aus der Umgebung ausgerechnet dieses Opfer ausgewählt und kein anderes? Körner betrachtete ihr blondes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar. Ich finde es heraus, Kleine. Er glaubte nicht an Zufälle. Er war davon überzeugt, dass der Killer genau wusste, was er tat. Nur musste er hinter den Plan des Wahnsinnigen kommen. Er musste das Muster erkennen.
Das Eisengestell, das wie ein düsteres Omen neben der Leiche emporragte, gab ihm das nächste Rätsel auf. Körner erhob sich aus der Hocke. »Hat sich schon jemand überlegt, wozu dieses Gerät dient?«
»Ich hab es noch nicht ausprobiert.« Philipp lachte obszön.
Sein Kommentar war wie immer deplatziert. Vielleicht war Sarkasmus Philipps Art, mit dem Schrecken umzugehen, den sie tagtäglich sahen. Jeder hatte seine Masche: Jana Sabriski ging Tiefseetauchen, Basedov war mit Leib und Seele Familienvater, und Körner selbst konnte abschalten und sich am besten entspannen, wenn er durch den Wienerwald joggte, am Sandsack trainierte oder in der Küche stand und kochte. Am ärmsten waren jene dran, die noch keine Methode gefunden hatten, den Schrecken auf Distanz zu zwingen.
»Oh, Gott!« Plötzlich stand Berger neben ihm und starrte mit offenem Mund auf die Leiche.
»Ziemlich schräg«, kommentierte Körner. »Das ist Basedov, unser Fotograf«, fügte er rasch hinzu, um sie abzulenken. Er bemerkte, wie sie mit einem Mal weiß im Gesicht wurde, als erleide sie einen heftigen Migräneanfall. Keine Tausend Fotos konnten jemanden darauf vorbereiten, wie es war, wenn man das Opfer eines wahnsinnigen Mörders tatsächlich vor sich sah. In der Realität war es immer anders. Sie versuchte zu schlucken, aber der Kloß in ihrem Hals saß zu fest. Im Moment würgte sie bestimmt eine grässliche Magensäure hoch. Er kannte das, jedem passierte es beim ersten Mal. Es war nicht nur der Anblick, sondern auch der entsetzliche Geruch und der Geschmack im eigenen Mund, die ihr Übriges dazu beitrugen. Alles zusammen rief unglaubliche Assoziationen hervor. Wie gebannt starrte Berger auf das tote Mädchen und konnte sich nicht losreißen. Er stupste sie an. »Das ist Basedov! Unser Fotograf!«, wiederholte er. »Und das ist Doktor Sonja Berger, sie erarbeitet Täterprofile und verfasst Artikel für psychologische Fachzeitschriften. Sie sind ziemlich gut darin, habe ich Recht?«
Sie blickte auf. Endlich war der Bann gebrochen. »Guten Morgen. Ja, ich erstelle Profile.« Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. »Vor drei Wochen war ich noch in Kretschmers Team, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen …«
»Ich habe noch nichts von Ihnen gelesen. Sie müssen mir mal ein paar Ihrer Artikel zukommen lassen.« Basedov lächelte sie scheu an. Körner ahnte, dass auch der Fotograf versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen.
»Gern.« Geistesabwesend wandte sie den Blick weg und betrachtete das Eisengestell.
Basedov trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die Sitzbank. »Meiner Meinung nach hat das Gerät nur einen Sinn: Jemand setzt sich drauf und wird mit den Lederfesseln über diese Stange nach vorne bebeugt, sodass sein Rücken nach oben durchgebogen wird.«
»Und wozu?«
»Können wir gleich an Basedov ausprobieren«, rief Philipp hinter dem Paravent.
Körner deutet auf das zerfetzte Rückgrat des Mädchens. »Und dann passiert so etwas …«
»Eine schöne Sauerei.« Philipp raschelte mit den Plastiktüten. »In Krems ’96 hatte ich einen ähnlichen Fall. Der Mörder hatte einem jungen Burschen die Wirbelsäule freigelegt.«
Berger presste ihre Lippen zu einem weißen Strich aufeinander.
»Aber es kommt noch schlimmer«, sprach Philipp weiter. »Zwei Jahre darauf hat Basedov in Gmunden annähernd gleiche Fotos von einer jungen Frau geschossen. Das war ein Schlamassel! Erzähl es ihnen!«
»Ich erinnere mich«, muckste Basedov. »Aber ich will nicht darüber…«
»Es reicht!« Körner wandte sich an seine Kollegin. »Lassen Sie sich von dem Burschen nicht aufziehen. Atmen Sie tief durch.«
Da flog die Hintertür der Diskothek auf. Der Wind pfiff durch das Lokal, Regen klatschte auf die Pflastersteine, und ein kühler Luftzug strömte ins Innere. Jana Sabriski stand im Türrahmen, voll gepackt mit Boxen und Tragetaschen.
»Oh nein, der Hund!«, rief sie.
Ein verfilzter Setter mit triefend nassem Fell schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch und jagte den Gang entlang, an den Toiletten vorbei auf die Tanzfläche. Körner wollte das Tier am Halsband packen, doch es stürzte an ihm vorbei, setzte über die Bodenmarkierung hinweg und schlitterte mit den Krallen über den Parkettboden. Dann warf es beinahe das Kamerastativ mitsamt dem Paravent um und sprang neben dem Eisengestell an der Wand hoch. Es winselte und jaulte und schabte mit den Krallen über die Holzverkleidung. War das etwa der Hund, den sie am Hauptplatz gesehen hatten?
»Da ist der verfluchte Köter wieder! Schafft das Mistvieh weg, sonst erschieße ich es.« Philipp raste hinter dem Paravent hervor. Er war rot im Gesicht und fuchtelte mit den Armen herum. »Der Drecksköter verliert überall Haare und sabbert alles voll!« Er warf Sabriski einen bissigen Blick zu.
Die Gerichtsmedizinerin stand neben Körner und stellte ihre Taschen zu Boden. »Tut mir Leid, aber ich habe den Hund nicht gesehen. Was jetzt?«
Basedov zog die Schultern hoch und machte einen Schritt zurück, als wolle er dem Tier nicht zu nahe kommen. »Der Hund schleicht ständig vor der Wand herum und beschnuppert alles. Er ist mir schon zweimal ins Bild gelaufen«, erklärte er. »Wir haben ihn vor einer Stunde mit Mühe und Not aus der Bar gelockt.«
Sonja Berger stieg kurzerhand über die Absperrung und näherte sich dem Tier von hinten. »Braver Hund«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Du bist ein süßer Hund.«
»Ja, süß!«, brauste Philipp auf.
»Seien Sie still!« Berger ging unmittelbar hinter dem Tier in die Hocke. Es jaulte und kratzte mit der Pfote über die Sesselleiste an der Wand. Scheinbar interessierte sich der Hund weder für die Leiche noch für das Eisengestell. Berger streichelte ihm übers Fell. »Bist ein netter Kerl. Braver Hund. Komm her! Komm zu mir.« Sie strich ihm über den Kopf, dann packte sie ihn am Halsband. Sachte zog sie ihn von der Wand weg. Er ließ sich von ihr führen. »Komm mit mir, kleiner Kerl. Ich bring dich raus. Vielleicht finden wir was zum Fressen für dich.«
Philipp kramte in der Jackentasche und streckte ihr einen verpackten Müsliriegel entgegen.
»Danke.« Sie wehrte ab und führte den Hund durch die Bar zum Hauptausgang.
»Begabt, die Kleine.« Philipp sah ihr nach, wie sie aus der Diskothek verschwand. »Sollte zum Drogendezernat und die Schnüffelhunde leiten.«
»Puuuh!« Sabriski ließ die Schultern sinken. Mit dem Fuß schob sie die Tasche zur Leiche. »Noch ein paar Proben, dann bin ich fertig.«
»Parkst du den Wagen hinten?« Körner deutete zur rückwärtigen Tür.
Sabriski ignorierte ihn. Sie zog den Zipp der Tasche auf und breitete Pinzetten, Injektionsnadeln und Ampullen auf einer Folie aus.
»Der Tatort war schon abgeriegelt, als sie kam«, erklärte Basedov, dem Jana Sabriskis frostiger Blick bestimmt nicht entgangen war.
So klirrend kalt zu schauen - das brachte nur Sabriski zu Stande. Wer konnte sich diesem Blick schon entziehen, überlegte Körner. »Wie lange ist die Kleine tot?«, versuchte er erneut ein sachliches Gespräch mit ihr zu beginnen.
Sabriski wandte sich abrupt um, strich sich das lange braune Haar hinters Ohr und warf Körner einen bösen Blick zu. Wenn sie wütend war, konnte sie ganz besonders hübsch sein.
»Ausgerechnet dir haben sie den Fall angehängt. Toll, und ich dachte, ich hätte nichts mehr mit dir zu tun.«
Das war es, was Körner unter einer perfekten Zusammenarbeit verstand. Er hätte vielleicht auf Jutta Korens Rat hören und Privates und Berufliches von Beginn an trennen sollen. Doch jetzt war es zu spät. Was von einer fünfjährigen Beziehung blieb, waren beißende Kommentare. Er versuchte, bei der Sache zu bleiben. »Kannst du schon sagen, ob die Kleine vergewaltigt wurde?«
»Typisch, das ist alles woran du denkst.« Zornig ließ sie den Verschluss einer Box aufschnappen. »Oh, oh!« Philipp wandte sich ab.
»Dicke Luft«, grummelte Basedov, hantierte geschäftig an der Kamera und tat, als habe er nichts gehört.
Körner schüttelte den Kopf. »Die Detektivin mit dem Skalpell, scharfzüngig wie immer. Du hast dich nicht verändert, aber ich würde vorschlagen, wir lassen das. Was weißt du bisher über das Mädchen?«
»Der Dorfarzt fungierte als Leichenbeschauer, er hat den Totenschein ausgestellt. Frag ihn, wenn du etwas wissen willst.«
»Ich frage keinen zweitklassigen Dorfarzt, ich will es von dir wissen! Du bist die Beste, Jana. Sprich mit mir!«
Philipp verschränkte die Arme vor der Brust. »Komm schon, sag es ihm«, murmelte er. »Je eher wir fertig sind, desto eher können wir von hier verschwinden.«
»Ihr Männer haltet zusammen, das war klar«, beklagte sie sich. »Tatwaffe haben wir keine. Ich kann dir im Moment noch nicht sagen, womit sie so zugerichtet wurde.« Sie blickte kurz zu Körner auf. Ihre Stimmung schien sich zu beruhigen. Während sie die Handschuhe überstreifte und die Bluse des Mädchens vollends entfernte, sprach sie weiter. »Sieht so aus, als wären fremde Haare, Blutspuren, Horn- und Knochensplitter im Körper, die nicht zur Leiche gehören. Die Wundränder sind mit einem braunen Saft durchsetzt. Definitiv kein Maschinenöl! Eine DANN-Typisierung im Labor wird uns mehr sagen.«
»Okay, was noch?«
»Eine Punktion in der linken Armbeuge. Mit Sicherheit von einer Injektion, die noch keine zwei Stunden alt ist.« Sie schaute auf die Armbanduhr. »Gegen acht. Wahrscheinlich hat sie eine starke Dosis Valium bekommen.«
»Bekommen?«, echote Körner. »Möglicherweise hat sie sich die Spritze selbst gesetzt.«
Sabriski schüttelte entschieden den Kopf. Sie deutete auf die Leiche »Schau her: Der linke Oberarm ist kräftiger, sie ist Linkshänderin. Sie hätte sich unmöglich die Spritze in die linke Armbeuge gesetzt.«
Sabriski packte ihre Instrumente in die Box. »In Ordnung. Ich bin so weit.«
»Alles klar, ich hab alles im Kasten«, ergänzte Basedov.
»Dann los!« Philipp beugte sich über die Leiche. »Vorsichtig!«
Sie ergriffen das Mädchen an den Händen und Füßen und drehten es langsam auf den Rücken.
»Oh, Scheiße!«, fluchte Sabriski. »Das war zu erwarten gewesen.«
Körner blickte rasch zur Seite. Eine Sekunde reichte vollkommen aus, er hatte genug gesehen. Für ihn war das der schlimmste Moment an jedem Tatort. Die Augen des Opfers! Lidschatten und Wimperntusche waren zerronnen, das Rouge auf den Wangen verschmiert. Inmitten dieser Farben waren die Augen weit aufgerissen, genauso wie der Mund. Auf dem Bauch des Mädchens prangte ein ovaler, dunkelvioletter Fleck, mehr hatte er nicht gesehen.
Sabriski schaltete das Aufnahmegerät ein. »Die Wunde ist tief«, diktierte sie, »an die zwanzig Zentimeter, reicht bis in die Bauchhöhle, schwere innere Blutungen, der gesamte Torso ist betroffen. In der Mundhöhle des Opfers steckt ein Knebel … ein Stofftuch, wie es scheint.«
Körner schielte zur Leiche. Philipp zog dem Mädchen mit der Pinzette ein weißes Tuch aus dem Mund und ließ es in einer seiner Plastiktüten verschwinden.
»Interessant.« Er warf Körner die Tüte zu.
Der Knebel sah aus wie eine Platzdecke. Speichel tränkte den Stoff, und in die Ecke waren mit Goldfäden zwei Buchstaben gestickt: BF.
»Was ist das?«, fragte Basedov.
Körner reichte dem Fotografen die Tüte. Der drehte sie im Scheinwerferlicht zwischen den Fingern. »BF- Initialen vielleicht! Womöglich die des Mörders?«
»Hervorragend!« Philipp klatschte in die Hände. »Natürlich! Wir haben ihn! Benjamin Franklin war es! Oh nein, der istja selbst schon tot. Aber Brendan Fräser, der Schauspieler vielleicht?«
»Idiot! Ich wollte nur helfen.« Basedov gab die Tüte an Philipp weiter.
»Dann fotografiere und misch dich nicht ein!«
»He, Ruhe!« Sabriski erhob sich und stand zwischen den beiden. »Phil, nimm die Fingerabdrücke vom Ring, der Uhr und dem Armband der Kleinen.« Sie deutete auf den Schmuck, den die Tote am Handgelenk trug.
»Zu Befehl, Lady.« Philipp machte sich an die Arbeit.
Da hörten sie Schritte und blickten auf. Der Dorfgendarm marschierte quer durch das Lokal. »Wir haben den Radius ausgedehnt«, meldete er Körner.
»Kennen Sie das Opfer?«
Der Gendarm starrte entsetzt auf das Mädchen. »Jesus!«
Schlagartig war er bleich wie eine Wand auf der Intensivstation. Das verzerrte Gesicht der Toten sah noch schrecklicher aus, als die Wunde in ihrem Rücken. »Das ist ja die Krajnik Sabine, die Tochter des Metzgers. Der alte Bert hat den Schlachthof am Ortsbeginn. Seine Tochter ist heute vierzehn Jahre alt geworden.« Der Dorfgendarm fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Sie wäre heute vierzehn geworden«, korrigierte Philipp ihn.
Körner packte den Gendarmen an der Schulter und zog ihn von der Leiche weg. Gemeinsam schritten sie zum Ausgang und traten unter dem Plastikband hindurch ins Freie.
3. Kapitel
Der Regen schlug Körner ins Gesicht; er schnappte nach Luft. Erst jetzt merkte er, wie extrem muffig und schwefelhaltig es in dem Lokal stank. Er blickte über den Dorfplatz, zu der Absperrung, hinter der noch immer das Dutzend Reporter stand und in Kälte und Regen ausharrte, um einen Brocken Information aufzuschn appen.
»Entsetzlich. Wie kann man ein armes, junges Ding so zurichten?« Der Gendarm schüttelte den Kopf.
Da kam Körner eine Idee. »Nehmen Sie Kontakt mit den Leuten von der Presse auf. Lassen Sie sich interviewen, aber zieren Sie sich ein wenig. Nennen Sie nur den Namen des Opfers, und lassen Sie nebenbei die Information durchsickern, die Kleine wurde stranguliert.«
»Stranguliert?« Der Gendarm rieb sich die Knollnase. »Aber …«
»Machen Sie schon!«
Körner stand allein unter dem Vordach der Diskothek und sah dem Gendarmen zu, wie er über den Platz zu den Reportern schritt. Sofort brach das Blitzlichtgewitter los. Bis auf die Journalisten und ein paar uniformierte Beamte, die in schwarze Regenmäntel gehüllt den Platz absuchten, war niemand zu sehen. Keine Schaulustigen hingen an den Fenstern, niemand drängte sich zum Eingang der Diskothek, um einen Blick auf die Leiche zu erhaschen, und niemand schlich sich heran, um Gesprächsfetzen der Ermittler aufzuschnappen. Nicht einmal der Straßenverkehr, der über den Platz führte, musste umgeleitet werden, da ohnehin kein Auto vorbeikam. Einzig der Krankenwagen und das Pressefahrzeug der Reporterin standen auf dem Hauptplatz. Einerseits war das gut, denn so konnten sie ungestört arbeiten, andererseits wusste Körner aus Erfahrung, dass sich der Täter oft in der Nähe des Tatorts unter die Schaulustigen mischte. Viele Fälle waren auf Grund dieser simplen Tatsache gelöst worden. Aber so einfach würde es ihm dieser Killer nicht machen.
Körner blickte zur Kirche hinauf. Der Pfarrer stand auf den Stufen unter dem Vordach und starrte zur Bar. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. War es derselbe Pfarrer wie vor siebenundzwanzig Jahren? Wie hatte er gleich geheißen? Sans, Sauns oder so ähnlich? Er musste mittlerweile an die achtzig Jahre alt sein. Es war merkwürdig, überlegte Körner, als Erwachsener an einem Ort wie diesem zu stehen … als habe er als vierzehnjähriger Junge die Augen für einen Moment geschlossen und eben, fast drei Jahrzehnte später, wieder aufgeschlagen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Berger im blauen Parka aus der Seitengasse marschierte, an deren Ecke sich der Krämerladen befand. In dem Geschäft brannte kein Licht. Hatte es ebenso wie die Tankstelle wegen Regens geschlossen? Verkrümelten sich alle Einwohner in ihre Häuser, sobald die Unwetter einmal heftiger tobten?
»Der Hund ist weg.« Berger wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Ist Ihnen aufgefallen, dass der Dorfgendarm bei den Presseleuten steht? Sollten wir ihn nicht zurückpfeifen?«
Körner grinste. »Ich habe ihm einen Auftrag gegeben, er wird jetzt ein Medienstar. Schnappen Sie ihn sich, wenn er damit fertig ist, und versuchen Sie alles über eine Sabine Krajnik zu erfahren. Das ist unser Mädchen.«
Körner setzte sich ebenfalls in Bewegung. Aus dem Krankenwagen war ein hagerer, junger Mann im Steppmantel geklettert. Er hielt einen dampfenden Kaffeebecher in der Hand, reckte den Hals und blickte sich auf dem Platz um. Die langen Haare, welche die Hälfte seines Gesichts verdeckten, ließen ihn wie einen Studenten aus reichem Hause erscheinen.
Bloß keine Vorurteile, ermahnte sich Körner und hielt auf ihn zu.
»Körner, Morddezernat vom Landesgendarmeriekommando Wien«, stellte er sich vor. Der Junge war ebenso groß wie Körner und starrte ihn herausfordernd an.
»Haben Sie die Fotos an die Polizei gefaxt?«
»Ich habe die Bilder an die Redaktion gemailt.« Der Pressefotografstrich sich die Haare aus der Stirn. »Die haben die Fotos an den Posten Neunkirchen gefaxt.«
»Verstehe.« Körner nickte. »Weshalb waren Sie heute Morgen hier?«
»Muss ich Ihnen das sagen?« Der Junge nippte am Becher.
Körner nickte stumm. Wie schon so oft, war er an einen Schlaumeier geraten. Diese Art Reporter kannte er zur Genüge. Sie hielten sich für gewieft, dachten sie könnten allein mehr Informationen über den Fall sammeln und der Polizei ein Schnippchen schlagen. Im Grunde gab es nur zwei Arten von Journalisten: Diejenigen, die mit der Polizei zusammenarbeiteten, und jene, die es nicht taten. Körner hasste die Letzteren - und sie hassten ihn.
Der Junge wollte sich abwenden.
»Sie bleiben hier!« Körners Stimme hatte einen eisigen Ton angenommen.
Der Bursche starrte ihn an. Regen fiel ihm in den Becher. »Ich muss Ihnen nichts sagen«, wiederholte er.
»Doch! Sie sind mein Hauptverdächtiger. Sie haben kein Alibi!«
»Was?« Dem Fotografen fielen die Augen aus dem Kopf. »Ich war mit Franka hier, unserer Reporterin. Sie sitzt im Auto«, sprudelte es aus ihm heraus, während er auf den Krankenwagen deutete. »Wir bekamen einen anonymen Anruf in die Redaktion: Etwas Schreckliches werde in den Morgenstunden passieren. In der Disco in Grein. Franka nahm mich mit. Wir fuhren sofort los. Ich war die ganze Zeit hier draußen. Sie lief vor, sah durchs Fenster und rief: Hol die Polizei, hier passiert gleich ein Mord!«
»Aber das haben Sie natürlich nicht getan, sondern erst mal hübsch abgewartet, bis der Mord tatsächlich passiert war, und anschließend die Leiche für Ihre Redaktion fotografiert.« Körner drückte dem Jungen den Finger auf die Brust. »Ich hänge Ihnen Beihilfe zum Mord an!«
»Nein! Was erzählen Sie da? Ich stürzte zu Franka ins Lokal, und da war es schon passiert. Sie stand vor der Leiche.«
»Und Sie haben drauflosgeknipst. Stehen Sie auf Leichenfotos?«
»Nein, verdammt! Ich hielt die Kamera in der Hand. Ein Reflex! Ich bin Fotograf!«
»Sie haben die Tür aufgebrochen, um an Ihre Fotos zu kommen! Machen Sie das öfter?«
»Zum Teufel nein! Was wollen Sie mir da anhängen? Die Tür zum Lokal stand offen. Wir kamen zu spät und sahen nur noch die Tote.«
»Vielleicht war sie noch gar nicht tot. Unterlassene Hilfeleistung!«
»Mann, sie war tot! Das hat man doch gesehen!« Die Hand des Jungen vibrierte, der Kaffee schwappte über den Becherrand. Körner schmunzelte.
Da stieg dem Burschen die Zornesröte ins Gesicht. »Oh, Mann! Sie haben mich reingelegt. Ich bin gar nicht verdächtig.«
»Schlaumeier!«
»Arschloch.«
Körner grinste. »Wie spät war es, als Sie die Leiche fanden?«
»Ich sollte Ihnen nichts mehr sagen.«
»Sie haben mir schon genug verraten. Wollen Sie mit aufs Revier?«
»Fünf Minuten nach acht. Die Kirchenglocke läutete, als wir ankamen.«
Körner überlegte. »Wenn Ihre Kollegin den Mord durchs Fenster beobachtet hat, bedeutet das, wir haben eine Augenzeugin und die exakte Tatzeit. Perfekt! Ich danke Ihnen.«
Der Fotograf verzog das Gesicht. »Ihr geht es nicht besonders. Sie steht unter Schock und spricht nicht.«
»In Ordnung, ich sehe sie mir an.« Körner ging um den Krankenwagen herum.
»Warten Sie noch einen Moment.« Der Junge trat von einem Bein aufs andere. Mit einem Mal hatte er seine Lässigkeit verloren. Er sah Körner flehend an.
»Ich weiß nicht, was Franka gesehen hat, aber es muss schrecklich gewesen sein. Möglicherweise hat sie den Mörder gesehen, aber der Mörder hat bestimmt auch sie gesehen.«
Körner wusste, worauf der Junge hinauswollte. »Wir stellen Ihre Kollegin nicht unter Polizeischutz, das ist nicht notwendig. Aber wenn es Sie beruhigt, wird ein Gendarmeriebeamter im Wagen mitfahren. Wenn sie unter Schock steht, bringen wir sie in das Nervenkrankenhaus nach Kierling. Das ist sowieso eine abgeschlossene Anstalt, aber zur Sicherheit können wir einen Beamten vor der Tür postieren. In Ordnung?«
Der Junge nickte. Körner merkte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Eine Hand wäscht die andere. Vielleicht hatte der Bursche die Lektion gelernt und würde demnächst freiwillig mit der Kripo zusammenarbeiten. Er ließ ihn allein im Regen stehen und marschierte um den Wagen herum. In der Fahrerkabine saßen ein junger Mann mit Brille und ein Rot-Kreuz-Helfer, der seine Zeitung über dem Lenkrad auseinander faltete. Der Notarzt und sein Fahrer, zwei Grünschnäbel - das konnte was werden! Körner dachte an die Journalistin. Scheiße! Seine einzige Augenzeugin stand unter Schock und konnte nicht reden. Er musste sie zum Reden bringen, auch wenn es nur für eine Minute war. Das würde den Fall innerhalb weniger Stunden lösen, und er konnte aus diesem Ort abhauen. Er hatte Fälle erlebt, bei denen Kripobeamte drei Wochen in einem Ort festhockten. So etwas hätte ihm gerade noch gefehlt.
Die beiden Hecktüren des Krankenwagens standen nach wie vor offen. Auf der Liege saß die Frau mit dem schwarzen Lockenschopf, bis zum Kinn in eine karierte Steppdecke eingehüllt. Körner schätzte sie auf Anfang dreißig. Die Reporterin hatte ein schlankes, attraktives Gesicht und wirkte auf den ersten Moment nicht wie ein schüchternes Mädchen, sondern wie eine selbstbewusste und schlagfertige Frau, die wusste, was sie wollte.
Einzig der Ausdruck ihrer Augen passte nicht dazu - der abwesende Blick verlor sich an der Decke des Wagens. Sie starrte mit aufgeklapptem Mund ins Licht und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Worte waren es nicht einmal, es klang eher nach einem monotonen Singsang, als wolle sie ein Baby beruhigen.
Körner stützte ein Bein auf die ausgeklappte Treppe und reckte den Oberkörper ins Wageninnere, um nicht nass zu werden. Der Regen pochte eintönig auf das Wagendach. »Was hat sie gesagt?«
»Nichts.« Der Arzt, der vor der Liege auf einem Hocker saß, packte die leeren Ampullen weg, ohne weiter auf Körners Frage einzugehen.
War das der Dorfarzt, den Jana Sabriski zuvor erwähnt hatte? Aus Erfahrung wusste Körner, dass Apotheker und Landdoktoren nur ungern mit Kripobeamten zusammenarbeiteten, weil sie neben den Gerichtsmedizinern ständig die zweite Geige spielten, von ihnen herumkommandiert wurden und bloß den Papierkram erledigen durften. Hier war es nicht anders. Der Mann fungierte als Leichenbeschauer, stellte Sabine Krajniks Totenschein aus und durfte sich anschließend um die geschockte Augenzeugin kümmern. Ein undankbarer Job, aber so war es nun mal, wenn Leichen auftauchten.
Der Arzt trug einen ausgewaschenen Pullover, ein kariertes Hemd und eine ausgeblichene Flanellhose, so, als sei er direkt vom Frühstückstisch eines Männerheims geholt worden. Auf dem Aluminiumkoffer, der neben der Liege stand, las Körner den Namen des Arztes.
»Kann ich mit der Frau sprechen, Doktor Weber?«
Der Arzt blieb unbeeindruckt. Er schüttelte den Kopf. Nachdem er seine Utensilien voll stoischer Ruhe im Koffer verstaut hatte, bedachte er Körner mit einem forschenden Blick. Die Statur des Mannes und seine Bewegungen wirkten jugendlich, doch in seinen Augen sah Körner, dass er schon über fünfzig sein musste. Er hatte kantige Gesichtszüge und ein vernarbtes Gesicht, die Folgen pubertärer Akne, die er niemals wegbekommen würde. Das dichte Haar war kurz geschnitten und stand ihm in wirren Büscheln vom Kopf ab, doch irgendwie sah er damit sogar lässig aus - zumindest hätte Harrison Ford für diese Frisur zwei Stunden im Schminkraum sitzen müssen.
»Die Frau ist nicht vernehmungsfähig, sie braucht Ruhe.« Der Arzt presste die Lippen aufeinander.
»Ich muss mit ihr sprechen, ich brauche nur eine Minute.«
»Vergessen Sie es. Keine Chance!« Doktor Weber erhob sich und wollte den Wagen verlassen, doch Körner wich nicht von der Stelle.
Der Arzt fixierte Körner. »Was wollen Sie von mir?« Er setzte sich wieder hin. »Hören Sie! Ich wäre schon vor einer Stunde hier fertig gewesen, doch Ihre Ermittlerkollegen und der Rot-Kreuz-Fahrer sagten mir, der Wagen dürfe erst fahren, wenn Sie mit mir gesprochen haben. Sie hätten ja auch mit dem Notarzt reden können, doch der Bursche weiß nicht mal, wie man eine Spritze setzt. Wo haben Sie den bloß aufgegabelt?« Demonstrativ blickte er auf die Armbanduhr. »Nun, jetzt haben Sie ja endlich die Zeit gefunden, sich zu mir zu bequemen. Es gibt nichts zu sagen: Die Frau braucht Ruhe, das ist alles. In der Ordination wartet genug andere Arbeit auf mich, und ich habe Kopfschmerzen. Das verdammte Wetter!« Er kniff die Augen zusammen und massierte sich die Schläfen.
Körner bemerkte die abgezogenen Folien, die auf dem Boden verstreut lagen. »Was haben Sie ihr gegeben?«
»Je ein Milligramm Haldol. Das war schon die sechste Injektion. Sie ist erst jetzt ruhig geworden. Sonst noch was?«
Die Reporterin wippte nach vorne und zurück und starrte dabei immer noch zur Deckenlampe. Unter dem Kopfkissen lugte ein Blatt Papier hervor.
»Was ist das?«
Doktor Weber kramte den Zettel raus. »Sie wollte sprechen, brachte aber keinen Ton heraus - die Wirkung des Schocks. Sie erwischte das Fahrtenbuch und schmierte das auf ein Blatt Papier.« Der Arzt reichte ihm die Zeichnung.
»Als sie ihre eigene Zeichnung sah, regte sie sich dermaßen auf, dass ich ihr das Blatt wegnehmen musste.«
Körner betrachtete das Bild. Der Zettel war zerknüllt, die Tinte des Kugelschreibers verwischt. Undeutlich war eine Person auf der Zeichnung zu erkennen: ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Durch die ausgebreiteten Arme des Mädchens gewann das Motiv etwas Religiöses. Eine wirre Kritzelei stellte den Hintergrund des Bildes dar. Körner wusste, was sie bedeuten sollte. Ihm rieselte ein Schauer über den Rücken. Er selbst hatte das düstere Eisengestell in der Bar gesehen. Die Seile und Flaschenzüge waren auf der Zeichnung nur angedeutet, aber mit etwas Phantasie konnte man sogar die Lederriemen erkennen. Mehr war nicht zu sehen. Kein Hinweis! Kein Mörder! Doch er war sich sicher, dass sie den Täter gesehen hatte, denn auf dem Bild sah das Mädchen aus, als sei es noch am Leben. Die Kritzelei zeigte die letzten Sekunden vor ihrem Tod.
»Ich behalte das Bild.« Körner faltete die Zeichnung zusammen.
»Gern. Sie entschuldigen mich?« Der Arzt stand auf und drängte sich an Körner vorbei.
Wenigstens hatte er eine Augenzeugin, auch wenn sie im Moment nicht vernehmungsfähig war. Das würde sich innerhalb der nächsten Tage ändern, möglicherweise schon heute Abend. Er besprach einige Details mit dem Fahrer und fand aus dem Neunkirchener Team einen Gendarmen, der die Journalistin auf ihrer Fahrt nach Kierling begleitete. Der Notarzt wechselte in den Ambulanzbereich, und Körner sah dem Krankenwagen zu, wie er am Dorfplatz wendete. Die Beamten schoben die Absperrung beiseite und ließen das Fahrzeug passieren. Mit Blaulicht verschwand es im Regen.
Körner stand wieder unter dem Vordach der Diskothek, als Berger keuchend zu ihm lief und berichtete, was sie in Erfahrung gebracht hatte.
»Sabine Krajnik wäre heute vierzehn Jahre alt geworden. Das neue Schuljahr hat gerade begonnen, sie ging in Neunkirchen in die vierte Klasse der Sporthauptschule. Der Unterricht beginnt um acht Uhr. Für gewöhnlich nahm sie den Schulbus um fünf Minuten nach sieben, der fünfzig Minuten später in Neunkirchen ankommt. Die Haltstelle ist am Dorfende gegenüber der Tankstelle.« Berger nickte die Straße hinunter, die sie in den Ort gebracht hatte. »Ach ja, die Tankstelle ist übrigens geschlossen, weil Toni, der Tankwart, als freiwilliger Helfer am Deich arbeitet. Die Einwohner bereiten sich auf ein Hochwasser vor.«
»Was noch?«
Berger blätterte in ihrem Block. »Sabine Krajnik hatte wenige Freunde im Ort. Sie war weder Mitglied im Kirchenchor noch in einem der ortsansässigen Vereine und kellnerte auch in keinem der Heurigen, wie es für die Mädchen in ihrem Alter üblich ist. An den Wochenenden traf sie sich gelegentlich mit Schulfreunden in Neunkirchen, dort müssten wir nachhaken. Außerdem gibt es in dem Ort nur einen Jungen, zu dem sie näheren Kontakt hatte, doch unser Dorfpolizist weiß nicht, wie er heißt.«
»Heiße Spur!« Körner verzog spöttisch das Gesicht. »Die Eltern?«
»Der Vater ist Metzger, die Mutter Hausfrau. Sie ist berühmt für ihre Kekse und Kardinalschnitten. Damit versorgt sie bei den Feuerwehrfesten den gesamten Ort.«
»Was ist mit der Bar?«
»Die Gaslight Bar sperrt nur am Samstagabend auf, wochentags ist das Lokal geschlossen. Der Besitzer ist ein gewisser Chuck Rainer, ein DJ, der weitere Lokale in der Steiermark hat und nur am Wochenende nach Grein kommt. Er wohnt in der Nähe von Graz. Das ist nicht weit entfernt, er könnte unser Mann sein.« Berger klappte den Block zu.
»Es ist Montagmorgen und die Kleine müsste auf dem Weg zur Schule sein«, überlegte Körner laut. »Was wollte sie um acht Uhr morgens in der Bar? Wie kam sie rein? Wie kam der Täter hinein? Warum war die Tür offen, als die Reporter kamen? Wer hat einen Schlüssel zum Lokal?« Er nickte seiner Kollegin zu. »Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. In der Zwischenzeit geben wir eine Fahndung nach Chuck Rainer an alle Dienststellen.«
Berger schrieb in ihrem Block.
»Was sagt Ihnen Ihr Instinkt?«
Sie sah auf, als habe sie nicht mit dieser Frage gerechnet. »Die Leute im Ort sind merkwürdig: der Gendarm, der Dorfarzt und die Wirtin vom Gasthaus gegenüber. Es ist komisch, ich komme mir vor wie in einer kleinen verschworenen Gemeinde, als hätten hier alle etwas zu verbergen … als fürchteten sie die Polizei.«
Körner lächelte gequält. »Da erzählen Sie mir nichts Neues. Die fürchten sich vor allem, was von außerhalb in ihr kleines Dorf kommt.«
»Im Ort erzählt man sich …« Berger zögerte, als überlege sie, ob sie überhaupt weitersprechen solle. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Dass es um die kleine Krajnik nicht schade sei, die hatte sowieso eine Macke, ihre Eltern sind angeblich miteinander verwandt.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, entfuhr es Körner. Er schüttelte den Kopf. Wieder einmal die alten Gerüchte, dass in diesem Ort jeder mit jedem ins Bett stieg. In Grein verging kein Tag, an dem nicht ein neuer Klatsch am Stammtisch erfunden wurde.
Irgendjemand hatte immer eine Affäre mit jemand anderem, und es war die Rede von Kuckuckskindern und inzestuösen Verbindungen. Nichts hatte sich verändert, die Menschen wurden einfach nicht schlauer. »Beschränken wir uns auf die Fakten«, sagte er schließlich.
Als die Mittagsglocken läuteten, kamen Basedov, Jana Sabriski und Rolf Philipp aus der Diskothek.
»Frische Luft!« Philipp streckte die Arme von sich und bog das Kreuz durch. Seine Rückenwirbel knackten, und er stöhnte gequält auf, als habe er die letzten Stunden kriechend auf dem Boden verbracht, was der Wahrheit ziemlich nahe kam.
Die Gendarmen ließen den Leichenwagen vorfahren, und Sabriski unterzeichnete das Protokoll. Sabine Krajniks Leiche wurde der Gerichtsmedizin überstellt und zur Wiener Pathologie in die Sensengasse abtransportiert. Wie üblich machte Philipp seine blöden Scherze über das Wortspiel Pathologie - Sensengasse, doch niemand lachte.
Jana Sabriski hob die Hand zum Gruß. »Mein Wagen parkt hinten. Ich fahre gleich los.«
»Wie lange wirst du brauchen?« Körner blickte auf die Uhr.
»Kommst du zur Obduktion?«
»Ja.«
»Dann brauche ich zwei Monate.«
»Gönnt euch mal eine Pause«, fuhr Philipp dazwischen. »Das ist ja ekelhaft, euch beiden zuzuhören. Jana, ich fahre auch gleich mit, und Basedov soll die Fotos machen. In drei Stunden sind wir fertig. Ist das okay für dich, Lady?«
Sabriski nickte widerwillig. »Du bekommst den Bericht noch heute«, sagte sie zu Körner.
»Kommt der große Detektiv zur Obduktion?« Philipp zuckte anzüglich mit der Augenbraue, als wolle er Körner mit Sabriski verkuppeln.
Körner stieg in das Geplänkel nicht ein. »Mal sehen. Berger und ich haben hier noch einiges zu erledigen. Wir hören uns im Ort um. Ich möchte wissen, wer das Mädchen zuletzt lebend gesehen hat.«
»Das kann ich dir sagen.« Philipp kam auf Tuchfühlung heran.
Erst jetzt roch Körner Philipps aufdringliche Mischung aus Rasierwasser, Eau de Cologne und Pfeifentabak.
»Wer?«
»Der Mörder.« Philipp grinste und klopfte Körner auf die Schulter. Dieser sparte sich aber einen Kommentar darauf.
Philipp deutete zur Diskothek und erklärte: »Wir lassen das Eisengestänge morgen abmontieren und schicken es ins Labor. Die Gendarmen sollen die Eingänge zur Bar plombieren.«
Ein Blitz zuckte am Horizont, Sekunden später grollte ferner Donner. Körner fuhr zusammen, und eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Er spürte, wie ihm der nasse Pullover am Körper klebte.
»Sauwetter!« Philipp stopfte seine Pfeife, schirmte sie mit der Hand vor dem Wind ab und zündete sie an.
Körner starrte auf das Streichholz. Wie er Blitze und Feuer hasste! Das Streichholz verlosch im Rinnsaal und wurde weggespült. Wenn er seine Kindheitsängste doch nur genauso wegspülen könnte.
Da klingelte ein Handy dumpf aus einer der Manteltaschen. Sie sahen sich gegenseitig an. Körner wusste, seines war es nicht. Erst als er die Melodie eines bekannten Walt-Disney-Zeichentrickfilms erkannte, sah er Basedov in der Tasche kramen. Typisch! Bestimmt hatten Basedovs Kinder ihm den Klingelton aufs Handy gespielt. Seine eigene Tochter würde das nie tun, dazu sahen sie sich zu selten. Körner kaute an der Lippe. Oder ließ er sie nicht nahe genug an sich heran? Nein, Verena interessierte sich mittlerweile für ganz andere Dinge. Gedankenverloren hörte er dem Fotografen zu.
»Ja?« Basedov presste das Telefon ans Ohr. »Ich bin unterwegs. Nein, ich komme später heim, gegen vier.«
Er beendete die Verbindung und zuckte verlegen mit den Achseln. »Meine Frau. Keine Sorge, Alex, du bekommt die Fotos noch heute Abend.«
Danach verschwanden sie der Reihe nach mit ihren Autos, und der Platz war wie leergefegt. Körner sah den Rücklichtern nach. Endlich waren sie weg. So gern er Phil und Basedov mochte, aber manchmal war das Duo ganz schön anstrengend.
»Wissen Sabines Eltern schon Bescheid?«, fragte er Berger.
Sie stopfte die Hände in den Parka und machte ein betrübtes Gesicht. »Der Dorfgendarm hat es ihnen jedenfalls nicht erzählt.«
Körner blickte zur Kirchturmuhr. Eigentlich war es Zeit zum Mittagessen. »Haben Sie Hunger?« Berger schüttelte den Kopf.
Auch Körner würde im Moment keinen Bissen herunterbekommen. »Dann sehen wir zu, dass wir ein paar Leute kennen lernen. Fangen wir mit den Krajniks an.«
4. Kapitel
Der Nieselregen hatte nachgelassen, und die schwarze Wolkenfront war immer noch nicht aufgebrochen. Obwohl es erst Mittag war, konnte man glauben, die Abenddämmerung senke sich wie ein Mantel über das Land. Dazu kam die merkwürdige Stille, die den Ort einhüllte, als schlummere Grein in einem Dornröschenschlaf. Die einzigen Lebenszeichen rührten von ein paar herrenlos streunenden Hunden und Katzen, die geängstigt vom fernen Donnergrollen von einer Häuserecke zur nächsten jagten.
Körner zählte die Hausnummern ab, während sie die Straße hinuntergingen. Die Kriminalpsychologin hatte ihm die Adresse der Krajniks genannt, und weit konnte es nicht mehr sein, da sie bald am Ortsbeginn anlangen würden.
Mit einem Mal fuhr Berger herum. »Da ist der Hund wieder!«
Der rotbraune Setter sprang über den Zaun und lief ihnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegen. Das Tier hielt den Schwanz eingezogen und schnupperte an der Hausmauer, dann lief es weiter.
»Was der wohl in der Diskothek wollte?« Berger strich sich das nasse Haar aus der Stirn. »Fällt Ihnen auf, dass uns keine Schaulustigen beobachten?« Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und versuchte in eines der Fenster zu spähen, doch die Vorhänge waren zugezogen. »Haben die Urlaub oder Ferien? Sind sie geflüchtet? Wurden sie evakuiert?«
Körner gab ihr keine Antwort. Ihm ging etwas anderes durch den Kopf. »Wir sind da«, sagte er, als er das Einfamilienhaus mit dem alten Schlachthof entdeckte, das entlang eines schmalen Grundstücks verlief. Wie die meisten Häuser im Ort stammte auch dieses verwinkelte Bauwerk aus den frühen sechziger Jahren. Die Fenster waren vernagelt, und der Wind hatte einen Großteil der Dachschindeln abgetragen. Aus der angrenzenden Halle dröhnte das Muhen von Kühen. Ein Zaun fehlte, und die Wiese war vom Regen so durchnässt, dass sie einem großen Schlammloch glich.
»Haben Sie einen Geist gesehen?«, fragte Berger.
Körner starrte zur Ortstafel, die unterhalb der Straße zu sehen war. Daneben stand die gelbe Hütte der Bushaltestelle und gegenüber lag Tonis Tankstelle mit einer einzigen Zapfsäule. Da es aufgehört hatte zu regnen, würde Toni wohl wieder hinter der Kasse sitzen. Irgendetwas passte nicht zusammen, die Zeitfolge des Tathergangs, wie sie heute Morgen hätte ablaufen müssen, wollte ihm nicht in den Kopf.
»Warum ist die Kleine nicht um sieben Uhr früh in diese Richtung zum Bus gegangen?«, murmelte er. »Weshalb ist sie stattdessen eine Stunde später in die andere Richtung zum Kirchenplatz marschiert?«
»Wir werden es rausfinden.« Berger wollte die Stufen zur Eingangstür nehmen, als diese von innen aufgestoßen wurde. Ein kräftiger, groß gebauter Mann stand im Türrahmen. Er wandte ihnen den Rücken zu, während er mit jemandem im Vorraum sprach.
Berger zupfte Körner am Mantel. »Ist das Sabines Vater?«, flüsterte sie.
»Nein, der Bürgermeister.« Ihm stockte der Atem. »Meine Güte ist der alt geworden.«
Die Eingangstür fiel ins Schloss und der Bürgermeister der beiden Gemeinden Grein und Heidenhof drehte sich unter dem Vordach zu ihnen um. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und musterte sie von oben herab. Während er im Trockenen stand, peitschte der Wind Körner und seiner Kollegin aus der Dachrinne das Regenwasser ins Gesicht. Eine ungünstigere Situation für ein Wiedersehen hätte es wohl kaum geben können. Körner liebte solche Zufälle.
»Doktor Weißmann. Noch immer in Amt und Würden?« Körner vergrub ebenfalls die Hände in den Taschen und blickte zu dem großen Mann empor.
Der Bürgermeister sagte nichts. Scheinbar überlegte er, welcher Schublade er Körner zuordnen solle. Auf seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen, nichts, was man hätte deuten können. Dr. Heinrich Weißmanns Haut wies eine ungesunde Solariumsbräune auf, die nicht zu seinem Alter passte, da seine buschigen Augenbrauen genauso ergraut, nahezu weiß waren, wie der Haarkranz und der schmale Bart, der sein rundes Gesicht umrahmte. Mit diesem Auftreten hätte er über Renten- und Investmentfonds an der Universität dozieren können. Wie Heinrich Weißmann tatsächlich zu seinem Doktortitel gekommen war, wusste Körner nicht. Jedenfalls war er einer der wenigen Akademiker Greins und deshalb schon seit jeher Bürgermeister der Marktgemeinde. So weit Körner sich erinnerte, machte Weißmann seine Arbeit nicht übel, denn im Ort hatte jeder Respekt vor ihm, und das dürfte sich bis heute nicht geändert haben. Außerdem gab es in Grein bestimmt nicht viele brauchbare Kandidaten für dieses Amt.
»Der Sohn der Gstettner Lisi«, stellte der Bürgermeister schließlich mit sonorer Stimme fest. Für einen Außenstehenden musste es eine Spur geringschätzig geklungen haben. Körner wusste, es war geringschätzig. Zudem war es eine alte Sitte der Dorfbewohner, Namen zu verstümmeln. Und das hasste er! Aus Josef wurde Peppi, aus Johann Hansi, und aus Magdalena Leni.
»Meine Mutter hieß Elisabeth Körner«, brachte er hervor. Gstettner war ihr Mädchenname gewesen, und den Dorfbewohnern würde sie ewig als Gstettner Lisi in Erinnerung bleiben.
»Ja, ich erinnere mich dunkel, sie hat den Wiener geheiratet, diesen Körner.« Der Bürgermeister wedelte mit dem Arm.
Diesen Körner! Er ballte die Hand zur Faust. Weißmann beherrschte es perfekt, in seiner herablassenden Art nur wenige Worte zu sagen, bei denen man die Wände hochgehen konnte. Dieser Körner war immerhin sein Vater, auch wenn seiner Mutter nachgesagt worden war, sie habe ein Verhältnis mit einem um viele Jahre jüngeren Burschen aus dem Ort gehabt. Am Stammtisch zerriss man sich damals das Maul darüber. Dieses Gerede blieb selbst einem Vierzehnjährigen nicht verborgen. Irgendjemand war immer das Gespött der Schule, manchmal Wolfgang Heck und manchmal eben der schmächtige Alexander Körner. In der Klasse und am Schulhof wurde viel über ihn getratscht, und meist über seine Mutter gelästert. Die Schüler der Oberstufe ließen nichts aus, und Schlampe war noch das harmloseste Wort, das in den Raucherecken fiel. Immer wieder schnappte er die verschiedensten Gerüchte auf, und eines Tages glaubte er sie selbst - und plötzlich passte alles wunderbar zusammen: Ständig hockten Bauern, Wildhüter und die Männer der Freiwilligen Feuerwehr bei ihnen zu Hause auf der Küchenbank und tranken einen Schnaps um den anderen, während seine Mutter Marmelade kochte, das Wild der Jäger tranchierte und im Keller einfror. Sie ging nie zur Arbeit und war ständig zu Hause. Sein Vater war todunglücklich über dieses Leben, doch ohne die Kraft, es zu ändern. Er arbeitete als Bauleiter für die Gemeinde in Neunkirchen. Auch er, der Herr Ingenieur aus Wien, war manchmal das Gespött des Ortes, doch dabei ruhig und introvertiert, und so ließ er das Gerede über sich ergehen. Körner hätte sich einen stärkeren Vater gewünscht. Für einen Moment kam ihm ein merkwürdiger Gedanke. War das der Grund gewesen, weshalb er sich nach seinem Militärdienst bei der Kriminalpolizei gemeldet hatte? Suchte er damit die Schwäche seines Vaters wettzumachen?
»Sie lassen sich nicht oft hier blicken. Eigentlich nie, um genau zu sein. Der alte Apfler pflegt das Grab Ihrer Eltern«, stellte der Bürgermeister fest.
Der nächste Seitenhieb, wie beiläufig ausgesprochen, klang erneut wie eine Anschuldigung. Körner schwieg. Er war nicht hier, um alte Fehden weiterzuführen.
»Wie mir zu Ohren kam, haben Sie Karriere bei der Kriminalpolizei gemacht. Weshalb sind Sie nicht in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten? War das Baugewerbe zu hart für Sie?«
»Wir sind hier, um mit Sabine Krajniks Eltern zu sprechen.« Körner bemühte sich um einen sachlichen Ton. Er würde sich von Weißmann zu keinem emotionalen Ausbruch hinreißen lassen.
Der Bürgermeister machte einen Schritt die Treppe hinunter. »Ich gebe Ihnen und Ihrer Kollegin einen Rat: Lassen Sie die Eltern in Ruhe, das sind anständige Leute. Ihr Zirkus, den sie am Hauptplatz veranstalten, macht die Kleine nicht lebendig.«
Körner merkte, wie seine Kollegin neben ihm unruhig von einem Bein aufs andere stieg. Mit derartigen Aussagen waren sie bisher schon einige Male konfrontiert worden. Er berührte sie sacht am Arm, damit sie schwieg. »Ich bin nicht hier, um das Mädchen wieder lebendig zu machen, aber sie wurde von ihren Eltern vierzehn Jahre lang aufgezogen. Eines Tages hätte sie vielleicht selbst eine Familie gegründet und Kinder bekommen. Sie haben einen Mörder im Ort, und ich werde ihn finden.«
Furchen traten auf Weißmanns Stirn, und es war unschwer zu erkennen, was sich in seinem Kopf abspielte. Als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde hatte er gelernt, sich mit Kompromissen und schwammigen Zusagen durchzumogeln und es jenen Personen Recht zu machen, die in Grein das Sagen hatten. Er war der Typ, der alles Unangenehme im Ort so rasch wie möglich unter den Teppich kehrte und es gar nicht abwarten konnte, bis alle Gendarmen, Kriminalpolizisten, Spurensucher, Fotografen, Reporter und Gerichtsmediziner aus dem Ort verschwunden waren. Am nächsten Tag würde Gras über die Sache gewachsen sein, alle würden schweigend zur Tagesordnung übergehen und kein Wort darüber verlieren, so, als sei der Mord nie geschehen. So lief das in Orten wie diesem. Aber Körner musste den Mord aufklären, und zwar so rasch als möglich, denn auch er wollte aus diesem Kaff verschwinden. Jede zusätzliche Stunde wühlte in seinem Unterbewusstsein und förderte Erinnerungen zu Tage, die besser verborgen blieben. Er wollte sie wieder vergraben und zuschütten. So lange Jahre hatte es funktioniert, dieser eine Tag durfte nicht alles ruinieren.
»Übertreiben Sie es nicht, Körner.« Mit diesen Worten schritt der Bürgermeister an ihnen vorüber, spannte den Schirm auf und trottete die Straße zum Hauptplatz hinauf.
Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Berger machte keine Anstalten, unter dem Vordach Schutz zu suchen. Sie stand im Regen und sah dem Bürgermeister nach. »Netter Kerl.«
»Ein Arschloch!«
»So kann man es auch formulieren.« Sie nickte. »Ich hätte mir von ihm sowieso keine großartige Unterstützung bei den Ermittlungen erwartet, doch nun habe ich den Eindruck, er wird gegen uns arbeiten. Das verstehe ich nicht. Es muss doch auch in seinem Interesse liegen, den Mörder zu fassen.«
»Interesse!« Körner lachte sarkastisch. »Kein Bürgermeister mag es, wenn Fremde in den Dorfangelegenheiten zu schnüffeln beginnen. Wer weiß, was da ans Tageslicht gebracht werden könnte?«
»Er mag Sie nicht besonders, habe ich Recht?«
»Wir werden noch mehr Leute von dieser Sorte kennen lernen.« Körner ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. Der Schuhabstreifer war genauso abgenutzt wie das Mauerwerk, der Türrahmen und die vernagelten Fensterläden des Hauses. Er betätigte die Klingel. »Übernehmen Sie das Reden«, bat er. »Sie können mit Menschen besser umgehen.«
Das Haus machte von innen einen noch schäbigeren Eindruck als von außen. Im Vorraum roch es nach Blut und Schweinefleisch, offensichtlich führte der Durchgang zum angrenzenden Schlachthof. Der Linoleumboden bog sich an den Seiten auf, und einige Glühbirnen im Vorraum funktionierten nicht. Die Möbel waren bestimmt so alt wie das Haus selbst, und auf den geblümten Tapeten zeichneten sich braune Ränder ab, die von Hochwasser und Überschwemmungen zeugten.
Körner und seine Kollegin standen mit Sabines Eltern in der Küche. In dem Raum hing eine dunstige Hitze: Es roch nach Zwiebeln, Schweiß und muffigen Kleidern. In den Kochtöpfen brodelten alte Putzlappen, die ausgekocht wurden, aus dem Backrohr drang der Mief von heißem Bratenfett und auf dem Fenstersims standen Dutzende Marmeladegläser, auf denen sich eine Schar von Fliegen tummelte. An den beschlagenen Fensterscheiben lief das Kondenswasser herunter und sammelte sich in der Mauerecke, wo bereits schwarzer Schimmel wucherte. Körner ekelte sich, er wollte so rasch als möglich verschwinden. Tief durchatmen! Er stand neben dem Fenster und beobachtete Bert und Marga Krajnik, während Berger sie kurz über die Fakten des Falls informierte. Der Bürgermeister hatte ihr bestimmt die meiste Arbeit abgenommen, denn die Eltern reagierten mit einer unerwarteten Lethargie auf Bergers knappe Worte.
Sabine Krajniks Vater war ein Bär von einem Mann, dem Körner zutraute, dass er allein ein Schwein niederhalten und mit dem Bolzenschussapparat töten konnte. Er trug nichts weiter als fleckige Jeans, ein Stoffhemd mit aufgerollten Ärmeln und eine blaue Schürze. Seine Unterarme waren dicht behaart, und die Brustbehaarung reichte ihm bis zum schlecht rasierten Hals. Schwarze Ringe lagen unter seinen Augen, als sei er in den letzten Wochen nur zu wenigen Stunden Schlaf gekommen. Nachdem Sonja Berger ihren Bericht beendet hatte, ließ er einen Schluck Leitungswasser in eine Kaffeetasse laufen und trank davon. Körner traute seinen Augen nicht: Von einem kristallklaren Wasser konnte nicht die Rede sein, es hatte einen trüben Grau ton.
Berger räusperte sich. »Ich würde das Wasser vorher abkochen.«
»Ach was«, brummte der Metzger. Er nippte wieder an der Tasse.
Körner wurde übel. Wo war er hier? Merkte der Mann nicht, dass die Schmeißfliegen die Tasse umschwirrten und über ihren Rand krochen, während er davon trank? Er machte keine Anstalten, die Insekten zu verscheuchen, als gehörten sie zu seinem Lebensalltag dazu.
Seine Frau war einen Kopf kleiner als er und hatte eine stämmige Figur. Ihre rosigen Backen glänzten, und sie wischte sich ständig die Hände in die Schürze. Sie war jene Frau, die sämüiche Besucher der Feuerwehrfeste mit Keksen und Kardinalschnitten versorgte, erinnerte sich Körner. Er glaubte Mehl und Teigreste auf ihrer Schürze zu erkennen. Als sie auf ihren Mann zuging, sah er, dass sie auffällig humpelte, als habe sie eine schiefe Hüfte oder ein verkrümmtes Rückgrat. Vielleicht war es auch nur ein eingeschlafenes Bein, das sie so merkwürdig auftreten ließ.
»Lass das, du bekommst Kopfschmerzen davon.« Sie nahm ihrem Mann die Tasse aus der Hand und stellte sie zu dem restlichen Geschirr in die Abwasch. Dort türmten sich Teller, Töpfe und Essbesteck. Auf Grund der Schmutzränder vermutete Körner, dass sich das Geschirr schon seit Tagen in der Spüle stapeln musste. Er schielte zu Berger. Sie hatte es ebenfalls bemerkt. Er selbst war nicht so zart besaitet, aber mit Sicherheit drehte es Berger gerade den Magen um.
»Ich kann verstehen, dass es Ihnen schwer fällt, über Ihre Tochter zu sprechen, doch was können Sie mir über Sabine erzählen?« Berger hielt den Block in der Hand und klopfte sich mit dem Kugelschreiber auf die Zähne.
Sie warteten. Schließlich begann Marga Krajnik zu reden. »In der Schule war sie gut, es war nie notwendig, zum Elternsprechtag in die Stadt zu fahren. Am Wochenende half sie Bert im Stall, später einmal hätte sie den Hof übernehmen sollen. Wir wollten, dass sie dienstags und donnerstags in den Kirchenchor geht, doch da sie dort niemanden kannte, haben wir sie nicht länger gedrängt. Bert meinte, wir müssten Sabine nur Zeit lassen.«
»Womit beschäftigte sie sich in ihrer Freizeit?«
»Oh, sie konnte wunderbar malen.« Die Mutter lächelte. »Das konnte sie wirklich gut.«
»Zeitverschwendung«, brummte der Vater.
Berger ignorierte den Einwurf. »Hatte sie Freunde im Ort?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Aber mit Tieren konnte sie gut umgehen. Wir haben fünf Katzen am Hof, ein Pferd und einen Hund. Ja, einen Hund auch, das war ihr Liebling.«
»Etwa der Setter, der draußen streunt?«
»Jimbo«, brummte der Vater. »Er ist ein guter Hund.«
»Wann hat sie heute Morgen das Haus verlassen?«, mischte sich Körner in das Gespräch. Er merkte, dass das Gerede zu nichts führte.
»Um sieben Uhr, wie immer.«
»Wohin?«
»Zum Bus.«
»Wann ging der Bus?«
»Fünf nach sieben.«
»Wohin fährt er?«
»Nach Neunkirchen.«
»Hatte sie ihre Schultasche dabei?«
»Ja.«
Die Mutter blickte Körner erschrocken an. War sie endlich aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwacht?
»Wer könnte den Tod des Mädchens gewollt haben?«, fuhr er ohne Zögern fort.
»Niemand.«
»Hatte sie Verehrer?«
»Nein.«
»Traf sie sich mit älteren Männern?«
»Nein.«
»Hatte sie Feinde?«
»Nein. Worauf…?«
»War sie schwanger?«
»Aber wie …?«
»Hatte sie in letzter Zeit Besuch?«
»Ich …«
»Führte sie längere Telefongespräche?«
Bert Krajnik machte einen Schritt auf Körner zu. »Jetzt aber halblang, Freundchen.« Seine Augen funkelten zornig.
Körners Puls raste. Die Trägheit der beiden regte ihn auf, er wollte sie aus ihrem Schlaf reißen und hatte sich selbst zu sehr hineingesteigert. »Ihre Tochter wurde verstümmelt«, fuhr er den Mann scharf an. »Schon Morgen könnte der Killer wieder zuschlagen und sich das nächste Mädchen vornehmen, und Sie tun so, als ob …«
»Körner!« Seine Kollegin starrte ihn mit aufgerissenen Augen ungläubig an.
Scheiße! Er verlor die Kontrolle. Er fuhr sich übers Gesicht und roch seinen eigenen Schweiß. So ein Ausbruch war ihm noch nie passiert. Eigentlich sollten die Krajniks durchdrehen und nicht er! Immerhin lag die Tochter dieser Leute wie ein ausgeweidetes Tier in einer schmierigen Spelunke, und die Eltern benahmen sich, als sei die Hauskatze von einem Auto angefahren worden. Nicht nur, dass die Eltern in einer beklemmenden Lethargie gefangen waren, sie würden auch nicht weiter mit ihnen zusammenarbeiten. Körner kannte das von früheren Gesprächen mit Angehörigen der Opfer. Zu Beginn der Ermittlungen hatten sie das Geschehe;, roch nicht erfasst und wollten sich nicht damit auseinander setzen. Aber diese Leute, denen er gerade gegen-übersLsjife, würden es für immer verdrängen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass ihm der Mord nahe ging. Seine sonstige Distanz zum Opfer war wie weggewischt. Lag es daran, dass seine Tochter gleich alt war und im Nachbarort wohnte? Wie hätte er reagiert, wenn plötzlich zwei Kripobeamte in seiner Küche standen und ihm erzählten, die Rückenwirbel seiner Tochter lägen im Umkreis von drei Metern auf den Holzdielen einer heruntergekommenen Diskothek verstreut?
»Es tut mir Leid«, brachte er hervor. »Meine Tochter wird ebenfalls vierzehn. Sie wohnt im Nachbarort, in Heidenhof. Entschuldigen Sie bitte.«
Die beiden Krajniks sahen ihn stumm an. »Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne«, sagte die Frau. »Sie sind der Sohn der Gstettner Lisi und der Mann von der Schabinger Marli.«
»Ihr Exmann.«
»Dürften wir uns das Zimmer Ihrer Tochter ansehen?«, unterbrach Berger.
Körner atmete tief durch. Er war heilfroh, dass er nicht weiter über seine Familienverhältnisse reden musste.
Marga Krajnik nickte zur Tür. »Sabines Zimmer ist oben, die Treppe rauf, die Tür am Ende des Gangs.«
Die Kriminalpsychologin betrachtete Körner besorgt. »Sie sehen krank aus.«
»Es geht schon wieder.«
Sie stiegen die Treppe hinauf, während die Krajniks in der Küche blieben. Im oberen Stockwerk war die Luft angenehmer, da das Flurfenster gekippt war und der erfrischende Geruch von Regen, Laub und feuchter Erde in den Gang strömte. Als sie über den knarrenden Holzboden gingen, wandte sich die junge Beamtin Körner vertrauensvoll zu. »Am Tatort war keine Schultasche«, flüsterte sie.
»Ich weiß.«
Sie blickte ihn erstaunt an. »Sie haben sich nichts anmerken lassen.«
»Tu ich nie.«
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Wenn ich nicht antworten muss.«
Sie erreichten das Ende des Gangs und standen vor einer geschlossenen Tür. Berger legte die Hand auf die Klinke, öffnete die Tür aber nicht.
»Sie sagten doch, Sie seien schon seit siebenundzwanzigjahren nicht mehr hier gewesen. Waren Sie nie am Grab Ihrer Eltern?«
Körner schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, ob er ausgerechnet heute darüber reden wollte. Vielleicht hätte er eines Tages mit Philipp darüber gesprochen, bei einem Bier in einem verrauchten Lokal nach Mitternacht, doch nicht während der Ermittlungsarbeiten mit einer Kriminalpsychologin, die er erst seit drei Wochen kannte.
»Schon gut, Sie müssen mir nicht antworten.« Sie zog die Tür auf.
»Nein, das ist okay«, sagte er eine Spur zu rasch. Sie stand im Türrahmen und wartete, als habe sie alle Zeit der Welt. Vielleicht sollte er gerade deshalb mit ihr reden, weil er sie so kurz kannte und sie nahezu nichts über ihn wusste. Bei ihr brauchte er nicht den abgebrühten Ermittler zu mimen.
»Ich hatte keine schöne Kindheit«, sagte er.
»Das dachte ich mir.« Sie sah ihn ermutigend an.
»Dorothea war die ältere Schwester meines Vaters. Sie war entsetzt, als er Wien verließ und nach Grein heiratete. Ich war damals erst einen Monat alt, und sie sah mich nur ein- oder zweimal im Jahr. Ich vermute, sie war in mich vernarrt und wollte mich unbedingt diesem Ort entreißen. Keine Ahnung, weshalb.« Er zuckte mit den Achseln. »Wenn man in diesem Kaff aufwächst, besteht das Leben nur aus der örtlichen Blasmusik, dem Kirchenchor, den Feuerwehrfesten und regelmäßigen Kirchenbesuchen. Sie werden die Leute in diesem Ort bald näher kennen lernen, ihre Fassade blättert schnell ab. Dorothea wusste das. Nach dem Unfall meiner Eltern war sie für mich da und wurde mein Vormund ‘…«
Er lächelte. »Sie war eine bildhübsche und intelligente Frau, eine richtige Dame. Ohne sie wäre ich zu meinen Großeltern gekommen und in Grein geblieben. Zum Glück kam es anders. Als ich mit vierzehn zu meiner Tante nach Wien übersiedelte, begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Keine Frage, die Großstadt hat ihre Nachteile, doch endlich entkam ich den ständigen Gerüchten, die mich innerlich auffraßen. Ich habe mit meiner Kindheit abgeschlossen.«
Körner wusste, dass sie nur die Hälfte von dem verstand, was er ihr erzählte, dennoch ließ sie ihn reden - und es tat gut, da er noch nie mit jemandem darüber gesprochen hatte, nicht einmal mit seiner Ex-Frau. Im Gegenteil, diese stammte aus dem Nachbarort und wäre die Letzte gewesen, der er das anvertraut hätte.
»Wie lange lebten Sie bei Ihrer Tante?«
»Nicht allzu lange. Nach dem Tod meiner Eltern verkaufte Dorothea den Besitz, verwaltete das Vermögen und kümmerte sich um alles. Die Frau konnte mit Geld umgehen. Mit neunzehn erhielt ich einen Bausparvertrag und zwei Sparbücher. Im gleichen Jahr maturierte ich, kaufte mir mein erstes Auto, einen dunkelblauen VW Käfer, und eine vierzig Quadratmeter-Mansardenwohnung in Wien.« Er lächelte wieder. »Kein besonders ereignisreiches Leben, aber ich kann von Glück sprechen, dass ich diesen Ort rechtzeitig verlassen habe.«
»Möglicherweise kommen Sie nie wieder hierher. Wenn der Fall abgeschlossen ist, sollten Sie …«
»Das Grab meiner Eltern besuchen«, ergänzte er. »Ja, vielleicht. Wenn wir den Fall gelöst haben.«
Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, jedes Gespräch führte in eine Richtung: zu seinen Eltern - und damit war für ihn das Thema beendet. Er stieß die Tür vollends auf und sie betraten das Zimmer, eine Dachbodenkammer mit abgeschrägter Decke und einem Dachflächenfenster. Es war ein Raum, wie der vieler pubertierender Mädchen. Er sah sich alles an und versuchte ein Gefühl dafür zu bekommen, was für ein Mensch Sabine gewesen sein musste. Erzähl mir etwas über dich, Mädchen. Warum hat sich der Killer ausgerechnet dich ausgesucht’? Es roch nach Parfüm und Nagellack. Der Kleiderschrank stand offen, Blusen, Jeans, Röcke und Pullover hingen an Kleiderhaken, darunter standen Turnschuhe, Pelzstiefel und ein Paar Rollerblades. In der Ecke häuften sich CDs, ein Stapel Notenhefte, daneben lehnte eine Akustikgitarre in einer halb geöffneten Ledertasche. Die Saiten waren für eine Linkshänderin gespannt. Jana Sabriski hatte mit ihrer Vermutung also Recht behalten. Auf dem Bett saßen Hasen und Pandabären aus Stoff und eine an die zwei Meter lange, selbst gehäkelte und vermutlich mit Stoffresten ausgestopfte Schlange. Der Schreibtisch sah weniger aus wie der eines Schulmädchens, sondern eher wie der eines Mannequins. Spiegel, Bürsten, Lippenstifte, Haarspangen, Kajal- und Augenbrauenstifte und Tuben mit Rouge, Lidschatten und Wimperntusche lagen und standen herum. Das Arsenal hätte für die Halloweenverkleidung einer Fußballmannschaft gereicht. Neben dem Tisch lehnte eine Zeichenmappe, worin sich bestimmt ihre Gemälde befanden, die ihr Vater für Zeitverschwendung hielt. Er spähte hinein und blätterte durch ein Dutzend Landschaftsaquarelle, immer wieder das gleiche Motiv: Flüsse, Wälder und die schneebedeckten Bergkämme des Rosaliengebirges.
An der Wand hingen Poster von Nirvana, Puddle of Mudd, Kylie Minogue und Marilyn Manson. Merkwürdig, womit sich die Jugendlichen heutzutage identifizierten. Doch besser, sie ahmten Marilyn Manson und nicht Charles Manson nach - das machte die Sache für ihn als Kripobeamten einfacher.
»Kein Wunder, dass Sabine nicht dem Greiner Kirchenchor beitreten wollte«, kommentierte Berger, als sie die Poster betrachtete. »Kein Song von Marilyn Manson wäre jemals bei der Abendmesse gesungen worden.«
Körner schmunzelte, hob das Poster an und blickte dahinter. Auf der Tapete prangten helle Flecken vom Ausmaß zehn mal fünfzehn Zentimeter. Darüber sah er Löcher, die von Nägeln rührten.
»Fotos?«, fragte Berger, die ihm gegenüber stand und ebenfalls hinter das Poster lugte.
»Bestimmt. Die Frage lautet bloß, was die Bildern zeigten?«
Sie reichte ihm ein gerahmtes Foto, das sie auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Ein rotbrauner Setter war darauf zu sehen.
»Jimbo kennen wir bereits.« Basedov hatte ihn sogar auf einigen Tatortfotos verewigt.
Neben dem Hund saß ein etwa zwölfjähriges Mädchen im Schneidersitz im Gras und lachte in die Kamera.
»Hübsch, die Kleine, nicht wahr?«
Körner nickte. Sabine war braungebrannt, trug einen gelben Bikini und hatte das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine schmale Sonnenbrille saß auf der von Sommersprossen übersäten Nasenspitze, sodass sie frech über den Brillenrand linste.
Körner stellte das Foto zur Seite. »Ihre Eltern sagten, sie sei gegen sieben Uhr mit der Schultasche zum Bus gegangen.« Er deutete in die Zimmerecke. »Die Tasche steht dort.«
Berger öffnete die wuchtige Tragetasche und warf die Schulsachen aufs Bett. »Biologie-, Deutsch- und Mathematikbücher, ein Federpennal und ein Turnbeutel.« Sie zog den Stundenplan aus einem Seitenfach. »Die Schultasche ist für Montag gepackt. Es stehen zwei Stunden Turnen auf dem Plan.« Sie zog die Schnur des Stoffbeutels auf und hielt die Nase hinein. »Die Wäsche ist frisch. Am Freitag und Dienstag gibt es kein Turnen.«
An Bergers Blick erkannte er, dass sie das Gleiche dachte wie er. Sabine wollte an ihrem Geburtstag in die Schule fahren. Ohne die bereits gepackte Schultasche wäre sie also nicht außer Haus gegangen. Er setzte sich aufs Bett und stützte das Kinn auf die Hände. »Was können Sie mir über den Mörder sagen?«
»Der Mörder …« Sie schielte nach oben. »Also, wenn ich den Tathergang gedanklich rekonstruiere, komme ich zu folgenden Fähigkeiten und Kenntnissen, die der Täter haben müsste. Die Fakten sind, dass …«
»Kein Geschwätz von der Polizeischule!«, unterbrach er sie. »Sie halten keinen Vortrag an der Universität. Vergessen Sie die Fakten! Aus dem Bauch heraus: Erzählen Sie mir etwas über den Mörder, jetzt!«
»Er muss handwerklich geschickt sein«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Warum?«
»Weil er mit Eisen und Leder arbeiten kann und etwas von Flaschenzug-Konstruktionen versteht. Vielleicht ist er Mechaniker, Bauarbeiter oder Monteur.«
»Gut, weiter!«
»Möglicherweise besitzt er eine Pornographie-Sammlung mit Schwerpunkt Fesselungen und Sadomasochismus.«
»Weiter! Versetzen Sie sich in das Mädchen! Versetzen Sie sich an den Tatort!«
Sie schloss die Augen. »Der Mord wurde um acht Uhr morgens verübt. Unser Täter ist kein Nachtmensch, sonst hätte er um drei oder vier Uhr früh zugeschlagen. Ich würde sagen Portiere, Fernfahrer, Kellner oder Taxilenker mit Nachtschichten scheiden aus. Sabine war keine gesellige Person, sie flüchtete sich in ihre vier Wände und vermied jeden Kontakt zu den Dorfbewohnern. Was selten zu sehen ist, wird begehrenswert. Unser Mörder muss sie beobachtet haben. Sie war das unauffällige Mädchen, wenn sie an den Wochenenden zu Hause war, wo sie malte und Gitarre spielte, hingegen eine modern gekleidete und hübsch geschminkte junge Dame, wenn sie zur Schule ging, sich mit ihren Freundinnen traf und über Popmusik plauderte. Diesen Moment wartete unser Mörder ab: Montagmorgen! Knapp nach dem Ende der Sommerferien. Er wusste, um welche Uhrzeit sie das Haus verließ, in welche Richtung sie das Haus verlassen würde und wann der Bus ging. Er wusste, dass heute ihr Geburtstag war, denn an diesem Tag war sie besonders reizvoll. Doch …«
Sie stutzte und runzelte die Stirn. »Er muss ihr vorher aufgelauert haben, denn sie hätte das Haus nicht ohne Schultasche verlassen, und die ist noch hier. Eventuell lauerte er ihr im Haus auf, jedenfalls wusste er, wo sie wohnte. Er lockte sie in die Bar, zu der er womöglich einen Schlüssel besitzt. Doch dort wurde er von dem Pressefotografen und dieser Reporterin überrascht. Zweifellos sah ihn die Reporterin. Er konnte also seinen Fluchtweg nur durch die Bar, an den Toiletten vorbei über den Hof nach draußen nehmen. Da er mit keiner Überraschung rechnete, hätte er sein Fahrzeug ohne Probleme am Hauptplatz vor der Bar parken können. Dort stand aber keines. Möglich, dass er und Sabine zu Fuß zur Bar gingen. Oder traf er sich dort mit ihr? Vielleicht gibt es Augenzeugen. Mit ziemlicher Sicherheit konnte er sein Verbrechen nicht so durchführen, wie er es gern getan hätte. Er konnte sein Kunstwerk nicht vollenden, es ist nicht perfekt, und das macht ihn wütend. Möglich, dass es sein erster Mord war, aber wenn wir ihn nicht fassen, bestimmt nicht sein letzter.« Sie öffnete die Augen und blinzelte. Ihre Wangen waren blass, und sie sah Körner erstaunt an. Möglicherweise war sie von sich selbst überrascht.
Körner nickte langsam. »Sie haben mehr drauf, als bloß Artikel zu schreiben.« Sie lächelte leicht.
»Was schließen Sie daraus?«, fragte Körner.
»Er ist ein Ortsansässiger! Ich bin mir sicher, er wohnt in Grein und kennt Sabine Krajnik verdammt gut. Er hat das Verbrechen vorbereitet. Außerdem …« Ihr Gesicht erhellte sich, als sei ihr ein brillanter Gedanke gekommen. »Außerdem ging er so weit, selbst die Presse anzurufen, um sie von seiner Tat zu informieren.«
Körner sah sie mit großen Augen an. »Sie glauben, er war der anonyme Anrufer?«
»Er braucht den Nervenkitzel. Für ihn ist es ein Spiel. Er möchte schlauer sein als die Polizei.«
Körner bemerkte, wie sie plötzlich aufgeregt wurde und mit den Fingern durch die Luft fuhr.
»Wenn wir eine Bürgerversammlung im Ort einberufen, um mit der örtlichen Polizei Schutzmaßnahmen zu diskutieren, und die Einwohner über den Fall informieren, bin ich mir sicher, der Mörder wird unter den Besuchern sein. Eine solche Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen. Vielleicht mischt er sich sogar in die Ermittlungen ein. Wir könnten eine versteckte Videokamera im Saal installieren oder …«
Er schüttelte den Kopf. »Stopp!«
Sie brach abrupt ab und zog die Schultern hoch. »Sie stimmen nicht mit mir überein?«
»Grundsätzlich schon.« Er sog die Luft tief ein. Mit einem Mal hatte er Zweifel an der gesamten Theorie, die Berger binnen Minuten aus dem Ärmel gezaubert hatte. »Nur meine ich, dass alles zu glatt läuft. Zu typisch! Es sieht verdammt noch mal so aus, als seien die Spuren am Tatort so arrangiert worden, als wolle man die Tat eines Serienkillers darstellen, als sollten wir genau das denken, was wir gerade denken. Und wir fallen prompt drauf rein.«
»Sie glauben, es war kein Serienkiller am Werk?«
»Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie meinen, in diesem Ort leben genug Verrückte, doch die sind nicht verrückt genug, um so etwas durchzuziehen. Nein! Ich vermute, jemand wollte die Kleine zum Schweigen bringen. Vielleicht wusste sie etwas über einen Mitschüler, einen verheirateten Lehrer, mit dem sie eine Affäre hatte oder einen Onkel, der sie sexuell missbrauchte. Orte wie Grein sind voll von solchen Gerüchten.«
Berger ließ die Schultern hängen, sie wirkte enttäuscht, beinahe frustriert. Er merkte, wie sehr sie an der Serienkiller-Theorie festhielt und sich innerlich gegen seinen Einwand sträubte. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Alles passte zu gut in ihren psychologischen Theoriekasten. Doch auch weniger schlaue Killer kannten dieses Instrumentarium und legten gezielt falsche Spuren. Dazu musste man kein Genie sein.
»Wenn Sie Recht haben sollten, müsste es ein Motiv geben.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Genau.« Er stand auf und ging durch das Zimmer. »Finden wir es raus: Wer kommt in Frage? Wem nützt die Tat? Irgendwelchen Verwandten? Einem Onkel, einer Tante? Nachbarn, Lehrern, Schülern, Freunden? Sie war kein Mitglied eines ortsansässigen Vereins, vielleicht aber in einem Neunkirchener Aerobicclub oder einer Tanzschule. Mit wem ging sie ins Kino und vor allem auf Konzerte?« Er nickte zu den Marilyn Manson- und Kylie Minogue-Postern an der Wand. »Wer war ihr Gitarrenlehrer?« Er deutete auf die Gitarrentasche in der Ecke. »Was trieb sie in den letzten Wochen? Mit wem war sie zusammen? Außerdem möchte ich wissen, was sie so zeitig in der Früh in der Bar gesucht hat. Kannte sie das Lokal? War sie schon früher einmal dort gewesen? Überprüfen Sie das, ich möchte alles über die Kleine wissen.«
»Ja«, seufzte Berger. Sie hockte sich vor das Bett und räumte die Bücher in die Schultasche. Einer plötzlichen Eingebung folgend zog sie den seitlichen Zippverschluss auf. Ein Nokia-Handy und ein quadratisches blaues Buch, ähnlich einem Poesiealbum, purzelten heraus. »Sehen Sie doch.«
»Das Handy nehmen wir mit«, entschied Körner. »Checken Sie die Simkarte nach den gespeicherten Nummern, finden Sie die entsprechenden Adressen, und prüfen Sie die Anrufe und Uhrzeiten der letzten vier Tage!«
Berger ließ das Handy im Parka verschwinden. »Und das hier?« Sie hielt das Büchlein hoch.
Körner betrachtete es. »Ein verschließbares Tagebuch.« Er nahm ein Schweizermesser aus der Hosentasche und klappte eine schmale Klinge aus.
»Was soll das werden?«, fuhr Berger ihn an.
Er stocherte mit der Klinge im Schloss und brach es auf. »Wonach sieht es denn aus?«
»Nach Sachbeschädigung …«
»Wollen Sie einen Durchsuchungsbefehl vom Staatsanwalt abwarten? Vielleicht liefern uns die Aufzeichnungen einen Hinweis auf ihren Mörder.« Er reichte ihr das geöffnete Buch. »Lesen Sie es.«
»Ich kenne Sie nicht wieder.«
Körner blickte gedankenverloren durch das Fenster. Der Wind peitschte den Regen gegen die Scheibe, nur trüb war das Dach des Schlachthofs zu erkennen. Die Tropfen explodierten auf dem Wellblech, und das Wasser schoss im Höllentempo über die Regenrinne.
»Wir umgehen ein paar bürokratische Hürden. Ich möchte den Fall so rasch als möglich abschließen.« Ohne weiteren Kommentar ging er aus dem Zimmer. Als er im Türrahmen stand, wandte er sich um. »Hören Sie sich im Ort um. Sprechen Sie mit den Freunden, Nachbarn und Verwandten der Krajniks. Lassen Sie sich deren Alibis und Aufenthaltsorte geben. Stellen Sie Recherchen über Sabines Eltern an: Freunde, Feinde, Beziehungen, Vorlieben, eventuelle Spielschulden, und was sie in den letzten drei Jahren getrieben haben, außer Kühe zu schlachten und Kardinalschnitten zu backen. Übrigens möchte ich wissen, ob die Eltern tatsächlich miteinander verwandt sind.« Er steckte die Hand in die Manteltasche und klimperte mit dem Autoschlüssel.
»Wohin gehen Sie?« Berger starrte ihn perplex an.
»Ich fahre nach Wien, wir sehen uns am Abend auf dem Revier. Ich halte es hier nicht länger aus.«
Sie sprang auf. »Wie komme ich zurück, ich habe keinen Wagen.«
»Oh, tut mir Leid.« Er massierte sich die Schläfe. »Die Gendarmen sind sicher noch länger mit der Spurensuche beschäftigt. Ich sage denen Bescheid. Einer von ihnen soll Sie nach Wien fahren, in Ordnung?«
Er ließ sie allein im Zimmer zurück und verließ das Haus.
5. Kapitel
Der schwarze Audi raste durch den Ort, legte sich wie ein Panther in die Kurven und zischte durch die Regenlachen. Er preschte an der Bushaltestelle und dem Ortsschild vorbei und raste auf die Brücke zu, die sich über die Trier spannte.
Die Szene, die sich Körner bot, war kaum wieder zu erkennen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und drehte den Lautstärkeregler des Decks leiser, in dem eine CD von Alan Parsons Project lag. Jetzt tummelten sich noch mehr Leute auf der Brücke und dem Deich als am Vormittag. Ein Feuerwehrwagen stand neben der Brückenauffahrt, einige Feuerwehrleute in blauen Uniformen und gelben Helmen stapften in Gummistiefeln über den Hang zur Deichkrone und hielten weiße Latten in den Fluss. Unter den Dutzenden freiwilliger Helfer, die mit den Feuerwehrmännern den Damm entlangschritten und Markierungen setzten, bemerkte Körner den weißen Haarkranz des Bürgermeisters. Bring deine Schäfchen ins Trockene, dachte er ironisch.
Als Körner mit dem Wagen langsam auf die Brücke zurollte, versperrte ihm ein Feuerwehrmann den Weg. Gleichzeitig erteilte der Mann dem Helfertrupp hinter ihm einige Kommandos. Erst jetzt bemerkte Körner, dass der Weg über die Brücke mit orangefarbenen Markierungen zu einer einspurigen Fahrbahn verengt worden war. Ein Helfer stand winkend an der Brückenauffahrt und brüllte zum anderen Flussufer hinüber. Körner konnte nicht hören, was der Mann rief, doch am anderen Ende der Brücke setzte sich ein LKW in Bewegung und holperte im Schritttempo über die Bohlen. Ein Lieferwagen, kistenweise mit Vöslauer Mineralwasser beladen, fuhr an Körner vorbei, gefolgt von einem Pumpwagen, drei Fahrzeugen vom Roten Kreuz und einem Kipplaster mit einer Fuhre Sand.
Körner kannte die Vorzeichen: Der Ort bereitete sich auf ein Hochwasser vor. Seit dem Morgen hatte der Wasserstand zugenommen, der Fluss war weiter angeschwollen und hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Die schlammige Brühe knallte mit tosender Wucht gegen den Brückensteher und spritzte über die Deichkrone. Falls es weiter regnete, würde er morgen nicht mehr über den Fluss kommen. So viel er wusste, existierte nur noch die schmale Holzbrücke in Heidenhof, um die Trier zu überqueren, da beide Orte vom Hohen Gschwendt eingeschlossen wurden und es keine weitere Zufahrt gab.
Körner ließ das Fenster runter und beugte sich aus dem Wagen. »Kann ich fahren?«, brüllte er gegen den Wind.
Der Feuerwehrmann winkte ihn vorbei. Als er auf gleicher Höhe mit ihm anlangte, zog sich der Mann den Helm vom Kopf und wischte sich mit dem Unterarm das Wasser aus dem Gesicht. Die Locken klebten ihm an der Stirn, und der rote Vollbart glänzte nass. »Sauwetter!«, brummte er. »Fahren Sie schon, bevor der nächste Kipplaster …« Er stutzte und starrte Körner mit aufgerissenen Augen an. »Alex?«, rief er.
Körner erschrak. Er kannte den Mann mit dem feuerroten Bart nicht, der breitbeinig wie ein Hüne neben seinem Wagen stand. Der Feuerwehrmann beugte sich nach vorne, steckte den Kopf zum Fenster rein und grinste über das gesamte Gesicht. Seine Augen funkelten freundlich. Die braunen Augen! Die dichten Augenbrauen, das spitzbübische Grinsen!
»Wolfgang Heck?«, fragte Körner vorsichtig.
»Mann, ich fass es nicht, Alex! Was tust du hier?«
Da erkannte er Hecks Stimme, den abgehackten, raubeinigen Klang seines Schulfreundes, mit dem er ab dem zehnten Lebensjahr vier Jahre die Schulbank gedrückt hatte. Sie waren gemeinsam im Schulbus zur Hauptschule nach Schwetz gefahren, hatten ihr Jausenbrot geteilt und sich gegenseitig von den Hausaufgaben abgeschrieben, hatten sich im Schulhof mit den Jungens aus der Oberstufe geprügelt und nachsitzen müssen. Nicht bloß einmal waren sie mit einem blauen Auge und zerrissenem Hemd nach Hause gekommen. Die Reaktionen waren unterschiedlich ausgefallen: Sein Vater hatte ihn in die Arme genommen und ihn belehrt, der Klügere gebe nach, und Wolfgang Heck hatte von seinem Vater die nächste Tracht Prügel erhalten. Doch hatte es auch schöne Zeiten gegeben, und schlagartig spürte Körner den penetranten Geruch eines klapprigen Zweitaktmotors in der Nase. Mit dem Moped von Wolfgangs älterem Bruder waren sie am Damm der Trier entlanggefahren, hatten mit Schlafsäcken in der alten Mühle übernachtet und die Tunnel des stillgelegten Bergwerks unsicher gemacht … und in den Sommerferien begannen die ersten Rendezvous mit den Mädchen aus dem Nachbarort. All das lag lange zurück. Körner hatte Wolfgang Heck seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen, doch Hecks Augen verrieten alles: Er war immer noch der gleiche Haudegen und spontane Draufgänger wie damals. Kein Wunder, dass er bei der Feuerwehr arbeitete und bei Katastropheneinsätzen die Mannschaft dirigierte.
»Dich hier zu sehen, ist ein Wunder.« Hecks Augen leuchteten erfreut.
Mit einem Mal wurde Körner warm ums Herz. Sein Besuch in Grein war bisher wie ein Albtraum verlaufen, wie ein surreales Erlebnis, aus dem er nicht entfliehen konnte. Erst die Begegnung mit Wolfgang Heck und dessen verschmitztes Lächeln brachten ihn zurück in die Realität, in die Welt, wie sie wirklich war, als erwache er aus einem schlimmen Traum. Die plötzliche Erinnerung an die schönen Zeiten seiner Kindheit ließ die Erlebnisse des Vormittags verblassen. Die Schwarzmalerei war zu Ende, Grein hatte auch seine angenehmen Seiten. Schließlich musste es sie geben, sonst würde er verrückt werden. Im Moment allerdings war Heck sein einziger Hoffnungsschimmer, sobald er sich im Ort befand.
»Ich habe gehört, du hast die Schabinger Marli aus dem Nachbarort geheiratet. Dass die ausgerechnet dich genommen hat, Alex! Die war schon in der Schule ein knackiges Ding. Warum ist es schief gegangen?«
Da war es wieder, das leidige Thema! Körner gab keine Antwort. Er wollte nicht schon wieder die alten Geschichten aufwärmen. Vier Stunden Vergangenheitsbewältigung an einem Tag reichten vollkommen.
»Was treibt dich in diese Gegend?« Heck war nicht zu bremsen, am liebsten hätte er alles aus Körner rausgequetscht.
»Ein Mädchen wurde in der Bar gefunden.«
»Oh, ich habe davon gehört. Die kleine Krajnik, blöde Sache.« Schlagartig war Hecks gute Laune verflogen. »Wir müssen unbedingt ein Bier trinken und plaudern. Nur habe ich jetzt keine Zeit, du siehst ja, die Trier ist schon so breit wie ein Ozean, und am Staudamm lassen sie immer mehr Wasser ab. Bald ersaufen wir hier!«
»Hast du die Lage im Griff?«
»Keine Sorge, pass auf!« Heck richtete sich auf und brüllte einige Kommandos an die Mannschaft der Feuerwehr, danach beugte er sich wieder ins Wageninnere.
»Wir haben schon Schlimmeres erlebt. Das Hochwasser vom Juli ’97 hat Schäden angerichtet, die du nur glauben würdest, hättest du sie mit eigenen Augen gesehen. Als das Wasser aus dem Ortszentrum nach Wochen endlich abgeflossen war, sah es aus wie nach dem Krieg. An die dreihundert Haushalte, Bauernhöfe und Geschäfte waren in Grein und Heidenhof betroffen - alles voller Schlamm, teilweise waren die Häuser weggerissen worden - unglaublich! Damit sich das nicht wiederholt, wurde der Deich auf einer Länge von zwei Kilometern verstärkt.« Er deutete flussaufwärts, Richtung Heidenhof. »Wir hatten Spezialisten vom Katastrophen-Schutzdienst hier, und das Projekt wurde vom Land gefördert. Der neue Deich ist gegen den Wackel-Effekt immun, durch die Entwässerungsschicht hält der Schutzwall wie eine Bunkeranlage. Außerdem ist hier eine lehmige Gegend, wie geschaffen für den Deichbau.« Er stampfte mit dem Stiefel auf den Boden. »Der sandige Lehm wird nicht so rasch durchweicht.«
Körner hörte sich alles geduldig an und nickte dazu. Heck war in seinem Element, er liebte Spannung und Abenteuer, und wenn er seine Freunde aus« der Gefahrenzone retten konnte, dann machte ihn das zum glücklichsten Menschen der Welt. Schon als Kind hatte er ein Faible für patriotische Rettungseinsätze gehabt, und fast schien es, als komme ihm das Unwetter gerade recht.
Hinter Körner kam ein Wagen zum Stehen, dessen Fahrer ihn mit der Lichthupe anblinkte.
»Ich muss weiter, vielleicht sehen wir uns morgen.« Körner tippte sich zum Gruß an die Stirn und schloss das Fenster.
Heck zwinkerte ihm zu, setzte sich den Helm auf und winkte den nachfolgenden Wagen durch. Als Körner über die Bodenschwelle der Brücke rumpelte, holperte es im Kofferraum. Die beschlagnahmten Zünder! Er durfte nicht vergessen, sie heute Abend bei Alfred Dworschak im Spurensicherungsbüro abzugeben.
Körner lenkte den Wagen auf die Bundesstraße und fuhr Richtung Wien. Befreit atmete er auf, endlich hatte er Grein hinter sich gelassen. Das kurze Gespräch mit Heck hatte ihm ein wenig den Schrecken vor Grein genommen, und morgen würde es nicht mehr so schlimm werden. Doch jetzt ging es heimwärts. Parallel zu ihm fuhr ein Zug entlang der Bundesstraße. Die Lok schob sich im Schritttempo über die von Wasser gefluteten Gleise. Immer wieder fiel der Strom der Oberleitung aus und ließ den Zug stocken. Heck hatte Recht, es herrschte tatsächlich ein Sauwetter. Die Straße war mit Geröll und Schlamm bedeckt, und die Lachen waren so ausgedehnt, dass die Straßenmarkierung auf weite Bereiche nicht zu erkennen war. Körner beschleunigte, bis er den Zug nur noch im Seitenspiegel sah.
Ihm knurrte der Magen; seit dem Frühstück hatte er nichts gegessen, doch immer noch würde er keinen Bissen hinunterbekommen. Er hatte vor, erst in Wien eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Bis dahin lag eine Stunde Fahrt vor ihm, während derer er sich Gedanken über den Fall machen wollte. Die Digitalanzeige im Armaturenbrett sprang auf 14.00 Uhr. Rasch schaltete er von CD auf Radio um und hörte gerade noch jenen Teil, auf den er gewartet hatte.
»…Szenario in Grein am Gebirge. An der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze wurde in den Morgenstunden die strangulierte Leiche eines vierzehnjährigen Mädchens aufgefunden. Die Kripo …«
Das war es gewesen! Körner lächelte, schaltete um auf CD, und Alan Parsons Project klang leise aus den Boxen. Er griff zum Handy und wählte Jutta Korens Nummer. Sie hob prompt ab, ließ ihn jedoch eine Minute in der Warteschleife hängen, da sie inmitten einer Besprechung saß.
Schließlich meldete sie sich. »Ich habe zwei Minuten Zeit.«
Er gab ihr einen knappen Lagebericht und erzählte ihr von dem anonymen Anruf bei der Neunkirchener Rundschau, der Aussage des Pressefotografen, jener Augenzeugin, die unansprechbar und mit Haldol voll gepumpt in das Nervenkrankenhaus nach Kierling unterwegs war, von dem Zustand der Leiche, Jana Sabriskis Kommentaren zur Wunde, und den Aussagen, die ihnen im Moment vom Dorfgendarmen, der Wirtin, dem Arzt und den Eltern des Mädchens vorlagen. Zuletzt erwähnte er das bizarre Eisengestell am Tatort und Sonja Bergers Vermutung, ein Serienmörder könnte für die Tat verantwortlich sein. »Aber ich glaube nicht, dass …«, wollte er seinen Bericht beenden, doch sie unterbrach ihn.
»Bleiben Sie dran, und verlassen Sie sich auf Bergers Urteil. Das Opfer war jung und hübsch, ein perverser Serienkiller hat sie wie ein Stück Vieh abgeschlachtet.«
Körner schluckte. Diese harten Worte aus dem Mund einer Frau schockierten ihn, auch wenn Koren alles andere als zart besaitet war. Andernfalls hätte sie es wohl kaum bis zur Chefin des Morddezernats gebracht.
»Wir können nicht sicher sein, dass es der Auftakt einer Serie war«, widersprach er. »Bisher gab es keine weiteren Morde im Ort.«
»Noch nicht, aber es fängt gerade erst an. Wer einmal diese Grenze überschritten hat, kann nicht mehr aufhören. Der Killer wird kreativer, er wird sich steigern.«
Er fasste es nicht! Jutta Koren sprach wie Berger. Kaum tauchte ein Opfer auf, das schlimmer verstümmelt war, als alle bisherigen, verrannte sich jeder in die Annahme, ein Psychopath müsse dafür verantwortlich sein, so, als gebe es keine andere Möglichkeit. Und je mehr sie ihn davon überzeugen wollten, desto weniger glaubte er daran. Er hatte das Gefühl, sie alle hingen an den Fäden eines raffinierten Killers, der sie genau das glauben lassen wollte.
»Das ist nicht die Tat eines Serienkillers!«, sagte er entschieden. »Für meine Begriffe wirkt der Tatort arrangiert, die Spuren wurden für uns in Szene gesetzt. Der Täter will uns glauben machen, wir hätten es mit einem Soziopathen zu tun. Ich habe den Tatort gesehen. Einiges deutet darauf hin, dass die Spuren fingiert wurden. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Reporterin einen Tipp erhielt. Womöglich sollte etwas vertuscht werden.«
»Vergessen Sie es! Ich habe die Leiche gesehen!«
Was wusste sie schon von der Leiche? Nichts hatte sie gesehen! Am liebsten hätte er das Handy aus dem Wagen geworfen. »Das Bild des Pressefotografen sagt nichts aus. Das ist nur ein schwarzweißes Fax. Der Tatort…«
»Körner!«, unterbrach sie ihn scharf. »Ich war in der Pathologie. Sabriski obduzierte das Mädchen, und Philipp untersuchte die Spuren. Ich habe mit ihnen gesprochen, aber das ist nicht ausschlaggebend. Wichtig ist, ich habe die Leiche mit eigenen Augen gesehen! Das Mädchen wurde regelrecht zerfetzt, Körner. Der Killer hat ihren Rücken ausgeweidet. Zudem habe ich Kraliczs Fotos vom Tatort gesehen und diese Vorrichtung, die der Killer gebaut hat. Fakt ist, er wurde bei seiner Tat gestört - wer weiß, was er sonst noch mit der Leiche des Mädchens angestellt hätte?«
Die Vorrichtung, erinnerte sich Körner. Sie hatten immer noch nicht ihren Zweck herausgefunden. War das Gerät doch keine Finte, steckte in Wahrheit der perfide Plan eines kranken Gehirns dahinter? Möglicherweise würde das Labor mehr herausbekommen.
»Vergessen Sie Ihre Vertuschungs-Theorie! Das war ein krankes, perverses Schwein! Sein Zwang zum Töten wird eskalieren, er wird seine Kunst im Lauf der Zeit verfeinern. Finden Sie diesen Psychopathen, bevor er ein zweites Mal zuschlägt.«
»Scheiße!« Körner verriss das Steuer, das Fahrbahnwasser spritzte an den Seitenscheiben hoch. Er wurde fast von einem Feuerwehrwagen gerammt. Das Signalhorn röhrte. Eine Kolonne Lösch- und Pumpwagen fuhr an ihm vorüber. Der Audi schlingerte, doch Körner bekam ihn wieder unter Kontrolle.
»Herrgott, Körner! Was ist bei Ihnen los?«
»Nichts.« Das Handy klemmte zwischen seiner Wange und Schulter, denn er hielt beide Hände am Steuer. »Ich brauche einen zusätzlichen Ermitttler im Team. Im Moment sind wir an mehreren Spuren dran, Berger und ich sind zu wenig.«
»Was wollen Sie mehr? Sie haben die besten Leute für diesen Fall: Berger ist ausgebildete Kriminalpsychologin.«
»Sie hat nicht die nötige Erfahrung.«
»Philipp ist der beste Spurensicherer, er hat die nötige Erfahrung. Dann haben Sie noch Kralicz, und Sabriski ist die beste Gerichtsmedizinerin. Was brauchen Sie noch? Die Heilsarmee?«
»Einen zusätzlichen Mann für die Recherchen«, antwortete er prompt und wusste im gleichen Moment, dass es kein guter Zeitpunkt war, danach zu fragen.
»Nein. Ich habe keine freie Kapazität. Andere Ermittlerteams haben nicht einmal eine Kriminalpsychologin.«
»Ich habe Berger schon zu viel von der Routinearbeit an den Hals gehängt. Das ist nicht ihr Job!«
»Aber Ihrer! Machen Sie ihn!«
Er sah Koren im Geiste vor sich, wie sie sich das graue Haar aus der Stirn strich. Vielleicht nestelte sie auch gerade an ihrem Hosenanzug, drehte den Absatz ihres Schuhs auf dem Parkett oder starrte auf die Uhr, weil sie wieder in die Besprechung musste.
»Sie könnten mir …«
»Nein! Wenn es die Frau eines Ministers wäre, könnte ich ein Dutzend Beamte bekommen, aber bei einem simplen Mädchen vom Lande nicht.«
»Hier geht es um keine lausige Bauerngöre.«
»Lausige Göre ist Ihre Wortwahl!« Es war keine Rechtfertigung, sie wies ihn lediglich zurecht. Ihre Stimme hatte einen ungeduldigen Tonfall angenommen, und damit war für sie das Gespräch beendet. Er fürchtete, sie könnte auflegen, dennoch blieb sie dran. Er hörte ihren Atem. Warum beendete sie das Telefonat nicht? Merkte sie, wie er herumdruckste?
»Was gibt’s noch?«
Er konnte ihr nichts vormachen, eine Sache lag ihm noch im Magen. »Wie sieht es mit dem Disziplinarverfahren des Landesgendarmeriekommandos aus?«
»Ich habe gehofft, Sie würden mich nicht danach fragen.«
Verdammt! Jetzt wäre es ihm tatsächlich lieber gewesen, er hätte es bleiben lassen.
»Um es kurz zu machen: Nächste Woche Montag haben Sie eine Anhörung vor Gericht. Dr. Sonja Berger hat ebenfalls eine Vorladung bekommen. Ich konnte es nicht verhindern.«
Er schwieg.
»Beschäftigen Sie sich im Moment nicht damit. Der Fall hat Priorität. Bringen Sie mir Ergebnisse, damit ich dem Staatsanwalt etwas vorlegen kann, und ich werde sehen, was sich machen lässt.«
»Wer von der Staatsanwaltschaft ist zuständig?«
»Doktor Hauser.«
Scheiße! Er hätte es wissen müssen. Wenn das Unglück erst einmal zuschlug, dann kam es in geballter Ladung.
»Denken Sie nicht weiter an Hauser! Ich informiere ihn selbst über den Fall. Vielleicht kann ich ihn dazu bewegen, dass er ein gutes Wort für Sie beim Landesgendarmeriekommando einlegt.«
»Hauser?« Körner lachte gequält. Er kannte den alten Griesgram gut genug, um zu wissen, dass er keinen Finger für ihn krümmen würde. »Niemals.«
»Sie haben Recht. Ich hab es auch bloß gesagt, damit Sie auf andere Gedanken kommen.«
Koren legte auf.
Auf andere Gedanken kommen? Scheiße!
Er warf das Handy auf den Beifahrersitz und drehte Alan Parsons Project lauter.
6. Kapitel
Die Sensengasse war eine winzige, holperige Straße, die zwischen dem Allgemeinen Krankenhaus und dem Anatomischen Institut lag. Eine Menge ehrwürdiger Gebäude aus der Geschichte Wiens befand sich in diesem alten Stadtteil, und eines davon war das Institut für Gerichtliche Medizin. Körner war heute Morgen schon einmal in dieser Gegend gewesen, als er Sonja Berger vom Krankenhaus abgeholt hatte. Jetzt war es knapp vier Uhr, er hatte ein schnelles Mittagessen hinter sich gebracht und war nicht in der Stimmung, lange nach einem Parkplatz zu suchen. Er lenkte den Audi über den Randstein vor die Ausfahrt eines Hinterhofs und warf das Kripo-im-Einsatz-Schild auf die Armaturenablage. Sein Besuch in der Pathologie würde nicht lange dauern.
Körner sprang aus dem Wagen. In Wien regnete es immer noch, Sturmböen jagten durch die Gassen, und der Wind pfiff wie ein Schwarm eiskalter Nadeln um die Häuserecke. Er schlug den Mantelkragen auf und verschwand im Torbogen des Instituts.
»Hallo Carl, wo finde ich Sabriski?«
Der Portier sah im Zeitlupentempo von seiner Zeitung auf. Mit den großen Augen eines Uhus, die zusätzlich von der riesenhaften Brille vergrößert wurden, blickte er Körner an. »Saal acht.«
»Danke.« Körner lief über die Treppe in den Keller, wo sich die Pathologie befand.
»Ich glaube nicht, dass sie dich sehen möchte«, rief ihm der Portier nach.
Carl war ein Freund! Er wusste, wie man Körner aufheitern konnte. Aber mit etwas Glück hatte sich Sabriskis Laune inzwischen gebessert.
Das Untergeschoss der Gerichtsmedizin wirkte steriler als der Operationssaal eines Krankenhauses. Nackte Glühlampen hingen von der Decke, es roch nach Phenol und Desinfektionsmittel.
Eben kamen zwei junge Laborassistenten mit verschmierten Kitteln den Gang entlang. Das Klappern der Schuhe hallte an den gefliesten Wänden wider. Grundsätzlich stellten solche seelenlosen Räume für Körner kein Problem dar, da er aber wusste, wo er sich befand, glaubte er den Atem des Todes zu spüren, der sich in jede Fuge der Wände eingenistet hatte.
Am Ende des Gangs lag Saal acht. Körner stieß die Tür auf. Augenblicklich stand ihm der eigene Atem als eiskalter Hauch vor dem Gesicht. Der Saal war spartanisch eingerichtet: Auf einem u-förmigen Tresen befanden sich Dutzende Gläser mit Flüssigkeiten, ausgebreitetes chirurgisches Besteck, Beleuchtungskörper, Mikroskope, ein Videorekorder mit Monitor und meterlangem Kabelsalat, der in einem altersschwachen Sicherungskasten an der Wand verschwand.
Philipp saß in Jacke und Schal auf einem Hocker und strich sich durch den Bart. Jana Sabriski stand hinter dem Tisch, auf dem Sabines Leichnam lag, den sie zum Glück auf den Rücken gedreht hatten. Die Augen des Mädchens waren geschlossen, und ihre Arme hingen über den Tischrand. Dicht über ihrem Körper schwebte eine Neonlampe, welche der Haut einen dunkelblauen Farbton gab. Die Stelle, wo ihr Sabriski den Bauch geöffnet hatte, war nur als Schatten zu erkennen. Die Medizinerin ging um den Tisch herum. Sie trug Latexhandschuhe, einen blütenweißen, offenen Kittel und darunter einen dicken Rollkragenpullover. Auf ihrer Nase saß eine schmale Brille mit eleganter Stahlfassung, über deren Rand hinweg sie Körner fragend musterte. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie bei der Arbeit eine Brille brauchte. Hatte er sie tatsächlich so lange nicht mehr gesehen? Das Gestell passte ausgezeichnet zu ihrem braunen Haar, das sie nicht länger offen trug, sondern zu einem Zopf geflochten hatte. Damit sah sie zwar älter, aber verdammt interessant aus - und bei Gott, sie war eine interessante Frau. Was für ein Idiot er doch war! Er hätte sie nie gehen lassen sollen.
»Die Detektivin mit dem Skalpell.« Er ging auf die beiden zu.
»Alex.« Philipp nickte knapp.
»Du siehst nicht gut aus«, begrüßte ihn Sabriski.
Machte sie sich tatsächlich Sorgen um ihn, oder war das neuerdings ihre Art, Hallo zu sagen?
»Endlich wieder in Wien«, ächzte Körner. »Der Dreck, die Abgase, die Hektik, der Verkehrsstau, die Neonreklamen und die Menschenmassen … ich weiß, es klingt verrückt, doch das ist mir allemal lieber, als in diesem Kaff herumzuhängen. Es ist, als betrete man eine andere Welt, in der alles anders läuft.«
»Mir würde es dort gefallen«, antwortete Sabriski. »Die Berge, die Ruhe.«
»Ich versteh ihn«, brummte Philipp. »Diese Typen auf dem Land haben alle eine Macke.«
»Weil du keine Macke hast!«, fuhr ihn Sabriski an. Sie streifte die Handschuhe ab und schnalzte Philipp damit auf den Rücken. Er schrie gespielt auf.
Körner sah zu Boden. Er mochte es nicht, wenn sie sich wie Kinder neckten. Konnten die beiden denn niemals ernst sein? »Wo ist Basedov?«
Sabriski knüllte die Handschuhe zusammen und warf sie achtlos auf ein Tablett. »Wir sind mit der Leiche fertig - Feierabend! Basedov ist bei Frau und Kindern, und ich gehe jetzt ein Bier trinken.«
»Was habt ihr rausgefunden?«
Sabriski verschränkte die Finger und ließ die Gelenke knacken. »Sie hatte Cornflakes, Vollkornbrot und Orangensaft zum Frühstück, eine halbe Stunde danach wurde sie ermordet.«
»Bist du sicher?« Körner runzelte die Stirn. »Laut Angaben der Eltern verließ sie das Haus um sieben Uhr, und entsprechend einer Zeugenaussage steht die Tatzeit mit fünf Minuten nach acht exakt fest.«
»Natürlich bin ich mir sicher! Bist du dir sicher, dass deine Zeugenaussagen stimmen?«
»Ja«, murmelte er.
Sabriski schien unbeeindruckt. »In Ordnung, dann verlässt Sabine eben um sieben Uhr bei strömendem Regen das Haus, isst um sieben Uhr fünfunddreißig eine Schüssel Cornflakes, trinkt ein Glas Orangensaft und wird eine halbe Stunde später ermordet.«
»Wo? Bei MacDonald’s? Klingt ziemlich unwahrscheinlich«, murmelte Körner. »Es sei denn, die Eltern lügen, und Sabine hat um halb acht noch gefrühstückt. Dann hätte sie allerdings den Schulbus versäumt. Irgendetwas stimmt da nicht. Das ist ein Scheiß-Fall!« Er wandte sich an Philipp. »Fehlt etwas?«
Der Spurensicherer schüttelte den Kopf. »Soviel wir feststellen konnten, wurde nichts gestohlen. Eine Uhr, ein Ring, ein Armband und eine Geldbörse mit über zwanzig Euro Bargeld und einer Bankomatkarte für ein Jugendkonto waren noch da.«
»Und fehlt von der Leiche etwas?«
»Alles da, der Killer hat nichts mitgehen lassen. Aber vielleicht hätte er das, wenn er nicht überrascht worden wäre.« Philipp zuckte mit den Achseln.
»Glaube ich nicht.« Das hätte zwar gut in Sonja Bergers Serienkiller-Theorie gepasst, doch mitderweile war Körner so weit, dass er diese Idee strikt ablehnte. »Fein, im Moment haben wir also nichts in der Hand. Ich gehe davon aus, dass sie nicht vergewaltigt wurde.«
»Korrekt.«
»Aber vielleicht hatte sie in letzter Zeit…«, hakte Körner nach.
»Nein!« Sabriski stützte sich auf den Tisch, beugte sich nach vorne und starrte Körner eindringlich an. »Hierbei handelt es sich definitiv um kein Sexualverbrechen! Es gibt weder eine vaginale noch eine anale Penetration.«
»Aber vielleicht gab es einen Mann in ihrer Vergangenheit. Möglicherweise hatte sie innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden Geschlechtsverkehr, dann hätten wir eine Samenprobe und …«
»Alex!«, unterbrach sie ihn. »Das Mädchen war noch Jungfrau!« Er schwieg.
Sabriski atmete tief durch. »Ich weiß, worauf du hinauswillst, aber deine Sex mit der Minderjährigen, und bring sie zum Schweigen-Theorie ist nicht zu halten. Kein Sex, keine Schwangerschaft, nichts dergleichen! Vergiss es! Hierbei handelt es sich um etwas anderes!« Sie hielt den Arm der Toten hoch. »Ich habe dir schon in der Diskothek erzählt, dass ihr eine starke Dosis Valium injiziert wurde. Aber wann? Das ist die Frage. Wenn man die Halbwertszeit im Blut betrachtet, war es ungefähr zehn Minuten vor acht. Valium wirkt verdammt schnell.«
»Also dauerte es noch fünfzehn Minuten bis zu ihrem Tod, während derer sie mit dem Mörder allein war«, folgerte Körner.
Beim Wort Mörder warfen sich Philipp und Sabriski einen viel sagenden Blick zu, als hätten sie ihm etwas zu verheimlichen, doch gingen sie nicht weiter darauf ein. Körner sprach weiter und tat so, als wäre es ihm nicht aufgefallen. »Was passierte in dieser Zeit? Hätte sie fliehen können?« Er musterte die beiden.
Sabriski lächelte milde. »Mit dieser Dosis hätte sie nicht einmal auf allen Vieren kriechen können.« Philipp nickte zustimmend. Auch diesmal schienen sich die beiden einig zu sein.
»Aber könnte sie nicht doch …«
»Alex!«, unterbrach sie ihn schroff. Sie nahm die Brille ab und kaute am Bügel. »Ich spreche von zwölf Milligramm Valium! Die Kleine war so voll gepumpt wie eine Apotheke auf zwei Beinen. Mit dieser Dosis hättest du den gesamten Ort einschläfern können. Sie hätte nicht einmal Schmerzen gespürt, wenn ihr ein Zahnarzt den blanken Nerv am Backenzahn angebohrt hätte.«
Körner versuchte, sich die Szene vorzustellen. Er versetzte sich in den dunklen Raum mit den speckigen Bodenbrettern, sah die Deckenbalken mit den Glühlampen vor sich, die Holzsäulen, die Balustrade, die Barhocker, den Tresen, und roch den Gestank von Eisen und Schwefel. Ihm fiel die merkwürdige Stahlkonstruktion ein. »Hat sie an dem Gerät gehangen?«
Sabriski legte vertrauensvoll die Hand auf die Schulter des Mädchens. »Wir haben keine Spuren von Eisen, Rost oder Lederpartikel am Körper der Kleinen gefunden, auch keine Schaboder Reibspuren der Seile. Sie wurde nicht an den Mechanismus gehängt. Sie hatte keine Blutreste oder Hautfragmente unter den Fingernägeln, was darauf hindeutet, dass es keinen Kampf gab. Aber …« Sie hob den Zeigefinger. »Sie wurde an den Armen gehalten. Und sie hat sich verdammt dagegen gewehrt, das kannst du mir glauben.«
Körner kniff die Augenbrauen zusammen. »Aber du sagtest doch, mit dieser Dosis hätte man …«
»Ich weiß, es klingt verrückt.« Sie seufzte. »Aber das Mädchen muss unsagbare Schmerzen erlitten haben, denn trotz zwölf Milligramm Valium musste sie wie ein Tier an den Handgelenken festgehalten werden - und sie hat wie eine Besessene gezerrt.«
»Möglicherweise wollte sie sich aus dem Griff befreien, bevor ihr das Valium injiziert wurde?«, gab Körner zu bedenken.
Philipp, der bisher reglos auf dem Hocker gesessen hatte, erhob sich kopfschüttelnd und griff nach dem Handgelenk des Mädchens. »Hier und hier: Schürfungen sowie Hämatome an beiden Handgelenken, und nicht etwa zum Zeitpunkt der Injektion, sondern unmittelbar vor ihrem Tod.«
»Sagtest du, Reibstellen an beiden Handgelenken?« Körner trat einen Schritt näher.
»Gut aufgepasst! Denn genau das ist der Punkt!« Philipp hob die Augenbraue, als habe er soeben den wichtigsten Aspekt des Mordes ans Tageslicht gebracht. »Ihr Blut klebt auf der Innenseite des Oberarms und unter den Achseln, folglich waren ihre Arme gestreckt, als sie ermordet wurde. Stimmst du mir zu?«
Körner nickte.
»Folglich gab es drei Täter.« Philipp hielt drei Finger hoch. »Zwei hielten sie links und rechts am jeweils ausgestreckten Arm, und der Dritte tötete sie mit Stichen in den Rücken.«
»Oh, nein, nein, nein! So ein Schwachsinn!« Körner warf die Arme in die Luft. »Drei Täter? So ein Blödsinn!«
Philipp und Sabriski sahen einander betroffen an, es war der gleiche viel sagende Blick wie vorhin. Sabriski kaute wieder am Brillenbügel. »Ich weiß, du hörst das nicht gern, weil du an einen Einzeltäter glaubst, der etwas vertuschen möchte«, seufzte sie. »Aber unserer Meinung nach waren drei Täter am Werk. Die Spuren lassen keine andere logische Erklärung zu. Du solltest jene drei Leute aus dem Ort verhaften, die sich gegenseitig ein stichfestes Alibi gaben, dann hast du dein Mordtrio gefunden.«
»Wenn es nur so einfach wäre.« Körner lächelte gequält. »Erklär du das mal dem Staatsanwalt. Hauser ist für den Fall zuständig.«
Sabriski zuckte zusammen und Philipp verzog das Gesicht, als habe er einen kräftigen Schluck aus einer Flasche mit selbst gebranntem Schnaps genommen. »Gratuliere«, kommentierte er trocken.
»Was soll’s? Ich kann es nicht ändern.« Körner zuckte mit den Achseln und betrachtete das nackte Handgelenk des Mädchens. Auf einem Tablett lagen eine Uhr, ein Armband und ein Ring, fein Säuberlich in Folie verpackt. »Gab es eigentlich einen brauchbaren Fingerabdruck auf dem Schmuck?«
»Keinen einzigen«, murmelte Philipp.
»Du könntest binnen vierundzwanzig Stunden ein Verdampfungsverfahren an der Leiche durchführen«, schlug Körner vor.
»Ja, das könnte ich, doch werde ich auch auf ihrer Haut keine Fingerabdrücke finden. Einfach deshalb, weil Fingerabdrücke an dem Mädchen gewesen waren.« Philipp strich sich durch den Bart. »Aber jemand hat sich die Mühe gemacht, sie mit einem Tuch wegzuwischen. Dabei wurden die Blutspritzer auf der Uhr verschmiert. Hörst du mir zu? Die Fingerabdrücke wurden entfernt!«
»Ja, ja! Und was schließt du daraus?«, fragte Körner, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Erst als Blut floss und das Mädchen starb, wurden die Spuren weggewischt. Wäre der Mord geplant gewesen, hätten sich die Täter bereits vorher Sorgen um die Fingerabdrücke gemacht und beispielsweise Handschuhe getragen. Das war aber nicht der Fall, was darauf schließen lässt, dass Sabine gar nicht ermordet werden sollte. Meiner Meinung nach war es fem vorsätzlicher Mord.«
Körner hatte befürchtet, worauf Philipp abzielte, aber er wollte es nicht wahrhaben, da diese Schlussfolgerung weder zu Bergers Vermutung über einen Serienkiller noch zu seiner Vertuschungs-Theorie passte. »Aber es muss vorsätzlich gewesen sein, sonst hätte es keine Ankündigung gegeben«, folgerte er.
»So viel ich am Tatort mitbekommen habe, wurde bloß angekündigt, dass etwas Schreckliches passieren werde … von Mord war keine Rede«, entgegnete Philipp.
»Eben«, schloss sich Sabriski seiner Meinung an. »Alex, ich sage dir eines: Hätten unsere drei Freunde den Mord von vornherein geplant, hätten sie erst gar keine Fingerabdrücke hinterlassen. Der Mord war ein Unfall, etwas lief aus dem Ruder, das Experiment eskalierte, und das Mädchen starb.«
Körner schüttelte ungläubig den Kopf.
»Alex, was immer passiert ist, es geriet außer Kontrolle!«, ergänzte Philipp. »Jemand hat wie eine Bestie im Blutrausch auf das Mädchen eingestochen.«
Körner spürte, wie ihm die Hitze zu Kopf schoss. Sabriski und Philipp taten geradewegs, als leiteten sie die Ermittlungen und hätten den Fall bereits gelöst. Er starrte auf das tote Mädchen und rief sich die Wunde am Rücken in Erinnerung. Die Einstiche sahen jedenfalls nicht nach einem eskalierten Experiment aus. Er wusste nicht wie, aber er wollte die spontane Tat dreier Irrer beiseite schieben und an einem geplanten Verbrechen mit Motiv festhalten. Er glaubte an logische Zusammenhänge und nicht an Zufälle.
Er blickte herausfordernd in die Runde. »Das Blut unter den Achseln, das verschmierte Blut auf der Uhr und die Schürfungen an den Handgelenken könnten fingierte Spuren sein, die uns auf eine falsche Fährte locken sollen«, gab er zu bedenken.
»Die Täter wurden von der Reporterin überrascht. Woher nahmen sie die Zeit für fingierte Spuren?« Sabriski und Philipp sahen ihn fragend an.
Körner biss sich auf die Lippen. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, letztendlich behielten die beiden Recht. Verflucht! Für einen Mord im Affekt gab es kein schlüssiges Motiv. Das weitete den Verdächtigenkreis enorm aus, und er brauchte schon in wenigen Stunden die ersten hieb- und stichfesten Resultate. Was sollte er Jutta Koren vorlegen? Drei Männer mit wasserdichtem Alibi, die mit Sabine Krajnik angeblich ein kleines Experiment durchführen wollten, das leider schief ging?
Philipp bog die Hände durch und knackte mit den Knöcheln. »Das war es von meiner Seite aus. Ich habe noch zu tun. Wenn ihr Sehnsucht habt, ich bin im Labor und tippe meinen Bericht. Alex, du kannst dir die Akte in zwei Stunden abholen. Außerdem muss ich mir dringend eine Pfeife stopfen, denn die Lady lässt mich hier nicht rauchen.« Er zwinkerte Sabriski zu.
»Du wirst an Zungenkrebs sterben.«
»Und du an Nasenkrebs, weil du deinen Riechkolben ständig in fremder Leute Angelegenheiten steckst«, konterte Philipp und verpasste Sabriski einen Klaps auf den Po.
»Frechdachs!«
»Ciao, Jana.«
Als Philipp den Saal verlassen hatte, wurde Sabriski plötzlich ernst. Sie ließ die Hände in den Taschen des Kittels verschwinden und starrte mit ausdrucksloser Miene zu Boden. Mit einem Mal wirkte sie verkrampft, ihre sonstige lockere Fröhlichkeit war verflogen. Lag es an ihm? Lag es daran, dass sie mit ihrem Exfreund allein in einem Raum war? Früher hatten sie auf solche Gelegenheiten gewartet, heute war das anders.
»Das ist ein beschissener Fall!«, murmelte Körner, nur um überhaupt irgendetwas zu sagen, damit das Gespräch wieder in Gang kam. Er schüttelte den Kopf. »Koren und Berger denken an einen psychisch kranken Serienmörder, was ich nach wie vor für unwahrscheinlich halte. Ich glaube, das Mädchen wusste etwas und wurde zum Schweigen gebracht. Der Killer hat den Tatort bloß als Spielfeld eines verrückten Serienmörders inszeniert. Doch Philipp und du kommt mit einem unbeabsichtigten Mord und einer Drei-Täter-Theorie daher. Schöne Auswahl …«
»Und falls nichts von alldem zutrifft?«, flüsterte sie.
Hatte er richtig gehört? Körner starrte sie lange an. »Was meinst du damit?«
»Was wäre, wenn es sich hierbei um etwas völlig anderes handelt?« Sie atmete tief durch und setzte sich die Brille auf. »Ich habe gewartet, bis Phil weg ist. Er hätte nur blöde Witze darüber gerissen. Schau her, ich zeige dir ein paar Dinge, die die Laborassistenten und ich bei der Autopsie herausgefunden haben. Beginnen wir damit: Möchtest du wissen, woran sie gestorben ist?«
Körner starrte auf die Tote und rief sich das zerfetzte Rückgrat in Erinnerung. Was für eine verrückte Frage! »Sie ist verblutet.« Mit einem Mal war er sich gar nicht mehr so sicher.
»Stimmt, das wäre sie. Doch zuvor ist sie erstickt. Ich weiß, für einen Laien wie dich klingt das verrückt, doch Tatsache ist: Durch die hohe Dosis Valium litt sie bereits unter Atembeschwerden, fünfzehn Minuten später wird ihre Wirbelsäule zerschmettert. Noch in der gleichen Sekunde fällt das komplette vegetative Nervensystem aus. Die Atmung versagt, das Mädchen erstickt.«
»Woher kamen die riesigen Blutlachen?«
»Der Markkanal ist stark durchblutet, durch die gesprengten Knochen ist das viele Blut zu erklären.«
»Zerschmetterte Wirbelsäule, gesprengte Knochen«, wiederholte er und rieb sich die Schläfen. »Sie war vierzehn. Erst heute Morgen habe ich dem Bürgermeister erklärt, sie hätte noch eine Familie gründen können.«
»Hätte sie nicht«, widersprach Sabriski tonlos. »Sie hatte Knochenmarkkrebs, ihr Körper war bereits voller Metastasen. Aber das ist nebensächlich.« Sie wischte den Einwand mit der Hand beiseite. »Kommen wir zum zweiten Punkt: die Tatwaffe! Was für ein Ding kann eine solche Wunde anrichten?«
»Ein Fleischermesser?«, vermutete er.
»Falsch! Der Rücken des Mädchens wurde nicht zerschnitten oder zerhackt, sondern regelrecht zerrissen. Dafür kommt kein Messer in Frage.«
»Sondern?«
Sie hob die Schultern. »Tja, das ist der merkwürdigste Punkt dieser Autopsie. Wir wissen es nicht. Ich habe keine Erklärung für eine Tatwaffe, sondern nur das hier.«
Sie nahm ein Knochenstück vom Tablett und hielt es ins Licht der Neonlampe. So viel Körner erkennen konnte, war der Knochen in der Mitte gebrochen und wurde von Klammern zusammengehalten.
»Der dritte Lendenwirbel! Er ist wesentlich größer als die anderen. Er ist in fünf Teile zersplittert; die Laborassistentin hat ihn zusammengesetzt. An diesen Punkten sind drei Saugstellen zu erkennen.«
Sabriski deutete auf drei kreisrunde Stellen, die in einem Halbkreis wie von einer Fräsmaschine in den Knochen gebohrt worden waren. Sie drehte den Wirbel herum. »Auf der Höhe des zweiten Lendenwirbels endet das Rückenmark. Exakt an dieser Stelle, zwischen dem zweiten und dritten Lendenwirbel, siehst du diese säureartige Abnützung, als wollte jemand den Rückenmarkkanal punktieren.«
Körner betrachtete den Knochen. Er glaubte, eine fein abgeschliffene Stelle zu erkennen, so, als sei die Kante mit einer Feile poliert worden. »Hilf mir auf die Sprünge. Worauf willst du hinaus?«
»Um es kurz zu machen: Sabine Krajniks Rückgrat wurde punktiert, um ihr Rückenmark und Liquor zu entnehmen. Wir haben in der Wunde Spuren des Marks und der Gehirnflüssigkeit entdeckt.«
»Gehirnflüssigkeit in der Wunde?« Körner deutete stirnrunzelnd auf den Rumpf der Leiche.
»Mein Gott, bist du ungebildet.« Sie verdrehte die Augen. »Das Gehirn schwimmt im so genannten Liquor, der Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit, die von der vierten Hirnkammer die Wirbelsäule bis zum Kreuzbein hinunterfließt, wo es die Wurzeln der unteren Rückenmarknerven umspült.«
Körner sah sie verständnislos an. Sabriski ging um ihn herum, fuhr ihm mit dem Zeigefinger die Wirbelsäule entlang und bohrte ihm den Finger über dem Gesäß in den Rücken. »Exakt bis da hin! Das Rückenmark schwimmt in dieser Flüssigkeit richtiggehend wie in einem Wasserbett… sogar deines!«
Er bemerkte, wie sie sich regelrecht um einen besonders ätzenden Tonfall bemühte. Danach wurde sie wieder ernst. »Vermutlich wurden dem Mädchen ein Milliliter Rückenmark und zwei Milliliter Liquor entnommen.«
»Jana, ich möchte mir einen Crash-Kurs in Biologie ersparen. Bleiben wir bei den simplen Fakten: Heißt das, unser Mörder ist ein Arzt?«, versuchte er zu resümieren. In Gedanken sah er Dorfarzt Weber vor sich, der im Rot-Kreuz-Wagen gegenüber der Reporterin saß und die leeren Ampullen wegpackte.
Sabriski wiegte zweifelnd den Kopf. Gedankenverloren drehte sie den Wirbel zwischen den Fingern. »Normalerweise wird Knochenmark aus der Hüfte, am Beckenkamm entnommen und Liquor zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel mit einer Hohlnadel punktiert, weil es dort kein Rückenmark mehr gibt, das verletzt werden könnte. Eine hochriskante Sache, da im Rückenmarkkanal sämtliche Nerven eingebettet liegen.« Sie hielt den Lendenwirbel hoch. »Doch ausgerechnet an dieser Stelle den Rückenmarkkanal mit einem Lendenstich zu punktieren, ist schlichter Wahnsinn …« Sie schüttelte den Kopf, als könne sie es selbst nicht glauben. »Außerdem hat das Mädchen bei diesem Eingriff aufrecht gestanden, was an den Blutspuren an der Wand eindeutig zu erkennen war, wohingegen man einen Lendenstich bei einer sitzenden, nach vorne gebeugten Person macht.« Sie legte den Wirbel zurück aufs Tablett.
Körner versuchte, sich die Szene am Tatort vorzustellen und dachte unwillkürlich an das Eisengestell. »Oder bei einer Person, die mit Lederriemen und Seilzügen vornübergebeugt wird«, ergänzte er.
Sie nickte knapp. »Jedenfalls muss dieser jemand, ob Arzt oder nicht, entweder größenwahnsinnig oder ein wahrer Künsder sein, und dabei ist es irgendwie zu diesem Schlamassel gekommen.« Sie deutete auf die Leiche und ließ ratlos die Schultern sinken. »Irgendwie?«
»Ja - irgendwie. Ich weiß«, rief sie, um ihm zuvorzukommen, »in der Medizin gibt es kein Irgendwie, und ich habe dieses Wort noch nie bei meinen Autopsieberichten verwendet, aber in diesem Fall kann ich es nicht anders beschreiben.«
»Schon gut.« Er hob beschwichtigend die Arme. »Kommen wir noch einmal zur Tatwaffe. Womit wurde das Mädchen punktiert, und welches Gerät hat sich an dem Wirbel festgesaugt?«
Sabriski starrte ihn stumm an. Sie schüttelte den Kopf. »Kein Gerät.«
»Eine Zange, ein Stahlstift, ein Mikro-Greifarm, ein Kabel, was weiß ich …«
»Nein, nichts davon.« Sie kaute an der Unterlippe. »Aber wir haben zwei Dinge in der Wunde entdeckt. Erstens eine Kochsalzlösung mit hohem Fluimucil-Gehalt, ein Schleim lösendes Mittel. Das ist der Grund, weshalb es am Tatort nach Schwefel stank.«
»Der Geruch nach verfaulten Eiern«, erinnerte sich Körner.
Sie nickte. »Und zweitens, was noch viel sonderbarer ist, konnten wir diese organischen Fragmente von der Wunde isolieren.« Sie zeigte auf ein Dutzend Gläser, die randvoll mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt waren. »Diese Überreste stammen nicht von der Leiche. Haare, Knochensplitter, Knorpel, Fleischfetzen, Hautteile und Blutspuren. Aber auch Stücke von Zahnbein und Wurzelhaut, wie sie im menschlichen Gebiss vorkommen.«
Der Fall wurde immer verrückter. Körner wagte nicht daran zu denken, und dann tat er es doch, und ihm wurde schlagartig übel. »Das bedeutet, jemand hat in die Wunde gebissen?«
»Nein, keine Bissspuren, Gott behüte!«
»Was bedeutet es sonst? Hat sich der Täter verletzt? Hat er Spuren seiner eigenen Wunde an der Leiche hinterlassen?«
»Tja, falls es tatsächlich Spuren des Täters sind, haben wir ein ernstes Problem.« Sie schritt entlang der Flaschen und schnippte mit dem Fingernagel gegen jedes Glas. »Diese Teile weisen Zellatypien auf. Sie stammen von einem anderen Gewebe und haben einen anderen Zellkern.«
Körner betrachtete die Glasbehälter. Für ihn sahen sie nach Miniatur-Wassergläsern aus, worin winzige Partikel schwammen. »Du sprichst in Rätseln. Ich bin kein Mediziner. Was heißt anders?«
»Anders heißt: nicht-menschlich.«
Er ließ die Worte auf sich wirken und dachte nach. »Also tierisch! Ein Hund hat sie zerfleischt. Vielleicht der Köter, der in die Bar gelaufen ist…?«
Sie schüttelte den Kopf. »Auch nicht tierisch.«
»Wovon zum Teufel sprichst du?«
Sie sah ihn ratlos an.
Erst jetzt wurde ihm klar, was sie zuvor gemeint hatte, als sie behauptete, Philipp hätte nur blöde Witze über ihre Erklärungen gerissen. Das war noch milde ausgedrückt. Philipp hätte sie und ihre Assistenten von der Uni gnadenlos auf die Schippe genommen, sie mitsamt ihrem Gerede über zerrissene Wunden, zersplitterte Rückenwirbel, punktierte Gehirnflüssigkeit und nicht-menschliches Zahnbein nach Strich und Faden verarscht. Und Körner hätte es ihm nicht einmal übel nehmen können. Er selbst fand es nicht minder abstrus. Hätte er nicht gewusst, dass Sabriski eine der besten Gerichtsmedizinerinnen war, hätte er sie für verrückt erklärt.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie leise. »Aber es kommt noch schlimmer.«
Sie ging auf die andere Seite des Saals und schaltete den Monitor an, der an einer Kamera und dem Videorekorder hing. Die schwarze Mattscheibe knisterte und wandelte sich in ein weißes Bild. Auf dem Monitor waren handtellergroße, durchsichtig schimmernde Kreise zu sehen, die wie in einer Flüssigkeit schwammen.
»Das ist die Zelle eines verhornten Epithelgewebes. Du erkennst es an den beweglichen Zellfortsätzen, den Zilien. Die Zelloberfläche sieht aus wie ein Bürstensaum.« Sie zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche ihres Kittels und zeigte ihm die Stellen am Monitor.
»Bürstensaum, aha«, murmelte Körner. Der Anblick erinnerte ihn an eine pulsierende Qualle, die er als Junge an der Küste Kroatiens mit einem Fischernetz gefangen hatte. Regelmäßig war er mit seinen Eltern in den Sommerferien an den Strand gefahren, doch die Urlaube dauerten nie länger als fünf Tage.
»Diese Zellen sind etwa acht Tausendstel Millimeter groß«, fuhr Sabriski fort. »Das ist die Aufnahme des Elektronenmikroskops mit zwölftausendfacher Vergrößerung. Damit haben wir das fremde Gewebe untersucht. Die Fleischfetzen, Hautteile, Knorpel- und Blutspuren weisen eine Eigenautonomie auf.« Offensichtlich hatte sie seinen fragenden Blick bemerkt, da sie nach einer kurzen Pause weitersprach. »Normalerweise müsste der Zerfallsprozess bereits eingesetzt haben, doch das Gegenteil ist der Fall. Sämüiche Teile weisen eine erhöhte Zellteilung auf, das Gewebe aktiviert sich von selbst, und die Nerven reagieren auf Einflüsse von außen.«
Körner wollte den Quatsch nicht länger hören. Genervt blickte er auf die Uhr. »Das Mädchen ist seit neun Stunden tot. Wie kann …?«
»Aber nicht die organischen Fremdkörper in ihrer Wunde.«
»Das ist doch Blödsinn!«
»Schau hin!« Sie klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Monitor. »Das nennst du Blödsinn? Wäre das eine abgetötete Zelle, müssten wir eine feine fadige beziehungsweise körnige Struktur erkennen. Beides ist aber nicht der Fall.«
»Und wenn du dich irrst?«
Sie verzog den Mund. »Kann sein, dass ich mich irre, doch nicht das Elektronenmikroskop!«
»Dein Videoband hat einen Fehler«, behauptete er.
Sie lachte laut auf. »Das ist eine Live-Aufnahme. Die Teile bewegen sich in diesem Moment unter dem Mikroskop. Das Gewebe ist nicht tot. Es lebt weiter für sich allein! Was du hier gerade siehst, ist eine Zellteilung.« Sie fuhr mit dem Stift über den Monitor. »Der Zellkern ist der Träger der Vererbung und enthält in den Chromosomen die Gene. In diesem Moment werden die Chromosomen sichtbar … jetzt! … schau hin, jeder DANN-Faden verdoppelt sich.«
Widerwillig betrachtete Körner das Monitorbild. Die quallenförmige Kugel, die Sabriski als Zellkern bezeichnet hatte, wurde in der Mitte wie mit einem Faden durchschnürt. Die beiden Hälften spalteten sich voneinander ab, existierten allein weiter und wuchsen rasch zur vollen Größe heran. Er bemerkte, wie Sabriski fasziniert auf den Bildschirm starrte, doch nichts von ihrer Begeisterung sprang auf ihn über.
»Okay, Schluss damit!«, sagte er. »Erzähl mir einfach nur, womit wir es hier zu tun haben.«
»Sieh doch! Nach der Zellteilung wachsen die beiden Tochterzellen zur Größe der Mutterzelle heran … unglaublich!« Sie schluckte. »Was du gerade in zehn Sekunden Originalzeit gesehen hast, dauert normalerweise zwischen fünf und acht Stunden, die Zellteilung selbst noch einmal eine volle Stunde.«
»Jana, bitte! Beantworte mir nur eine einzige Frage: Wer oder was hat auf dieses Mädchen eingestochen?«
»Alex, du verstehst es immer noch nicht!« Sie betrachtete ihn erschöpft. »Es ist nicht von außen auf das Mädchen eingestochen worden, sondern aus ihrem Leib ist dieser Fremdkörper ins Freie getreten - und zwar mit einer solchen Wucht, dass ihre Wirbelsäule freigelegt wurde.«
»Ihr Rücken ist von innen aufgeplatzt?«, rief er. »Das soll ich dir glauben?« Er blickte sich im Saal um, ob sich einige Medizinstudenten hinter dem Wandschrank versteckten und sich vor Lachen bogen. Doch Sabriski sah ihn todernst an. Schließlich musste er grinsen. »Entschuldige bitte.« Er konnte sich nicht mehr beherrschen und lachte auf.
Da schaltete sie den Monitor mit einer abrupten Bewegung aus. »Es war ein Fehler, ich hätte dir die Mikroskopaufnahme nicht zeigen sollen.« Sie kramte in einer Schublade und nahm einige Seiten Computerausdrucke zur Hand. »Ich muss diese Gewebeproben zur DANN-Analyse nach Innsbruck ins Labor schicken. Danach wissen wir mehr. Bis dahin kann ich dir nur mit anders und irgendwie dienen.« Sie drückte ihm die Papiere in die Hand. »Das ist der vorläufige Bericht, ob du ihn nun haben willst oder nicht.«
»Du bist die beste, Jana, ich …«
»Ja, ja, hör schon auf, dich bei mir einzuschmeicheln.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich weiß, was du denkst, aber ich bin nicht verrückt, und die Geräte funktionieren einwandfrei.«
»Tut mir Leid. Ich glaube dir und werde deinen Bericht lesen.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Merkwürdigerweise drehte sie den Kopf nicht zur Seite, sondern ließ es sich gefallen. Dabei merkte er, sie roch wie früher, nach ihrer Seifenmarke, ihrem Parfüm und Haarshampoo und dem vertrauten Geruch ihrer selbst gestrickten Rollkragenpullover. Er liebte diese Kombination, sie hatte etwas Warmes und Geborgenes.
Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde sie wieder sachlich. »Wenn du an den Auswertungen zweifelst, kannst du Kurt Seiser oder Günter Marks hinzuziehen, aber die werden dir dasselbe sagen.«
Er wehrte ab. »Ist schon in Ordnung. Ich muss weiter ins Nervenkrankenhaus nach Kierling! Ich sollte zusehen, dass ich aus der Reporterin etwas herausbekomme, anschließend besuche ich Philipp im Labor und hole mir seinen Bericht und die Fotos von Basedov.«
Er ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal um, als er schon die Klinke in der Hand hielt. »Ach ja, eine Sache noch …« Er kratzte sich im Nacken. »Philipp sagte, in Krems ’96 und in Gmunden ’98 habe er ähnliche Fälle untersucht. Es ist nur so eine Idee, aber tu mir bitte den Gefallen und besorge mir die damaligen Obduktionsberichte.«
»Ich werde es probieren …«
Er war schon zur Tür draußen.
»… und Alex!«
»Ja?« Er wandte sich ein letztes Mal um.
Sie stand neben dem schwarzen Monitor und dem Elektronenmikroskop, unter dem sich noch immer minütlich die Zellen teilten. »Ich weiß nicht, womit wir es hier zu tun haben. Sei vorsichtig! «
7. Kapitel
Die Büros in der dritten Etage des Landesgendarmeriekommandos waren menschenleer. Die große Wanduhr über dem Eingang des Reviers zeigte 19.00 Uhr. Körner hatte alle Unterlagen beisammen und marschierte mit einem dicken Stapel Akten unter dem Arm durch den Gang. Zum Glück waren die Hyänen nicht im Bau. Breitner und Sedlak waren im Einsatz, und Kretschmer saß im Verhörraum. Schwaiger war am harmlosesten von allen.
Er hatte Journaldienst und brütete mit den Füßen auf dem Tisch über einer Zeitung. Von ihm erfuhr Körner, dass Jutta Koren mit Staatsanwalt Hauser, dem Landesgendarmeriekommandanten Bejk und dem Innenminister zu Abend aß, wahrscheinlich im Plachutta, dem Nobelrestaurant im ersten Wiener Gemeindebezirk, da ein anderer Schauplatz für ein derartiges Treffen kaum in Frage kam.
Körner stieß die Tür zu seinem eigenen Büro auf und knallte die Unterlagen auf den Schreibtisch. Der Raum war nur halb so groß wie Jutta Korens Büro, und das Fenster zeigte in den tristen Innenhof des Gebäudes. Ein Straßenbüro hätte er ohnehin abgelehnt, da er Ruhe brauchte, um sich ohne Verkehrslärm in die Unterlagen seiner Fälle zu vergraben. Nur wenige Autos standen auf dem Parkplatz, das Laternenlicht spiegelte sich in den Pfützen, und launenhaft peitschte der Wind den Regen ans Fenster. Der Heizkörper knisterte, die Luft im Zimmer war muffig und durchtränkt von Pizzageruch und Sonja Bergers Parfüm. Sie hatte den Telefonhörer zwischen Wange und Schulter geklemmt, kritzelte in einen Block und sah kurz hoch.
»Ja, sehr schön.« Sie legte auf. »Das war der hundertste Anrufer, der Sabine Krajnik stranguliert haben will«, klagte sie. »Der Portier stellt alle Telefonate durch … ich komme zu nichts.«
»Die meisten sind von der Presse. Die arbeiten mit allen Tricks, um etwas über den Fall zu erfahren.« Körner hängte Mantel und Sakko über den Kleiderhaken und setzte sich ans andere Ende des Schreibtischs. »Wie war Ihre Heimfahrt von Grein?«
»Großartig.« Sie warf ihm einen bissigen Blick zu. »Ein pubertierender, pickelgesichtiger Beamter hat mich hier abgesetzt. Der hatte bestimmt noch keinen Führerschein. Anschließend wollte er mich unbedingt zum Essen einladen, aber ich hatte keinen Appetit.«
Er nickte nur und betrachtete den zusammengefalteten Pizzakarton im Mülleimer. »Sie haben ein nettes Rendezvous mit einem jungen Mann ausfallen lassen.«
»Außerdem hat er mir während der gesamten Fahrt auf den Busen gestarrt.«
Körner grinste. »Seien Sie nicht so streng, das habe ich bei der Hinfahrt doch auch getan.«
»Nein, haben Sie nicht«, entgegnete sie ernst. »Ich weiß, ich bin ein Idiot!«
Schlagartig bekam sie rote Wangen und wich seinem Blick aus. Es war das erste Mal in den drei Wochen gewesen, dass er ihr ein Kompliment machen wollte - wenn auch nicht gerade auf die charmanteste Weise, wie er sich eingestand - und er war verdammt noch mal aus der Übung.
Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich nach vorne. »Packen wir es an. Was haben Sie herausgefunden? Und die guten Nachrichten zuerst.«
Sie sah ihn mit müden Augen an. Er wusste, die dunklen Ringe waren echt und stammten nicht von zerlaufener Schminke. »Es gibt keine guten Nachrichten. Zunächst habe ich bei der Spurensicherung nachgefragt, und Rolf Philipp hat mir seinen Bericht über das ovale Tuch mit den Initialen BF gefaxt. Es ist aus Baumwolle, die Initialen und das Rosenmuster mit einem Goldfaden gestickt. Es muss an die zwei Jahre alt sein und diente wahrscheinlich als Unterlage, eine so genannte Platzdecke, wie man sie häufig in den Wohnungen älterer Damen findet. Spuren von Zigarettenrauch sind im Tuch, Speichel- und Lippenstift-Rückstände stammen ausschließlich von der Leiche. Mehr haben wir nicht.«
»Irgendwelche Hersteller herausgefunden? Firmen, die bestimmte Stoffe …«
Sie lachte leise. »Von diesen Baumwolltüchern gibt es Millionen. Die werden den Heurigen- und Jahrmarktbesuchern förmlich nachgeschmissen.«
»Gut, weiter.«
»Ich habe Chuck Rainer aufgetrieben, den Besitzer der Diskothek.«
»Na also! Nehmen wir den Kerl ins Verhör.«
»Vergessen Sie das! Er war von gestern Abend bis heute Morgen in der Steiermark und hat in einem Nachtclub CDs aufgelegt. Falls das wahr ist, haben ihn Hunderte Gäste gesehen, und der Kerl besitzt ein wasserdichtes Alibi. Kempen prüft das gerade.«
»Was noch?«
»Ich habe Sabines Handy-Telefonate aus der Mordnacht überprüft. Sie führte nur ein Gespräch, und zwar mit einem gewissen Martin Goisser. Sagt Ihnen der Name etwas?«
»Sollte er das?«
»Ein Junge aus dem Ort, dürfte in Sabines Alter sein.«
Goissers gab es in der Umgebung vermutlich viele, doch verband er im Moment kein Gesicht damit. »Ist notiert! Den knöpfen wir uns morgen vor. Was haben Sie noch?«
Sie zuckte die Achseln, dabei verzog sie schmerzhaft das Gesicht. Er bemerkte die Erhöhung unter dem Schulterteil ihres Sweaters. Das Schulterpolster fehlte, stattdessen sah er die Umrisse des Verbands. Die Mullbinde erinnerte ihn an die Schießerei des gestrigen Abends, und die geistige Assoziationskette funktionierte wie eine perfekt eingespielte Routine: entsicherte Waffe - Handgemenge - Schießerei - verletzter Beamter - Geiselnehmer im Koma - Rechtsanwalt - Presse - Disziplinarverfahren - Anhörung vor Gericht - Suspendierung … mit einem Wort: Sein Leben war im Arsch. Alles hing von diesen Ermittlungen ab.
Er drängte diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Berger, die in den Unterlagen kramte.
»… keine Augenzeugen. Niemand hat Sabines Fußmarsch vom Haus ihrer Eltern zur Bar beobachtet, ich habe alle Häuser abgeklappert und mir dabei die Füße wund gelaufen. Seit ich hier bin, hänge ich am Telefon. Ich habe Hunderte Anrufer notiert und die ersten Dutzend Hinweise zu einer Liste erstellt. Allein wäre ich in der Flut erstickt, aber Kempen und Malik vom Nebenbüro halfen mir, die Daten der Reihe nach durchzuackern und auszusieben. Dutzende wollen Sabine getötet haben, doch alle Möchtegern-Täter reden nur vom Strangulieren, so konnten wir sie von vornherein ausschließen. Jedenfalls war der echte Täter nicht unter den Anrufern. Niemand brüstete sich damit, das Mädchen in den Rücken gestochen zu haben.«
In den Rücken gestochen!Vor wenigen Stunden hatte er das selbst noch geglaubt, doch wenn Sabriski Recht behielt, war selbst das nicht der Fall. In Wahrheit suchten sie nach einem Mörder, der es zu Wege gebracht hatte, das Mädchen von innen zu zerreißen und ihm das Rückgrat zu sprengen. Er dachte an das fremde Gewebe in der Wunde, das eine erhöhte Zellteilung aufwies und sich von selbst regenerierte. Im Moment sagte er Berger nichts davon, sie würde Sabriskis Autopsiebericht noch früh genug lesen.
»Was gibt es bei Ihnen Neues?«, fragte sie.
Er ließ den Stift auf die Schreibtischunterlage fallen. »Der Fall ist absolut verrückt! Philipp und Sabriski sind davon überzeugt, dass es keine vorsätzliche sondern eine spontane Tat war, etwas, das außer Kontrolle geriet.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Einige Ergebnisse sprechen dafür«, gab er zu bedenken, »doch glaube auch ich nicht so recht an eine Affekthandlung. Es muss ein geplanter Mord gewesen sein, sonst hätte er nicht angekündigt werden können.«
»Sie vergessen, der Mord wurde nicht angekündigt. Lediglich, dass etwas Schreckliches in den Morgenstunden passieren würde.«
»Herrgott, Sie reden wie Sabriski.« War er der Einzige, der den Mord für ein raffiniertes Verbrechen hielt? Irrte er am Ende? War es tatsächlich bloß ein schrecklicher Unfall gewesen - oder das beliebige Werk eines wahnsinnigen Serienkillers? Doch wie hätte ein solcher Killer diese Wunde zu Stande bringen sollen?
»Außerdem konnte uns Sabriski keine Mordwaffe liefern, die Wunde muss irgendwie anders entstanden sein.«
»Und zwar?«
»Sie weiß es nicht«, log Körner. »Sie möchte noch den Laborbefund aus Innsbruck abwarten. Jedenfalls glauben Philipp und Sabriski, dass es drei Täter waren.«
»Drei Täter? Meine Güte, wie kommen die darauf?«
»Steht alles hier drin.« Er tippte auf den Aktenstapel. »Hier ist Sabriskis gerichtsmedizinischer Bericht, Philipps Spurensicherungsbericht, der Tatortbefundbericht, die Zeichnungen, Skizzen, Fotos und Zeugenaussagen, welche die Beamten vom Gendarmerieposten Neunkirchen aufgenommen haben.«
»Haben Sie das alles schon gelesen?«
»Noch nicht. Ich komme gerade vom Spurensicherungsbüro, zuvor war ich in Kierling bei der Reporterin. Es sieht schlecht aus. Sie ist vollkommen weggetreten. Dieser unfähige Kerl von Dorfarzt hat sie komplett mit Haldol voll gepumpt, die bekommt nicht einmal ein Auge auf. Dabei hätte ich nur eine Minute mit ihr sprechen müssen. Eine Minute! Das hätte gereicht!« Er klatschte die Faust in die Hand. »Sie hätte mir sagen können, was für ein Ding im Rücken der Kleinen steckte, und ob es drei Täter waren, oder ob es nur einer war! Das wäre ein Meilenstein im Fortgang der Ermittlungen gewesen. Dieser Mistkerl! Ich bin selbst schuld, ich hätte sofort mit ihr sprechen und mir anschließend den Tatort ansehen sollen.«
»Beruhigen Sie sich, die Reporterin wird schon zu sich kommen, dann haben wir eine Augenzeugin. In der Zwischenzeit bleibt uns das hier.« Sie starrte auf den Aktenberg, der als schiefer Turm auf dem Schreibtisch stand.
»Sie haben Recht.« Körner kippte den Stapel, verteilte die Flügelmappen und ließ sie der Reihe nach zu Berger über den Tisch schlittern.
Sie griff nach der ersten Akte. »Lesen wir uns ein.«
Er stand auf. »Wollen Sie auch eine Tasse Kaffee?«
Eine Stunde später hatten sie den Autopsiebericht und sämtliche Protokolle mindestens dreimal gelesen, Notizen und Querverweise dazugeschrieben, die Daten miteinander verglichen, Fotos an die Pinnwand gesteckt und eine endlose Liste mit Fragen formuliert. Nach acht Uhr abends telefonierten sie schließlich mit dem Bauamtsleiter von Neunkirchen, dirigierten ihn von der Wohnung in sein Büro und ließen sich aus der Katastermappe mehrere Grundstückspläne von Grein am Gebirge aufs Revier faxen. Damit erstellten sie einen Lageplan des Ortes, maßen die Entfernungen der einzelnen Schauplätze ab, berechneten Wegzeiten und konstruierten mögliche Ablaufpläne. Sie spielten das Szenario des Mordes ein gutes Dutzend Mal nach den verschiedensten Varianten in Gedanken durch, kamen jedoch zu keiner Lösung, bei der alle Fakten nahtlos ineinander übergingen und sich gegenseitig erklärten - immer spießten sich einige Sachverhalte mit anderen, und am Schluss tauchten mehr Fragen auf, als sie hatten lösen können.
Eine Menge leerer Kaffeebecher stand auf dem Tisch, und Körner brummte vom Koffein der Schädel. Das Blut pochte höllisch hinter seiner Schläfe, und er fürchtete, die gesamte Nacht kein Auge zuzutun. Er stand auf und kippte ein Fenster. Frische Luft bauschte den Vorhang. Er blickte auf die Uhr.
»Halb zehn«, brummte er.
Berger lehnte sich zurück und streckte die Arme von sich. »Ich hab mir alle Berichte durchgesehen, fast nichts davon ist brauchbar. Kein einziger Fingerabdruck auf der Leiche. Philipp hat auf dem Fluchtweg des Täters durch den Hinterausgang der Bar keine Spuren gefunden und die Gendarmen im Umkreis von einem Kilometer ebenso wenig.« Sie gähnte verhalten. »Am verrücktesten von allen ist Sabriskis Autopsiebericht von den fremden organischen Fragmenten in der Wunde des Mädchens und die erhöhte Zellteilung des Gewebes … das passt überhaupt nicht ins Schema.«
»Ich weiß«, seufzte Körner. Er starrte auf die an die Pinnwand gehefteten Blätter und Bergers Kritzeleien. Er kannte den Prozess: Sie verrannten sich in einer Sackgasse und sahen den Fall mit Scheuklappen.
»Das alles hilft uns nicht weiter, wir drehen uns im Kreis.« Er nahm die Unterlagen vom Tisch und häufte sie auf der Kommode zu einem Stapel. »Weg damit! Vergessen wir die Polizeiprotokolle, beginnen wir bei Null. Was haben Sie im Ort über Sabine Krajniks Leben herausgefunden?«
Berger griff zu ihrem Notizblock.
Körner stoppte sie. »Nicht aus den Mitschriften, lassen wir die beiseite. Erzählen Sie mir aus dem Bauch etwas über das Mädchen. Woran erinnern Sie sich? Wie schätzen Sie die Kleine ein?«
Berger schob den Papierblock von sich weg. »Sabine war musikalisch. Sie interessierte sich für Musicals und übernahm bei den Schulaufführungen immer eine der Hauptrollen. Zweimal pro Woche nahm sie nach der Schule Gitarreunterricht. Nach der vierten Klasse Sporthauptschule wollte sie die Musikschule besuchen und als zweites Instrument Klavier lernen. Den Eltern fehlte dafür allerdings das Geld. Sie wollten, dass Sabine nach der neunten Schulstufe in die Lehre ging, um später den Schlachthof weiterführen zu können. So viel ich bisher über das Mädchen weiß, hätte sie das nie gewollt. Sie war schlicht die falsche Kandidatin für diesen Job. Ich kann es ihr nicht verdenken.«
Berger schwang im Sessel herum und betrachtete Sabines Foto an der Pinnwand, als suche sie nach weiteren Assoziationen. »Ab und zu war sie mit den Rollerblades unterwegs, brach sich jedoch dieses Frühjahr das Bein und hat die Schuhe seitdem nicht mehr getragen. Weshalb sie die Sporthauptschule besuchte, weiß ich nicht, denn so viel ich herausfand, war sie nicht wirklich sportlich. Schifahren, Schlittschuhlaufen, Aerobic oder Radfahren zählten nicht zu ihren Hobbies. Stattdessen interessierte sie sich für Malerei, Popmusik und Bücher. Nach der Literatur in ihrem Bücherregal zu schließen, wäre sie in einem Gymnasium besser aufgehoben gewesen als in einer Sporthauptschule: Hesse, Kafka, Schnitzler und Dürrenmatt dürfte sie verschlungen haben. Sie schrieb für ihr Alter typische Gedichte … Herz-Schmerz-Lyrik!« Berger lächelte. Erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend?
»Mit den Burschen und Mädchen im Ort hatte sie nicht viel am Hut. Die meisten fuhren mit dem Schulbus in die nächstgelegene Hauptschule nach Schwetz und nicht nach Neunkirchen.«
»Schwetz kenne ich«, murrte Körner, ließ es aber beiläufig klingen.
Vielleicht dachte sich Berger ihren Teil, schenkte seinem Kommentar jedoch keine Bedeutung. »Sabine war im Ort zwar nicht ausgesprochen beliebt, doch auch nicht gerade das Gegenteil. Es gab keine Fehden, keine Feinde, keine Streitereien, keine Hassbeziehungen. Wem nützte also die Tat? Wer kommt in Frage? Keine Ahnung!« Sie zuckte mit den Achseln. »Einziges mageres Motiv: Sabine wollte weder dem Kirchenchor beitreten noch den Schlachthof der Eltern übernehmen. Ein ziemlich dünner Beweggrund«, gab sie zu. »Deshalb ein Mädchen zu ermorden, erscheint völlig absurd.«
»Doch welches Motiv auch immer es war«, warf Körner ein, »jemand wusste davon und gab der Zeitung einen anonymen Tipp. Derjenige muss entweder der Mörder sein, oder zumindest den Mörder kennen. In dem Ort gibt es folglich jemanden, der etwas weiß!«
»Oder in der Schule in Neunkirchen.«
»Mag sein, jedenfalls müssen wir diese Person finden. Was ergab Sabines Tagebuch?«
Die Kriminalpsychologin lächelte wehmütig. »Das Tagebuch«, ächzte sie. »Gedichte über Weltschmerz, Lyrik über Liebe, Tod und Leid, alternativ grün angehaucht, für die sozial Schwachen, gegen die Missstände dieser Welt… das Übliche eben! Tiefsinniges Teenager-Gerede über Beziehungen, doch kein konkreter Hinweis, der uns eine Spur zu ihrem Mörder geben könnte. Einzig ein Junge taucht immer wieder auf: Martin! Bestimmt wusste sie es selbst noch nicht, doch bin ich mir sicher, sie war in den Burschen verliebt.«
»Martin und wie noch?«
»Bloß Martin, kein Nachname. Er ist übrigens der Einzige im Ort, zu dem sie näheren Kontakt hatte.«
»Woher wissen Sie, dass er aus dem Ort stammt? Es könnte auch ein Schulfreund aus Neunkirchen sein«, erinnerte er sie an ihren eigenen Einwurf.
»Wohl kaum. Sie erwähnte, dass er sich für die Greiner Dorfchronik interessierte und öfters das Kirchenarchiv besuchte.«
Körner dachte nach. »Ist es etwa aVr Martin Goisser, den sie am Vortag angerufen hat?«
Berger massierte sich den Nasenrücken. »Möglich.«
Körner blickte auf die Armbanduhr, mittlerweile war es Viertel vor zehn. »Den Knaben verhören wir morgen. Machen wir weiter. Was haben Sie noch rausgefunden?«
»Ach ja … die hellen Flecken an der Tapete stammen übrigens von gerahmten Fotos. Ursprünglich hingen dort Bilder von Carina und Mathias Krajnik, Sabines älteren Geschwistern.«
Körner hob die Augenbrauen. »Die zwei haben Sie bisher mit keinem Wort erwähnt. Wo stecken die beiden?«
»Tot.« Sie kramte in den Unterlagen und fischte zwei Blätter aus einem Packen. »Der Dorfarzt stellte die Totenscheine aus.«
Sieh an, sieh an, dachte er. Sein Freund, der Dorfarzt.
»Ich habe mir auf der Gemeinde Kopien davon geben lassen. Die Krajnikgeschwister starben an Herzversagen.«
Sie reichte Körner die Blätter. Die Kopien waren ziemlich blass, trotzdem erkannte er Doktor Webers Unterschrift, die er schon auf Sabine Krajniks Totenschein gesehen hatte. Die Schrift des Arztes war unverwechselbar lang gezogen und spitz. Der Junge war am 17. August 1999 gestorben und das Mädchen am 11. Oktober 2001. Diagnose: Herzversagen.
»Traurig, zwei Kinder hintereinander zu verlieren, und zwei Jahre darauf das dritte, und noch dazu auf diese Art und Weise«, murmelte Körner. Plötzlich überkam ihn ein miserables Gefühl, sein Magen krampfte sich zusammen. Hätte er vom Tod der beiden älteren Kinder gewusst, hätte er die Eltern beim Gespräch in der Küche nicht so herzlos angefahren. Wie hypnotisiert starrte er auf die Totenscheine. Am linken oberen Rand waren die Personendaten angeführt. Anstelle des Geburtsdatums der Kinder prangte ein hellgrauer Fleck, der aussah, als habe jemand das Datum entfernt.
»Haben Sie die Fotokopien selbst erstellt?«
»Nein, Frau Lusack machte mir Abzüge davon - übrigens eine nette Dame. Warum fragen Sie?«
»Auf beiden Dokumenten wurde das Geburtsdatum mit Tipp-Ex ausgelackt.«
Sonja Berger starrte ihn an.
»Wissen Sie, wie alt die Kinder waren, als sie starben?«, fragte Körner.
»Moment, das habe ich mir irgendwo vermerkt.« Sie blätterte in den Unterlagen und schlug einen Block auf. »Mathias wurde 1985 geboren und Carina 1987.«
Körner überschlug das Alter der beiden im Kopf. »Vierzehn! Wann genau wurden sie geboren?«
»Mathias am siebzehnten August und Carina am elften Oktober.« Als Berger begriff, wurde sie blass.
»Die beiden starben exakt an ihrem vierzehnten Geburtstag, genau wie ihre jüngere Schwester Sabine.«
»Allerdings nicht auf dieselbe grausame Art … trotzdem ein bemerkenswerter Zufall«, gab Berger zu bedenken.
»Ich glaube nicht an Zufälle. Ich meine, wir sind soeben auf unsere erste konkrete Spur gestoßen.« Körner kaute an der Unterlippe. »Was wissen Sie über Sabines Eltern?«
Berger wollte bereits zum Block greifen, hielt jedoch in der Bewegung inne. »Aus dem Bauch heraus, ich weiß«, beeilte sie sich zu sagen.
Körner grinste. Die junge Dame lernte rasch. Er ließ sie in Ruhe überlegen, bis sie schließlich zu reden begann.
»Bert Krajnik, groß und kräftig gebaut, mit einer blauen Metzgerschürze, und Marga Krajnik, die kleine, pummelige Hausfrau«, rief sie sich die Szene aus der Küche in Erinnerung. »Die beiden dürften wahre Arbeitstiere sein. Er hat einen Zwanzig-Stunden-Arbeitstag, sein Job in der Metzgerei beginnt um fünf Uhr morgens und dauert bis in die Nacht, auch am Wochenende. Montag ist sein freier Tag, an dem man ihn meist beim Kartenspiel in der Dorfschenke trifft, dem Braunen Fünfender. Viel Zeit für seine Tochter blieb ihm nicht. Offensichtlich dürfte das Verhältnis zu ihr distanziert gewesen sein, zumal sie ihn in ihrem Tagebuch mit keinem einzigen Wort erwähnt. Zur Mutter hatte sie ein besseres Verhältnis.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und dachte nach. »Marga Krajnik ist im Haushalt beschäftigt und hilft im Schlachthof ihres Mannes aus. Sie ist Mitglied im Greiner Kirchenchor und berüchtigt für ihre Torten, Kekse und Kardinalschnitten. Bei Jahrmärkten, Feuerwehrfesten oder dem Maibaumfest versorgt sie den Ort mit ihren Bäckereien. Der Erlös kommt der Feuerwehr zu Gute. Wenn man bedenkt, dass Grein ein winziger Ort ist, können die Bewohner mit Stolz auf das neue Feuerwehrhaus und die beiden Feuerwehrwagen blicken. Viele der Männer sind bei der Freiwilligen Feuerwehr, und zu Wettkämpfen rückt Grein mit einem beachtlichen Team aus. Bert Krajnik ist übrigens nicht dabei.«
»Kennen Sie den Kommandanten?«
»Ein gewisser Heck …«
»Wolfgang Heck! Das hätte ich mir denken können.« Körner lächelte. Kein Wunder, dass die Truppe auf Vordermann getrimmt war, wenn Heck die Organisation leitete. Von seinem ehemaligen Schulfreund hätte er nichts anderes erwartet.
»Die Ortsbewohner machen einen kompakten Eindruck«, fuhr Berger fort, »als handle es sich bei den Vereinen um alteingesessene, zusammengeschweißte Institutionen, aber die Krajniks spielen keine außergewöhnliche Rolle in dem Treiben. Allerdings wissen die Nachbarn nichts Schlechtes über sie zu berichten: Die Frau ist freundlich und hilfsbereit, der Mann jedoch ein vergrämter Einsiedler, den man außer Haus nur in der Dorfkneipe beim Kartenspielen antrifft. Die Krajniks haben weder Schulden noch Vorstrafen und sind im Grunde eine Vorzeigefamilie, obwohl ich nicht diesen Eindruck hatte, als wir mit ihnen in der Küche sprachen. Bei jener Erinnerung läuft mir ein Schauer über den Rücken …« Sie verstummte.
»Familienverhältnisse?«, half Körner nach.
»Bert Krajnik hat drei Brüder im Ort.« Für einen Moment schielte sie auf ihren Notizblock. »Marga Krajnik ist eine geborene Wegramer und hat vier Geschwister, der älteste Bruder ist bereits gestorben. Beide Familien sind jeweils eine alteingesessene Sippe im Ort, ein so genanntes Greiner Urgestein.« Da hellte sich Bergers Blick auf. »Außerdem sind sie tatsächlich miteinander verwandt.«
»Das haben Sie geprüft?«, fragte er ungläubig.
Sie nickte. »Die Gerüchte im Dorf stimmen. Sabine Krajniks Großmutter mütterlicherseits war eine Krajnik, die einen gewissen Alfred Wegramer heiratete. Bert und Marga Krajnik sind Cousin und Cousine.«
»Oh, Gott!« Körner vergrub das Gesicht in den Händen. »Und ihre drei Kinder sind tot. Haben wir es hier mit einem Familienkrieg zu tun? Geht es um inzestuöse Verbindungen und Erbansprüche?«
»Mich wundert es nicht, dass es in Grein zu Inzucht kommt«, sagte sie frei heraus, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass Körner aus diesem Ort stammte.
Bei ihren Worten zuckte er zusammen.
»Oh!« Sie hatte es bemerkt. »Ich meine, wir sprechen hier über eine Fünfhundert-Seelen-Gemeinde mit einem halben Dutzend Großfamilien«, rechtfertigte sie sich.
Er versuchte zu lächeln. »Kein Problem. Sie haben natürlich Recht, die Entwicklung geht in diese Richtung. In den dreißiger Jahren war das anders, als noch das Bergwerk in Betrieb war.«
»Ich weiß, ich habe darüber in der Dorfchronik gelesen.«
Körner blickte sie erstaunt an. »Sie waren fleißig.«
»Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Tief im Hohen Gschwendt liegt das ehemalige Steinkohlenbergwerk. Wenn man das Dorf betrachtet, ist es kaum zu glauben, dass es vor über fünfundsechzig Jahren eine große, blühende Bergarbeitergemeinde mit über zweitausend Einwohnern war.«
»Ich kenne diese Zeit nur aus Erzählungen. Als Junge war ich in den stillgelegten Tunneln. Die Stollen mit den morschen Holzbalken, brüchigen Benzingaslampen und rostigen Gleisanlagen für die Grubenhunte waren unser Spielplatz. Allerdings haben wir uns nie weiter vorgewagt, als das hereinfallende Tageslicht reichte. Die Stollen hinter der dritten, vierten Biegung wirkten ziemlich unheimlich. Unsere Eltern hätten uns den Kopf abgerissen, wenn sie erfahren hätten, wo wir uns herumtrieben. Was erzählt die Dorfchronik über das Grubenunglück von 1937?«
»Nur, dass das Bergwerk danach stillgelegt wurde. Viele Bewohner wurden arbeitslos und zogen mit ihren Familien von Grein und Heidenhof fort. Vom Glanz der dreißiger Jahre ist nicht viel übrig geblieben. Heute lebt in beiden Orten nur noch ein Viertel der damaligen Bevölkerung.«
Er überlegte. »Wo arbeiten die Leute heutzutage eigentlich? Die pendeln doch nicht nach Wien?«
»Auch das kann ich Ihnen beantworten.« Sie reckte sich stolz, doch dann machte sie eine bekennende Geste. »Naja, der Gendarm war ziemlich gesprächig. Er erzählte mir, in Heidenhof seien viele Bauern und Viehzüchter ansässig - aber das wissen Sie bestimmt - und eine Menge der berufstätigen Männer und Frauen aus Grein arbeiten oben im Trieracher Wasserkraftwerk beim Staudamm oder noch weiter oben in Spoisdorf, in einem Chemiewerk mit rund achthundertfünfzig Beschäftigten. Das sind die beiden einzigen größeren Betriebe in der Umgebung.«
»Beides gab es damals noch nicht«, murmelte Körner. »Weder einen Staudamm noch eine Chemiefabrik …« Chemie! Das war das Stichwort. Ihm fiel etwas ein. »Wer im Ort hat Zugang zu Valium?«
Sie sah ihn überrascht an. Scheinbar konnte sie seine Gedankensprünge nicht nachvollziehen. »Der Dorfarzt«, antwortete sie verblüfft.
»Volltreffer!«, rief Körner. »Da ist er wieder, unser Dorfarzt. Eine nette Spur, der wir nachgehen sollten. Aber heute ist es schon zu spät.«
Wie auf Kommando hielt sich Berger die Hand vor den Mund und gähnte. »Tut mir Leid, ich bin müde, zu viele Daten, Fakten, Protokolle und Spuren schwirren in meinem Kopf herum. Ich sehe keine klaren Zusammenhänge mehr, dabei gibt es noch so vieles zu prüfen.«
Das war das nächste Stichwort. Körner setzte eine bedauernde Miene auf. »Ich habe übrigens mit Koren telefoniert. Wir bekommen keinen zusätzlichen Ermittler ins Team. Wegen einer Bauerngöre wird kein Zirkus veranstaltet.«
Berger schlichtete ihre Unterlagen zu einem Stoß. »Das habe ich befürchtet, doch warten wir ab, bis sich der zweite Mord im Ort ereignet. Dann werden unsere Vorgesetzten vielleicht munter.«
»Sie glauben, es geht weiter?«
Sie sah ihn ernst an. »Egal ob Serienkiller oder nicht, ob geplantes Verbrechen oder spontane Tat … ich habe die Leiche gesehen und Sabriskis merkwürdigen Autopsiebericht gelesen. Was immer es war, es hat gerade erst begonnen.«
Er half ihr, die Berichte in die Flügelmappen zu sortieren. »Jedenfalls liegen wir nicht schlecht in der Zeit, und morgen haben wir ein volles Programm.«
»Womit beginnen wir?« Sie klang nicht gerade begeistert, und er konnte es ihr nicht einmal verdenken.
»Zunächst müssen wir die Angaben von Sabines Eltern unter die Lupe nehmen, damit stimmt etwas nicht. Angeblich verließ sie um sieben Uhr mit der Schultasche das Haus, doch laut Autopsiebericht frühstückte sie erst um halb acht. Außerdem müssen wir uns noch Martin Goisser und den Dorfarzt vorknöpfen, und Sabines Schulkollegen und den Lehrern der Hauptschule Neunkirchen einen Besuch abstatten. Das sind im Moment unsere besten Spuren.«
Berger sah ihn zuversichtlich an. »Ich weiß, wie viel Ihnen daran liegt, den Fall so schnell wie möglich zu lösen. Auch wenn im Moment noch vieles verrückt klingt, bin ich mir sicher, wir sind auf der richtigen Fährte. Es liegt fast alles auf der Hand, wir müssen nur noch die Puzzleteile korrekt zusammensetzen. Sie werden sehen, morgen sind wir der Lösung des Falls einen Schritt näher.«
Er lachte bitter. »Hoffen wir es.«
Berger klemmte sich die Akten unter den Arm und ging zur Tür. Körner griff nach Sakko und Mantel und folgte ihr. Vor der Tür standen sie sich gegenüber. Er knipste das Licht aus, und als er die Tür öffnete, fiel das schwache Neonlicht vom Gang ins Zimmer.
»Was machen Sie heute Abend? Wir könnten …«
»Ich muss mich gründlich ausschlafen.« Sie blickte zu Boden. »Außerdem wartet mein Freund zu Hause auf mich.«
»Verstehe, alles klar.«
Sie verließen das Büro und gingen schweigend nebeneinander durch die Korridore des Landesgendarmeriekommandos.
»Bei dem Gedanken, morgen wieder in den Ort zu fahren, stellen sich mir die Nackenhaare auf.«
Die Aussage hätte von ihm stammen können. Verwirrt sah er sie an. Wollte sie ihn auf die Schippe nehmen? Doch ihr Gesichtsausdruck blieb ernst.
»Als Sie nach Wien fuhren und ich allein in Grein zurückblieb, spürte ich ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, das ich nicht beschreiben kann. Erst als ich mit dem Gendarmeriebeamten auf der Autobahn Richtung Wien unterwegs war, auf der Südost-Tangente im üblichen Verkehrsstau steckte, die Palmers- und MacDonald’s-Werbungen vor Augen hatte, den Millenniumstower mit den Neonreklamen, das Autohaus Frey, den Gasometer und die vertrauten Ampeln, Straßen und Kaufhäuser sah, bemerkte ich, wie fremdartig und ungewöhnlich anders es in Grein zuging. Es war, als würde ich aus einem beklemmenden Traum erwachen, eine andere Welt verlassen und in die helle Realität zurückkehren.« Ihre Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich verstummte.
Die helle Realität] Er wusste genau, was sie meinte.
»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte sie gefasst.
»Schon in Ordnung.« Ihm war es ähnlich ergangen, und er hätte es nicht treffender formulieren können. Dennoch fand er es merkwürdig, dass nicht nur er so empfand, sondern es noch jemand anderen gab, der ebenso fühlte. Aber er sagte ihr das nicht, es hätte sie unnötig beunruhigt.
Sie traten ins Freie.
»Gute Nacht.« Er ging zu seinem Wagen, der unter der Laterne stand.
8. Kapitel
Vor zwei Jahren hatte die Wiener Stadtgemeinde die Altbausanierung zum letzten Mal abgelehnt, dennoch kam das Haus in der Rashazygasse für einen Abriss nicht in Frage, da es das Bundesdenkmalamt unter Denkmalschutz gestellt hatte. Angeblich befanden sich wertvolle Stuckarbeiten im Durchgang zum Hof und in den Gängen. Alexander Körner lebte seit über fünfzehn Jahren in diesem Wohnhaus und hatte sie bisher nicht entdeckt, und so würde er weiterhin in jenem Wiener Kuriosum leben, das zu alt war, um es abzureißen - und zu neu, um es zu renovieren.
Er stieg die Wendeltreppe in den fünften Stock empor. Wie üblich roch es im Treppenhaus nach Kacheln, feuchtem Holz, dem schmiedeeisernen Stiegengeländer und dem Kalk, der sich an Tagen wie diesem mit Regenwasser voll saugte und Stück für Stück von der Wand fiel. Ab und zu mischte sich der Geruch der defekten Toilette vom Gang hinzu, die immer noch von jenen Bewohnern benutzt wurde, die sich keinen Abfluss in die Wohnung hatten legen lassen, und manchmal verirrte sich vom Dachgebälk eine Taube in das Treppenhaus, die in einem Winkel verendete und danach wochenlang vom Hausmeister nicht entfernt wurde. Im Sommer stank es trotz geöffneter Fenster bestialisch. Körner fragte sich, ob in dem Gebäude überhaupt noch ein Hausmeister lebte? Er selbst hatte nicht allzu viel Kontakt zu seinen Nachbarn, und seit im Haus hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde, dass er bei der Kriminalpolizei arbeitete, vermieden die Bewohner auch den Umgang mit ihm, als habe er eine ansteckende Krankheit. Ihm konnte das nur recht sein.
Eigentlich hätte er schon längst in das Appartement eines Neubaus übersiedeln können, doch hier fühlte er sich wohl, und so hatte er innerhalb der letzten Jahre ein Vermögen in die Wohnung gesteckt und sie Raum für Raum stilvoll eingerichtet. Er hätte kein idealeres Quartier finden können. Der Blick in den Park war ihm genauso wichtig wie die angenehme Ruhe im Haus, in dem mit seiner Ausnahme ausschließlich Pensionäre, Witwen und gebrechliche Menschen lebten. Kein Gebrüll und Getrampel im Treppenhaus schreckte ihn je aus dem Schlaf, keine hämmernde Stereoanlage, keine Jugendlichen, die im Hof kreischten. Es war geradezu perfekt, um sich zu entspannen.
Er sperrte die Tür auf und trat ein. Ein kühler Wind schlug ihm entgegen. Verdammt! Er sprintete durch den Vorraum. Der Regen trommelte ans angelehnte Küchenfenster. Heute Morgen hatte er vergessen, es zu schließen, Mauer und Fensterbrett waren nass und auf dem Melanboden breitete sich eine Regenlache aus. Er kramte Stofftücher aus den Laden und warf sie auf den Boden. Die Küche war noch von vorgestern mit Geschirr und Kochbüchern angeräumt. Er hatte sich eine Lasagne zubereitet, nicht mit gekauften Teigblättern, sondern mit selbst gezogenem Strudelteig. Kochen war eines seiner wenigen Hobbies, bei dem er vollständig abschalten konnte. Sonst blieben ihm nur noch das Joggen und das Training am Sandsack, das er im letzten Monat allerdings kläglich vernachlässigt hatte. Gereiztheit, ein verspannter Nacken und leichte Kopfschmerzen waren die Folge, aber im Moment konnte er sich zu keinen Übungseinheiten überwinden.
Im Wohnzimmer schaltete er das Fernsehgerät ein, dimmte die Spots in den Glasvitrinen und zündete ein Räucherstäbchen an. Augenblicklich roch es angenehm und beruhigend. Er schlüpfte aus dem nassen Pullover und zog sich das T-Shirt vom Leib. Die Brandwunde, die an seinem Handrücken begann, zog sich über den gesamten Unter- und Oberarm bis zur Schulter. Die rosafarbene, fleckige Haut wirkte ledern. Schmerzen hatte er nicht, doch der Anblick allein genügte, damit es einem das Herz verkrampfte und ziehende Phantomschmerzen hervorrief.
Mit nacktem Oberkörper warf er sich auf die Couch. Er schaltete das Handy aus und schleuderte es neben sich auf ein Kissen. Während der Heimfahrt hatte er Koren über die ersten Ergebnisse im Fall Krajnik informiert, und sie schien einigermaßen zufrieden. In dieser Nacht würde es keine weiteren Gespräche mehr geben.
Er blinzelte zu dem blauen eineinhalb Meter langen Sandsack, der in der Mitte des Wohnzimmers an einer Metallplatte hing und ihn einmal mehr daran erinnerte, seine Tae-Kwon-Do-Übungen zu absolvieren. Er wusste, dass er dringend trainieren musste, doch wollte er es auf morgen verschieben. Heute konnte er sich zu nichts mehr aufraffen.
Der Nachrichtensprecher aus dem Fernsehprogramm verstummte, die Kennmelodie ertönte und die Kamera blendete ins Studio, wo soeben ein Wetterspezialist zu den heftigen Regenfällen befragt wurde.
»Vor einer Woche driftete das herbstliche Tiefdruckgebiet nicht wie gewöhnlich in nordöstliche Richtung ab, sondern zog in leicht ostwärts gebogener Linie über Frankreich hinweg und erreichte das Mittelmeer.« Der Wettermann lächelte in die Kamera. Seine Worte wurden mit einer bunten Grafik auf einer Europakarte ergänzt. Die Stimme aus dem Off sagte: »Das Tief saugte sich wie ein Schwamm mit feuchter Mittelmeerluft voll und wanderte mit prall gefülltem Wasserbauch über Italien nach Norden. Am Freitag erreichte es Mitteleuropa. Sintflutartige Regenfälle entluden sich über weiten Teilen Österreichs. In den nächsten Tagen halten die Niederschläge an.«
Körner hörte nicht länger hin. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Schuhschachtel, die er unter der Couch hervorgekramt hatte. Der brüchige Bindfaden war schon seit 27 Jahren nicht mehr geöffnet worden. Körners Herz schlug schneller. Er löste den Faden und im gleichen Moment fiel er an mehreren Stellen auseinander. Die Schachtel roch nach kaltem Rauch und schmuddeligem Papier. Er hob den Deckel und starrte auf einen Stoß blasser Farbfotos mit aufgewellten Rändern, die an den Ecken teilweise verkohlt waren. Die sechziger Jahre, ein Stück Erinnerung.
Seine Mutter war eine hübsche Frau gewesen, hoch gewachsen und schlank, mit der damals modernen hoch gesteckten Frisur, langen, aufgeklebten Wimpern, einer Wickelbluse und einem Minirock. Er kramte wahllos durch die Bilder. Da tauchte ein Foto von seinem Vater auf. Der spindeldürre Ingenieur aus Wien!
»Ach du meine Güte«, murmelte Körner. War das tatsächlich sein Vater? Er sah schrecklich aus. Körner musste grinsen. Sein Vater war hager wie eine Bohnenstange, hatte einen schwarz glänzenden Seitenscheitel und Koteletten bis zum Kinn. Seine Wangen waren blass und eingefallen und er trug eine Brille mit dickem braunen Rahmen, mit der er wie ein Uhu wirkte. Er hatte ein graues Sakko mit Längsstreifen und ein Hemd mit einem lächerlich überdimensionalen Kragen an. Das waren Zeiten gewesen!
Ihn überkam ein merkwürdiges Gefühl. Seine Eltern mussten bei den Aufnahmen an die fünfunddreißig Jahre alt gewesen sein. Damals waren sie ihm so erwachsen und imponierend vorgekommen, tatsächlich waren sie aber fünf Jahre jünger als er heute war. Wie seltsam! In seiner Erinnerung würden sie immer älter als er sein, selbst wenn er eines Tages auf die sechzig zuging.
Die beiden standen vor ihrem Einfamilienhaus. Zu jener Zeit war es noch kein verkohltes Gebäude mit abgeblättertem Verputz gewesen, schwarzen Ziegeln und einem in sich zusammengebrochenen Dachgerippe. Es war ein ansehnliches Haus mit Blumenkisten, handgeschnitzten Fensterläden und einem Vorgarten, in dem ein aufblasbarer Swimmingpool stand. Hinter dem linken Dachbodenfenster war sein Zimmer gewesen. Auf dem Fensterbrett stand eine Reihe Teddybären, wie er sich jetzt erinnerte, doch war sie auf dem Foto nicht zu erkennen. Wie hatte sein Zimmer überhaupt ausgesehen? Ein sechs Quadratmeter großer Raum, mit Dachschrägen und einem Dachflächenfenster. Blassgrüne Vorhänge, erbsengrüner Teppichboden. Die Tapete zeigte ein üppiges Blumenmuster, das ihn vor dem Einschlafen im Dunkeln an dichte Wolkenfelder erinnerte. Gott, war diese Zeit lange her. Eigentlich war seine Kindheit gar nicht so schlimm gewesen, wie er immer gedacht hatte. Waren ihm ausschließlich die bösen Erlebnisse in Erinnerung geblieben?
Er kramte weiter und hielt plötzlich ein Foto von sich selbst in der Hand. Unwillkürlich musste er lachen. Anscheinend war die Aufnahme in den Sommerferien gemacht worden. Er war an die zehn Jahre alt, hatte schulterlanges Haar und stand mit Shorts und einem T-Shirt neben seinem High Riser, einem Fahrrad mit Dreigang-Knüppelschaltung, einem Fuchsschwanz an der Rückenlehne und Spielkarten auf den Speichen, die beim Fahren wie ein Motor knatterten. Er war braungebrannt, hatte dünne Arme, einen schmächtigen Rumpf und kantige Knie. In der Schule hatten sie ihn wegen seiner Revolverknie oft verspottet, doch Wolfgang Heck hatte ihn verteidigt. Gemeinsam hatten sie mehr als bloß eine Pausenschlägerei hinter sich gebracht. Ob sich Heck noch daran erinnerte? Wahrscheinlich hatte er gerade andere Sorgen und stapelte Sandsäcke auf die Deichkrone, für den Fall, dass die Trier über die Ufer trat.
Da fiel ihm ein verbranntes Foto in die Hände, das ihn mit ein paar anderen Jungs am Ufer der Trier zeigte, wie sie im kniehohen Gras lagen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließen. Die andere Hälfte des Fotos war verkohlt. Die Asche bröselte vom Rand und zerrieb sich zwischen den Fingern. Mit einem Mal roch er das Feuer, hörte das Knistern und erinnerte sich, wie die Flammen in der Küche gewütet hatten. Die Erinnerung verkrampfte seine Muskeln, seine Hände waren schweißgebadet. Der verdammte Brand, der das Haus in Schutt und Asche gelegt hatte! An einem einzigen Tag hatte sich sein Leben um hundertachtzig Grad gewendet. Er war ein knapp vierzehnjährigerjunge gewesen. Damals hatte er noch nicht gewusst, dass das Muskeleiweiß eines Menschen, der bei lebendigem Leib verbrennt, unter der Hitze gerinnt, wodurch sich die Gelenke beugen und strecken. Du hörst es knistern und knacken, hörst das Prasseln der Haare und glaubst, der Mensch sei tot, sitzend auf der Küchenbank verbrannt. Doch ist es nicht so. Die Hitze greift nach dir, du willst aus dem Haus rennen und plötzlich bewegt sich der Körper in den Flammen. Stocksteif stehst du vor dem Feuer, siehst die Arme und Beine in den Flammen zucken und denkst, deine Mutter lebt noch. Du willst ihr helfen, rufst verzweifelt nach ihr und da richtet sich der Oberkörper auf! Sie hört dich! Plötzlich ragt eine Hand aus dem Feuer. Der Arm zuckt herum, das Fleisch löst sich von den Knochen und tropft zu Boden. Es sieht aus, als tanze deine Mutter in den Flammen. Weshalb schreit sie nicht? Warum bleibt sie sitzen? Warum lässt sie dich allein?
»Scheiße!« Körner zerknüllte das Foto, wischte sich die Hand an der Hose ab und rieb die Asche in den Stoff. Eilig legte er den Deckel auf den Schuhkarton und schob die Schachtel unter das Sofa. Für eine Vergangenheitsbewältigung war jetzt der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Sie würde warten müssen, bis er den Fall in Grein gelöst hatte. Vielleicht würde er mit dem Grab seiner Eltern beginnen. Er lehnte sich zurück und starrte durch das Fernsehgerät hindurch, ohne wahrzunehmen, was für ein Programm gerade lief. Die Fotos ließen sich bequem unter der Couch verbergen, die Gedanken auch?
Da waren sie wieder! Merkwürdigerweise war er seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr in Grein am Gebirge gewesen, hatte seit damals Wolfgang Heck und die anderen Jugendfreunde aus dem Nachbarort nicht mehr gesehen, und trotzdem war sein Leben eng mit dem Ort verknüpft. Wie war das gekommen? Alles hatte mit Dana begonnen, einer in Wien lebenden Brasilianerin, die er als Fünfundzwanzigjähriger kennen lernte und heiraten wollte. Zur Trauung benötigte er für sich einen Auszug aus dem Geburtenbuch, doch da Grein am Gebirge zu klein war, musste er in den nächstgrößeren Ort fahren, auf das Standesamt in Neunkirchen. Und wer saß dort im Büro hinter einem Computerterminal und wickelte mit Mayonnaise an den Fingern ein Jausenbrot aus der Alufolie? Maria Schabinger, die vier Jahre lang in Heidenhof in den Schulbus eingestiegen und mit ihm und Wolfgang Heck in die Hauptschule nach Schwetz gefahren war. Er kannte sie noch als dreizehnjährigen Rotschopf mit Sommersprossen und Zöpfen. Jetzt war sie 25 und verteufelt attraktiv. Sie trug einen Rollkragenpullover, hatte langes rotes Haar und einen feurigen Blick. Die Sommersprossen waren ihr erhalten geblieben und sie hatte immer noch dieses sexy Aussehen, mit dem sie bereits die Jungs auf dem Schulhof verrückt gemacht hatte.
Maria hatte als Lehrmädchen auf der Gemeinde begonnen, arbeitete mittlerweile als Vorzimmerdame im Sekretariat des Bürgermeisters, leitete das Standesamt und hielt jeden Donnerstagvormittag Amtsstunden.
»Du heiratest?« Sie rollte mit den Augen. »Dana Perez-Giravi? Ein feuriges Teil, hm? Kein Wunder, du bist ja auch ein heißes Eisen.« Sie lächelte verschmitzt.
Obwohl sie ihn so lange nicht gesehen hatte, schien sie plötzlich eifersüchtig. Auf Teufel komm raus, begann sie mit ihm zu kokettieren, als gelte es, ihn dieser Frau wegzuschnappen, und zu seiner Schande musste er gestehen, dass er darauf einstieg. Während Marias Mittagspause gingen sie zum Essen in eine Pizzeria, wärmten die alten Schulgeschichten auf und erzählten sich gegenseitig, was sie seit der Schulzeit getrieben hatten. Er würde nicht so weit gehen, es Liebe auf den ersten Blick zu nennen, doch immerhin verwirrte ihn die Begegnung mit Maria so sehr, dass er noch am gleichen Abend in eine deftige Beziehungskrise schlitterte, bei der Dana das Geschirr an die Wand pfefferte, worauf die geplante Hochzeit platzte. Dana Perez-Giravi war eben tatsächlich ein feuriges Teil. Damit hatte sich sein Besuch am Standesamt Neunkirchen erübrigt, dennoch fuhr er noch einmal hin, um sich mit Maria zum Mittagessen zu verabreden und ihr von seiner Misere zu erzählen.
Er konnte sich noch genau daran erinnern, was sie ihm über das Pizzabrett für zwei Personen hinweg gesagt hatte.
»Du solltest mir dankbar sein, weil ich dich indirekt vor einem großen Fehler bewahrt habe.«
»Nichts weiter als ein blöder Zufall. Vielleicht renkt sich die Sache wieder ein.«
»Es gibt keine Zufälle im Leben, Alex. Das Schicksal hat dich für mich aufgehoben.« Noch bevor er überhaupt bemerkte, worüber sie sprach, hatte sie das Thema gewechselt.
Die heißblütige Dana Perez-Giravi mit dem pechschwarzen Lockenkopf hatte er seitdem nie wieder gesehen - und es kam, wie es kommen musste, beziehungsweise wie es Marias Schicksal für ihn vorgesehen hatte: Sie wurden ein Paar. In dieser Zeit besuchte er sie oft in ihrer Wohnung in Heidenhof und übernachtete bei ihr, doch vermied er es dabei stets, durch Grein zu fahren. Er wollte weder Geschichten aus Grein hören noch sich mit Leuten aus dem Nachbardorf treffen, und es brauchte lange, bis Maria akzeptierte, dass er mit diesem Ort aus seiner Kindheit abgeschlossen hatte. Im Jahr darauf wurde Maria schwanger und sie heirateten, beide 27 Jahre alt. Da er damals am Gendarmerieposten Mödling arbeitete, gab sie ihre Mietwohnung vor Verenas Geburt auf und übersiedelte zu ihm nach Wien in die Rashazygasse. Am 14. September, einen Tag vor der Niederkunft, half sie ihm noch, die leichten Kartons über die Treppe in die Wohnung zu tragen und räumte die Gläser in die Vitrinen.
Eigentlich hätte es eine tolle Beziehung werden können, denn sie passten wunderbar zusammen, lagen nächtelang nebeneinander wach, plauderten und hatten großartigen Sex, doch Maria war vom ersten Tag an in Wien unglücklich. Sie verfiel von Woche zu Woche mehr, wie eine krebskranke Frau, bekam Kopf- und Gliederschmerzen, verlor an Gewicht und litt über Monate hinweg an Schlafentzug, bis sie am helllichten Tag halluzinierte und beinahe von einem Auto überfahren worden wäre. Sie wollte unbedingt nach Heidenhof zurück. Um gesund zu werden, brauche sie die Nähe ihrer Eltern und Freunde, und in Wien würde sie vor die Hunde gehen. Der Lärm der Großstadt, die Hektik und der Smog machten sie krank. Er konnte sie verstehen und versuchte, sie zu überreden, gemeinsam nach Baden oder Mödling zu übersiedeln, doch Maria wollte keinen Kompromiss eingehen. Für sie kam nur ihr Heimatort in Frage. Ausgerechnet jene Gegend, die er wie die Pest mied und täglich aus seiner Erinnerung verdrängte. Dort würde er vor die Hunde gehen! In diesem Dilemma musste er eine Entscheidung treffen, die ihm schwerer fiel als alles andere. Hinzu kam, dass Maria herzkrank war und ständig ein Nitropflaster am Körper tragen musste, welches die Gefäße erweiterte. Vielleicht war das auch ein Grund, weshalb er sie mit Verena nach Heidenhof gehen ließ, während er allein in seiner Wiener Wohnung blieb. Er glaubte, es würde sich alles einrenken, tatsächlich aber wurde die Kluft zwischen ihnen größer.
An der Gendarmerieschule Mödling kursierte eine Redensart, welche besagte, dass ein Kriminalbeamter vieles von dem, was er tagtäglich erlebte, mit niemandem teilen konnte, nicht einmal mit seinem Ehepartner. Der Anblick von Wasserleichen, verstümmelten Frauen und aus dem Waldboden gescharrten Toten war schlimm, am entsetzlichsten war jedoch die Untersuchung von ermordeten Kindern. Es war unglaublich, was Verrückte alles mit Minderjährigen anstellten. Und die Redensart stimmte! Man konnte nicht einfach von seinem 24-Stunden-Dienst nach Hause kommen und während des Abendessens erzählen: »Reicht mir mal die Butter. Und ratet mal, Leute, was wir heute in einer stillgelegten Baracke gefunden haben?« Das war der Grund, weshalb sich Polizisten oft zu Ärztinnen oder Krankenschwestern hingezogen fühlten - sie brauchten jemanden zum Reden. In seinem Fall war es die Gerichtsmedizinerin Jana Sabriski, auf die er traf. Sie hatte noch schlimmere Sachen gesehen als er. Jedenfalls verstand sie, worüber er redete, wenn er wieder etwas loswerden musste, denn er war nicht so abgebrüht wie Rolf Philipp, der die unvorstellbaren Schrecken, die sie zu sehen bekamen, in bitterem Sarkasmus ertränkte.
Es dauerte nur noch ein weiteres Jahr, dann hatten Maria und er verschiedene Freundeskreise und einander nichts mehr zu sagen. Sie sprach mit ihren Heidenhofer Freundinnen über Puder, Babyhaut, Grießbrei und die Vor- und Nachteile der unterschiedlichsten Windelmarken, er hingegen scharte am Gendarmerieposten Mödling seinesgleichen um sich. Er spielte Saxophon in einem Mödlinger Jazzkeller, trank mit Basedov um die Wette, spielte mit Philipp Billard und plauderte mit Sabriski über Fingerabdrücke, Stichwunden, Patronenhülsen, Projektilkanäle und die Bestimmung der exakten Todeszeit. Jana wurde zu einer guten Freundin, mit der er von einer Bar zur nächsten zigeunerte, aber erst sechs Jahre später ein Verhältnis einging.
Gespräche über den Vorteil eines besonderen Babypuders und die Bestimmung der exakten Todesursache passten ungefähr so gut zusammen wie ein Glaubensdialog zwischen einer katholischen Nonne und einem Bordellbesitzer. Körner wollte diese Kluft lange Zeit nicht wahrhaben, doch 1990 ließ sich Maria von ihm scheiden. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie mit ihrem Baby bereits seit über einem Jahr bei ihren Eltern in Heidenhof. Doktor Weißmann, der Bürgermeister der beiden Orte, verhalf ihr neuerlich zu einer Mietwohnung. Nach der Karenzzeit arbeitete sie dann wieder halbtags am Standesamt in Neunkirchen. In Weißmanns Augen war Körner bestimmt ein schäbiger Verlierer, der nicht nur seine Eltern vergessen, sondern auch Frau und Kind verlassen hatte. Kam das der Wahrheit nicht ziemlich nahe?
Vierzehn Jahre lang hatte Maria das Mädchen großgezogen. So viel er wusste, hatte seine Ex nach der Scheidung nie wieder einen Mann gefunden, und mittlerweile war Verena zu einem flotten, jungen Mädchen gereift, dem es gefiel, sich auf der Straße unter seinen Arm zu haken und ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. In wenigen Tagen stand ihr vierzehnter Geburtstag ins Haus, ein Tag, auf den er sich schon seit langem freute, doch seit ihm die tote Sabine Krajnik durch den Kopf spukte, wusste er nicht, ob er sich freuen oder vielmehr sorgen sollte. Vierzehn Jahre waren kein gutes Alter, um in einem Ort wie Grein zu bleiben. Zu viele Tragödien spielten sich in diesem Lebensabschnitt ab.
Kurzerhand griff er zum Telefon, zog den Apparat zu sich auf die Couch und wählte Marias Nummer. Nach dem siebten Klingelton hob sie ab. »Ja?« Ihre Stimme klang verschlafen.
Plötzlich trocknete sein Gaumen aus. Er blickte auf die Digitalanzeige des Videorekorders: 23.47 Uhr. »Tut mir Leid, ich bin es«, krächzte er.
Langes betretenes Schweigen am anderen Ende. Wahrscheinlich sah sie selbst auf die Uhr.
»Bist du verrückt, um diese Zeit anzurufen!«, nuschelte sie. Er hörte sie auf der Kommode kramen. »Es ist kurz vor Mitternacht!«
»Ich wollte nur mit dir reden.« Im Grunde genommen wusste er nicht einmal, was er ihr sagen sollte.
»Ausgerechnetjetzt?«, fuhr sie ihn an. Eigentlich war Maria ein netter Kerl und er kam gut mit ihr aus, doch wenn man sie reizte, glich sie einer der drei Furien mit dem Schlangenhaar. Kein Wunder! Welche Frau hatte es schon gern, wenn ihr Ex sie um Mitternacht aus dem Bett klingelte?
»Habe ich Vreni geweckt?«
»Sie übernachtet bei einer Freundin. Die Schule ist ausgefallen, wegen des Hochwassers fährt kein Bus. Sie wird morgen bei den Mayerhofers bleiben. Ich hole sie zu Mittag ab.«
»Wie geht es ihr?«
»Müssen wir das jetzt diskutieren?«
»Nein, ich dachte nur …«, druckste er herum.
»Ihr geht es natürlich nicht gut! In Grein wurde ein Mädchen ermordet. Du hast sicher davon gehört. Verena kannte sie. Du kannst dir vorstellen, wie sie sich fühlt! Die beiden führen gemeinsam im Bus nach Neunkirchen, aber das Mädchen besuchte eine andere Schule.« Maria gähnte. »Weshalb hast du gesagt, rufst du an?«
»Ich arbeite an dem Fall«, entfuhr es ihm.
»Oh!« Sie schwieg. »Heißt das, du kommst nach Grein?«
»Ich war heute schon dort.«
»Und wie war es?«
»Es geht.«
»Kommst du morgen auf einen Kaffee vorbei?«
»Ich werde sehen, ob ich Zeit habe. Danke. Entschuldige bitte, dass ich dich geweckt habe. Schlaf gut.«
»Warte noch.« Sie gähnte wieder. »Nächste Woche am Montag wird sie vierzehn. Erhöhst du die Alimente?«
»Nein.«
»Dachte ich mir. Was wirst du ihr schenken?«
Er überlegte. Was schenkte man einer Vierzehnjährigen? Unwillkürlich kam ihm Sabine Krajniks Zimmer in Erinnerung: Pelzstiefel, Rollerblades, Notenhefte, Akustikgitarre, Lippenstift, Haarspangen, Rouge, Wimperntusche, Pandabären und eine zwei Meter lange, ausgestopfte Stoffschlange. War Verena dafür nicht schon zu alt? Doch im Grunde genommen war sie noch immer ein Kind, auch wenn sie am Schulhof heimlich rauchte und sich Piercings und Tattoos stechen ließ. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, denn drei Kinder aus Verenas Nachbarort waren an ihrem vierzehnten Geburtstag gestorben, zwei davon eines natürlichen Todes, das dritte allerdings nicht. Was für ein Monstrum trieb sich im Ort herum? Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass es auch seine Tochter hätte treffen können. Er durfte gar nicht daran denken, sonst würde er den Verstand verlieren. Am liebsten wollte er Maria sagen, sie solle das Mädchen zu Hause einsperren und vierundzwanzig Stunden am Tag nicht aus den Augen lassen - so lange, bis er den Mörder gefasst hatte.
»Hörst du mir eigentlich zu? Ich fragte, ob du ihr ein neues Handy schenken möchtest?«
»Ein Handy, klar.«
»Ein B-Free von Nokia, wenn es dir nicht zu viel kostet.«
Ein Nokia-Handy, wie es Sabine Krajnik hatte, mit dem sie am Tag vor ihrer Ermordung mit einem Jungen aus dem Ort telefoniert hatte.
»Du klingst ein wenig geistesabwesend. Geht es dir gut?«
»Kennst du Martin Goisser, den Jungen aus dem Nachbarort?«, fragte er unvermittelt.
»Ja, ein intelligenter Bursche, zumindest erzählt man sich das über ihn. Verena kennt ihn allerdings nicht. Warum fragst du, ist er auch tot?«
Er hätte laut aufgelacht, wäre das Thema nicht so ernst gewesen. »Nein, es gab nur einen Mord.«
»Sonst noch was?«
»Nein.«
»Schlaf gut, bis morgen.« Sie legte auf.
Wie gelähmt starrte er auf den Apparat. Sie hatte ihm tatsächlich angeboten, sie zu besuchen und auf einen Kaffee zu bleiben. Warum nicht? Vielleicht würde er dabei auf andere Gedanken kommen. Sobald er über die Brücke an der Trier fuhr und Grein am Gebirge betrat, waren Maria und Wolfgang Heck seine einzigen Rettungsanker. Er wusste, auf die beiden konnte er sich verlassen, und andere Freunde im Ort hatte er nicht. Morgen früh würde er Sonja Berger von ihrer Wohnung mit dem Wagen abholen und mit ihr ins Dorf fahren. Da sie ihre Unterlagen mit nach Hause genommen hatte, würde sie die Berichte bestimmt mitnehmen. Seine eigenen Akten hatte er im Büro liegen lassen und nur die Zeichnung der Reporterin in die Hosentasche gesteckt. Er zog das Papier hervor, faltete es auseinander und betrachtete die Skizze.
Das flüchtig gezeichnete Mädchen stand mit erhobenen Armen vor ihm, die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Im Hintergrund stand das Eisengestell, undeutlich sah er die Seile, Lederriemen und Flaschenzüge. Die Konstruktion drückte wie ein düsteres Vorzeichen auf die Atmosphäre und beherrschte die Szene. Zweifellos hatte ein kranker Geist den Mechanismus entworfen. Doch wozu diente die Vorrichtung? Warum starb Sabine Krajnik ausgerechnet in der Nähe dieses Gestells? Kein Kind der Krajniks wurde älter als vierzehn. Hatte Sabines Tod etwas mit dem ihrer Geschwister zu tun? Möglicherweise waren Carina und Mathias Krajnik gar nicht an Herzversagen gestorben. Wurde die Todesursache vertuscht? Steckte mehr dahinter als er ahnte, und hatte es am Ende etwas damit zu tun, dass ihre Eltern Cousin und Cousine waren? Seit er sich erinnerte, waren uneheliche und inzestuöse Verbindungen ein brisantes Thema in Grein. Hinter vorgehaltener Hand kursierten unzählige Gerüchte, und sollte nur die Hälfte davon stimmen, war es schlimm genug. In einigen Bauernhöfen wurden mongoloide Kinder seit ihrer Geburt verborgen gehalten, doch oft kam es gar nicht so weit, dass Kinder aus derartigen Verbindungen zur Welt gebracht wurden. In Grein gab es viele Alternativen, nicht jede endete gut.