17. Kapitel

 

Als Körner die Augen aufschlug, prasselte der Regen ans Fenster, und der Heizkörper pfiff. Im Zimmer lag eine muffige Schwüle. Körners Armbanduhr zeigte zehn Uhr vormittags. Er fuhr hoch und schlüpfte in seine Kleider. Als er mit einem Arm im Pullover steckte, bemerkte er seine verspannten Schultern und Gelenke. Der Job ruinierte ihn.

Früher, als er noch mit Sabriski zusammen gewesen war, hatte er zweimal pro Woche das Budo-Center besucht, doch nach der Trennung hatte er nur noch zu Hause trainiert, bis schließlich auch dieser Enthusiasmus verflogen war. Zurück in Wien würde er wieder regelmäßig seine Strecke durch den Wienerwald joggen und seine Einheiten am Sandsack trainieren, nahm er sich vor. Die Blöcke, Schläge und Fußtechniken würden ihn wieder in Form bringen.

Körner hastete in den Gang. Nach kurzem Anklopfen öffnete er Philipps Zimmertür. Abgestandene Luft, Tabakmief und der Geruch nach Schweiß und altem Aftershave schlug ihm entgegen. Die Jalousie war zugeklappt. Philipp wälzte sich im Bett herum. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf, mit winzigen, verschlafenen Augen blinzelte er Körner an. Vom Gang fiel Licht auf Basedovs Bett. Das Laken spannte sich faltenlos über die Matratze, das Kissen lag aufgeschüttelt am Kopfende.

Körner knallte die Tür zu und süeg die Treppe zum Frühstücksraum hinunter. Aus der Küche roch es nach Gebäck. Er spürte, wie seine Lebensgeister erwachten. Sabriski und Berger saßen bereits Kaffee trinkend an einem Tisch, der für fünf Leute gedeckt war. Die Frauen trugen ihre Bekleidung vom Vortag. Sabriskis strahlender Augenausdruck war einem todmüden Blick gewichen, und auch bei Berger, die er bisher nur wie aus dem Ei gepellt kannte, zeichneten sich dunkle Schatten unter den Augen ab. Sie sah genauso abgespannt aus wie Sabriski.

Keine der beiden Frauen hatte Basedov zu Gesicht bekommen. Körner hatte nichts anderes erwartet. Er gab Sabriski einen Kuss und setzte sich neben sie an den Tisch. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Berger für einen Moment erstaunt aufsah.

Aus dem Radio auf der Kommode klang das Ende der 10.00-Uhr-Nachrichten. Noch immer lag ein Tief über Mitteleuropa, das ständig von neuen Kaltluftmassen gespeist wurde. Auf den Wetterbericht folgte eine Sondersendung über die Hochwassergebiete, die unter anderem über die Triertalbahn berichtete. Der Bahndamm von Heidenhof und Grein war auf einer Länge von fünfzehn Kilometern bis Viehofen unterspült, die Gleisanlage regelrecht weggerissen worden. Immer mehr Hänge rutschten auf die Schienen. Zurzeit gab es keinen Schienenersatzverkehr. In den übrigen Gebieten war die Lage nicht besser.

Philipp polterte hörbar durch das Treppenhaus und tauchte im Türrahmen auf. Wie tags zuvor war er schwarz gekleidet. Er sah aus, als habe er sich nur eben schnell das Haar nach hinten gekämmt und sein Gesicht mit kaltem Wasser besprenkelt. Waltraud Stoißer brachte ihnen Kaffee, Rühreier, hausgemachte Marmelade und aufgebackene Semmeln, da das frische Gebäck ausgegangen war. Der Kaffee schmeckte, als habe ihn die Wirtin mit Mineralwasser gekocht. Anscheinend funktionierte die Wasseraufbereitungsanlage beim Fischteich noch immer nicht. Während sie frühstückten trampelte ein behäbiger Feuerwehrmann durch die Stube und rückte die Möbelstücke von der Mauer weg. Hinter den Kommoden war der Verputz zu einem grauen Brei aufgequollen, von dem ein moderiger Geruch ausging. Der Mann stellte einen Heizstrahler zur Wand hin und kippte die Fenster. Von ihm erfuhren sie, dass das Unwetter von Stunde zu Stunde schlimmer wurde. Die Freiwillige Feuerwehr, mit drei Fahrzeugen und fünfunddreißig Mann rund um die Uhr im Hochwassereinsatz, bekam die Lage kaum noch in den Griff. Jene Rot-Kreuz-Sanitäter, die es gestern noch über die Brücke geschafft hatten, mussten heute Nacht im Kindergarten einquartiert werden. Doch mittlerweile stand auch dort das Wasser knöcheltief.

Körner starrte aus dem Fenster. Draußen war die Welt in eine trübe, graue Einförmigkeit getaucht. Er hatte seit Tagen keinen Sonnenstrahl gesehen, aber irgendwann musste der Regen ja aufhören. Er dachte an Verena und seine Ex. Den Leuten in Heidenhof ging es bestimmt besser, da der Nachbarort einige Meter höher lag.

»Alex …«

Er fuhr herum. Sabriski schob ihm ein Aspirin über den Tisch. »Nimm das, du siehst schrecklich aus.«

»Danke, ich bin in Ordnung«, log er und sah in die Runde. Eine Ansammlung geröteter Augen und schlaffer Gesichter. »Und ihr?«

Berger versuchte zu lächeln. »Es geht so.« Die anderen nickten knapp.

Sie hatten gewiss Verspannungen und höllische Kopfschmerzen. Bestimmt hatten sie so hervorragend geschlafen, wie auf der harten Liege eines rumpelnden Zugabteils. Weshalb wollten sie nicht darüber sprechen? Waren auch sie von merkwürdigen Träumen geplagt worden?

Körner sollte den Anfang machen und darüber reden. »Um ehrlich zu sein, ich habe …« Er hob die Kaffeekanne und erstarrte in der Bewegung. Die Welt um ihn herum wurde richtiggehend ausgeblendet. Er starrte auf das ovale Tischtuch aus Baumwolle, auf dem die Kanne gestanden hatte. In die Ränder war ein Rosenmuster aus Goldfaden gestickt. An einem Eck der Stoffdecke prangten die Initialen BF. Körners Mund trocknete aus, plötzlich wurde ihm übel, er spürte den säuerlichen Geschmack des Kaffees in der Speiseröhre aufsteigen. Wie in Zeitlupe griff er nach der Platzdecke und schob sie zu Philipp. Dieser reagierte zuerst nicht, lästerte weiterhin lautstark über das Wetter, doch dann bemerkte er die Stoffdecke und verstummte mitten im Gespräch. Er warf Körner einen wissenden Blick zu.

Körner kannte den Ausdruck in seinen Augen nur allzu gut. Wer weiß, welche Scheiße wir gerade aufgewühlt haben.

»Was ist?« Sabriski sah den Spurensicherer verstört an. Er reichte ihr die Platzdecke.

Berger rückte näher, um ebenfalls das Stoffstück zu betrachten. »Wir waren auf dem falschen Dampfer«, flüsterte sie. »Das sind nicht die Initialen einer Person.«

Körner nickte. »Der Braune Fünfender«, antwortete er genauso leise. »Kein lautes Wort darüber!«

Hinter ihnen flog die Tür auf. Waltraud Stoißer steuerte mit einem Tablett auf ihren Tisch zu. Sabriski stellte rasch ihre Kaffeetasse auf die Platzdecke.

»Und ihr glaubt nicht, was dann passiert ist«, rief Philipp und hob die Augenbrauen. »Sagte der Kerl doch tatsächlich zu mir … oh, Nachschub.« Er wandte sich zu Stoißer, die das Tablett auf den Tisch absetzte.

Während die Wirtin zwei Kannen mit Kaffee und Milch servierte, polterte eine Truppe Feuerwehrleute in den nebenliegenden Schankraum. Durch die offen stehende Tür sah Körner die Männer an der Theke lehnen. Die Funkgeräte an ihren Gürteln knackten.

»Sie entschuldigen mich?« Die Wirtin lief in die Stube. »Wie schaut es aus?«, rief sie den Feuerwehrleuten zu.

Die Männer murrten. Der Älteste unter ihnen, ein grauhaariger Feldwebel mit goldgelb bestickter Achselschlaufe, sprach laut genug, dass Körner ihn hören konnte. »Über Nacht hat es die Brücke in Heidenhof weggerissen. Ich war oben … Scheiße … die Holzbalken knickten wie Strohhalme. Um drei Uhr früh trieben die Trümmer auf die Greiner Brücke zu. Zack!« Seine Faust knallte in die Handfläche.

»Die Brücke ist beschädigt?«

»Beschädigt? Sie ist weg!« Der Grauhaarige wischte mit der Hand durch die Luft.

Philipp beugte sich vor und rief in den Schankraum: »Wann kommen wir von hier weg?«

Schlagartig verstummte das Gemurmel der Männer. Die Feuerwehrleute reckten die Hälse, sahen in den Frühstücksraum und musterten Philipp, Körner und die beiden Frauen wie Eindringlinge.

»Im Moment kommt niemand raus«, murrte der Feldwebel. »Im Ort sind drei Einwohner abgängig. Ihr Kollege ist noch nicht aufgetaucht, oder? Scheiße, hoffendich ist der nicht in den Fluss gefallen.« Er wandte sich demonstrativ ab.

»Basedov ist nicht in die Trier gestürzt«, zischte Sabriski, doch Körners Handbewegung brachte sie zum Schweigen.

Der Feldwebel lehnte auf dem Tresen und sprach zur Wirtin, diesmal leiser. »Die Trier ist auf der anderen Seite über die Ufer getreten und hat kilometerlang die Bundesstraße überschwemmt. Die haben den gesamten Verkehr gesperrt. Die Feuerwehr von Viehofen hat uns eben den Stand über Funk durchgegeben: Flussabwärts haben die Wildbäche fast alle Brücken weggerissen und die Bundesstraße meterhoch vermurt. Die Hangrutsche verschlimmern alles.«

Die Wirtin knäulte ihre Schürze. »Hält der Deich wenigstens?«

»Erinnere mich nicht daran! Gerade eben ist der Pegelstand auf acht Meter geklettert. Der Fluss prescht dreißig Zentimeter unter der Deichkrone dahin … und Weißmann will, dass wir immer mehr Sandsäcke draufpacken. Das gleicht blankem Wahnsinn! Der Wasserdruck am Sockel des Schutzwalls ist ohnehin schon viel zu stark.«

»Was können wir tun?«

»Gar nichts … beten, dass der Deich hält.«

Philipp drehte sich wieder zu Körner. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

»Keine Panik.« Körner senkte die Stimme. »Wir sollten uns nicht mit dem Hochwasser beschäftigen. Die Feuerwehrleute kümmern sich darum, die machen ihre Sache schon richtig. Wir haben andere Sorgen und stehen unter Zeitdruck. Also sollten wir uns auf unsere zwei wichtigsten Aufgaben konzentrieren: Basedov finden und den Mörder schnappen!«

»Das sollte eigentlich nicht so schwierig sein«, flüsterte Sabriski. »Wenn wir aus dem Ort nicht raus können, dann kann es der Killer auch nicht. Der Mörder sitzt mit uns fest. Er ist unter uns, vielleicht näher als wir glauben.« Sie deutete auf die Platzdecke mit der Goldstickerei.

Ein Handyklingeln ließ sie zusammenzucken. Rasch nahm Körner den Anruf entgegen. Es war Jutta Koren aus ihrem Büro. »In der Radio-Sondersendung habe ich eben gehört, dass Sie mitten im Hochwasser-Krisengebiet sitzen.«

»Ja, machen Sie es kurz, mein Akku ist gleich leer«, drängte Körner.

»Ihre wichtigste Zeugin, die Reporterin im Kierlinger Nervenkrankenhaus, ist immer noch unansprechbar. Wir haben also weiterhin nichts in der Hand. Haben Sie Kralicz in der Zwischenzeit gefunden?«

»Nein.«

»Auch wenn es tragisch klingt, aber das hat uns zumindest weitergeholfen. Weil einer unserer Ermittler verschwunden ist, hat uns Hauser grünes Licht für die Exhumierung gegeben. Ich habe die Bewilligung des Staatsanwalts vor einer halben Stunde an den hiesigen Gendarmeriepostenkommandanten gefaxt. So viel ich weiß, hat er bereits die Eltern der Kinder ver…«

Das Display erlosch, Körners Handy schaltete ab. Er steckte das Telefon in die Tasche und erhob sich. Der Greiner Gendarm wusste also Bescheid. Körner sah Sabriski an: »Wir legen los. Du bist dran!«

 

Während Rolf Philipp mit Sonja Berger in seinem Kastenwagen durch den Ort fuhr, um weiter nach Basedov zu suchen, machten sich Körner und Sabriski auf den Weg zum Friedhof. Sie kamen mit dem Auto nur schwer über den Dorfplatz, der dem Hauptquartier eines Katastropheneinsatzes glich. Ein Pritschenwagen verstellte ihnen den Weg, von dessen Ladefläche Paletten mit Mineralwasserflaschen gehievt wurden. Vor dem Krämerladen sammelte sich eine Menschentraube, an die der Geschäftsinhaber Gehrer und eine Hand voll Rot-Kreuz-Helfer Kartons verteilten, in denen sich vermutlich Decken, Kerzen, Seifen und Dosen befanden. Von dem Feuerwehrwagen daneben wurden Schutzkleidungspakete mit Overalls, Gummistiefeln und wasserfesten Handschuhen ausgegeben. Unter einem Zelt stand eine riesige Gulaschkanone. Zwei Frauen versorgten die Helfer und frierenden Feuerwehrleute mit Suppe und Getränken. Auf Heurigenbänken standen Kochplatten und Kaffeemaschinen, ein Generatoranhänger lieferte Strom. Daneben wurde soeben eine Batterie Campingklos errichtet.

Doch selbst nachdem sie mit dem Audi den Dorfplatz passiert hatten, änderte sich die Situation nicht. Auf dem Gemeindeparkplatz wurde von ortsansässigen Betrieben in Pritschenwagen pausenlos Material von der Sandgrube herangefahren, das an die dreißig Männer und Frauen in Jutesäcke füllten. In einer provisorischen Holzhütte mit angebautem Zelt tagte der Krisenstab, um die Helfer zu koordinieren. Der Bürgermeister redete mit wilden Gesten auf Wolfgang Heck ein, der sich über eine Landkarte beugte, an welcher der Wind riss.

Vom Zelt lief der Dorfgendarm winkend zu Körners Wagen. Kaum hatte der Ermittler die Scheibe unten, sprudelte Alois Friedl los, er habe vom Landesgendarmeriekommando Wien ein Fax der Staatsanwaltschaft bekommen. Die Krajniks waren zwar auch verständigt worden, aber im Moment hatte der Gendarm keine Zeit, sich darum zu kümmern. Der alte Apfler, der Totengräber in Grein, wisse jedoch Bescheid und habe auf dem Friedhof bereits mit der Exhumierung begonnnen. Der Gendarm klopfte auf das Wagendach und lief zurück zum Zelt.

Während Körner zum Ortsende fuhr, zogen schwarze Regenwolken über den Hohen Gschwendt. Der Friedhof, die Kapelle und die Aufbahrungshalle lagen auf einer Anhöhe am Fuß des Berges. Vom Parkplatz hatte man trotz des Wetters eine weite Aussicht über den Ort. Die Trier machte eine Biegung und schlängelte sich nicht weit vom besiedelten Gebiet entfernt an einigen Holzschuppen und Viehställen vorbei. Über den Acker hinweg wirkte der Fluss ziemlich nah, tatsächlich lag er aber bestimmt fünfhundert Meter vom Friedhof entfernt. Die Furchen und Traktorspuren auf dem Acker waren mit Regenwasser gefüllt und schimmerten im trüben Licht. Mitten auf dem Feld stand ein Traktor mit verrostetem Anhänger.

Körner warf die Autotür ins Schloss und ging auf das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs zu. Neben dem Areal lag der Eingang zum Bergwerk. Von hier aus sah er die Geräte, die nach dem Unglück nicht abgebaut worden waren und die Kriegsjahre überdauert hatten. Die Gleisanlage für die Wagons war von Gestrüpp überwuchert, die Räder der schrottreifen Wagons waren mit Ziegelsteinen blockiert. Körner glaubte, die in dem Artikel des Dorfanzeigers erwähnte Kesselanlage, die Dampffördermaschine und die 35 Meter hohe Esse zu erkennen; wuchtige Konstruktionen, die sich kaum von dem trüben Hintergrund abhoben. Die offenen Wellblechtüren der Werkstätten wurden vom Wind donnernd gegen die Wand geschnalzt. Seit damals hatte sich nichts verändert. Warum waren die Geräte nie abmontiert worden? Ob auch noch das Dynamit für die nie vollzogene dritte Sprengung im Depot neben dem Segen-Gottes-Schacht lagerte? Körner erinnerte sich, wie er und Wolfgang Heck als Jugendliche oft durch die Stollen gestreunt waren, auf der Suche nach den Kisten mit dem Dynamit, die sie aber nie gefunden hatten. Jede Stange musste sich mittlerweile aufgelöst haben und das gelbliche, ölige, stark giftige Nitroglyzerin durch die Holzkisten gesickert sein, sodass die geringste Erschütterung oder ein bloßer Temperaturanstieg genügten, um es zur Explosion zu bringen. Ein Wunder, dass bisher kein Unfall passiert war. Sabriski zog das Tor auf. »Da lang.«

Körner riss sich von dem Anblick los und folgte ihr über den Schotterweg, entlang der Grabreihen. Eine eisige Kälte kroch ihm durch den Regenmantel den Rücken hinauf, als er die Steinkreuze, Grablichter und Marmorengel sah. Auf diesem Friedhof ruhten seine Eltern, doch er wusste nicht wo. Er hatte Berger versprochen, dass er das Grab besuchen würde, doch nicht jetzt, vielleicht später, wenn der Fall abgeschlossen war und ihn nichts mehr in diesem Ort hielt. Mit dieser Visite würde er seine Vergangenheitsbewältigung beenden und danach nie wieder nach Grein zurückkehren.

Von weitem sah Körner den alten Apfler, der seit Jahrzehnten das Grab seiner Eltern pflegte. Körners Ex hatte es ihm mehrmals erzählt und erst unlängst der Bürgermeister. Der Totengräber stand mit zwei Helfern neben einem Mausoleum über ein unscheinbares Grab gebeugt. Einer der Burschen schlug die Spitzhacke ins Erdreich, während Apfler und der zweite Junge abwechselnd die Spaten in den Boden trieben. Neben ihnen hatte sich bereits ein gelbgrauer Erdhaufen gebildet. Körner erinnerte sich, dass ihm sein Freund Heck erzählt hatte, Grein sei eine lehmige Gegend. Der Boden war mit Wasser voll gesogen, sodass der Lehm feucht schimmerte. Etwas Besseres konnte ihnen gar nicht passieren. Der hohe Grundwasserspiegel und die lehmige Erde würden die Leichen so gut erhalten haben, als seien sie erst seit Wochen tot.

»Warum haben die schon mit der Arbeit begonnen?«, raunte ihm Sabriski zu.

Körner zuckte mit den Achseln. »Freu dich, das spart uns Zeit. Bei diesem Sauwetter können wir froh sein, wenn wir die Exhumierung so rasch als möglich hinter uns bringen.«

Apfler und die beiden Burschen trugen Gummistiefel, blaue Overalls und Regenjacken. Sie standen bereits wadentief in dem Aushub, umgeben von der Marmoreinfassung des Grabes.

Körner trat an den Rand der Grube. »Guten Morgen!«

Hans Apfler rammte den Spaten in die Erde und stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Griff. »Morgen.« Er betrachtete Körner und seine Begleiterin von oben bis unten. Dabei prasselte ihm der Regen auf den Hut und lief ihm über das Gesicht und die Schultern. »Schau einer an, der junge Körner! Bist groß und hager geworden, Junge.« Er spuckte auf den Boden. »Kommst nicht oft hierher, und die kleine Marli erzählt auch nicht viel über dich. Trotzdem reden die Leute.«

»Was denn?«

»Was man halt so spricht. Hast den Ort verlassen, als deine Eltern starben … und jetzt, wo du wieder hier bist, schnüffelst du angeblich in unserem Leben herum.« Er spie erneut auf den Boden. »Wundert mich nicht, wenn die Leute über dich reden.«

Der alte Apfler hatte sich in den letzten siebenundzwanzig Jahren kein bisschen verändert. Schon damals war er der griesgrämige Totengräber von Grein mit der Schnapsnase und dem zerknautschten Gesicht gewesen, vor dem sich die Kinder zu Tode gefürchtet hatten. In der Zwischenzeit waren seine Haare grauer, die Augenringe dunkler und die Haut an Kinn und Hals faltiger geworden, doch sonst war er, wie es schien, der Gleiche geblieben: ein mürrischer, alter Griesgram, der die Abende am liebsten mit einer Flasche Schnaps im Totengräberhäuschen verbrachte. Für die Jungens war der Friedhof tabu gewesen. Bei Nacht über den Zaun zu klettern, an Apflers Hütte vorbei und zwischen den Grabreihen zu schleichen kam einer Mutprobe gleich.

»Wohnst jetzt in Wien, was?«, fragte der Greis.

Körner nickte. Er nahm es dem Totengräber nicht einmal übel, dass er ihn duzte. In den Augen des Alten war Körner bestimmt noch der Rotzbengel, der er vor dreißig Jahren gewesen war.

»Wie lange werden Sie noch brauchen?«, fragte Körner.

Der Alte massierte sich das stoppelige Kinn und bohrte mit der Stiefelspitze im klumpigen Lehm. Körner sah, dass ihm der Matsch zentimeterdick auf der Sohle klebte. Der Totengräber warf ihm einen missmutigen Blick zu. »So lange, bis wir fertig sind.«

Solche Antworten liebte Körner. »Und wann wird das sein?«

Apfler zog die Schultern hoch. »Das Mädchen wurde erst vor zwei Jahren beerdigt. Das Erdreich hat sich noch nicht gesetzt, da gräbt es sich leichter. Schätze ein bis zwei Stunden.«

Körner sah auf die Armbanduhr. »In Ordnung.« Der Totengräber sah ihn verwundert an. »Wirst doch nicht hier warten, was?«

»Natürlich.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Weiß nicht, was das bringen soll, wenn wir ausgerechnet bei diesem Sauwetter graben … aber bitte.« Er rammte den Spaten in die Erde und schaufelte weiter Lehm aus der Vertiefung. Wie auf Kommando nahmen auch die beiden Burschen ihre Arbeit wieder auf.

Körner stand reglos an der Einfassung des Grabes, sah den Männern bei der Arbeit zu und wartete. Er ließ die Hände in den Manteltaschen verschwinden und spürte, wie die Glock schwer an seiner Seite zog. Ein seltenes aber dennoch vertrautes Gefühl durchströmte ihn. Normalerweise ließ er die Waffe im Wagen, doch bevor er mit Sabriski vom Frühstücksraum des Braunen Fünfenders aufgebrochen war, hatte er das Schulterholster angelegt. Er wusste nicht, weshalb er die Waffe an sich genommen hatte, doch seit Basedov verschwunden war und er die Platzdecke mit der Stickerei entdeckt hatte, war er sich sicher, dass ihnen in diesem Ort alles Mögliche passieren konnte … und darauf wollte er vorbereitet sein.

 

Nach eineinhalb Stunden stießen sie auf die Oberkante des ersten Sarges. Bis dahin hatte sich das Wetter permanent verschlechtert. Die dunklen Regenwolken hingen so tief, dass der Himmel wie ein schwerer dicker Mantel auf die Anhöhe drückte. Sogar die Bergspitze des Hohen Gschwendts lag in graue Schlieren eingebettet und war nicht mehr zu erkennen. Auf der anderen Seite, jenseits der Trier, zuckten die Blitze am Horizont. Es schien, als entlade sich das Gewitter aus der schwarzen Wolkenbank und fahre direkt ins Wasser. Der Donner krachte so gewaltig, dass Körner bei jedem Schlag zusammenzuckte. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und der Wind zerrte an seinem Mantel. Obwohl er die Hände tief in die Taschen grub, waren sie klamm vor Kälte.

Nur der Kopf des alten Apflers ragte noch aus der einen Meter fünfzig tiefen Grube. »Die Kiste ist noch ganz«, knurrte er und stapfte mit dem Stiefel auf den Deckel.

In der Grube war es so eng, dass sich die Männer gegenseitig im Weg standen, während sie die Seitenwände des Sargs freilegten.

Hinzu kam, dass der andauernde Regen das Geviert in ein rutschiges Schlammloch verwandelt hatte. Ständig brach neues Lehmreich von oben in die Grube. Während einer der Burschen die Holzkiste mit einer Eisenstange hochstemmte, zog Apfler zwei Seile unter dem Sargboden durch den Matsch und warf sie auf der anderen Seite aus der Grube. Als sie die Kiste mit den Seilen hochzogen, kam ein vierzig Zentimeter hoher und halbwegs intakter Sarg zum Vorschein.

»Seien Sie vorsichtig, damit das Holz nicht auseinander bricht«, mahnte Sabriski die Männer.

Apfler und seine Helfer hievten die Kiste neben den Erdaushub auf den Boden. Der Regen trommelte auf den Deckel und ein brauner schmieriger Matsch lief über das Holz. Es roch nach Moder und verfaulten Wurzeln.

Trotz der Kälte schwitzte der Totengräber. Er rieb sich mit dem Ärmel über die Stirn, wo er eine braune Spur hinterließ. »Beim nächsten Sarg werden wir leider Pech haben.« Er nickte in die Grube. »Der liegt seit vier Jahren im Wasser.«

»Holen Sie alles rauf, was halbwegs unversehrt ist«, ordnete Sabriski an. »Um den Rest kümmere ich mich.«

»Jawohl, Gnädigste.« Apfler stieg über die Leiter in das Loch. Nach wenigen Minuten hatten sie so viel Lehm aus der Grube geschaufelt, dass sie bereits auf die ersten Holzstücke trafen. Wadentief im Wasser watend, legten sie vorsichtig den Deckel und die Kanten frei.

»Der Sarg ist auf fünfzehn Zentimeter zusammengebrochen«, rief Apfler aus der Grube. Mittlerweile konnte er nicht mehr über den Rand des Aushubs sehen. »Müssen aufpassen, damit nicht…« Im nächsten Moment brach er mit dem Fuß durch die Bretter. »Verdamm’ mich!« Er zog sich an der Leiter hoch. »Gebt mir das Werkzeug!«

Einer der Burschen reichte Apfler einen Eimer und eine Handschaufel, womit der das vermoderte Holz auszulösen begann.

Sabriski kniete am Rand des Lochs. »Ich brauche das Mittelstück von der Sargunterseite möglichst unbeschädigt.«

»Wozu? Das ist bloß noch Moder.«

»Ich habe keine Lust, mit Ihnen darüber zu diskutieren … ich brauche es eben!«, fuhr Sabriski ihn scharf an.

Apfler zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Darf doch wohl erfahren, wozu ich das tue?«

»Ich schicke das Teil zu einer chemischen Untersuchung ein, vielleicht wurde der Junge vergiftet.«

»Vergiftet?«, schnaubte Apfler. »Gnädigste, das glauben Sie doch selbst nicht.«

Nachdem er die Holztrümmer des Sargs freigelegt hatte, tauchte er eine schwarze Plastikfolie ins Wasser, hob die Überreste der Kiste hoch und drehte sie auf die Plane. Dabei brach alles auseinander. Weißes, aufgeschwemmtes Fleisch und Stoffreste kamen zum Vorschein.

»Schöner Dreck!«, fluchte Apfler. »Hab’s ja gesagt, dass …« Plötzlich verstummte er. »Oh, nein!«, entfuhr es Sabriski.

Ungläubig starrte Körner in die Grube. Spielten ihm der Regen und das aufgewühlte schlammige Wasser einen Streich, oder sah er tatsächlich das, was er zu sehen glaubte? An der halb im Wasser liegenden Leiche erkannte er ein freiliegendes Rückgrat.

In unmittelbarer Nähe fuhr ein Blitz nieder. Der Donnerschlag ließ die Erde beben, kurz daraufsetzte der Wolkenbruch ein.

 

18. Kapitel

 

Die Aufbahrungshalle neben dem Friedhof war ein kreisrunder Raum mit weiß gefliestem Boden und einer Kuppel, unter der ein gewaltiges Missionskreuz aus dem Jahre 1954 hing. Auf das einzige Fenster im Raum, eine ovale Dachluke, prasselte unaufhörlich der Regen. Das Geräusch hallte an den Wänden des leerstehenden Raums wider. Obwohl auf dem Friedhof der Frost über die Gräberreihen kroch, war es in dem Raum dunstig und schwül. Apfler, Körner und die beiden Burschen platzierten den Sarg und die Plastikfolie auf Marmorpodeste. In Grein gab es weder einen Sezierraum noch ein Leichenschauhaus. Die Aufbahrungshalle war der einzige halbwegs passende Raum, der Sabriski für die Obduktion zur Verfügung stand.

Sowie sich Hans Apfler und seine Helfer verabschiedet hatten, begann Sabriski mit der Arbeit. Sie trug ihre Instrumente aus Körners Wagen in den Raum, schlüpfte in einen weißen Kittel und zog sich Latexhandschuhe an. Ohne Carinas Sarg zu beachten, widmete sie sich zunächst der Plastikfolie.

Sabriski schlug die Plane zurück, sodass das Wasser auf den Fliesenboden spritze und ein brauner, erdiger Schlamm über den Rand des Marmorpodests rann. Dies war erst die zweite Obduktion in Körners Karriere. Der ersten hatte er vor über zehn Jahren in der Pathologie der Sensengasse beigewohnt, als ein Team Gerichtsmediziner eine drei Wochen alte Frauenleiche untersuchte. Damals war der gesamte Raum klinisch steril gewesen, in gleißendes Licht gebadet, und er selbst hatte aus rund zehn Metern Entfernung das Offnen des Körpers beobachtet.

Diesmal war alles anders. Wie gebannt starrte er auf die menschlichen Überreste, deren ursprüngliche Form er nicht mehr erkennen konnte. Der Brustkorb von Mathias’ Leiche war tief eingesunken, das Fleisch auf dem Gesicht noch zur Gänze erhalten, doch wie ein Brei zerflossen. Es schien, als habe sich der Körper der Form des Sarges angepasst. Für Körner war es unmöglich, festzustellen, ob ein Junge oder ein Erwachsener vor ihm lag. Nur die Größe der teils vermoderten Kleider ließ auf einen Jugendlichen schließen. Körner musste sich nicht einmal ein Tuch vor den Mund halten, da die Fäulniserscheinung nicht so schlimm war, wie er befürchtet hatte. Das Wasser hatte den Körper zwar wie einen Schwamm aufgeweicht, aber trotzdem in einem konservierten Zustand erhalten. Auch das dichte schwarze Haar des Jungen war vollständig, wirkte aber wie ein grotesker Anblick im Vergleich zum verformten Rest des Leibes.

Das Klimpern des chirurgischen Bestecks riss Körner aus der Erstarrung. Sabriski hatte indessen ihre Flaschen, Schneidwerkzeuge und chemischen Lösungen auf einem Tisch neben dem Podest angeordnet, danach mit sorgfältigen Schnitten die Kleider vom Leichnam gelöst.

Neben ihr stand ein Aufnahmegerät, die Spulen der Kassette drehten sich leise im Kreis. »Offnen von Brustbein und Thorax«, kommentierte sie mit einer monotonen Stimme ohne aufzusehen.

Sie setzte das Skalpell unter dem Hals an und schnitt tief mitten durch den Brustkorb. Plötzlich wurde Körner schlecht. Er spürte, wie der Kaffee, den er vor zwei Stunden getrunken hatte, in seinem verkrampften Magen rebellierte. Rasch wandte er sich um und atmete tief durch. Er hörte Metallklammern schaben, Fleisch reißen und Knochen brechen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Was war bloß los mit ihm? Schließlich war das nicht die erste Leiche, die er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Doch diesmal war es anders. Verena lebte im Nachbarort und würde nächste Woche vierzehn werden. Der Gedanke, dass er in ihrer Nähe den Friedhof aufgewühlt und tote Kinder an die Oberfläche gezerrt hatte, ließ ihn schwindeln. Wieder kamen ihm seine Albträume in den Sinn. Während er zur Kuppel starrte und sich auf das Trommeln des Regens konzentrierte, beruhigte sich sein Atem. Er hörte Sabriskis nüchterne Stimme im Hintergrund.

»Blut- und Harnproben werden später zu einer chemischen Untersuchung eingeschickt. Frage: Gibt es Spuren von Valium im Körper? Falls ja, in welcher Konzentration?«

Körner hörte das Schnappen eines Deckels.

»Der Mageninhalt ist separiert und muss ebenfalls zur Untersuchung.«

Die Zeit verging quälend langsam. Körner hörte immer wieder das leise Schneiden des Skalpells, nur ab und zu blickte er hin.

Plötzlich wurde Sabriskis Stimme lauter. »Woran, hast du gesagt, ist der Junge gestorben?«

»Herzversagen.«

Sabriski winkte ihn zu sich. Sie hatte den Leichnam auf die Seite gedreht und deutete mit der Stabtaschenlampe auf eine geöffnete Stelle im Rücken. »Eine Wunde ähnlich wie bei Sabine Krajnik«, erklärte sie. »Die Haut und das darunter liegende Fleisch auf der Höhe des dritten Lendenwirbels wurden aufgerissen, wahrscheinlich aus dem Körperinneren heraus. Der Wirbel ist deformiert.«

Körner dachte für einen Moment an die Wunde in Sabine Krajniks Rücken und die rasche Zellteilung des fremdartigen Gewebes. »Was noch?«, fragte er.

»Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Ich brauchte ein Mikroskop und detaillierte Laborbefunde, jedenfalls sieht das hier nicht nach Herzversagen aus.«

»Eins zu Null für uns.« Körner blickte zum anderen Marmorpodest. »Offnen wir den zweiten Sarg?«

»Ich bin hier noch lange nicht fertig«, widersprach Sabriski.

»Das kannst du später machen. Ich möchte wissen, was sich in dieser Kiste verbirgt.«

Körner holte eine Brechstange aus Apflers Arsenal. Mit dem Eisen trennte er den Deckel von der Kiste. Die Scharniere verbogen sich, bis das voll Wasser gesogene Holz mit einem schmatzenden Geräusch nachgab. Der Sarg roch nach Schlamm. Als Körner den Deckel beiseite schob, schlug ihm ein intensiver Fäulnisgestank entgegen. Umso erstaunlicher war es für Körner, als er plötzlich in das zur Gänze erhaltene, bleiche Antlitz eines jungen Mädchens blickte. Die Ähnlichkeit zu Sabine Krajnik war nicht zu übersehen.

Sabriski beugte sich über seine Schulter. »Tote sehen so aus, wenn sie zwei Jahre lang in feuchter Lehmerde liegen«, erklärte sie ihm. »Nimm dir die Handschuhe und hilf mir, das Mädchen rauszuheben.«

Sie hielten sich nicht lange auf und drehten die Tote auf den Bauch. Sabriski schob ihr das Kleid über die Hüften.

»Ach, du Scheiße!«, entfuhr es Körner. »Ich glaube, die Autopsie kannst du dir sparen.«

Sabriski warf ihm über die schmale Lesebrille einen sarkastischen Blick zu. »Sag bloß, auch dieses Mädchen ist angeblich an Herzversagen gestorben?«

Körner nickte. »Sie soll vor zwei Jahren in der Kirche während der Messe tot umgefallen sein. Laut der Aussage unseres Dorfarztes Doktor Weber gibt es dafür Dutzende Zeugen … wie übrigens auch für den Tod des Jungen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Dutzende Haftbefehle ausstellen lassen und den Fall am Revier zu Ende bringen.«

»Aber wir können im Moment nicht aus diesem Ort raus - und Basedov ist noch immer verschwunden«, erinnerte sie ihn.

Nachdenklich starrte er auf die zerfetzte Wunde in Carinas Rücken. Innerhalb des aufgedunsenen Fleisches glaubte er das Schimmern weißer Wirbelknochen zu erkennen. Diese toten Kinder gingen ihm langsam an die Nieren. »Ist sie an der gleichen Ursache wie Sabine gestorben?«

»Mal sehen.« Sabriski weitete die Wunde mit einer Stahlklammer und fuhr mit einer langen Pinzette hinein. Es dauerte nicht lange, da brachte sie einen Wirbelsplitter zum Vorschein, den sie in das Licht der Stablampe hielt.

»Gebrochen und verunstaltet … hier!« Sabriski drehte das Teil im Lampenlicht. »Die gleiche kreisrunde Saugstelle wie bei Sabine Krajnik, als habe sich eine Fräsmaschine in den Knochen gebohrt.«

Mit der Pinzette löste sie weitere Teile aus dem Leichnam und deponierte sie auf einem Tablett. »Knochensplitter im Körper.« Sie schnitt mit dem Skalpell in die Wunde. »Das Fleisch ist durchtränkt, allerdings nicht mit Blut oder Wasser, das würde anders aussehen … es könnte von dem gleichen braunen Saft stammen, den ich bereits aus Sabines Wunde separiert habe.«

»Dieselbe Todesursache«, schloss Körner.

»Nicht so voreilig«, widersprach ihm Sabriski. »Um das zu behaupten, müssen wir erst eine Menge Beweise im Labor erbringen. Was haben die drei Leichen gemeinsam?« Sie legte das Skalpell zur Seite und zählte die Punkte an den Fingern auf. »Wurde den Opfern eine Dosis Valium injiziert? Ist die Wunde mit einer Kochsalzlösung mit hohem Fluimucil-Gehalt versetzt worden? Sind die Saugstellen an den Lendenwirbeln tatsächlich identisch? Stammen die Fleischfetzen, Hautteile, Knorpel- und Blutspuren im Körper von einem fremden Gewebe? Und zuletzt…« Sie machte eine Pause. »Litten die beiden Geschwister ebenfalls an Knochenmarkkrebs? Womöglich besteht da ein Zusammenhang.«

»Schön und gut«, murrte Körner. »Aber ich kann nicht auf den Laborbefund warten. Für mich liegen die Fakten auf der Hand: In diesem Ort werden Kinder jeweils an ihrem vierzehnten Geburtstag abgeschlachtet, und die Morde anschließend vertuscht. Mehrere Leute müssen an diesem Komplott beteiligt sein: Der Dorfarzt, der Gendarm, der Totengräber, die Eltern der Kinder - nicht zu vergessen der Pater und der Ladenbesitzer Gehrer, in deren Räumlichkeiten die Morde geschahen.«

Sieben Personen! Das übertraf Sabriskis Drei-Täter-Theorie bei weitem. Dieser Gedanke kam ihm zu abwegig vor, doch im Moment konnte er keine andere, halbwegs einleuchtende Erklärung finden.

»Kann es sein, dass die Wunden nachträglich angebracht wurden?«

»Ausgeschlossen.« Sabriski deutete auf die Körperöffnung im Rücken. »Die Hautränder sind mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Der Leichenbestatter hat sich nicht mal die Mühe gemacht, die Verletzung zu säubern, geschweige denn die Wunde zu kaschieren. Ich vermute, die Kinder wurden sofort nach ihrem Tod eingesargt.«

Körner hatte es geahnt. »Die dachten, sie hätten nichts zu befürchten.«

Für ihn kam nur eine einzige mögliche Folgerung in Frage: Sie steckten inmitten einer unfassbaren Verschwörung, und viele Fragen waren ungeklärt.

Da flog die Tür auf und Philipp stapfte herein, gefolgt von Berger. Beide machten einen niedergeschlagenen Eindruck. Körner bemerkte ihr trockenes Haar und die trockene Kleidung.

»Wie sieht es denn hier aus? Und der Gestank!« Philipp hielt sich die Nase zu, während er auf die Leichen starrte.

Berger wandte den Blick von den Toten. Körner ging zu Mathias Krajniks Überresten, schlug die Plane darüber und warf seine Latexhandschuhe achtlos auf das Podest. »Habt ihr Basedov gefunden?«

Philipp fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. »Scheiße, nein! Wir sind durch den ganzen Ort gefahren, haben sämtliche Leute befragt.«

Sabriski blickte auf ihre Armbanduhr. »Er ist seit siebzehn Stunden verschollen.«

In diesem Moment wurde Körner klar, dass der Fotograf tot war. Sie konnten nur noch versuchen, seine Leiche zu finden. Irgendwie musste er Basedovs Frau und ihren Kindern beibringen, was passiert war. Doch was war tatsächlich passiert? Er, Sabriski und Berger hatten Basedov zuletzt gesehen, als er die Gaslight Bar betreten hatte. Danach war er nicht wieder aufgetaucht. Was sollte er Basedovs Frau erzählen? Bei dem Gedanken wurde ihm neuerlich schlecht.

»Seid ihr gar nicht nass geworden?«, hörte er Sabriskis Stimme in weiter Ferne. »Alex, merkst du es auch?« Sie blickte zum ovalen Fenster in der Kuppe. »Es hat aufgehört zu regnen.«

Er lauschte. Das Trommeln am Fenster hatte aufgehört. »Gibst du mir dein Handy?«, fragte er plötzlich.

»Mein Akku ist leer«, erklärte Sabriski.

Berger hob abwehrend die Hände. »Ich habe keines.«

Philipp kramte in der Tasche und reichte Körner sein Mobiltelefon. »Das ist ein Wertkartenhandy - keine Anrufe an die Sex-Hotline!«

Körner schnappte sich das Gerät und verließ die Aufbahrungshalle. Vor der Tür roch es nach feuchter Erde, auf dem Parkplatz dampfte der Asphalt. Durch ein winziges Loch in der Wolkendecke blinzelte die Sonne. Es hatte tatsächlich aufgehört zu regnen. Die Kieselsteine der Schotterwege glitzerten, das nasse Gras leuchtete in der Sonne, beinahe lag eine tropische Schwüle auf der Anhöhe. Körner sah über das weite Land. Der Wind wehte nach Osten, mit etwas Glück würden sich die Wolken verziehen. Wenn der Himmel aufklaren und der Wasserstand der Trier schließlich sinken würde, hätten sie gute Chancen, dass ein Bundesheertrupp eine behelfsmäßige Brücke über die Trier schlug. Unmittelbar danach müsste über den Gendarmerieposten Neunkirchen eine groß angelegte Suche nach Basedov organisiert werden.

Körner setzte sich auf die Holzbank unter das Vordach der Kapelle. Er telefonierte mit Jutta Koren.

»Wir haben die beiden Kinder exhumiert …« Er wollte ihr bündig über die Rückenwunden erzählen, darüber, dass ihn sein Instinkt nicht getäuscht hatte und zwei Morde in Grein vertuscht worden waren, möglicherweise sogar mehr. Er wollte ihr von der vergeblichen Suche nach Basedov erzählen, über die Möglichkeit, dass der Fotograf ebenso tot war, doch Koren unterbrach ihn, bevor er ein weiteres Wort sagen konnte.

»Körner, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Der Geiselnehmer ist gestorben! Sie haben ein Verfahren wegen Totschlags am Hals.«

Er fühlte eine unsichtbare Faust im Magen: seine Ex, Verena, die Alimentezahlungen, eine Suspendierung, die ermordeten Kinder, Basedovs Verschwinden, die Anhörung vor Gericht, Bergers Vorladung … und immer wieder musste er an die Staatsanwaltschaft denken. »Weiß Hauser davon?«, fragte er rau. »Noch nicht.«

Seine Gedanken rotierten. Den Fall abzuschließen, glich jetzt einem Wettrennen gegen die Zeit. Noch war er von Koren nicht offiziell suspendiert worden, immerhin war er in diesem Ort eingeschlossen und die einzige Verbindung nach draußen war das Telefon. Sein letzter Funke Hoffnung lag im Moment darin, den Fall so schnell wie möglich zu einem Ende zu bringen. Davon hing alles ab. Doch um die Lösung des Falls voranzutreiben, brauchte er Hausers Unterstützung. Körner musste schnell handeln, bevor der Staatsanwalt von dem Verfahren wegen Totschlags erfuhr - danach wäre es endgültig vorbei.

»Körner …«Jutta Koren räusperte sich. »Ich muss Sie leider …«

Er unterbrach die Verbindung und hielt den Atem an. Wie hypnotisiert starrte er auf das leuchtende Display von Philipps Telefon. Freie Leitung - kein Anruf! Es würde einige Minuten dauern, bis sie herausfand, von welchem Handy er mit ihr gesprochen hatte und sie ihn auf dieser Nummer zurückrief. So lange durfte er nicht warten. Rasch tippte er Hausers Nummer in den Apparat.

Nach dem dritten Klingelton hob jemand ab, Hauser.

Körner atmete tief durch. Diesmal durfte er das Gespräch nicht vermasseln. »Körner vom Gendarmeriekommando Wien.« Er machte eine kurze Pause. Hauser schwieg - ein gutes Zeichen. »Wir haben zwei ermordete Kinder in Grein am Gebirge: Carina und Mathias Krajnik.«

»Doch nicht etwa die beiden exhumierten Kinder?«

»Leider.« Körner ließ sich Zeit, ehe er fortfuhr. »Die Geschwister wurden mit einer hohen Dosis Valium ruhig gestellt, danach auf exakt die gleiche Art und Weise wie Sabine Krajnik ermordet: Mehrere Stichwunden am Rückgrat, irreparable Schäden an Wirbelsäule, Rückenmark und vegetativem Nervensystem, hoher Blutverlust und schließlich Atemstillstand und Erstickungstod.«

Körner wusste, er begab sich auf dünnes Eis, aber er hatte keine andere Chance, als zu pokern. Außerdem war er davon überzeugt, Sabriski würde ihm die nötigen Beweise liefern.

Noch bevor Hauser seine Darstellung anzweifeln konnte, sprach Körner weiter. »Zurzeit liegt mir der Obduktionsbefund der Gerichtsmedizinerin Doktor Jana Sabriski vor. Sie ist…«

»Ich kenne Sabriski«, unterbrach ihn Hauser. »Sie leistet ausgezeichnete Arbeit. Was brauchen Sie von mir?«

Körner ließ die angespannten Schultern sinken. »Ein Haftbefehl gegen den Dorfarzt Doktor Weber, der die Totenscheine der Krajnikgeschwister ausgestellt hat, wäre noch verfrüht. Vorerst möchte ich etwas prüfen und schlage vor, dass …«

»Was wurde in den Totenscheinen als Todesursache genannt?«

» Herzversagen.«

»Sind das dieselben Totenscheine, auf denen die Geburtsdaten der Kinder entfernt wurden, wie Sie behauptet haben?«

»Ja.«

»Haben Sie eine Erklärung, weshalb die Daten vertuscht wurden?«

»Alle drei Kinder der Krajniks starben exakt am Datum ihres vierzehnten Geburtstags … am siebzehnten August, achten September und elften Oktober. Es könnte sich allerdings um einen Zufall handeln«, gab Körner zu bedenken.

»Blödsinn!«, schnaubte der Staatsanwalt. »Daran glauben Sie doch selbst nicht! Worauf wollen Sie warten, Körner? Ich könnte Ihnen einen Haftbefehl für diesen Doktor Weber ausstellen lassen. Nehmen Sie ihn in die Zange.«

»Zurzeit sind wir vom Hochwasser eingeschlossen.«

»Ich erteile Ihnen den Haftbefehl mündlich und lasse Weber das Dokument binnen achtundvierzig Stunden schriftlich zustellen … in diesem Ort wird es wohl ein Faxgerät geben, oder?«

»Selbstverständlich.« Körner grinste. Er hatte Weber an den Eiern!

»Und noch etwas, Körner.« Der Staatsanwalt machte eine Pause. »Sie sind bestimmt schon auf den Gedanken gekommen, dass der Dorfarzt ein derartiges Verbrechen nicht ohne Hilfe vertuschen konnte. An dem Fall müssen zumindest der Leichenbestatter und womöglich die Eltern der Kinder beteiligt gewesen sein, schließlich mussten sie damals die Leichen identifizieren.«

»Vielen Dank für den Hinweis.« Als ob er das nicht wüsste!

»Sie hatten zuvor erwähnt, dass sie noch eine weitere Sache prüfen wollten«, erinnerte ihn der Staatsanwalt.

Körner kamen Philipps Kommentare während der Spurensuche in der Gaslight Bar in den Sinn. »Das Gendarmeriekommando Wien hat 1996 und 1998 in Krems und Gmunden in Mordfällen an Jugendlichen ermittelt. Mathias Krajnik starb 1999, Carina 2001 und Sabine vor zwei Tagen. Der modus operandi in all diesen Fällen ist ein ähnlicher, es könnte ein Zusammenhang bestehen.«

»Ich sehe zwar nicht, was das mit unserem Fall zu tun hat, aber gehen Sie der Sache nach.«

»Die Fälle tragen einen Sperrvermerk«, wandte Körner ein. »Um Einsicht in die Unterlagen zu nehmen, müssten Sie die Verschlussakten öffnen lassen.«

Das lange Schweigen am anderen Ende der Leitung dämpfte seine Erwartungen.

»Sie verlangen viel von mir«, knurrte Hauser. »Sperrvermerke haben einen Sinn, aber das brauche ich Ihnen nicht zu erklären, Körner. Treiben Sie den Fall voran, bringen Sie mir weitere Beweise, dann sprechen wir noch einmal über Krems und Gmunden. Auf Wiederhören.«

Als Körner das Handy herunternahm, piepte es dreimal. Das Display leuchtete auf: Eine Nachricht auf der Mailbox! Er klickte die Meldung an, Korens Nummer erschien auf der Anzeige. Bestimmt hatte Sie ihm eine Nachricht auf Band gesprochen. Er konnte sich denken, worum es ging, wollte es aber gar nicht hören. Da piepte es noch einmal und das Display erlosch. Der Akku war leer. Die Anzeige der Nachricht hatte der Batterie den letzten Saft gekostet. Körner grinste schwach. Von seinem Team verfügte niemand über ein funktionierendes Handy! Im Moment war es auch besser, wenn keiner von ihnen zu erreichen war. Rolf Philipp besaß als Kripoermittler die Vollmacht, ihm bei einer Suspendierung Waffe und Dienstmarke abzunehmen. Jedenfalls würde er den Mitgliedern seines Teams vorerst nichts von dem Gespräch mit Jutta Koren erzählen, sie ungestört arbeiten lassen und abwarten, was Sabriskis Obduktion und Philipps Spurensuche ergaben.

In der Zwischenzeit saß Körner neben dem Eingang zur Halle auf einer Bank, lauschte dem Gemurmel seiner Kollegen. Er schlug den Mantelkragen hoch, während er über den Hang auf das Dorf hinunterschaute. Helle Strahlen blinzelten durch die Wolkendecke, die an mehreren Stellen gleichzeitig aufriss. Es war höchste Zeit, dass die Sonne endlich wieder hinter dem endlosen Dunstschleier hervorkam. Die Luft war noch immer feucht, geschwängert vom Nieselregen, und ein prächtiger Regenbogen spannte sich über das gesamte Tal.

Als die Sonne Körners Gesicht wärmte, löste sich seine innere Anspannung. Er zog das Tagebuch des Messdieners aus der Manteltasche. Eigentlich hatte er es eingesteckt, um es Sonja Berger zum Lesen zu geben, doch die verrückte Geschichte um Pater Dorn faszinierte ihn so sehr, dass er selbst die Eintragungen zuerst lesen wollte. Immerhin handelte das Buch von der Geschichte Greins, jenes Orts, in dem er aufgewachsen war, und letztendlich würden die vergilbten Seiten vielleicht das Geheimnis um jenen alten Pfarrer lüften, über den sich so viele Erzählungen rankten, die sich die Jungendlichen in der Nähe des Friedhofs hinter vorgehaltener Hand erzählt hatten. Anscheinend verbarg sich doch mehr hinter dem Mord an Pater Dorn, als er zunächst geglaubt hatte … sofern das Tagebuch keine Fälschung war.

Den Schluss der Aufzeichnungen kannte er bereits, doch wusste er nicht den Grund, weshalb die Dorfbewohner den Pater zu Tode geprügelt, ihn nackt in der Kirchenkuppel aufgehängt und anschließend das Gotteshaus in Brand gesteckt hatten. Um sich den Anfang des verworrenen Textes zu ersparen, schlug Körner das Buch in der Mitte auf und begann zu lesen.

 

19. Kapitel

 

10. April: Bis zu Jahresbeginn haben die in Haidenhof lebenden Katholiken jeden Sonntag den einstündigen, beschwerlichen Kirchweg durch Wind und Wetter auf sich genommen, um während des Gottesdienstes die Sakramente zu empfangen. Ich bewunderte diese Menschen. Mochte die Not auch noch so groß sein, niemals hätten die Gläubigen von Haidenhof und Grain auf das Gotteshaus in ihrer Mitte und seinen Besuch verzichtet. Ständig war die Kirche zum Bersten voll. Umso mehr schmerzt es, dass die Gemeinde einen Mann wie Pater Dorn zum Pfarrer hat, der noch dazu aus einer gläubigen Pfarrfamilie stammt.

Nie hätten wir bei den Restaurationsarbeiten das Gewölbe öffnen, in die Gruft hinabsteigen, Hutzingers Buch finden und darin lesen dürfen. Nie hätten wir die Maschine bauen dürfen. Alles wäre beim Alten geblieben, und Pater Dorn wäre auch heute noch ein rechtschaffener Pfarrer, der die Heilige Messe an Sonn- und Festtagen zelebriert, die Marienfeste feiert, die Andachten, Christenlehre sowie die Weihen von Salz und Wasser abhält. Doch seit die Kreatur geboren wurde und in der Obhut Pater Dorns wächst, genügt es nicht mehr, dass er das Gezücht im Beichtstuhl verbirgt. Seit Jahresbeginn bleiben die gottesfürchtigen Leute aus, auch diesen Sonntag wieder. Stattdessen kommen Männer und Frauen, um die schwarze Hostie zu empfangen. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Rasch verbreitet sich das Gerede, etwas Böses habe sich in der Kirche eingenistet.

 

14. April: Es wird Frühling. Seit Beginn dieser Woche harke ich die Erde im Pfarrhof, so auch diesen Donnerstag. Bereits in den Morgenstunden suchte der Kunstschreiner Kaspar Müllenspier den Pater auf. Ich machte eine Pause, rieb mir die schwieligen Hände am Hosenboden und sah durchs Fenster die beiden in der Sakristei streiten. Der Schreiner war aufgebracht, seine Arme fuhren durch die Luft. Dumpf hörte ich sein Geschrei durch das geschlossene Fenster. Gewiss war der Schreiner von den Dorfbewohnern geschickt worden. Er ist ein enger Vertrauter des Paters, weshalb es auf der Hand lag, dass er versuchen sollte, dem Pater ins Gewissen zu reden. Wie viel haben die Bewohner schon begriffen? Ahnen sie, was sich in der Gruft und im Beichtstuhl verbirgt?

Während Müllenspier tobte, blieb Pater Dorn ruhig und hörte sich alles an. Sein Gesicht wurde immer länger, fast traurig musterte er den Schreiner. Schließlich nahm er ihn an der Schulter und führte ihn aus der Sakristei hinaus. Ich ahnte, was passieren würde. Rasch lief ich zum nächsten Fenster und sah, wie sie durch die Kirche schritten. Der Pater führte Müllenspier zum Beichtstuhl. Mein Gesicht klebte an der Scheibe, bis das Glas beschlug. Für einen Augenblick streifte mich Pater Dorns Blick. Er hatte mich bemerkt und würde mich bestimmt zum Schweigen bringen. Mein Herz raste, als er mit einer raschen Bewegung die Tür öffnete und Kaspar Müllenspier in den Beichtstuhl stieß. Entsetzliche Vorstellungen spukten mir durch den Kopf. Eilig wandte ich mich ab und harkte weiter den Boden, als wenn nichts geschehen wäre. Beim Abendbrot sagte der Pater kein Wort zu mir, doch merkte ich, dass er jede meiner Bewegungen beobachtete.

 

28. April: Wie üblich arbeitete ich abends in Pater Dorns Pfarrwohnung, staubte die Bücher ab, wischte die Regale und wusch das Geschirr. Vor dem Fenster stand Adalbert Schmals Pferdekarren. Ich hatte den Landwirt gar nicht kommen hören. Erst als laute Stimmen aus dem unteren Stock des Pfarrhauses drangen, wurde mir klar, dass er den Pater besuchte. Doch war es keine normale Visite. Die Männer stritten. Vorsichtig öffnete ich das Fenster und lauschte. Ich hörte Schmals aufgebrachte Stimme. Er ist ein riesiger, behäbiger Mann mit Händen so groß wie Wagenräder. Sein Gebrüll war dementsprechend kräftig, die Scheiben vibrierten, sobald er die Stimme erhob. Und diesmal war er außer sich. Ich brauchte mich nicht sonderlich anzustrengen, um zu hören, dass es wie immer um die gleichen Anschuldigungen ging: Was passierte mit den Ortsbewohnern? Was geschah mit den Frauen und Kindern nach der Messe? Weshalb veränderten sie sich? Schlagartig verstummte das Geschrei. Ein wuchtiger Körper fiel zu Boden und riss einen Gegenstand mit sich. Pater Dorn! Was war ihm zugestoßen? Ich hielt den Atem an. Das Splittern der Scherben verklang, es wurde ruhig. Im nächsten Moment hörte ich die Tür des Pfarrhauses. Sie wurde wuchtig aufgestoßen und Pater Dorn trat heraus. Heilige Mutter Gottes! Er zerrte den Landwirt unter den Achseln aus dem Haus. Rasch stolperte ich einen Schritt vom Fenster zurück. Der Pater durfte mich nicht sehen! Er würde mich ebenso bewusstlos schlagen oder Schlimmeres mit mir anstellen. Ich frage mich, weshalb er das nicht schon längst getan hat. Hofft er auf meine Ergebenheit? Während ich über meine Rolle in diesem grausamen Spiel grübelte, verbarg ich mich hinter dem Vorhang und beobachtete den Pater. Schritt für Schritt schleifte er den gewaltigen Körper Adalbert Schmals hinter sich her und verschwand mit ihm in der Kirche. Nein! Nicht schon wieder der Beichtstuhl, durchfuhr es mich. Ich begann zu beten, trat von einem Bein aufs andere. Warum tat er das nur? Vielleicht wäre es mir gelungen, Adalbert Schmal zu retten. Hätte ich rechtzeitig Hilfe bringen können, wenn ich augenblicklich losgelaufen, in die Kirche gestürzt wäre und dem Pater den Weg versperrt hätte? Wäre er zur Vernunft gekommen? Ich werde es nie herausfinden. Meine Glieder waren tonnenschwer, ich hatte nicht einmal die Kraft, die Pfarrwohnung zu verlassen, geschweige denn, durch den Hof zu gehen und die Kirche zu betreten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich reglos neben dem Fenster gestanden habe, gewiss eine halbe Stunde. Da flog die Kirchentür auf. Das Geräusch riss mich aus den Gedanken. Mir stockte der Atem, gebannt starrte ich durch das Fenster. Adalbert Schmal taumelte über den Platz auf seinen Pferdekarren zu. Mit langsamen, ungelenken Bewegungen kletterte er auf den Bock und griff mehrmals nach den Zügeln. Immer wieder glitten sie ihm aus der Hand. Die Pferde scharrten unruhig mit den Hufen in der Erde. Rochen sie die Schwefelausdünstung, die der Landwirt aus dem Beichtstuhl mitgebracht hatte? Ich hätte ihn retten können, doch jetzt war es zu spät. Er war ein anderer geworden, wie zwei Wochen zuvor bereits Kaspar Müllenspier. Wann wird das alles enden? Und wann wird es mich erwischen?

 

13. Mai: Ich bete täglich mehrere Stunden für Pater Dorn, damit er endlich zur Besinnung kommt, doch was tut er?

Seit Tagen und Nächten schnitzt und kerbt er hinter einer Plane, die den Beichtstuhl verhängt. Sein Holzwerken ist ohne Pause zu hören. Heute, am Freitag, nach einer Woche Arbeit, ist er fertig geworden. Kaum hatte ich meine Mittagsmahlzeit beendet, zwang er mich in die Kirche. Mit rotgeränderten Augen und blutig rauen Fingern präsentierte er mir sein Werk. Ich musste es mir ansehen, ob ich wollte oder nicht. Er wischte sich das Blut von den Händen, zog die Plane von dem Gerüst, sodass sich mir das entsetzliche Ergebnis offenbarte. Er hatte die Holzdecke des Beichtstuhls zu einem kleinen rundbogigen Reliquienschrein umfunktioniert.

»Die Kunstschnitzereien stammen von mir«, sagte er stolz. »Schau sie dir genau an.« Er zerrte mich näher heran. Doch waren keine Heiligen, Engel, Märtyrer oder Prozessionen mit Kruzifix-, Laternen- und Betstuhlträgern zu sehen, sondern ein grässliches Gezücht mit Hörnern, Dornen, Zähnen und Krallen. Die figürliche Ausstattung war grob, die Details verschwammen ineinander. Das Abbild erinnerte mich auf schreckliche Weise an meine Erlebnisse vor zwei Monaten im Beichtstuhl, zudem führte es mir endgültig den kranken Geist des Paters vor Augen.

 

6. Juni: Heute ist mir klar geworden, dass mich Pater Dorn deshalb verschont, weil er mich braucht, um die neugierigen Dorfbewohner von der Kirche fern zu halten. Solange der Messdiener noch normal ist, kann von der Kirche keine Gefahr ausgehen, sollen sie glauben. Aber es wird zunehmend schwieriger, den Menschen diese Lüge vorzugaukeln. Immer mehr Leute werden misstrauisch, zu viel ist in den letzten Monaten vorgefallen. Pater Dorn hat zu viel riskiert. Es lässt sich nicht mehr vertuschen, längst hätte er dem Grauen im Ort ein Ende setzen müssen, doch er treibt sein Spiel mit den Menschen immer weiter. Dabei hat er nicht nur sie betrogen, sondern auch Verrat an Jesus, Gott und der Kirche begangen. Er hat einen unheiligen Pakt mit Furcht einflößenden Mächten geschlossen. In der Zwischenzeit ahnen die Bewohner, dass die Bedrohung vom Beichtstuhl ausgeht. Im Volksmund wird er bereits der Judas-Schrein genannt - und wie Recht sie doch haben! Pater Dorn, der Verräter, hat einen Schrein errichtet, worin er dem Bösen Unterschlupf gewährt. Ich weiß es am besten, denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Doch seit meinem Erlebnis im Beichtstuhl wage ich mich nicht mehr in dessen Nähe. Die Gefahr, die davon ausgeht, ist zu groß geworden.

Der einzige Platz innerhalb der Kirche, wo ich mich noch wohl fühle, ist die Kapelle. Sie ist eng, weist einen rechteckigen Grundriss auf, und auf ihrem Satteldach befindet sich ein winziger Reiter mit spitzer Haube. Innen ist sie ebenso zierlich eingerichtet. Unter dem Chorbogenkruzifix stehen zwei alte Kirchenbänke, davor ein weiß angemalter Christus. Aus seinen Wundmalen sprießen fünf kleine Engel, die sein Blut mit Kelchen aufnehmen. Doch nicht nur die Gegenwart Jesu führt mich oft hierher - neben seiner Statue befindet sich der alte Marienaltar. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskind und zwei Engeln in Demut- und Gebetshaltung, geschnitzt von dem Künstler Heinz Mück aus Wesel, waren der eigentliche Grund gewesen, weshalb ich vor drei Jahren das Amt des Messdieners gewählt hatte. So konnte ich ständig in der Nähe der Mutter Gottes verweilen und mich ungesehen in ihrer Güte baden, ohne als Spinner abgetan zu werden. Mittlerweile ist die Kapelle zu meiner Zufluchtstätte geworden, an die ich mich an meinen freien Montagen zurückziehen kann, um zu beten. Heute zermarterte ich mir stundenlang das Gehirn, woher ich Hilfe holen könnte. Der einzige Ort, der mir einfiel, ist die Pfarrstelle in St. Gyden im Dekanat Kempen. An meinem nächsten freien Tag könnte ich Bürgermeister Ebus von Walbeck dorthin begleiten. Doch was sollte ich dem dort ansässigen Pater berichten? Etwa alles? Würde er mir glauben? Wäre das zudem nicht Verrat an meinem Pater? Ich fürchte mich davor, schließlich bin auch ich kein Unschuldiger. Doch mehr fürchte ich Pater Dorn selbst. Wie wird er reagieren, wenn er hinter meinen Treuebruch kommt? Aber noch hege ich die Hoffnung, sein Zustand könnte sich bessern. Vielleicht bringen ihn meine Gebete zur Vernunft.

 

12. Juni: Es ist schrecklicher geworden, doch der Reihe nach. Diesmal erschienen bereits zwölf Gläubige zum sonntäglichen Gottesdienst, um die schwarze Hostie zu empfangen. Nach der Messe trug ich das Evangelium, die Messbücher und Kerzenständer in die Sakristei. Ich ordnete alles an, wie es mir Pater Dorn beigebracht hatte. Durch das Fenster sah ich die Leute den Kirchberg hinuntergehen. Wolfgang Bücheler, der Ofensetzer, war nicht unter ihnen. Ich dachte, er würde an dem lauen, sonnigen Abend noch auf der Bank vor dem kleinen Friedhof sitzen. Seit dem Tod seiner Frau war er dort oft zu finden. Meist kauerte er stundenlang da, ohne gestört werden zu wollen. Früher bat ihn der Pater oft zu sich in die Wohnung und aß mit ihm einen Teller heiße Suppe, doch seit die Menschen im Ort spüren, dass mit dem Pater etwas nicht stimmt, verschloss sich auch Bücheler vor ihm. Als ich aus der Sakristei zurückkam, um Kelch, Tuch, Ziborium und den Weihrauchkessel im Schrein aufzubewahren, sah ich die Tür zum Beichtstuhl offen stehen. Ein menschlicher Körper lag davor, auf dem Rücken, das Gesicht zur Kuppel gerichtet. Der Arm des Mannes war grotesk nach hinten verbogen, als wolle er sich zwischen die Schulterblätter greifen. Mehr konnte ich nicht erkennen, da seine Augen im Schatten lagen. Ich glaubte, er sei tot. Als ich zu ihm stürzte, schlug die Beichtstuhltür mit einem Knall zu. Mein Herz raste. Ich stand vor dem Mann: Es war der Ofensetzer Wolfgang Bücheler! Plötzlich bewegte er die Lippen. »Max! Hilf mir, Junge«, flüsterte er. Seine Finger streckten sich nach mir aus.

Mein Körper war steif, ich konnte nur dastehen und ihn anstarren. Endlich griff ich nach seiner Hand. Mit meiner gesamten Kraft versuchte ich ihn zu packen, doch seine blutverschmierten Finger entglitten meinem Griff. Schließlich gelang es mir, ihn hochzuziehen. Taumelnd stand er vor mir, sein Hemd war ihm aus der Hose gerutscht. Ich roch den penetranten Schwefelgestank. Von Bücheler stammte er nicht, da war ich mir sicher. Vorsichtig schielte ich zum Beichtstuhl. Die Tür war geschlossen, und um keinen Preis der Welt hätte ich sie noch einmal geöffnet. Das Erlebnis, welches ich vor mittlerweile drei Monaten hatte, steckte mir zu tief in den Knochen. Herr Bücheler bedankte sich mit knarrender Stimme bei mir und wankte davon. Entsetzt sah ich seinen zerrissenen Hemdrücken. Auf dem Boden, wo er gelegen hatte, glänzte eine schmierige Blutlache.

Heilige Maria, Mutter Gottes, wohin soll das führen?

 

19. Juni: Heute Abend war es soweit. Ich erfuhr es während der Vorbereitung zur Andacht von der Tochter des Bürgermeisters. Johannes Ebus von Walbeck konnte zwei Männer für seine Pläne gewinnen, den Schlosser Wilhelm Grüterich und den Dorfschmied Anton Biesenbach. Mehr brauchte er nicht! Gemeinsam scharten sie eine Meute von achtzig Männern um sich. Das ist praktisch der gesamte Ort.

Stunden später rückten die Bewohner mit Äxten, Beilen und Brecheisen über den Kirchberg an. Sie platzten während der Messe in die Halle.

»Räumt die Kirche aus!«, tobte der Bürgermeister, während die Männer in das heilige Gebäude stürzten. Ich verbarg mich hinter der Hauptsäule, von wo ich das Geschehen beobachtete. Die Zimmerleute Ginderich und Dörpinghaus rückten mit Pferdegespannen an und zerrten mit ihren Helfern Dutzende Laufmeter Holzbohlen in die Kirche. Der Altar wurde verwüstet, die Orgel beschädigt, die Kanzel zerschmettert. Die wenigen Gläubigen flohen während der Messe in die Sakristei. Ich sah sie durch das Fenster klettern und über den Berg die Flucht ergreifen.

Ginderichs Männer demontierten die Sitzbänke und zerlegten sie zu Brettern. Es ging so rasend schnell. Andere Männer schnitten die Seile der Glocken durch und traten die Aufhängung von den Balken, bis das gesamte Läutwerk mit einem metallenen Donnern durch den Turm zu Boden stürzte.

Weinend und klagend zelebrierte Pater Dorn die Messe zu Ende und brachte zum letzten Mal in der Pfarrkirche Grain das Heilige Opfer. Während er bei der Wandlung die Hostie erhob, hielten die Männer die Hand vor das Gesicht.

»Wollt ihr das Sakrament nicht sehen?«, jammerte Pater Dorn. Er hob die Arme weit von sich und streckte ihnen die schwarze, viereckige Hostie entgegen. Währenddessen trieben die Männer das Gezücht mit Fackeln tief in den Schacht des Beichtstuhls. Ich hörte ihre Schreie und ihr Johlen von unten heraufdringen. Sie jagten das verletzte Getier immer tiefer in die Erde, bis es endgültig in eine Felsspalte stürzte. Danach räucherten die Männer das Gewölbe und den Türkenschacht aus, schütteten das Loch zu und vernagelten den Boden. Immer mehr Bänke wurden herangeschleppt. Die Äxte splitterten das Holz. Ich fürchtete, dass kein Stein auf dem anderen bleiben würde, doch die Männer verschonten den Rest der Kirche, den Pater und mich. Sie brachten lediglich eine doppelte Bretterverschalung um den Beichtstuhl an, danach verschwanden sie.

Ich würde gern glauben, dass diese Barrikade ausreicht, doch ich wage es nicht zu hoffen. Seit heute Abend ist dem Gezücht der Weg nach oben versperrt, doch könnte es sich unter dem Dorf ins Erdreich ausbreiten, sofern es nicht zuvor verkümmert und abstirbt. Bestimmt werden auch andere auf diese Idee kommen, und so bin ich mir sicher, dass es mit diesem Angriff nicht vorüber ist, sondern erst begonnen hat. Es gibt noch so vieles, das die Dorfbewohner herausfinden müssen. Letztendlich kann der Ort nur dann zur Ruhe kommen, wenn sie das Gewölbe mit der Maschine entdecken, den Mechanismus zerstören, Hutzingers Buch verbrennen und mit dem Tod von Pater Dorn alles zu einem endgültigen Ende bringen. Die Zerstörung des Judas-Schreins war gewiss nur der Anfang. Für den Moment ist das Gezücht darin gefangen und der Schrein verbarrikadiert. Wenigstens das ist gelungen, und ich bin froh, keinen Blick mehr in den Beichtstuhl werfen zu müssen. Die schreckliche Erinnerung an das Fallgitter, die Bank mit den Seilen, Flaschenzügen und blutverschmierten Lederfesseln sitzt zu tief.

 

Körner klappte das Buch zu. Die Bank mit den Seilen, Flaschenzügen und blutverschmierten Lederfesseln! Verdammt, was hatte er da gerade gelesen? Das war eine exakte Beschreibung jener Eisenkonstruktion, die am Tatort von Sabine Krajnik stand! Die Tagebucheintragung war genauso verrückt wie der Fall, in dem sie ermittelten. Womöglich passten die Ereignisse gerade deshalb zusammen. Er musste sich unbedingt das Gerät in der Gaslight Bar näher ansehen. Das Ding war zwar keine hundertvierzig Jahre alt, aber gewiss eine exakte Nachbildungjener Konstruktion, welche Pater Dorn im Beichtstuhl versteckt hatte. Sein nächster Weg führte zwangsweise in die Kirche, wo er das verdammte Laken vom Beichtstuhl reißen würde, das Sabriski ihm beschrieben hatte. Doch zunächst in die Bar! Das vermaledeite Gerät, dessen Zweck ihm bisher noch nicht klar geworden war, stellte die Verbindung zwischen den aktuellen Geschehnissen und den Ereignissen von 1864 dar. Irgendwie passte alles zusammen, und Martin Goisser hatte gewusst, auf welche Weise.

Er lief zu seinem Wagen. In diesem Moment marschierte Philipp aus der Aufbahrungshalle, bog das Kreuz durch und streckte die Arme von sich. »Alex, wo warst du? Wir müssen unbedingt…«

»Später!«, keuchte Körner. Er sprang hinter das Lenkrad des Audis und wendete den Wagen auf dem Parkplatz. Schotter und Wasser spritzten gegen das Bodenblech, und Sekunden später raste Körner bereits auf der Straße zum Hauptplatz. Im Rückspiegel sah er, wie ihm Philipp verdutzt hinterherstarrte.

Als nach der Kurve die Zelte und die provisorische Holzhütte für den Hochwasser-Krisenstab auftauchten, bremste Körner den Wägen ab. Im Schritttempo kurvte er zwischen den Löschfahrzeugen, Pritschenautos und den herumeilenden Menschen hindurch über den Hauptplatz. Aus der Gulaschkanone dampfte es noch immer und auf den Heurigenbänken unter dem Zelt stapelten sich leere Mineralwasserkisten. Es glich den Vorbereitungen zu einem Volksfest, das wegen Schlechtwetters hatte abgesagt werden müssen. Dutzende Männer und Frauen hielten in ihrer Tätigkeit inne und belauerten ihn wie eine Meute Wölfe. Er würde sie nicht wissen lassen, wie weit er mit seinen Ermittlungen war. Ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen fuhr er an der Gaslight Bar vorbei. Die gelben Absperrungsbänder flatterten im Wind.

Körner parkte den Wagen vor dem Hintereingang der Diskothek. Er stieß die Tür auf und ging an den Toiletten vorbei. Wie in jedem Fall gab es immer wieder Hinweise, die ihn an den Tatort zurückführten. Bestimmt würde es nicht das letzte Mal sein, dass er die Bar betrat. Er fragte sich, ob Basedov die Diskothek aus dem gleichen Grund wie er aufgesucht hatte. Er würde es rausfinden!

In dem Raum roch es nicht länger nach Eisen und Schwefel. Ein penetranter Geruch von Putz- und Scheuermitteln lag in der Luft. Sicherlich hatte Waltraud Stoißer den gesamten Boden gebohnert und nicht bloß die Tanzfläche, wo der Mord passiert war. Ihm kamen leise Zweifel, ob es nicht ein Fehler gewesen war, die Wirtin in die Bar zu lassen. Philipp hätte es ihr nicht erlauben dürfen; womöglich hatte er einige Spuren übersehen. Doch nun war es zu spät.

Körner marschierte an der Theke vorbei. Durch die Fenster fiel mattes Licht. Neben der Tanzfläche thronte die Eisenkonstruktion wie ein bizarres Gebilde aus einer anderen Welt. Allem Anschein nach war es ein ähnlicher Mechanismus, wie ihn Pater Dorns Messdiener in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Körner hockte sich vor die Sitzbank der Vorrichtung, ein schwarzes Lederkissen mit brüchiger Naht, das ihn an die Geräte in Fitnesscentern erinnerte. Er lugte darunter. Die Bank war mit einem Blechteil, Schrauben und Muttern an das Eisengestänge montiert worden. Körner schätzte das Alter der angebrachten Schweißnähte auf mindestens fünf Jahre. Auch die Rollen, das Gewinde und die Kugellager ließen ein ähnliches Alter vermuten. Die Seile waren zwar brüchig, aber nicht abgewetzt und entsprechend selten beansprucht worden. Womöglich hatten bereits Carina und Mathias Krajnik kurz vor ihrem Tod vor zwei beziehungsweise vier Jahren Bekanntschaft mit diesem Gerät gemacht. Körner studierte den Weg der Seilzüge von der Handkurbel bis zu den Lederriemen. Der Apparat könnte einen Menschen in eine nach vorne gekrümmte Sitzposition zwingen, sodass ein Rundrücken entstand, der laut Sabriskis Autopsiebericht eine Punktierung der Wirbelsäule erleichterte. Sie würde herausfinden, ob dieser Eingriff bei den exhumierten Kindern vorgenommen worden war. Körner dachte an die Krajnikgeschwister. Hatten Mathias und Carina auf dieser Bank gesessen? Hatten ihre Hände in diesen Lederriemen gesteckt?

Da kam ihm plötzlich ein nebensächliches Detail in den Sinn. Die Totenscheine! Mathias starb angeblich in den Räumlichkeiten von Gehrers Laden und Carina während der Messe auf der Kirchenbank. Diese Eisenkonstruktion hätte unmöglich durch die Tür in das Geschäft gepasst, geschweige denn zwischen die Kirchenbänke. Dann fiel Körner auch etwas anderes auf: Das Gestell war viel zu groß, um es durch die Tür aus der Gaslight Bar zu transportieren. Das Kripoteam hätte es unmöglich aus der Diskothek schaffen können, ohne es vorher zu zerlegen. Die Frage war: Wie war das Ding in die Diskothek gekommen?

Körner fuhr mit der Spitze des Kugelschreibers über die Schweißnähte des Eisengestänges. Zweifellos waren die Lötstellen einige Jahre alt, was nur bedeuten konnte, dass die Konstruktion ebenso lange in diesen Räumlichkeiten stand. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Hitze wallte in ihm auf. Der Diskothekenbesitzer Chuck Rainer musste also von dieser Konstruktion wissen! Ebenso alle Besucher der Diskothek - praktisch der gesamte Ort, denn so etwas sprach sich herum.

In welche verdammte Sache war er da nur hineingeraten? Körner schwindelte. War es das gewesen, wonach Basedov gesucht hatte, oder war dem Kripofotografen etwas anderes aufgefallen? Und falls ja, was?

Da kam ihm eine Idee. Sein eigenes Handy lag mit leerem Akku in seinem Zimmer. Philipps Mobiltelefon funktionierte auch nicht mehr. Doch in dieser Diskothek musste es einen Telefonanschluss geben. Er stand auf und sah sich um. Auf dem Tresen neben der Registrierkasse stand tatsächlich ein altmodisches, schwarzes Telefon mit Wählscheibe. Rasch ging er darauf zu, hob den Hörer ab und wählte aus dem Gedächtnis Basedovs Handynummer. Gestern Abend hatte sich die Mobilbox aktiviert vielleicht war das jetzt anders. Während er in der Muschel das Ticken des Verbindungsaufbaus hörte, schielte er zum schmierigen Spiegel hinter dem Schanktisch - sein eigenes Antlitz starrte zurück, blass, unrasiert, abgemagert und mit Schatten unter den Augen. Aus dem Augenwinkel sah er das Eisengestell. Mach schon!

Beim ersten Klingelton fuhr Körner herum. Irgendwo aus dem Raum hörte er eine Melodie. Er nahm den Hörer vom Ohr und lauschte. Der Ton drang dumpf wie durch Watte gefiltert zum ihm. Das Lied stammte aus einem Zeichentrickfilm. Eine Assoziation blitzte in seinem Hirn auf: Unter dem Meer! Unter dem Meer! Die Musik von Arielle, der kleinen Meerjungfrau! Da wusste er, dass er Basedovs Handy klingeln hörte.

Mit einem Mal verstummte die Melodie. Gleichzeitig drang die Stimme von Basedovs Mailbox aus dem Hörer: Sie sind verbunden mit dem Anschluss der Nummer drei-zwo-vier… Ein Klicken im Hörer ließ ihn zusammenfahren. Er hielt weiterhin die Muschel ans Ohr, doch die Leitung war tot!

Körner knallte den Hörer auf den Apparat. Woher war der Klang gekommen? Er stürzte um den Tresen herum und betrat den Bereich hinter der Schänk. Der Holzboden war dunkel und speckig, die Bohlen knarrten unter seinen Schritten. Er ging in die Hocke und betrachtete die mit Gläsern, Servietten, Tabletts und Bierdeckeln gefüllten Regale unter dem Schanktisch. Basedovs Handy konnte unmöglich hier liegen, dazu war der Ton von zu weit weg erklungen, so, als sei das Handy hinter der Wand verborgen, oder gar …

Er starrte auf den Boden. In das Holz war ein faustgroßer Metallring eingelassen. Körner bemerkte die Fuge mit den quadratischen Ausmaßen und die Scharniere. Eine Kellerluke! Er fingerte den Ring aus der Vertiefung und zog die Falltür auf. Der Geruch von moderigem Holz und brackigem Wasser schlug ihm entgegen. Eine Stiege führte in die Dunkelheit hinab. Das wenige Licht, welches durch die Fenster in die Bar fiel, reichte gerade aus, um das Schimmern der Wasseroberfläche zu erkennen. Das gesamte Untergeschoss war überflutet, das Wasser reichte beinahe bis zur Kellerdecke.

Körner sah sich unter dem Tresen nach Kippschaltern um.

Einer aktivierte den Ventilator, ein anderer brachte eine Neonröhre über dem Barspiegel zum Flackern. Das Licht spiegelte sich in der schwarzen Brühe, Wellen kräuselten sich auf der Oberfläche. Dort unten musste das Handy liegen, es gab keine andere Möglichkeit. Ausgerechnet! Körner schlüpfte aus dem Regenmantel und warf ihn über den Tresen. Wie er es hasste, in ein feuchtes Kellerloch zu steigen.

Als er auf die erste Stufe trat, griff er sich unter die Achsel, schnippte den Daumenschnellverschluss auf und zog die Glock aus dem Schulterholster. Er stieg die Treppe weiter hinab; bereits auf der vierten Stufe umspülte die graue Brühe seine Schuhsohlen. Unter der Wasseroberfläche zeichneten sich die nächsten beiden Stufen ab, danach verschwanden die Holzsprossen in der Dunkelheit. Es ließ sich absolut nicht erkennen, was sich im Wasser befand, geschweige denn, wie weit sich der Keller unter der Bar ausdehnte. Rasch kletterte er die Treppe weiter hinunter. Das Wasser umschloss seine Beine und zog bleiern an der Hose. Als er bis zu den Oberschenkeln nass war, bückte er sich und stierte unter die Kellerdecke in den Raum. Es war nichts als Dunkelheit zu erkennen. Dieser Vorratskeller konnte sich weiß der Teufel wie weit erstrecken. Körner würde ihn durchschwimmen müssen, um ihn vollständig zu erkunden. Aber ohne Lampe wäre das sinnlos. Er würde einige Leute von der Feuerwehr in die Diskothek beordern müssen, damit sie den Keller durchkämmten. Er konnte sich schon Weißmanns Gesicht vorstellen, wenn er ihm eine Hand voll Männer abspenstig machte.

Körner wollte bereits umkehren, als er einen silbernen Schimmer an der Wand entdeckte. Er schirmte die Augen mit der Hand ab und blinzelte. Der Schein sah aus, als spiegele sich das Neonlicht auf einer Eisenstange, die aus der Wasseroberfläche ragte. Ein Stativ! Rasch kletterte er die Treppe hinunter. Als ihm das Wasser bis über den Bauch reichte, begann er schneller zu atmen. Die Kälte presste ihm den Brustkorb zusammen und im nächsten Moment klapperten seine Zähne aufeinander.

Noch eine Stufe tiefer, dann zog Körner ein Dreibeingestell mit einer auf dem Kopf montierten Digitalkamera aus dem Wasser, welche er sogleich erkannte. Um keine Fingerabdrücke zu verwischen, lehnte er Basedovs Stativ wieder an die Wand.

Philipp konnte sich später darum kümmern. Zumindest sah er, dass das Gehäuse eine kräftige Delle abbekommen hatte, außerdem hatte der Apparat zur Hälfte im Wasser gelegen. Keine Frage, die Kamera war im Eimer, und Basedov hatte sie bestimmt nicht in den Keller geworfen. Wer hatte den Apparat hier unten versteckt, und wohin war Basedov verschleppt worden? In diesem gefluteten Loch hätte er unmöglich überleben können. Und falls doch? Jedenfalls blieb Körner keine Zeit, um auf einen Feuerwehrtrupp mit Handlampen, Taucherbrillen und Atemgeräten zu warten. Er musste sich Gewissheit verschaffen, jetzt.

Er zog den Kopf ein und befand sich unmittelbar unter der Kellerdecke. Vorsichtig tastete er sich mit dem Fuß voran. Nach der letzten Sprosse stand er auf dem Boden. Das Wasser umspülte seine Brust und gluckste und schmatzte um ihn herum in der Dunkelheit. Durch die quadratische Öffnung in der Decke drang der flackernde Neonschein zu ihm hinunter. In einem Umkreis von wenigen Metern spiegelte sich das Licht auf den Wellen. Nachdem er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, glaubte Körner Holzmöbel und Stellagen zu erkennen, die aus der Kloake ragten. Wie sollte er hier etwas finden? In dem saukalten Wasser würde er es höchsten vier, fünf Minuten aushalten.

Hinter ihm schwappte das Wasser an die Mauer. Vorsichtig tastete er sich voran und trat in die Mitte des Kellers. Er hielt die Glock mit beiden Händen knapp über der Wasseroberfläche umklammert. Mittlerweile erkannte er die Umrisse des Gewölbes. Weinflaschen stapelten sich in den Regalen. Einige Etiketten hatten sich gelöst und trieben auf der Wasseroberfläche.

Das Wasser war so kalt, dass sich Körners Kiefer bereits verkrampfte, da er seit Minuten das Zähneklappern zu unterdrücken versuchte. Seine Finger waren klamm. Unbeholfen hielt er die Pistole vor sich, das Zittern seiner Hände wurde immer heftiger. In diesem Zustand hätte er nicht einmal halbwegs ordentlich zielen können.

Was immer passieren würde, er durfte auf keinen Fall versuchen, die Pistole unter Wasser abzufeuern. Er hatte weder die dazu notwendige wasserdichte Munition geladen, noch war die Glock mit maritimen Federtellern ausgerüstet. Bei einem Unterwasserschuss würde sich die Pistole buchstäblich aufblähen und explodieren.

In diesem engen Keller würde ihm der Druck garantiert den Brustkorb zerquetschen.

Eine lädierte Holzkiste schwamm an ihm vorbei auf die Treppe zu. Er sah ihr nach, wodurch er den neonfarbenen Schimmer neben dem oberen Treppenansatz in den Blick bekam. Das grüne Licht wurde direkt an die Kellerdecke geworfen, wo es sich in einem Betonbalken spiegelte. Es leuchtete nicht von oben in den Keller, sondern es strahlte im Keller. Körner ging rasch auf den Schrank zu, der unter den Holzstufen an der Wand stand. Er griff auf die Oberkante der Stellage, suchte nach dem Ursprung des neonfarbenen Scheins, bis er einen Gegenstand ertastete. Ein Handy! War es zwischen die Stufen auf den Schrank gepurzelt?

Das Display leuchtete erbsengrün in der Dunkelheit. Anruf in Abwesenheit, 16.11 Uhr. Es war die Nachricht seines eigenen Anrufs, empfangen vor wenigen Minuten. Irgendjemand hatte das Stativ und das Handy des Fotografen hier unten verschwinden lassen.

»Ba-se-dov!« Körners Stimme zitterte vor Kälte. Er wollte rufen, doch brachte er nur ein leises, abgehacktes Krächzen hervor.

»Ba-se-do…« Da entfuhr ihm ein kehliger Schrei. Als sei sein Rufen erhört worden, trieb ein menschlicher Körper aus einer Nische hinter der Treppe auf ihn zu. Körner machte einen Satz zurück, schlug sich den Kopf am Treppenbalken und panschte das Wasser auf. Der Tote schwankte auf den Wellen auf und ab. Sein Gesicht schimmerte durch die schwarze Brühe, Nase und Mund mit Wasser gefüllt. Weiße, steife Finger tauchten vor Körner auf, die zur Hälfte aus der Kloake ragten.

Ihn schwindelte. Er legte die Glock auf die Stellage und watete auf die Leiche zu. Er drehte ihren Kopf. Im Neonschein, der durch die Kellerluke fiel, sah er Basedovs verzerrtes Gesicht, die Augen aufgerissen und den Mund zum Schrei geöffnet. Die Haare klebten ihm im Gesicht, und die Haut war so bleich und aufgequollen wie der Bauch eines Fischkadavers.

»Oh, Gott, oh, Gott, nein!«, wisperte Körner. Er zog Basedov zur Treppe, packte ihn an der Schulter und in den Kniekehlen und taumelte mit ihm die Treppe hinauf.

»Scheiße, nein, verdammt!« Körner schleuderte das Stativ mit dem Fuß zur Seite und hob den Leichnam aus der Brühe. Das Wasser lief an Basedov herab. Sein Bauch und Brustkorb waren aufgerissen, Wunden, so tief, dass sie unmöglich von einem Messer stammen konnten. Haut, Knochen, Fleisch und Stoffreste waren zu einem Brei vermengt. Oh, Scheiße! Wäre er gestern Abend doch nur eine Minute früher gekommen! Er hätte sofort zur Bar laufen sollen, unmittelbar nachdem Basedov ihn angerufen hatte. Seine Gedanken überschlugen sich. Aber das hatte er ja auch getan! Wie hatte der Mörder das Handy, das Stativ und Basedovs Leiche so rasch in der Kellerluke verschwinden lassen können? Der Bürgermeister! Natürlich. Er hatte Körner in der Nacht auf dem Dorfplatz aufgehalten und ihn daran gehindert, rechtzeitig in die Diskothek zu stürzen. Er musste Teil dieser Verschwörung sein!

Körner schleppte Basedov über die morschen Stufen aus dem Keller. Er trug ihn um den Schanktisch herum, wo Basedovs Beine gegen die Theke schlugen, sodass er einen Schuh verlor. Körners Kleider wogen schwer, seine Hände zitterten heftiger denn je, doch das spürte er kaum. Sein Blick war an Basedovs Wunde festgefroren. Der Bauch des Ermittlers war genauso zerfetzt wie der Rumpf des Hundes, den Sabriski gestern Nacht im Rinnstein entdeckt hatte. Mit welchem Geisteskranken hatten sie es hier zu tun?

Er trug Basedovs Leiche durch die Diskothek. »Scheiß auf die Drei-Täter-Theorie!«, knurrte er. Bisher hatte er geglaubt, dass sieben Leute in die Mordserie verwickelt waren. Sieben! Wie kurzsichtig und naiv er doch war! Mittlerweile wusste er, dass auch der Bürgermeister und die Wirtin daran beteiligt sein mussten. Hing am Ende der gesamte verdammte Ort mit drin? Steckten die Wahnsinnigen dieses verfluchten Kaffs alle unter einer Decke?

Sie wollten ihn verarschen, doch mit Basedov hatten sie einen gewaltigen Fehler begangen. Niemand tötete ein Mitglied aus seinem Team! Er war nicht nach Grein zurückgekehrt, um sich von einem Haufen dumpfer Landeier einschüchtern zu lassen.

Körner stieß die Tür auf. Die Holzbretter knallten an die Seitenwand. Mit Basedov im Arm trat er auf den Dorfplatz. Die Welt um ihn herum verschwamm. Er sah nichts, keine Menschen, Zelte und Feuerwehrwagen. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, der Wind zerrte an seinen nassen Kleidern. Er schmeckte das Wasser und seine salzigen Tränen. Hatte es zuvor nicht aufgehört zu regnen? Hatte er nicht vor kurzem einen Regenbogen gesehen? Doch mittlerweile hingen wieder schwarze Wolken am Horizont und verkündeten drohendes Unheil. Der Sturm peitschte eine schwere Regenfront über die Berge, und der Nordwestwind trieb das neue Tief weiter in das überflutete Land hinein.

 

20. Kapitel

 

Der Regen trommelte stärker denn je gegen das Fenster in der Kuppel der Aufbahrungshalle und brachte den Raum zum Dröhnen. Körner stand neben Philipp und Berger vor dem Marmorpodest. Er hatte schon viele schlimm zugerichtete Leichen gesehen; die meisten dieser Toten waren anonym für ihn, in ihr vergangenes Leben hatte er sich erst hineinversetzen müssen, andere waren ihm aus den Medien bekannt gewesen - doch nie hatte er einen Toten vor sich gehabt, der ihm so vertraut gewesen war wie Basedov.

Ohne ein Wort zu sagen, beobachtete Körner die Gerichtsmedizinerin, die mit Latex-Handschuhen dem Toten die Kleider auszog. Sabriskis Brille beschlug, Tränen standen ihr in den Augen, die sie sich mit den Handschuhen nicht aus dem Gesicht wischen konnte. Sabriski warf den Kopf in den Nacken. »Ich kann das nicht …«

Körner verstand Sabriski, dennoch musste er diese Obduktion von ihr verlangen. »Welche Möglichkeiten haben wir?« Er sah in die Runde, bis er sich schließlich der Gerichtsmedizinerin zuwandte. »Jana, ich weiß, es ist schwer, aber das ist dein Job. Nur du kannst Basedovjetzt noch helfen. Finde heraus, was ihn getötet hat. Sag uns, wonach wir suchen sollen. Phil und ich erledigen den Rest.«

Sabriski sah ihre Kollegen aus rot geränderten Augen an. »Ich weiß es nicht!«

»Jana, so kommen wir nicht weiter. Wir können nicht hier untätig rumhängen, sondern müssen akzeptieren, dass er tot ist und …«

»Verdammt, hör auf!«, brüllte Sabriski. »Ich bin keine herzlose Maschine, so wie ihr, die auch dann noch ihren Job macht, wenn ihr Kollege zerfetzt vor ihr liegt. Schau ihn dir an! Basedov sieht aus, als sei er durch den Fleischwolf gedreht worden. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Was willst du denen sagen? Von eurem Vater ist nicht mehr viel übrig geblieben, aber keine Sorge, wir wissen, was ihn getötet hat? Oh ja, vielen Dank, wenigstens habt ihr das herausgefunden!«

Berger stand mit offenem Mund daneben und brachte keinen Ton heraus.

Philipp sagte in ruhigem Ton: »Jana, vielleicht möchtest du ja aufgeben, doch Alex und ich arbeiten weiter an diesem beschissenen Fall, das sind wir Basedov schuldig.« Er wandte sich ab, streifte sich ein Paar Handschuhe über und begann die zerrissenen Ränder von Basedovs Hemd zu untersuchen.

Sabriski nahm die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Danach setzte sie die Gläser wieder auf und widmete sich dem Leichnam. »Diese Wunde ist anders, als die der Krajniks.« Sie deutete mit dem Skalpell auf den aufgerissenen Brustkorb. »Es wurde weder der Rückenmarkkanal am dritten Lendenwirbel punktiert, noch wurde die Wirbelsäule von innen nach außen zerrissen.«

Körner bemerkte, wie sich Sabriski um einen sachlichen Ton in ihrer Stimme bemühte.

»Die Wunde erinnert an die des Hundes, den wir gestern Abend fanden.« Sie warf Körner einen Blick zu. »Etwas ist von außen in den Körper eingedrungen, ähnlich einer Axt oder einem Dreizack mit Widerhaken, und hat das Fleisch von innen zerrissen.«

Träge sickerten Körner die Worte ins Bewusstsein. Der Hund wurde genauso zerfetzt wie Basedov. Wo lagen die Parallelen? Körner sah den rotbraunen Setter mit dem verfilzten Fell vor sich, wie er an Sabine Krajniks Sterbeort in der Bar an der Wand hochsprang. Basedov war ebenfalls in diese Bar gegangen. War er demselben Hinweis auf der Spur gewesen wie der Köter? Es sah verdammt danach aus! Ihn fror. Obwohl er eine Flanellhose und einen Rollkragenpullover trug - trockene Kleidung, die ihm die Wirtin zur Verfügung gestellt hatte - zitterte er am ganzen Leib.

Seine nassen Klamotten hingen im Heizraum des Braunen Fünfenders.

Während Sabriski den Brustkorb des Toten aufsägte und Philipp die zerfetzten Kleider mit Lupe und Pinzette untersuchte, stellte sich Berger an Körners Seite. Er musterte sie. »Wie geht es Ihnen?«

Bergers Stimme klang staubtrocken, ihr Gesicht war vollkommen weiß, selbst die Lippen waren farblos. »Mir schlägt jeder Anblick einer Leiche auf die Nerven.« Den Blick auf die obduzierten Kinder gerichtet, wurde ihre Stimme leiser. »Die Exhumierung hat sich im Ort herumgesprochen. Der Mord an den Geschwistern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Sabines Tod. Wir haben neue Beweise, und ich könnte mir denken, unser Täter sitzt wie auf Nadeln. Zudem haben wir Basedovs Leiche früher gefunden als es der Täter erwarten konnte.«

»Bald geht es ihm an den Kragen!« Noch ahnte Körner nicht, worauf sie hinauswollte.

»Jeder weiß, dass eine Autopsie die Ermittler einen Schritt näher zum Mörder bringt«, fuhr Berger fort. »Es würde mich nicht wundern, wenn der Täter nervös und neugierig wird und versucht, sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen …« Sie verstummte.

Die Tür zur Aufbahrungshalle flog auf, und Bürgermeister Weißmann trat mit polternden Schritten in die Mitte des Raums. Das Wasser lief ihm über die Hutkrempe und den Regenmantel. »Hier stinkt es fürchterlich.« Er stand in einer Lache und blickte von einem zum anderen. Auf dem Marmorpodest blieb sein Blick hängen. »Ihr Kollege«, stellte er ungerührt fest.

»Was wollen Sie?«, fragte Körner.

Weißmann beachtete ihn kaum. Immer noch starrte er auf den nackten Leichnam. »Sieht aus, als sei er von einem Tier angefallen worden. Eine Menge tollwütiger Hunde streunen in der Gegend herum. Besser Sie entfernen sich nachts nicht so weit aus dem Ort.«

Körner blieb die Spucke weg. Wollte ihn der Bürgermeister verarschen? Er wollte etwas entgegnen, spürte jedoch Bergers Hand auf seinem Unterarm.

Die Kriminalpsychologin fragte mit ruhiger Stimme: »Können die tollwütigen Hunde in Ihrem Ort Bodenluken öffnen und ihre Opfer in Keller hinabzerren?«

Weißmann schwieg dazu. Er fixierte Körner. »Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?«

»Gehen wir vor die Tür.«

 

Sie standen draußen unter dem Schutz des Dachvorsprungs und blickten über den Acker, auf dem noch immer der Traktor mit dem rostigen Anhänger stand. Dahinter wälzte sich die Flut der Trier auf den Ort zu. Schwere Gewitterwolken tauchten die Wälder und umliegenden Berge in ein dunkles Grau.

»Sie haben vorhin auf dem Hauptplatz ja eine tolle Show abgezogen! Die neue Bekleidung steht Ihnen hervorragend.«

Körner sah an sich hinunter. Der ausgewaschene Pullover, die viel zu kurze Flanellhose und die abgetragenen Schuhe gehörten Waltraud Stoißers Bruder. Sie hatte die Klamotten in der Abstellkammer für ihn ausgegraben, nachdem er Basedov von der Diskothek quer über den Hauptplatz bis in die Schankstube des Braunen Fünfenders getragen hatte. Dort war er triefend nass zusammengebrochen. Körner verschränkte die Arme vor der Brust. »Was wollen Sie?«

»Sie wissen mittlerweile bestimmt, dass Sie sich im Hochwasser-Katastrophengebiet befinden. Die Meteorologen sagen weiterhin trübes und regnerisches Wetter voraus. Wir stehen jetzt gerade mal sechs Tage unter Wasser und müssen damit rechnen, dass es noch sechs weitere Tage dauern wird. An ein Aufatmen ist nicht zu denken. Der Gemeinderat hat eine Evakuierung diskutiert.«

Körner horchte auf. »Bekommen Sie es mit der Angst zu tun?«

»Die Schadenfreude strahlt Ihnen förmlich aus den Augen«, stellte der Bürgermeister trocken fest. »Aber ich muss Sie enttäuschen. Sie hocken genauso fest wie wir, und eine Evakuierung auf dem Wasserweg ist leider unmöglich. Die Boote bleiben flussabwärts wegen der Rekordwasserstände an den wenigen verbliebenen Brücken hängen. Das Wasser der Trier hat sich zu einer reißenden Strömung entwickelt, und die Boote würden wie Papierschiffe weggespült werden.«

Körner hörte sich alles geduldig an. Er kam zwar aus der Stadt, was jedoch nicht bedeutete, dass er sich jedes Märchen auftischen ließ. »Sind Sie schon auf die Idee gekommen, sich per Luftbrücke des Bundesheeres rausholen zu lassen?«

Der Bürgermeister lachte ironisch. »Seit einer Stunde funktionieren die Telefone nicht mehr. Die Masten wurden geknickt und die Sender unterspült. Festnetz, E-Mail und Fax sind ausgefallen.«

Dieser Mann hielt ihn tatsächlich für blöd. »Was ist mit den privaten Handys oder den Funkgeräten der Feuerwehr? Es gibt Dutzende Möglichkeit, den Katastrophenschutz zu informieren und die Einwohner in Sicherheit bringen zu lassen!«

»Oh, es gibt diese Notfallpläne, doch ich fürchte, Sie haben mich falsch verstanden. Wir haben die Evakuierung abgelehnt.« Weißmann grinste ihn an.

»Wie bitte?«

»Die Bürger von Grein und Heidenhof weigern sich, den Ort zu verlassen. Ich kann das gut verstehen. Sie bleiben auf eigene Gefahr hier und helfen, den Deich zu sichern. Wir haben noch zwanzig Zentimeter Spielraum, dann erst wird der Fluss die Deichkrone überströmen.«

»Mir ist unbegreiflich, weshalb Sie so verbissen an Ihrem Deich arbeiten anstatt sich in Sicherheit zu bringen.«

»Noch liegt kein Grund zur Panik vor, denn selbst wenn am Trieracher Stausee der Pegel so hoch steigt, dass die Flut über die Staumauer zu stürzen droht, kann das der Deich abfangen. Er ist stabil genug. Das Spoisdorfer Chemiewerk bereitet mir mehr Sorgen.«

Körner blickte den Bürgermeister kühl an. »War’s das?«

»Ich halte Sie nicht weiter auf. Aber machen Sie sich auf einen längeren Aufenthalt in Grein gefasst.« Weißmann zog sich die Hutkrempe ins Gesicht und ging grußlos davon.

Körner sah ihm nach, wie er in seinen klapperigen Mercedes stieg, auf dem Parkplatz vor dem Friedhof wendete und davonfuhr. Sture Landleute! Wie konnte man nur in dem Ort bleiben wollen und darauf verzichten, evakuiert zu werden? »Rettet euren kleinen Ort vor dem Hochwasser«, murmelte Körner.

»Was?«

Er fuhr herum. Philipp kam eben nach draußen, auf dem Stiel einer kalten Pfeife kauend.

»Egal.« Körner schüttelte den Kopf. »Was habt ihr rausgefunden?«

Philipp trat an seine Seite, entzündete die Pfeife und zog kräftig daran. »Jana hat mir eben das Resultat ihrer Autopsie an Sabine Krajnik erzählt - über die Saugstellen am Wirbel, die Splitterung des Knochens, die Punktierung des Rückenmarks und den ganzen Quatsch von der Zellteilung und Eigenautonomie der unbekannten Haut- und Fleischteile. Also, hättet ihr mir das vor zwei Tagen erzählt, ich hätte ernsthaft an eurem Verstand gezweifelt.« Philipp sah ihn müde an. »Aber jetzt zweifle ich an meinem eigenen.«

»Glaube mir, mir geht es nicht anders.«

»Scheiße, in diesem Kaff geht etwas Merkwürdiges vor, und wir schlittern immer tiefer hinein.« Philipp starrte über den Abhang zum Ortszentrum, wo die Kirchenspitze und die roten Schindeldächer aus den grauen Schlieren ragten.

»Wir haben noch nicht mal die Oberfläche angekratzt…«

»Du glaubst, es kommt schlimmer?«

»Bestimmt.« Körner nickte. »Doch vorher sollten wir Basedovs Mördern den Arsch aufreißen.«

»So gefällst du mir. Das ist der alte Alex Körner, wie ich ihn kenne!« Philipp packte Körner mit der Pranke am Nacken und griff fest zu.

»Lass den Quatsch!« Körner schlug die Hand beiseite. »Koren hat mich vom Dienst suspendiert.«

Augenblicklich vergaß Philipp seine Spaße. »Wann?«

»Vor drei Stunden. Aber offiziell weiß ich es noch nicht.« Er stockte. »Bist du auf meiner Seite und lösen wir den Fall?«

»Und ob«, antwortete Philipp ohne zu zögern. »Da ich von deiner Suspens offiziell nichts weiß, habe ich kein Problem damit. Nur vor den Frauen würde ich an deiner Stelle den Mund halten.«

»Sie werden es ohnehin erfahren«, gab Körner zu bedenken. »Und Berger ist eine, die sich an die Paragrafen und Vorschriften hält.«

»Ich weiß, doch so wie es aussieht, sitzen wir die nächsten Tage hier fest, und es wird nicht lange dauern, bis das Telefonnetz und anschließend die Stromversorgung ausfallen.«

»Das Festnetz ist schon tot.«

»Na bitte! Da wir ohnehin bald komplett von der Außenwelt abgeschnitten sein werden, haben wir Narrenfreiheit! Je nachdem, wie lange das Unwetter dauert, bleibt uns eine Frist von zwei bis drei Tagen. Wir sollten die Zeit nutzen. Wo fangen wir an?«

Körner atmete auf. »Ich habe eine Verdächtigen-Gruppe im Visier, die immer konkretere Formen annimmt. Zunächst mussten der Dorfarzt, der Totengräber, der Gendarm und Sabine Krajniks Eltern den Mord an Carina und Mathias vertuscht und für eine reibungslose Beerdigung gesorgt haben. Andernfalls hätten die Kinder mit diesen Wunden im Rücken unmöglich im Sarg verschwinden können. Pater Sahms und der alte Gehrer sind ebenso verdächtig, da die Geschwister laut Totenschein in der Kirche und im Laden gestorben sind.« Körner zählte die einzelnen Personen an der Hand auf. »Die Gemeindebedienstete Frau Lusack hat eventuell die Geburtsdaten auf den Totenscheinen retuschiert, denn drei Tode am jeweils vierzehnten Geburtstag der Opfer sind allzu verdächtig. Und zuletzt hielt mich der Bürgermeister auf, als ich gestern Nacht über den Platz lief, während die Wirtin höchstwahrscheinlich Basedovs Leiche im Keller verschwinden ließ.«

»Und anschließend das Blut vom Boden scheuerte!« Philipps Blick hellte sich auf. »Hol mich der Teufel, so könnte es gewesen sein. Außerdem stammte die Platzdecke in Sabine Krajniks Mund aus dem Braunen Fünfender.« Nachdenklich ließ er den Pfeifenstiel von einem Mundwinkel in den anderen wandern. »Zehn Leute, ich fasse es nicht. Das klingt nach einem vollen Programm.«

»Berger hat die Alibis sämtlicher Beteiligten miteinander verglichen«, sagte Körner. »Und jetzt rate mal! Die Alibis sind miteinander verkettet.« Wieder zählte Körner die Punkte an der Hand auf. »Die Krajniks waren am Montag um acht Uhr früh in Doktor Webers Arztpraxis, um sich eine Tetanus-Impfung geben zu lassen. Zur gleichen Zeit tranken Frau Lusack und Hans Apfler, der Totengräber, im Gemeindeamt eine Tasse Kaffee. Und Waltraud Stoißer bezeugt, dass der Bürgermeister zur Tatzeit mit dem Gendarmen und dem Chef der Feuerwehr im Braunen Fünfender zum Frühstück ihre Hochwasserbesprechung abhielten.«

Körner verstummte und dachte über das eben Gesagte nach.

Einzig Wolfgang Heck, der Feuerwehrboss, passte nicht in diese Theorie, denn wenn diese Vermutung von den zehn Tätern zutraf, dann hatte er plötzlich einen Verdächtigen mehr. Steckte etwa sein ehemaliger Schulkamerad in dieser Sache mit drin?

»Was hast du?« Philipp griff nach Körners Schulter.

»Nichts.« Er schüttelte die Hand ab. »Zuerst schnappe ich mir Weber, ich werde den Kerl zum Reden bringen.«

»Willst du ein Geständnis aus ihm rausprügeln?«

»Hauser hat mir versprochen, dem Doktor einen schriftlichen Haftbefehl zuzustellen, und dann habe ich ihn an den Eiern.«

»Ja, ihn!«, schnaubte Philipp. »Und die anderen?«

»Ich hole sie mir der Reihe nach. Zuerst bringe ich Gehrer zum Reden, danach die Wirtin und den Pfarrer. Spätestens morgen Früh bin ich hinter ihr gottverfluchtes Geheimnis gekommen.«

»Alex, du verlierst die Nerven!«, mahnte Philipp ihn.

Körner starrte in den Regen. »Ich mische die gesamte Sippe auf, glaube mir, und dann lasse ich einen nach dem anderen verhaften!«

Philipp kam auf Tuchfühlung heran. Körner roch den Tabakqualm und spürte den Alkohol in Philipps Atem, während der Spurensicherer mit eindringlicher Stimme auf ihn einredete. »Wenn du sie jetzt als Verdächtige in Haft nimmst, bekommst du kein Geständnis aus ihnen heraus - aus keinem einzigen! Die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Binnen kürzester Zeit haben die sich abgesprochen und lassen dich gegen die Wand laufen. Da hast du keine Chance!«

»Du hast ja keine Ahnung!«, fauchte Körner.

»Du wolltest meine Hilfe? Dann machen wir es auf meine Art.«

Körner sah ihn missmutig an. »Du willst die Sache ruhig angehen lassen … Scheiß drauf, ich habe keine Zeit dafür! Bald ist die Sache mit der Suspendierung raus!«

Philipp packte ihn wieder an der Schulter. »Hör zu!«, sagte er eindringlich. »Warum willst du den Dorfbewohnern dein Wissen preisgeben? Lass sie noch einen Tag schmoren. Einen Tag! Beobachten wir sie. Je mehr Fakten wir über sie haben, desto mehr bringen wir sie zum Schwitzen. Alex, nicht wir verlieren die Nerven! Die müssen die Nerven verlieren, dann machen sie Fehler. Einen einzigen Tag! Hast du das kapiert?«

Körner nickte widerstrebend.

»Gut.« Philipp ließ ihn los. Er zog Basedovs Digitalkamera aus der Hosentasche und klopfte mit dem Pfeifenstiel auf das Gehäuse. »In der Zwischenzeit sehe ich mir die Fotos an.«

Körner starrte auf die Delle im Gehäuse, in der Linse war sogar ein Sprung. Die Erinnerung der letzten Stunden zog wie ein Film an ihm vorüber: Er hatte mit schlotterndem Körper in eine Decke gehüllt neben Basedovs Leichnam im Braunen Fünfender gesessen und auf die Ankunft von Berger und Sabriski gewartet. Währenddessen war Philipp schnurstracks in die Gaslight Bar gelaufen, um sich am Tatort umzusehen. Auf dem Bauch liegend, war es ihm gelungen, das Stativ mit einem Besen von der Kellertreppe zu fischen. Eine halbe Stunde später war er mit der Kamera und Basedovs Schuh in die Gaststätte zurückgekehrt.

»Die Kamera hat im Wasser gelegen, die ist bestimmt hinüber«, erinnerte Körner ihn.

»Nur zum Teil«, widersprach Philipp. »Der obere Teil des Apparats war trocken. Aber ich gebe dir Recht, die Kamera ist mit Sicherheit kaputt. Schau dir nur das Objektiv an - schade drum! Aber vielleicht hat es der Speicherchip überlebt.« Philipp steckte sich die Pfeife in den Mundwinkel und schob die schwarze, quadratische CompactFlash-Karte aus der Kamera.

»Was willst du damit anfangen? Woher sollen wir in diesem Nest eine brauchbare Digitalkamera auftreiben?«

»Unnötig. Wir nehmen einfach Basedovs Kartenlesegerät und hängen es direkt an den PC. Möglich, dass sich einige Bilder auf den Computer retten lassen. Vielleicht kommen wir dahinter, wonach Basedov gesucht hat.«

Für einen Augenblick hoben sich Körners Augenbrauen. »Wäre einen Versuch wert.«

»Ich sage dir Bescheid, sobald ich etwas herausgefunden habe.« Philipp wollte sich bereits dem Parkplatz zuwenden, als ihn Körner am Mantel zurückhielt.

»Ab sofort geht keiner allein weg! Ich möchte nicht, dass noch einmal passiert, was mit Basedov geschehen ist. Womöglich haben wir mehrere Killer im Ort, die nur darauf warten, dass wir uns trennen und sie uns allein erwischen!«

»Oha! Auch schon paranoid geworden?«, stichelte Philipp.

»So wie du!«

Während die beiden Frauen in der Aufbahrungshalle blieben, fuhren Körner und Philipp zum Braunen Fünfender.

 

21. Kapitel

 

Die beiden Männer saßen im Gemeindesaal vor Martin Goissers surrendem PC. Körner sah dem Spurensicherer bei der Arbeit zu. Im Lesegerät steckte die Speicherkarte, worauf sich 61 Fotos mit jeweils einer Größe von knapp einem Megabyte befanden. Philipp sortierte die Dateien mit einem Mausklick nach dem Datum.

»Die ersten dreiundfünfzig Fotos stammen vermutlich aus Martin Goissers Dachkammer, Basedov hat sie gestern Mittag geschossen. Hier siehst du das Erstellungsdatum und die Uhrzeit.« Philipp hinterließ einen Fingertapser auf dem Bildschirm. »Die restlichen acht Fotos wurden ebenfalls gestern geknipst, allerdings erst um 21.00 Uhr.«

»Zu dieser Zeit war er in der Gaslight Bar«, erinnerte sich Körner. »Sehen wir uns das letzte Foto zuerst an.«

Philipp klickte auf die Datei mit der spätesten Uhrzeit. Ein Bild sprang auf, doch zeigte es nichts weiter als einen Lichtschein mit verschwommenem Hintergrund.

Philipp fluchte. »Die Dateien sind beschädigt. Ist wohl doch Wasser auf die Kontakte der Speicherkarte gekommen.« Er öffnete die nächste Datei. Wiederum war ein Lichteffekt auf dem Bild zu sehen, der Körner an eine missglückte Aufnahme mit Überbelichtung erinnerte. Das nächste Bild zeigte die Holzwand der Gaslight Bar. Im linken Bildrand war ein Teil der Eisenkonstruktion zu sehen.

»Basedov hat nicht bloß den Tatort fotografiert, sondern speziell die Wand in einer Großaufnahme«, murmelte Körner.

»Ich erinnere mich«, platzte es aus Philipp heraus. »Er hat sich darüber beklagt, auf seinen Tatortfotos aus der Bar seien Fehler. Ich hatte ihn noch verarscht, er könne nicht mit der Kamera umgehen.«

»Sieht so aus, als wollte er diese Fehler reproduzieren«, überlegte Körner. »Sehen wir uns das letzte Foto noch einmal an.«

Philipp klickte wieder auf die Datei. Die Großaufnahme der Wand erschien.

»Das sieht aus, als krümme sich das Licht um diesen Punkt.« Körner zeigte auf die Stelle. »Kannst du das Foto verdunkeln und gleichzeitig schärfer stellen?«

»Kein Problem.« Philipp reduzierte mit der Maus den Helligkeitsausgleich von fünfzig auf dreißig Prozent. Augenblicklich verdunkelte sich das Bild, nur der grelle Lichtblitz hob sich deutlich vom schwarzen Hintergrund ab. Anschließend wählte Philipp den Scharfzeichnungsfilter und schob den Mauscursor von eins auf fünf. Die Ränder des Lichtblitzes kamen gestochen scharf ins Bild.

»Es sieht danach aus, als würden elektromagnetische Felder das Licht krümmen«, vermutete Philipp. »Auf allen Fotos ist es die gleiche Stelle an der Wand. So etwas habe ich noch nie gesehen!«

»Basedov vermutlich auch nicht, andernfalls wäre er von diesem Phänomen nicht so fasziniert gewesen.« Körner lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Was sollten sie mit diesen Bildern anfangen? Er hatte sich eine spektakulärere Enthüllung als fotografierte Lichtblitze erhofft. Körner erinnerte sich an das Letzte, das er von dem Fotografen gehört hatte. Du musst dich nicht beeilen. Ich möchte mir vorher noch den … den was ansehen?

Körner ließ den Blick über Basedovs Arbeitsplatz gleiten. Jede Menge Schnellhefter und Papierblöcke lagen durcheinander auf dem Tisch. Er beugte sich nach vorne und schob die Schnellhefter auseinander. Aus der ersten Mappe, die er aufschlug, fielen ihm zwei Zettel entgegen. Die Totenscheine von Carina und Mathias Krajnik. Berger musste ihm die Kopien gegeben haben. Mit einem roten Kugelschreiber waren die Fundorte der Leichen eingekreist worden: Die Toilette im Krämerladen und die dritte Bankreihe im linken Kirchenschiff. Daneben war mit roter Kugelschreibertinte eine Notiz gekritzelt: Prüfen! Es war Basedovs Schrift.

»Schau doch!« Körner blätterte in den Unterlagen. Ein Lageplan von Grein kam zum Vorschein. Es war jene provisorische Karte, die er mit Berger am Montagabend in seinem Büro aus den Faxpapieren des Neunkirchener Bauamtsleiters zusammengeklebt hatte. »Basedov hat unsere Unterlagen studiert.« Körner faltete die Karte auseinander. Darauf befanden sich die eingezeichneten Wege, womit er und die Kriminalpsychologin die Zeitabfolge von Sabine Krajniks Tod rekonstruieren wollten. Doch das Papier zeigte Kritzeleien mit roter Tinte.

Körner deutete auf drei rote Linien. »Basedov hat die Gaslight Bar, die Kirche und den Krämerladen miteinander verbunden.«

»Die Tatorte der Krajnikmorde.«

Sie starrten auf das rote Dreieck, das mitten auf dem Dorfplatz prangte. Die längste Linie verlief mitten durch den Dorfbrunnen.

»Ich hab’s!« Körner sprang vom Stuhl auf. »Ich möchte mir vorher noch den Lebensmittelladen ansehen.« Er pochte mit dem Finger auf die Karte. »Das war es, was er mir sagen wollte, als er mich gestern Abend anrief. Der Krämerladen!«

Plötzlich sah Körner die Zusammenhänge klar vor sich, und alles ergab einen Sinn. »Er hat Jana darum gebeten, dass Gehrer den Laden nicht absperrt. Der Alte sollte das Geschäft für ihn offen lassen.« Er kramte in den Papieren, bis er Mathias Krajniks Totenschein fand. »Wir waren auf dem Holzweg, Basedov wollte gar nicht einkaufen. Wie es scheint, wollte er die beiden anderen Tatorte untersuchen. Offensichtlich wollte er die Toilette im Krämerladen fotografieren.«

Körner schlüpfte in den Regenmantel. »Komm! Auf dem Hauptplatz verbirgt sich Etwas. Finden wir heraus, was es ist!«

 

Körner kniete in der Tanzbar vor der Wand neben dem Eisengestell und tastete die einzelnen Holzbretter ab. Neben ihm stand Philipp mit der Stabtaschenlampe.

»Alles führt immer wieder an diesen Ort zurück«, murmelte Körner. »Wenn ich nur wüsste, was es ist, wonach wir suchen.«

Philipp ließ die Lampe kreisen.

»Da ist es! Halt still!« Körner presste den Finger in die Wand. »Eine weiche Stelle, sie gibt nach.«

»Im Holz?« Philipp kniete sich neben Körner und strich mit der Hand über die Wand. »Merkwürdig.«

»Siehst du das Licht?« Körner nahm die Lampe und führte sie näher zum Holz. »Es krümmt sich in einem Bogen um diese Stelle.«

»Magnetismus vielleicht.«

Plötzlich sahen beide auf und starrten zum Fenster. »Hast du das auch bemerkt?«, flüsterte Körner.

Der Spurensicherer nickte. Am Fenster war ein Schatten vorbeigehuscht. »Draußen ist etwas«, brummte Philipp. »Licht aus!«

Körner knipste die Lampe aus. Sie lauschten. Deutlich hörten sie das Schaben, als schleiche jemand um das Gebäude. Ein neuerlicher Schatten wischte am Fenster vorbei.

»Gehen wir!« Körner erhob sich. »Sehen wir uns die anderen Tatorte an.«

Ohne das Licht anzudrehen durchquerten sie die Diskothek. Draußen war es bereits dunkel geworden. Als sie die Tür zum Hauptplatz aufstießen, versperrten ihnen die Umrisse dreier Personen den Weg. Körner zuckte zurück.

»Ich würde das an Ihrer Stelle lassen.« Waltraud Stoißer stemmte die Arme in die Hüften. »Es wehrt sich.« Mehr sagte die Wirtin nicht. Neben ihr standen der Bürgermeister und der Dorfarzt Weber.

Instinktiv griff Körner unter die Achsel, doch nachdem er im Braunen Fünfender in den Pullover geschlüpft war, hatte er das Schulterholster nicht wieder angelegt.

»Nervös, Körner?«, fragte Weißmann.

Dieser aufgeblasene Idiot war ihm schon die ganze Zeit ein Dorn im Auge. Er würde ihn zur Strecke bringen, am liebsten noch heute Abend, doch dann erinnerte er sich an Philipps Worte. Nicht sie selbst sollten die Nerven verlieren, sondern die Dorfbewohner.

»Sie wirken gereizt, Körner. Ich würde mich ausruhen, statt während der Nacht durch den Ort zu laufen. Denken Sie daran, was mit Ihrem Kollegen passiert ist.«

Dieser Idiot! Körner bemühte sich um eine ruhige Stimme. »Dafür, dass Sie mit Ihren Schutzmaßnahmen gegen das Hochwasser so viel um die Ohren haben, schleichen sie mir auffällig oft hinterher und machen sich rührende Sorgen um uns. Wovor haben Sie Angst?«

Der Bürgermeister antwortete nicht. Körner blickte zum Arzt. »Ihre Praxis ist für heute Abend schon geschlossen? Ich dachte, Sie hätten so viel zu tun.«

»Ihr Zynismus beeindruckt niemanden«, sagte Weber kühl.

»Die Benachrichtigung von der Staatsanwaltschaft wird Sie vielleicht mehr beeindrucken.« Körner schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete den Dreien in die Augen. Weber schirmte seine Augen mit der Hand ab, und Stoißer und der Bürgermeister wandten die Köpfe zur Seite. Für einen Augenblick sah Körner, wie sich ihre Pupillen wie die einer Katze zusammenzogen.

»In der Zwischenzeit werde ich Ihr kleines Geheimnis herausfinden.« Er drängte sich zwischen ihnen hindurch und marschierte über den Platz.

»Schönen Abend noch, Leute.« Philipp folgte ihm.

Stoißer, Weber und Weißmann blieben unter dem Vordach der Diskothek stehen. Körner fühlte, wie sich ihre Blicke in seinen Rücken bohrten. Er kochte innerlich vor Wut.

»Das war ziemlich blöd von dir«, raunte ihm Philipp zu.

Scheiße, ja, das wusste er! Er hätte den Mund halten und den Dummen spielen sollen. Oh, guten Abend, so ein Zufall, was führt Sie her? Doch diese Rolle hätten ihm die drei ohnehin nicht abgenommen - nicht nach dem, was bisher passiert war. Der Konflikt zwischen dem Ermittlerteam und den Dorfbewohnern lag mittlerweile offen auf der Hand, obwohl er eigentlich schon von Beginn an festgestanden hatte. Niemand aus dem Ort hatte sich um eine ehrliche Zusammenarbeit bemüht, und die Ermittler waren von Anfang an wie ein Fremdkörper im Ort aufgenommen worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Psychokrieg zu einer offenen Auseinandersetzung eskalieren würde. Körner wusste, dass er ohne Unterstützung von außen gegen einen ganzen Ort keine Chance hatte. Doch mit Rolf Philipp an seiner Seite sollten ihn die Einheimischen besser nicht unterschätzen. Gemeinsam würden sie die Bewohner von Grein in die Knie zwingen. Nichts würde mehr vertuscht werden, so wie die alten Geschichten von damals: Der kleine Daniel in den Mädchenkleidern, die zweimal von ihrem eigenen Vater geschwängerte Leni, oder Anna, die ihr Kind zwischen Ackerfurchen zur Welt gebracht hatte, die alte Greißlerin Liesbeth, die tagelang mit der mumifizierten Kinderleiche in den Armen durch den Ort gelaufen war … oder die auf bestialische Weise ermordeten Kinder der Krajniks. Nichts sollte mehr unter den Teppich gekehrt werden, dafür würde er sorgen! Die Verantwortlichen konnten jetzt schon ihre Zahnbürsten einpacken und sich für einen mehrjährigen Aufenthalt in einer engen Zelle mit Ausblick auf den asphaltierten Knasthof bereitmachen.

Immer mehr Zorn stieg in ihm hoch. Als er mit Philipp zu dem Krämerladen marschierte, war es halb acht Uhr abends und der blutrote Vollmond kletterte über die Dächer. Die Straßenbeleuchtung funktionierte noch immer nicht. Körner blickte in die Seitengasse neben dem Geschäft, wo er in der Dämmerung die gebückten Silhouetten der Dorfbewohner sah. Sie schleppten Sandsäcke vor ihre Häuser und verbarrikadierten meterhoch Fenster und Türen. Die Leute wollten ihre Häuser einfach nicht verlassen, so als ob sie retten könnten, was nicht zu retten war.

Philipp legte die Hand auf die Klinke. »Abgeschlossen«, stellte er fest. Das Rollo der Eingangstür war heruntergelassen. Hinter dem Fenster brannte kein Licht, bloß ein Schild hing in der Auslage: Ausverkauft!

Körner lehnte sich an die Tür. »Wir sind bei einem Lokalaugenschein und der Eingang zum Tatort ist verschlossen. Das ist Amtsbehinderung.«

»Sehe ich auch so«, brummte Philipp und stellte sich vor Körner, um ihn vor neugierigen Blicken zu schützen.

Kurzerhand trat Körner die Tür ein. Das Holz splitterte und das Schloss brach aus dem Rahmen. Die Tür schwang nach innen auf und knallte gegen eine Stellage. Das Glas erklirrte und das Rollo klapperte.

»Scheiße, ich dachte, du verwendest einen Dietrich«, entfuhr es Philipp.

»Hast du einen dabei?« Körner trat ein und knipste die Taschenlampe an. In dem Laden roch es nach Plastik, Seife und Waschmittel. Im Lampenlicht sah Körner jedoch, dass sämtliche Regale und Vitrinen leer standen. Rasch schritten sie durch den Laden an der Registrierkasse vorbei. Wiederum erinnerte sich Körner an seine Jugend, als er mit dem High Riser zu Gehrers Laden geradelt war, um den Einkauf für seine Mutter zu erledigen. Erneut hatte er den Geschmack der Colaschlecker und Brausetabletten im Mund. Manche Erinnerungen waren einfach nicht auszulöschen, egal, wie alt man wurde.

»Weißt du überhaupt, wo die Klos sind?«, flüsterte Philipp.

»Hier gibt es nur eines.« Körner ging voraus. Als er den Lichtschein unter einem Türspalt bemerkte, stockte er. War der alte Gehrer um diese Uhrzeit etwa noch im Laden? Da flog die Seitentür auf. Körner kniff die geblendeten Augen zusammen. Ein hagerer, gekrümmter Mann stand im Licht, welches aus dem Zimmer fiel, die Kappe tief ins Gesicht gezogen, eine doppelläufige Schrottflinte in der Armbeuge. »Wollt wohl den Laden ausrauben, ihr Gesindel!«, krächzte der alte Gehrer. »Aber da habt ihr euch getäuscht. Hier ist nichts mehr zu holen. Aber eine Ladung Schrotkörner in den Arsch könnt ihr abkriegen!«

»Gendarmeriekommando Wien«, sagte Körner.

»Alex?«, rief Gehrer erstaunt.

Im selben Moment machte Philipp einen Satz nach vorne und wand dem Alten die Flinte aus der Hand. »Die ist ja nicht mal geladen«, entfuhr es ihm.

»War bisher nie nötig.« Gehrer schob sich die Kappe nach hinten. Die wenigen Haare standen ihm wirr vom Kopf.

Der Spurensicherer drückte dem Krämer die Flinte in die Hand. Gehrer gebrauchte sie als Stütze wie einen Gehstock. »Was wollt ihr?«

»Im August vor vier Jahren ist hier Mathias Krajnik gestorben.« Körner trat auf den Mann zu und leuchtete ihm ins Gesicht. »Was wissen Sie darüber?«

»Oh, Alex, Junge«, murrte er. »Wenn ich dir einen Rat geben darf - vergiss die ganze Sache und verschwinde von hier.«

»Kann ich nicht«, antwortete Körner. »Einer meiner Ermittler wurde gestern ermordet.«

Gehrer ließ die Schultern sinken. »Pfeif auf den Ermittler, denk an deine Tochter, Alex. Lass es gut sein, und hau ab von hier.«

Körners Brustkorb krampfte sich zusammen. Es fühlte sich an, als greife eine eisige Hand nach seinem Herzen. Er packte Gehrer an der Latzhose und drückte ihn gegen den Türstock. »Was verdammt hat Verena damit zu tun?« Er schüttelte den Alten.

»Nichts.« Gehrer hob abwehrend die Arme.

»Alex!« Philipp legte Körner die Hand auf die Schulter.

»Von mir erfährst du nichts«, keuchte Gehrer. »Ich gebe dir nur den Rat, nicht so viele Fragen zu stellen, sondern von hier zu verschwinden. Lass die Vergangenheit ruhen!«

»Einen Dreck werde ich!« Körner stieß den Ladenbesitzer an die Wand und setzte ihm den Finger auf die Brust. »Jetzt gebe ich Ihnen einen Rat: Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann ist jetzt Ihre letzte Gelegenheit dazu!«

Gehrer schüttelte den Kopf. »Sei auf der Hut, nimm dich vor Weißmann in Acht - er ist nicht so harmlos, wie er aussieht.«

Körner drehte Gehrer herum, packte ihn am Arm und schob ihn vor sich her. »Zeigen Sie mir, wo Mathias Krajnik gestorben ist.«

»Er ist auf dem Klo einfach tot umgefallen.« Der Alte trippelte vor Körner her.

Sie gelangten in einen Gang und kamen an einem Zimmer vorbei, dessen Geruch die Küche vermuten ließ. Körner warf einen flüchtigen Blick in den Raum. Gott, sah es hier aus! Das Licht der Dunstabzugshaube beleuchtete einen Herd, auf dem sich Töpfe, Schüsseln und Teller stapelten. Das reinste Schlachtfeld! Zuerst hatte er gedacht, dass der Ventilator über dem Herd surre, doch dann sah er die Fliegen, welche die Speisereste und den offenen Geschirrspüler umschwirrten. Wohnte Gehrer etwa in den Räumlichkeiten, die sich hinter dem Geschäft verbargen? Dagegen war die Kochnische der Krajniks eine Fünf-Sterne-Küche. Körner hielt die Luft an und schob den Alten weiter vor sich her. Hinter sich hörte er Philipp würgen. Am Ende des verwinkelten Gebäudes öffnete Gehrer die Toiletten tür und betätigte den Lichtschalter. Eine nackte Glühlampe flackerte auf. »Hier starb der Junge.«

Körner ließ den Ladenbesitzer los. Ein bissiger Uringestank schlug ihnen entgegen. Es war nichts weiter als ein mit grauen Kacheln gefliester Boden zu sehen, eine Klomuschel mit Wasserkasten, darüber ein gekipptes schmales Fenster. Die Toilettenwände waren mit Sprüchen beschmiert und im Klopapierhalter hing eine leere Hülse.

Körner dachte an die Wunde in Mathias Krajniks Rücken. »Wer hat nach dem Tod des Jungen das Blut, die Knochensplitter, Haut- und Fleischteile weggewischt?«

Gehrer bekam große Augen. »Ich sagte doch, der Kleine fiel einfach tot um!«

»Mit einem Loch im Rücken, so groß wie ein Basketballkorb?«

Philipp drängte sich an Gehrer vorbei auf die Toilette. Mit dem Fuß schob er den Klobesen zur Seite, kniete sich in der engen Kabine nieder und tastete mit der Hand die Wand ab.

Körner leuchtete alle Stellen des Klos mit der Lampe aus. »Sie wundern sich gar nicht, wonach wir suchen?« Aus dem Augenwinkel schielte er zu Gehrer, der nicht antwortete, sondern betroffen zu Boden starrte.

»Sie wissen verdammt gut, welcher Spur wir hinterherjagen!«, stellte Körner fest. Er hielt dem Alten Daumen und Zeigefinger unmittelbar vor das Gesicht. »Wir sind so knapp davor, alles rauszufinden. Wir stehen kurz davor, Ihr beschissenes Geheimnis aufzudecken, und dann sind Sie dran.«

Gehrers verzweifelter Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde in die Kabine. Körner war es nicht entgangen, vielmehr hatte er auf einen derartigen Hinweis gewartet.

»Phil, du suchst auf der falschen Seite.« Körner zeigte ihm die Stelle, wohin Gehrer geschielt hatte.

Philipp drehte sich ächzend auf die andere Seite, um die entsprechende Stelle neben dem Türstock abzutasten. »Oh, Scheiße!«, entfuhr es ihm. »Hier ist es! Weich wie ein Schwamm!« Er bohrte den Finger in die Kunststoffwand. Dahinter musste sich die Hausmauer des Gebäudes befinden.

»Tun Sie es nicht!«, jammerte Gehrer. »Bitte nicht!«

»Was denn?« Körner packte Gehrer am Kragen. »Markiert ihr eure Tatorte mit einem Magnet in der Wand? Habt Ihr Kameras in den Wänden installiert? Oder ein Stromfeld angelegt? Wir reißen die Wand weg, dann finden wir es heraus!«

Gehrer presste die wässrigen Augen zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Philipp erhob sich und trat an Körners Seite. »Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Die eingetretene Tür sollte genügen.«

Körner atmete tief durch und ließ den Mann los. Gehrer wischte sich mit zittrigen Fingern die Tränen aus den Augen. Da blitzte das gelbe Licht einer Warnblinkanlage durch das Fenster. Ein Lastwagen preschte durch die Seitengasse, dass das Wasser bis zum Toilettenfenster spritzte.

»Was ist draußen los?«

»Das sind die Tankwagen. Wir stehen knapp vor einer Ölpest.« Mit einem Mal wurde Gehrer redselig, als sei er froh darüber, endlich das Thema wechseln zu dürfen. »Die aufgeschwemmten Benzintanks der Tankstelle drohen unter dem Wasserdruck zu bersten. Tausende Liter Treibstoff wurden in den Tankwagen gepumpt. Die Feuerwehr weiß nicht wohin mit dem Zeug.«

Körner und Philipp stürzten an dem Alten vorbei, durch den Verkaufsraum aus dem Laden hinaus. Zwei Tankwagen mit gelber Blinkanlage kurvten über den Hauptplatz. Das Regenwasser stand knöcheltief über den Pflastersteinen, und noch immer schüttete es wie aus Kübeln. Körner hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer kommen konnte, doch wie es schien hatte der Himmel noch genug Wasser, um den gesamten Ort zu überfluten. Da erinnerte er sich an Pater Sahms Worte aus Sabriskis Erzählung. Das ist die Rache, unser Fluch, Gottes Abrechnung.

Körner blickte zur der verwinkelten Kirche hinauf. Der Vollmond verbarg sich halb hinter den Wolken und goss rötliches Licht auf das Gebäude. »Sehen wir uns den dritten Tatort an.«

 

Vollkommen durchnässt erreichten sie die Kirche. In dem Gemäuer herrschte eine Kälte, die Körner frösteln ließ. Während er sich das Regenwasser aus dem Gesicht wischte, ging er entschlossen den Mittelgang entlang. Die Kirche sah noch genauso aus wie vor dreißig Jahren. Zwei Seitenschiffe mit jeweils sechs Bankreihen bildeten den Hauptteil. In der Mitte befand sich der Altar mit dem vorspringenden Tabernakel, auf dem die Figur des Erzengels Michael in Lebensgröße thronte. Dahinter führte eine Tür in die Sakristei. Durch die bunten Mosaikfenster sah Körner den Pfarrhof mit den Weiden, die sich im Wind bogen. Hinter den Bäumen befand sich der Trakt, der zum Pfarrhaus von Pater Sahms führte.

Körner konnte sich die in dem Tagebuch beschriebenen Erlebnisse des Messdieners bildhaft vorstellen, doch im Moment hatte er keine Zeit für derartige Phantastereien. Er machte seine Gedanken von allen Hirngespinsten frei und trat auf den Pfarrer zu, der mit dem Rücken zu ihnen vor dem Altar stand. Er drehte sich mit ausgebreiteten Armen um, als habe er sie erwartet.

Kaum zu glauben, dachte Körner. Es war tatsächlich Pater Sahms, steinalt, mit tiefen Furchen im Gesicht. Wer hätte damals gedacht, dass der Pfarrer bis zum heutigen Tag seinen Dienst in der Kirche verrichten würde? Noch bevor Körner ein Wort sagen konnte, holperte und rumorte der Boden unter ihren Füßen.

»Hoppla!« Philipp taumelte einen Schritt zurück.

»Die Kanalisation ist völlig überlastet«, erklärte Pater Sahms gelassen. »Das Wasser drückt von unten die Rohrleitungen gegen die Straßen und die Fundamente der Häuser.« Theatralisch hob er die Arme. »Die Schleusen des Himmels öffnen sich, die Quellen der Tiefe brechen aus der Erde hervor.« Er lächelte. »Die Kirche ist davon nicht ausgenommen. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Carina Krajnik starb im Oktober vor zwei Jahren während der Messe in Ihrer Kirche«, begann Körner ohne Umschweife. »Können Sie uns den Platz zeigen?«

Der Pater senkte den Blick. »Folgen Sie mir.« Er führte sie zur vierten Bankreihe im linken Kirchenschiff, jener Stelle, die Körner bereits aus dem Totenschein kannte.

»Sie saß hier am Rand, neben ihrer Mutter.« Der Pater deutete auf den Eckplatz der Bank. »Aber ich weiß wirklich nicht, was das mit Ihrer Arbeit zu tun haben soll.«

»Schon gut.« Philipp hob abwehrend die Hand. »Wir wissen, wonach wir zu suchen haben.« Er wandte sich an Körner. »Es war die dritte Reihe, nicht wahr?«

»Gut aufgepasst!« Körner nickte. Hatte sie der Pater absichtlich angelogen oder ließ bloß sein Gedächtnis nach?

Philipp ging eine Reihe weiter vor, kniete sich auf den Boden und rutschte zwischen die Sitzbänke. Körner knipste die Taschenlampe an und leuchtete damit die Rückenlehne ab. Er bemerkte wie Sahms den Atem anhielt.

»Leuchte noch einmal dahin!« Philipp presste den Zeigefinger an eine Stelle im Holz, die sich fünfzehn Zentimeter über der Sitzfläche befand.

Körner konzentrierte den Lichtstrahl darauf.

»Siehst du, wie sich die Stelle verändert, wenn du voll draufleuchtest?« Philipp bohrte den Finger in das Holz. »Es ist weich und warm.«

Unter ihnen grollte der Boden. Philipp fuhr auf und machte einen Satz aus der Bankreihe.

»Nur die Leitungen.« Der Pater hob die Schultern.

Philipp wischte sich die Haare aus der Stirn. »Was ist das?« Er zeigte auf die Rückenlehne.

Der Pater lächelte. »Das Holz ist speckig und morsch. Jahrelang hat es durch die Decke geregnet. Sie können sich ausrechnen wie intakt die Einrichtung ist!«

Körner sah das Flackern in den Augen des Paters, obwohl Sahms versuchte, einen gleichgültigen Gesichtsausdruck zu bewahren. Die Darbietung war nicht überzeugend genug. An diesem Ort war ein Mädchen bestialisch ermordet worden, vor den Augen Dutzender Dorfbewohner. Mittlerweile hatte er zehn Verdächtige! War er bloß paranoid oder war an seiner Vermutung etwas dran? Jedenfalls brauchte er dringend Haftbefehle für den Dorfpfarrer und den Lebensmittelhändler Gehrer. Aber ihre Akkus waren leer und die Handys genauso tot wie das Telefonnetz. Außerdem hatte der Staatsanwalt mittierweile bestimmt vom Ableben des Geiselnehmers erfahren, von Körners Verfahren wegen Totschlags und seiner Suspendierung. Hauser würde ihm nicht einmal einen Parkschein ausstellen, geschweige denn Haftbefehle. Er brauchte also handfeste Beweise!

»Ich nehme an, Sie haben gefunden, wonach Sie suchten. Ich möchte Sie nun bitten, die Kirche zu verlassen. Die Messe ist vorüber und ich habe noch einiges zu tun.« Pater Sahms deutete höflich zum Ausgang.

»Eine Frage noch.« Körner kniete sich nieder und tastete um den Holzsockel der Bank. Er dachte an das Tagebuch des Messdieners, worin eine Gruft und ein Gewölbe erwähnt wurden. Mit den Knöcheln pochte er auf den Steinboden. »Was befindet sich darunter?«

»Die Abwasserleitung aus der Sakristei, das sagte ich bereits.« Pater Sahms Stimme bekam einen barschen Ton. »Sie sind gern willkommen, um im Gotteshaus zu beten und Ruhe und Einkehr zu finden. Doch wenn Sie mit dem Gedanken spielen, die Einrichtung zu zerlegen, muss ich Sie bitten, die Kirche zu verlassen!« Mit einer um Verständnis heischenden Geste deutete er zum Ausgang. »Das kam in den letzten Jahren leider zu oft vor.«

Körner erinnerte sich an die Schilderungen im Tagebuch. Die Einwohner hatten die Kirche bestimmt nicht grundlos demoliert und in Brand gesteckt. Er erhob sich und ging zur Tür. Philipp folgte ihm. Als sie an der weißen Plane vorbeikamen, die sich meterlang über ein Holzgerüst spannte, machte Körner einen Schritt darauf zu. »Was befindet sich darunter?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte er das Laken von dem Gerüst. »Raus!«, befahl Pater Sahms.

Unter der Plane kam ein wuchtiger Beichtstuhl zum Vorschein. Der Judas-Schrein! Körner starrte gebannt auf das pechschwarze Holz, die klobigen Türrahmen und den massigen, in Teer getränkten Sockel, auf dem das Gebilde thronte. Die Tür des Beichtstuhls war mit einer Holzlatte vernagelt.

»Raus hier!«, brüllte der Pater.

Körner betrachtete den kleinen rundbogigen Reliquienschrein. Was von weitem wie die Holzarbeit eines frommen Kunstschnitzers aussah, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als grässliches Gezücht mit Dornen, Zähnen, Krallen und verkeilten Hörnern. Die Formen waren grob ausgearbeitet, die Details verschwammen ineinander, dennoch waren sie zweifellos die Ausgeburt eines kranken Geistes. Er hätte nicht gedacht, dass es die in dem Tagebuch des Messdieners beschriebenen Figuren tatsächlich gab.

»Wonach suchst du?«, flüsterte Philipp.

»Ich habe gesehen, was ich wollte. Wir gehen, vielen Dank.«

Als Körner unter dem Vordach stand, blickte er auf den Dorfplatz hinunter. »Die Situation wird immer surrealer. Was ist das bloß für ein beschissener, kranker Ort?«

 

22. Kapitel

 

Wieder starrte Körner auf den Dorfplatz hinunter, diesmal aus seinem Zimmerfenster im Braunen Fünfender. Es war zehn Uhr abends. Vier ungeklärte Morde an Kindern und ein toter Ermittler - so lautete der Stand der Dinge. Eine ärmliche Bilanz für jemanden, der dringend Erfolge vorweisen musste.

Da öffnete sich die Tür und Sabriski spazierte herein wie in ihr eigenes Zimmer. Mit einem Satz saß sie im Schneidersitz am Kopfende des Betts. In den engen Leggins und dem grauen Rollkragenpullover wirkte sie wie eine Sportlehrerin aus einem Ferienlager. Sie sah verdammt sexy aus. Ihre Haare steckten noch im Pullover. Sie fuhr sich mit den Händen in den Nacken und schüttelte die Mähne aus. Während Körner aus dem Fenster blickte, erzählte er ihr, was er mit Philipp im Krämerladen und in der Kirche herausgefunden hatte. Sie hörte sich alles an, ohne ihn zu unterbrechen.

»Schwammartige Offnungen in den Wänden, von Magnetismus gekrümmtes Licht … klingt ziemlich verrückt, aber ich glaube dir.« Sie drehte eine Haarsträhne zu einer Locke. »Auch ich habe einige merkwürdige Dinge entdeckt.«

Körner setzte sich zu ihr aufs Bett. Bis auf die Hose war er nackt.

»Deine Kollegin hat mir bei der Autopsie assistiert«, begann sie. »Ich dachte, sie würde zusammenklappen, aber sie ist ganz schön tough. Nachdem wir mit Basedovs Leiche fertig waren, fuhren wir in Philipps Wagen los, um den verendeten Setter zu suchen. Er lag noch immer im Rinnstein. Kein Mensch scherte sich um den Kadaver. Ich hatte den Hund gerade in den Wagen geladen, als die Feuerwehr kam und die Straße sperrte. Wir mussten einen Umweg entlang der Trier fahren. Die Menschen packen wie die Verrückten Sandsäcke auf den Schutzdeich. Ich dachte, ich sehe nicht richtig.« Sie breitete die Arme aus. »Es ist gigantisch, die Trier ist zu einer Breite von achtzig Metern angeschwollen.«

»Erzähl mir lieber, was du bei der Autopsie rausgefunden hast.«

Sie nahm die Haare in den Mund und kaute an den Spitzen, ehe sie weitersprach. »Basedov und der Hund sind auf die gleiche Art und Weise getötet worden. Die Wunden stammen nicht von Stahlklingen oder scharfen Werkzeugen, sondern von Zähnen und Krallen mit Widerhaken, da bin ich mir ziemlich sicher …« Sie überlegte. »Möglicherweise bestehen die Zähne aus der gleichen Substanz wie die Partikel, welche ich in Sabine Krajniks Wunde entdeckt habe. Basedov, der Hund und die Kinder der Krajniks wurden vermutlich von demselben … hm … Etwas getötet.«

»Von demselben Etwas? Jana, ich bitte dich.« Da begannen die Glühbirnen im Zimmer zu flackern. Im nächsten Augenblick fiel der Strom aus. Es war stockdunkel, sogar die rote Lampe des Heizstrahlers erlosch.

»Da haben wir den Salat!« Körner stieg aus dem Bett und tastete sich an Nachtschrank und Waschbecken endang zur Tür. »Philipp hat prophezeit, dass nach der Wasserversorgung und der Telefonverbindung auch noch der Strom ausfallen wird.«

Er zog die Tür auf und blickte in die Dunkelheit. Im Feuerschein eines Streichholzes sah er Philipps bärtiges Gesicht. Der Spurensicherer stand ebenfalls mit Hose und nacktem Oberkörper in der offenen Tür seines Zimmers und spähte in den Gang.

Durch die knarrende Nebentür trat jemand in den Korridor. »Stromausfall?« Es war Bergers Stimme.

»Kluges Kind«, murrte Philipp.

»Pssst!«, zischte Körner. Im unteren Stockwerk hörte er die Dielen knarren. Jemand stieg mit einem dreiarmigen Kerzenständer die Treppe hinauf. Das Licht wankte auf und ab.

»Keine Sorge«, hörten sie Waltraud Stoißers Stimme. »Die Umspannwerke sind überflutet. Einige Ortsteile sind ohne Stromversorgung. Die Gasleitungen sind ebenfalls beschädigt, aber wir bekommen das schon hin.«

Die Wirtin wanderte mit dem Kerzenständer durch den Gang und öffnete die Abstellkammer. »Ohne Strom wird es heute Nacht ziemlich kalt.« Sie stellte den gusseisernen Ständer auf den Schrank und öffnete eine Truhe, worin sich dicke Wolldecken und einige Sechserpackungen Kerzen befanden.

»Meine Güte, sind Sie gut ausgerüstet!« Philipp trat an ihre Seite, um zu helfen, die Kerzen und Decken zu verteilen.

»Das passiert ja nicht zum ersten Mal, doch so schlimm wie diese Woche war es noch nie.« Die Wirtin reichte Philipp einen Stapel Wolldecken. »Bevor die Mauern des Trieracher Stausees bersten, werden die Wehrklappen und danach die Schleusen geöffnet. Von Heck, unserem Feuerwehrhauptmann, weiß ich, dass unvorstellbare Wassermassen auf uns zukommen, aber unsere Hochwassersperre reicht nur noch für einen Anstieg von knapp zehn Zentimetern. Doch hier im ersten Stock kann uns nicht viel passieren.« Sie streckte das Kreuz durch und versuchte zu lächeln. Danach wünschte sie ihnen eine angenehme Nacht und verschwand mit dem Kerzenständer im Treppenhaus.

»Wie romantisch.« Philipp zündete eine Kerze mit dem Streichholz an. »Keine Heizung, kein Warmwasser, kein Fernsehgerät. Hier sind wir wirklich am Arsch der Welt. Ich wünsche euch eine gute Nacht.« Er zog die Tür hinter sich zu.

»Bis morgen.« Berger verschwand ebenfalls in ihrem Zimmer.

»Sperrt eure Zimmer ab!« Körner hoffte, sie hatten es gehört. Er blieb im Gang stehen und starrte in die Dunkelheit.

»Was ist? Kommst du nicht rein?«, rief Sabriski.

Er trat die Tür mit dem Fuß zu und warf das Bündel Decken aufs Bett.

»Aua!« Sabriski kicherte in der Dunkelheit. Dann rollte sie sich aus dem Bett, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. »Hast du noch immer Angst vor dem Feuer? Soll ich die Kerze anzünden?« Sie nahm ihm die Packung aus der Hand und wickelte die Kerzen aus. Mit dem silbernen Benzinfeuerzeug aus ihrem Rucksack zündete sie den Docht an.

Er starrte gebannt in die Flamme. Sabriski stellte die Kerze auf die Ablagefläche des Waschbeckens, sodass der Spiegel das Feuer reflektierte.

»Nimmst du dir keine Kerzen in dein Zimmer?«, fragte er verblüfft.

»Willst du mich loswerden?« Sie drehte den Schlüssel im Schloss, sprang ins Bett und schlüpfte mit den Füßen unter die Decke. »Heute Nacht wird es bestimmt bitterkalt … ich bleibe lieber hier.« Sie rieb sich die Handflächen.

Er ließ sich nachdenklich auf das Bett sinken. Ihm schien, sie fand die Situation lustig, dabei konnte sich der Fall zu einem Kampf ums Überleben entwickeln. Er dachte an Verena. Den gesamten Tag hatte er sie weder angerufen noch besucht, dabei lebte sie nur einige Kilometer weit entfernt. Wie erging es ihr? War ihr kalt? Fror sie und kuschelte sich gerade in eine Decke gehüllt zu ihrer Mutter ins Bett? Er fragte sich, ob sie in diesem Augenblick an ihn dachte.

Sabriski rückte näher und kraulte mit dem Fingernagel seine Brusthaare. »Komm«, schnurrte sie.

Sein Rücken verkrümmte sich unwillkürlich. »Ich kann nicht«, brachte er hervor.

»Verstehe.« Sabriski streichelte ihm über die Schulter und gab ihm einen Kuss.

Nichts verstand sie. Es lag nicht daran, dass Basedov tot war und sein verstümmelter Leichnam wenige hundert Meter von hier in der Aufbahrungshalle neben dem Friedhof lag. Es hatte mit diesem Scheißdorf zu tun - und damit, dass Verena im Nachbarort lebte und der alte Gehrer angedeutet hatte, er solle an seine Tochter denken, nicht so viele Fragen stellen, von hier abhauen und die Vergangenheit ruhen lassen. Einen Dreck würde er tun! Er würde den Fall lösen, und falls jemand seiner Tochter ein Haar krümmte, sollten sie ihn kennen lernen. Er ließ den Kopf hängen und sank in Sabriskis Schoß. Sie strich ihm sanft durchs Haar. Er spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Für einen Moment fühlte er sich geborgen und konnte die kranke Welt in diesem Ort vergessen.

»Ich dachte, du stehst auf Philipp …«, murmelte Körner. Er spürte wie sich ihr Bauch hob, als sie leise kicherte. »Nein, ernsthaft. Ich dachte, er sei dein Typ und ihr hättet etwas miteinander.«

»Grundsätzlich wäre Phil mein Typ. Groß, breitschultrig, männlich, rau und trotzdem ein witziger Kerl, mit dem man unsinnige Sachen treiben kann, aber …« Sie sog die Luft ein. »Er ist schwul - schade eigentlich.«

»Was?« Körner fuhr im Bett hoch.

»Sag bloß, das hast du nicht gewusst?« Sabriski lachte auf, dann kriegte sie sich wieder ein und flüsterte: »Philipp ist schon öfter von den Kollegen aus der Sitte in diversen Sadomaso-Clubs gesehen worden. Und er war nicht dort, um irgendwelche Spuren zu sichern.«

»Ich wird’ verrückt. Philipp ist ein Homo.« Er sank in ihren Schoß zurück. »Sybille, seine Exfreundin, hat mir das nie erzählt.«

»Vielleicht weiß sie es gar nicht. Phil spricht ja nicht mit jedem drüber. Du weißt sicher, dass er keine tolle Kindheit hatte …«

Sie erzählte ihm das klassische Familiendrama aus der Wiener Großfeldsiedlung, dass Phil bis zu seinem zehnten Lebensjahr von seinem Vater mit dem Gürtel geschlagen worden war und noch vieles mehr. Körner fielen ständig die Augen zu, und er konnte nicht mehr unterscheiden, was Sabriski ihm erzählte, was er von Rolf Philipp selbst gehört hatte und was sein Unterbewusstsein schlicht dazuerfand.

Irgendwann schlug er die Augen auf und Sabriskis Summe war verstummt. Sein Kopf lag noch immer in ihrem Schoß. War sie eingeschlafen? Langsam erhob er sich, ohne den Lattenrost zum Knarren zu bringen. Er wollte sie nicht wecken, doch als er mitten im Zimmer stand und sich umdrehte, merkte er, dass seine Mühe unnötig gewesen war. Sabriski saß aufrecht im Schneidersitz im Bett und hielt die Hände im Schoß gefaltet.

Körner stockte der Atem. Hinter ihm standen Dutzende Kerzen auf dem Waschbecken aufgereiht. Er roch das Wachs. Die Dochte prasselten, die Flammen zeigten schnurgerade zur Decke. »Jana?«, flüsterte er. Seine Stimme klang merkwürdig fremd.

Sie saß stumm da. Er schritt um sie herum, aber die Wände dehnten sich mit jedem Schritt, den er machte, weiter aus, als bewege sich das Zimmer mit seiner Bewegung mit. Plötzlich war das Fenster merkwürdig hoch, besaß ein Fensterkreuz in der Mitte, wie in einem uralten Gemäuer aus den zwanziger Jahren. Als er den Blick zur Seite drehte, sah er Sabriskis Hinterkopf im Spiegel, bemerkte jedoch nichts Ungewöhnliches.

Er hielt den Atem an, als er in weiter Ferne ein zunächst leises und danach lauter werdendes Plätschern hörte. Im Kerzenschein schritt er zur Wand und legte das Ohr an die Tapete. Das Wasser lief nicht jenseits der Zimmerwände, sondern in der Wand. Als er die Tür öffnete stand er mit seinen nackten Füßen mitten im Wasser. Die eiskalte Flut umspülte seine Zehen und den Hosenaufschlag. Mitten im Gang tropfte das Wasser von der Decke, sickerte aus den Wänden, sammelte sich auf dem Boden und stürzte über die Treppe nach unten. Er folgte dem Weg des Wassers. Die rutschigen Holzstufen führten in das untere Stockwerk, das einen Meter hoch überflutet war. Doch wie in den meisten Träumen sah die Umgebung anders aus als in der Wirklichkeit. Vom Schankraum, dem Frühstückszimmer und dem Gemeindesaal war keine Spur zu sehen. Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen großen Saal mit einem hohen, viergeteilten Fenster, das bis zur Decke reichte.

Er stieg die Treppe bis zur letzten Stufe hinunter, um durch das Wasser zu waten. Es war eiskalt, doch merkwürdigerweise fror er nicht - anders als im Weinkeller unter der Gaslight Bar, wo er auf Basedovs Leiche gestoßen war, sich sein Herz verkrampft und sein Brustkorb versteift hatte. Hier berührte ihn eine angenehme, wirkungslose Kälte. Da wurde ihm ein schrecklicher Gedanke bewusst: Seine Glock lag noch immer unter dem Kellerabgang der Bar. Er hatte sie weggelegt, um Basedov über die Stufen nach oben zu tragen. Er musste sofort hier raus, die Waffe holen.

Um ihn herum drang von unten dunkelgrünes Licht herauf, welches das Wasser in schimmernden Schlieren leuchten ließ, als trieben Algen auf dem Grund. Körner entfernte sich von der Lichtquelle, bewegte sich aber durch die immer fauliger werdende Brühe. Wellen schwappten ihm seitlich in den Hosenbund. Die Strömung wirbelte das brackige Wasser auf. Ein Gewächs mit schlaffen Blättern streifte seine Füße. Körner taumelte einen Schritt zurück und fiel ins Wasser.

Mit einem Mal verfinsterte sich alles. Das grün schillernde Wasser wich einer abgrundtiefen Dunkelheit. Einzig hinter dem bis zur Decke reichenden Fenster mit dem Holzkreuz leuchtete eine grüne Unterwasserwelt, durch die Körner kilometerweit sehen konnte. Als stehe das Haus am Meeresgrund, schlängelten sich riesige Algen vom Boden am Fenster vorbei. Luftblasen stiegen auf und drängten immer weiter empor, bis sie aus Körners Blickfeld verschwanden. Der gesamte Ort war unter Wasser getaucht, bloß in diesem Gebäude schien sich eine Luftblase gehalten zu haben.

Körner watete näher zur Scheibe. Windschiefe Giebeldächer schälten sich in weiter Ferne aus den grünen Schlieren. Er sah Fenster, Rauchfänge und Dachvorsprünge in der Unterwasserwelt auftauchen und wieder verschwinden. Mit einem Mal pressten Wellen gegen die Fensterscheibe, verzerrten die Sicht. Der schlammige Boden wurde aufgewirbelt. Aus der Schwärze trieb ein gewaltiger Schatten auf das Fenster zu. Ein Wesen mit hellen Augen. Es besaß Hörner, Zähne und ein riesiges Maul…

Körner schrie auf. Er saß schweißgebadet im Bett. Sein Atem rasselte. Ein dumpfer Knall drang aus Bergers Zimmer. Hatte sein Schrei sie geweckt?

Körner starrte zum Spiegel über dem Waschbecken. Die Kerze war bis auf einen Stummel niedergebrannt. Neben ihm murmelte Sabriski im Schlaf. Er rollte sich neben sie unter die Decke und schlief wieder ein.