29. Kapitel

 

Aus dem dunklen Abgrund des Tunnels wankte Körner auf den grauen Fleck zu, der den Ausgang bedeutete. Er konnte noch nicht einmal schätzen, wie spät es war. Das bleierne Grau jenseits des Bergwerkseinganges mochte alles Mögliche bedeuten, Morgenzwielicht oder verregneter Nachmittag. Jedenfalls war es nicht mehr Nacht, sondern bereits Freitag, sein fünfter Tag in Grein.

Körner wollte nicht glauben, dass all das tatsächlich passiert war, was er seit Montag miterlebt hatte: Marias Tod, Basedovs, Bergers, Philipps und Sabriskis Ermordung, die Enthüllung über seine Eltern und die Verschwörung der Dorfbewohner. Er wollte an einen endlos langen Albtraum glauben, aus dem er erwachen würde, sobald er die Augen aufschlug, wollte wieder in seinem Wiener Büro sitzen, von Jutta Koren einen neuen Fall erhalten und mit Berger und Philipp losziehen, um einen Eifersuchtsmord in einer Wohnanlage in einem Wiener Randbezirk zu klären … doch als er vor seinem Audi stand, die Hände auf dem kalten Blech der Motorhaube, wusste er, dass sich dieser Wunsch nicht erfüllen würde. Alles war anders gekommen, sein Leben war um hundertachtzig Grad herumgerissen und vollständig ruiniert worden.

Körner starrte auf den linken Vorderreifen des Audis. Erst jetzt bemerkte er, dass er den Wagen auf die Zacken eines abgebrochenen Rechens geparkt hatte. Der Reifen war platt, der Wagen stand mit Schlagseite auf der Felge. Doch für seinen Plan, der während der Nacht im Schacht in ihm gereift war, brauchte er das Auto nicht - nur was auf dem Beifahrersitz lag.

Ein kalter Windstoß fuhr vom Bergwerkseingang in den Tunnel. Körner schloss seinen brüchigen Mantel bis zum Hals. Aus der rechten Manteltasche lugte die Stabtaschenlampe, aus der anderen ragten drei Dynamitstangen. Nur der Sprengstoff aus der ersten Lage der Holzkiste war noch brauchbar gewesen. Der Rest des Dynamits, vor allem die Stangen auf dem Boden, hatten sich verflüssigt. Das Nitroglycerin hatte die Hülle aufgeweicht und war förmlich zu einem gelben, stinkenden, öligen Brei zerronnen. Mit angehaltenem Atem und einer unendlichen Ruhe hatte Körner die drei Stangen aus der Kiste entfernt, ohne den Rest anzufassen.

Gestern Nachmittag hatte er den Wagen so tief in den Tunnel gefahren, dass die Fahrertür nur noch halb aufging. Als die Deckenbeleuchtung des Autos ansprang, schloss Körner für einen Moment geblendet die Augen. Er beugte sich ins Wageninnere; die Digitalziffern auf dem Armaturenbrett zeigten 5.03 Uhr. Langsam kehrte Körners Geist aus einem traumhaften Zustand in die Realität zurück. Er fixierte die rote Anzeige. 5.04 Uhr! 5.05 Uhr! Unter dem Display befanden sich die Knöpfe des Autoradios. Im Deck steckte eine CD von Alan Parsons Project. Körner schien es Jahre zurückzuliegen, dass er diese Musik gehört hatte, dabei waren es erst wenige Tage. Alan Parsons Project - The Turn of a Friendly Card kam ihm in diesem Moment so fremd und unreal vor wie alles andere aus seinem früheren Leben. Die Musik passte überhaupt nicht zu diesem Ort aus Tod und Verzweiflung.

Unwillkürlich schaltete Körner das Autoradio ein, doch abgeschirmt im Tunnel empfing er nichts weiter als ein Rauschen. Keine Nachrichten, kein Verkehrsfunk, keine Werbung, kein Radiosprecher! Bevor das Radio automatisch auf CD wechselte, machte er es aus. Er nahm das Tagebuch vom Beifahrersitz, eine Rolle Klebeband aus dem Handschuhfach, stopfte sich beides in die Manteltasche und griff nach den beiden Funkgeräten in der Mittelkonsole, die er noch für seinen Plan benötigte. Bevor er sich aus dem Wageninneren quälte, fiel sein Blick in den Rückspiegel. Gelassen nahm er den Anblick wahr. Sein Gesicht war kaum wieder zu erkennen. Graue Schatten lagen unter den Augen, seine Haut war so fahl wie die eines Toten. Das eingetrocknete Blut auf der Oberlippe, den Wangen und dem Hals wirkte wie zerlaufene Theaterschminke, die ihn geisterhaft aussehen ließ.

Nachdem er die Wagentür geschlossen hatte, ging er zum Kofferraum. Im schwachen Schein der Kofferraumbeleuchtung war das beschlagnahmte Sprengmaterial zu erkennen, das er seit Sonntagabend in seinem Wagen durch die Gegend fuhr, da er vergessen hatte, es bei Dworschak im Spurensicherungsbüro abzuliefern. Kupferdrähte und Polymermäntel glänzten im Licht, daneben lagen Sprengkapseln, Patronen, Innenhütchen, mechanische Zeitzünder, Verzögerer und rote Zündschnüre. Der Geiselnehmer war wie ein Sprengstoffexperte ausgerüstet gewesen. Doch all dies Zeug war wertlos für Körner, mit Ausnahme eines hauchdünnen Polex-Zünders, den er aus dem Verbund zog und in die Manteltasche gleiten ließ. Die winzige elektrische Sprengkapsel mit den zwei Drähten würde als Initialzündung reichen, um den notwendigen Detonationsdruck zu erzeugen - mehr brauchte er nicht.

Diesmal hatten sich die Ortsbewohner mit dem Falschen angelegt.

 

Als Körner aus dem Bergwerkseingang ins Freie schlüpfte, die kalte Morgenluft inhalierte und den Nieselregen aufsein Gesicht fallen spürte, wurde sein Kopf klarer. Seine Lebensenergie kehrte zurück.

Die Aussicht auf den Ort war getrübt, die Häuser lagen verborgen in Dämmerlicht und Regen. Körner wunderte sich, weshalb keiner der Dorfbewohner an dieser Stelle postiert worden war. Nicht eine Menschenseele bewachte den Platz! Vor ihm lagen die Wellblechhütten, die ausrangierten Kohlewagons, der Friedhof, die Totengräberhütte und der menschenleere Parkplatz. Der Boden war aufgeweicht, eine braune Lache grenzte an die nächste. Alles schien wie ausgestorben. Lediglich am Fuß der Deichkrone tummelten sich Hunderte Menschen. Über den Acker hinweg wirkte die Trier ziemlich nah. An jener Stelle, wo der Fluss eine Biegung machte, standen die meisten Autos und Pritschenwagen. Dort wälzte sich die schlammig-braune Flut mit ungezügelter Wucht stromabwärts. Jenseits der Bundesstraße hatte der Fluss weite Landstriche in eine gigantische Seenlandschaft verwandelt. Wohin das Auge reichte, breitete sich das Hochwasser aus.

Mitten auf dem Feld stand noch immer der Traktor mit dem verrosteten Anhänger. Körner schätzte, dass er fünfzehn Minuten zum Deich brauchen würde. Niemand bemerkte ihn, als er über den Acker auf den Traktor zulief. Minuten später warf er sich unmittelbar am Fuße des Deichwalls auf den Bauch und robbte in den Schutz herunterhängender Weidenäste. Das Gesicht und die Hände mit Schlamm und Laub bedeckt, verschmolz er mit seiner Umgebung aus Bäumen und Sträuchern. Die Erde war so nachgiebig, dass er mit den Ellenbogen zentimetertief einsank. Der Deich war ebenso durchweicht. Seit acht Tagen dem Toben des Wassers ausgesetzt, stand er wie ein Wackelpudding unter ständiger Schwingung. Körner wunderte sich, wie der Wall so lange gegen die Flut der Trier hatte standhalten können - und ein Ende des Wasseranstiegs war nicht abzusehen. Auf einer Strecke von zwei Kilometern türmten sich gewiss eine Million Sandsäcke. Die Sandbarriere am Deich war inzwischen so braun wie das schlammige Wasser der Trier. In der derzeitigen Situation genügte ein einziger Spatenstich an der falschen Stelle, und der gesamte Damm würde dem Wasserdruck nachgeben, sich verschieben, kilometerlange Risse bekommen und wie eine Papierwand umfallen. In Sekundenschnelle würde die Flut den Deich und sämtliche Schutzwälle durchbrechen.

Mittlerweile patrouillierten keine Feuerwehrleute mehr auf der Deichkrone. Jeder zusätzliche Sandsack war in der Lage, den Aufbau zum Einsturz zu bringen. Sobald Körner den Kopf hob, sah er, wie das Wasser über den Wall schwappte. Eine aus der Flut ragende Latte zeigte einen Pegelhöchststand von acht Meter vierzig. Die Trier hatte über Nacht gigantische Ausmaße angenommen. Wie es schien, waren die Schleusen des Trieracher Staudamms stundenlang geöffnet worden. Womöglich hatte das Unwetter im Spoisdorfer Chemiewerk bereits zu einer Katastrophe geführt.

»Ein Riss im Damm!«

Körner duckte sich. Zwei Feuerwehrmänner mit gelben Helmen und blauen Uniformen rannten an ihm vorbei. Sie waren zu beschäftigt, um die kauernde Gestalt im Unterholz auszumachen. Dutzende LKW fuhren im Schritttempo an Körner vorbei. Wenige Meter von ihm entfernt luden sie Tonnen von Schotter und Bauschutt ab, um die Löcher im Deich zu schließen, aus denen das Wasser quoll.

»Sickerstelle an Punkt Einundachtzig! Wir brauchen mehr Gegengewicht an der Böschung«, brüllte ein Mann in ein Megafon. Körner kannte sein Gesicht aus dem Braunen Fünfender.

Ständig kamen neue Lastwagen, die Bauschutt vom Heidenhofer Kieswerk heranfuhren. Wie Besessene versuchten die Einwohner in einem aussichtslosen Wettlauf, den angeschlagenen Deich zu schließen. Wo ein Loch abgedichtet wurde, brachen zwei neue auf. Jetzt kannte Körner den Grund, weshalb ihn niemand vor dem Bergwerksausgang erwartet hatte. Die Dorfleute schlugen sich mit anderen Problemen herum - dabei wurde im Moment jeder einzelne Helfer beim Deich benötigt.

Bloß ein einziger Mann wagte es, regungslos mit ausgebreiteten Armen auf der Deichkrone zu stehen, den Blick auf das braune Wasser gerichtet, inmitten von Moder und faulem Fischgestank.

»Zehn Tage Urgewalt, von übermächtiger Hand gelenkt!«, rief Pater Sahms. »Das ist die Rache, unser Fluch, Gottes Abrechnung, doch wir werden unser Schicksal selbst bestimmen!«

Körner lief ein Schauer über den Rücken. Pater Sahms! Gottes Abrechnung! Mit einem Mal ahnte er, weshalb die Menschen im Ort blieben und nicht evakuiert werden wollten. Die Idee klang verrückt, trotzdem musste es so sein: Den Greinern und Heidenhofern ging es gar nicht darum, ihre Häuser, ihre Autos, all ihr Hab und Gut zu retten - sondern das Gezücht! Sie wollten die Wesen, welche hinter ihren Wänden lebten, vor dem Chlor und Cadmium des Chemiewerks schützen. Körner erinnerte sich an Weißmanns Worte, als er ihn mitten in der Nacht auf dem Dorfplatz beinahe umgerannt hatte. Wir bekommen ein zusätzliches Problem im Ort: eine mögliche Chemie-Verseuchung! Wenn die Giftstoffe erst mal in den Fluss gelangt sind, und die Schleusen werden geöffnet, wird es düster…

Ja, das wurde es tatsächlich! Sogar durch die Wassermassen verdünntes Chlor konnte hochgefährlich sein. Körner würde dafür sorgen! Er griff in die Manteltasche nach dem Dynamit. »Ich bin die Sintflut«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Jede der Dynamitstangen hatte einen Durchmesser von knapp fünf Zentimetern, eine Länge von über dreißig Zentimetern und wog eineinhalb Kilo. Die drei Stangen reichten aus, um den Deich auf einer Länge von mindestens zehn Metern aufzubrechen. Je weiter oben, desto besser. Den Rest erledigte der Wasserdruck. Die Flut würde gigantische Ausmaße erreichen.

Nachdem Körner die drei Stangen mit dem Klebeband zusammengebunden hatte, grub er die Sprengladung so tief ins Erdreich, dass nur noch ihr Ende herausragte. Anschließend drückte er die Glühstange des Polex-Zünders in die erste Dynamitstange, bis nur noch die beiden Drähte zu sehen waren. Nun kam der zweite Teil seines Plans: Er riss die schwarze Kunststoffabdeckung von einem der beiden Funkgeräte. In dem Gehäuse befanden sich die Batterie, der Lautsprecher, Kabel, Relais, Schaltkreise und die rote Kontrolllampe, welche den Empfang anzeigte. Die beiden Pole des elektrischen Zünders direkt an die Batterie zu schließen hätte Körners augenblicklichen Tod bedeutet - stattdessen wollte er einen simplen Fernzünder konstruieren.

Er wischte sich die schlammverdreckten Hände am Mantelkragen ab, dann riss er mit ungeschickten Fingern die winzige rote Kontrolllampe mitsamt der Fassung aus dem Gerät. An die beiden Pole für die Lampe musste er nur noch die Drähte des Polex-Zünders hängen. Als Körner den Kontakt zum Plus- und Minuspol herstellte, hielt er den Atem an. Doch nichts geschah. Erst in dem Moment, wo er das Gerät mit dem zweiten Apparat anfunkte und es von Standby auf Empfang ging, würde der Kontakt geschlossen, der eigentlich die Kontrolllampe aktivierte. Doch statt der Lampe würde der elektrische Impuls den Zünder erreichen, der Strom die Glühbrücke erhitzen und … Bang! In einer Kettenreaktion würden viereinhalb Kilo Dynamit hochgehen.

Doch im Moment waren beide Funkgeräte im Standby-Modus. Während Körner die Kunststoffverkleidung zuklappte und das präparierte Gerät in den Schlamm drückte, bis lediglich die Antenne herausragte, bedachte er seinen Plan. Er war keineswegs sicher, ob es überhaupt funktionieren würde. Die beiden Sprechfunkgeräte hatten eine Reichweite von nur eineinhalb Kilometern. Wenn er sich zu weit entfernte, sich ein Draht löste, die Batterie versagte oder sich das veraltete Dynamit als Versager entpuppte, passierte gar nichts. Ein Gedanke bedrängte ihn, den er schon seit gestern Abend mit sich herumtrug: Warum hier bleiben? Er könnte das alles vergessen und sofort über die Deichkrone klettern, sich in die Flut stürzen und zum anderen Ufer schwimmen. Er hätte den Ort verlassen, alles hinter sich gebracht. Doch noch war er nicht bereit dafür … zunächst wollte er die fehlenden Zusammenhänge herausfinden. Einige Fragen waren noch offen: Woher kamen die Wesen? Was genau waren sie? Was taten sie? Wer beherrschte sie? Darüber hinaus wollte er noch den Beginn des Tagebuchs lesen. Ihm schien, als liege darin der Schlüssel zu der gesamten Geschichte verborgen. Außerdem gab es noch einen Hauptgrund, um hier zu bleiben: Er durfte seine Tochter unmöglich in der Gewalt der geisteskranken Dorfbewohner lassen.

Langsam entfernte er sich aus dem Schutz der herunterhängenden Weidenäste. Auf dem Bauch liegend, das zweite Funkgerät in der Manteltasche verstaut, schob er sich von einer Ackerfurche in die nächste, bis er wieder den Traktor mit dem verrosteten Anhänger erreichte. Verborgen hinter dem ausrangierten Ungetüm, richtete er sich zu voller Größe auf. Seine Hände waren halb erfroren. Die Kälte steckte ihm seit Stunden in den Knochen und ließ seine erstarrten Gelenke knirschen. In der Wölbung des Traktorsitzes hatte sich eine Regenlache gesammelt. Körner wischte sich die Handflächen an der Hose ab, um sich einen Schluck zu schöpfen.

»Dort oben!«

Das Regenwasser schmeckte frisch wie von einer Bergquelle. Körner schöpfte aus der Vertiefung, in der das Kupplungsgestänge verschwand, eine weitere Hand voll Regenwasser, wovon er gierig trank. Augenblicklich begann sein Magen zu knurren.

»Dort! Rasch!«

Erst jetzt blickte er auf. Einige Männer hatten sich aus der Menschentraube vor dem Deich gelöst und rannten über die Felder. Körner sah sich um. Hinter ihm befand sich nur der Acker, dahinter die Straße, die Bergwerksstollen, der Friedhof und der menschenleere Parkplatz.

»Lasst ihn nicht entkommen!«

Körners Herz begann zu rasen. Die Männer konnten nur ihn meinen! Augenblicklich begann er zum Bergwerksstollen zu rennen. Mit den Schuhen rutschte er in die verschlammten Ackerfurchen. Ohne sich umzusehen, stolperte er über die Straße, die Kieswege und ausgelegten Bretter, bis seine Lunge brannte und ihm der Schweiß in die Augen lief. Er stoppte erst wieder, als er den Audi hinter sich gelassen hatte und tief in die absolute Dunkelheit des Tunnels vorgedrungen war. Im Berg würden sie ihn unmöglich finden.

 

30. Kapitel

 

Nach einer kurzen Pause drang Körner im Licht der Taschenlampe weiter in den Tunnel vor. Wenige Hundert Meter später erstarb das Geräusch seiner Verfolger. Weshalb kamen sie nicht hinterher? Bewegte er sich etwa in einer Sackgasse vorwärts? Trotzdem ging er weiter.

Je tiefer er in das Bergwerk vordrang, desto wärmer wurde es. Der kalte Hauch vor seinem Gesicht verschwand. Dicke Wurzeln hingen aus den Seitenwänden. Das Gestrüpp wuchs so dicht, dass die Erdwände und die hölzerne Türstockkonstruktion kaum noch zu erkennen waren. Beim Anblick der Wurzeln, Ranken und Knollengewächse kehrten Körners entsetzlichen Kopfschmerzen zurück. Diesmal blutete er nicht aus Nase und Ohren, sondern spürte das warme Blut am Zahnfleisch, auf seinem Gaumen und im Rachen. Er schluckte so lange, bis ihm übel wurde. Sein leerer Magen rebellierte. Immer öfter spuckte er aus.

Als sich der Tunnel vor ihm teilte, ein Weg nach rechts abzweigte, der andere nach links abfiel, entschied er sich für den abschüssigen linken. Dieser Tunnel führte nicht weiter in das Gebirge, sondern Richtung Grein. Irgendwo würde er schon rauskommen. Der Tunnel wurde immer enger. Bald merkte Körner, dass keine Eimer, Spaten oder Lampen mehr herumstanden. Gleisanlagen für die Grubenhunte gab es schon lange nicht mehr. Auch fehlten die Markierungen an der Holzkonstruktion. Er leuchtete mit der Lampe den Tunnel aus. Sein Atem stockte. Es gab überhaupt keine Holzbalken mehr. Der Stollen schien selbsttragend wie ein natürliches Gebilde. Noch dazu hatte sich ein ekelhafter Schwefelgestank im Gang ausgebreitet, der an faule Eier erinnerte. Der Tunnel war knapp einen Meter siebzig hoch, schulterbreit und vollständig von dunklem Wurzelwerk bewachsen. Seit Minuten war Körner bereits in gebückter Haltung über die knorrigen Ranken gegangen, die sich auf dem Boden zu einem dichten Geflecht vereinten.

Es wurde wärmer, je tiefer er in den Schacht drang, der nun steiler bergab führte. Von Zeit zu Zeit wurde Körner schwindelig, sodass er sich an die Wand lehnte, um für eine Minute zu verschnaufen. Er führte die wiederkehrenden Schwächeanfälle auf den Wasser- und Nahrungsmangel zurück. Mittlerweile lastete ein ungewöhnlicher Druck auf seinem Kopf. Ein Geräusch dröhnte in seinen Ohren, wie das Rauschen seines eigenen Blutes. Hinter seinen Schläfen begannen sich die Blutgefäße zu erweitern. Körner glaubte, sein Schädel werde bersten. Er brauchte dringend frische Luft und Platz, um Arme und Füße Von sich zu strecken, da sich sein Körper immer öfter zusammenkrampfte.

Die Schwindelanfälle traten immer häufiger auf, vereint mit Erinnerungslücken. Der Schwefelgestank verursachte Brechreiz, sodass Körner gallige Magensäure hochwürgte. Bald verlor er die Orientierung und jegliches Zeitgefühl. Wie lange stolperte er schon durch diesen endlosen Tunnel? Als er wieder aus einer tiefen Gedächtnisstörung hochschreckte, fand er sich selbst auf dem Bauch kriechend wieder, auf die Ellenbogen gestützt, die Taschenlampe vor sich her rollend. Was zum Teufel war passiert? Der Tunnel war mittlerweile so schmal geworden, dass sich Körner gerade noch hindurchschieben konnte. Weshalb hielt er nicht an? Automatisch setzte er einen Arm vor den anderen, um sich weiterzuziehen. Er wusste weder, wo er sich befand, noch wie tief er bereits in den Stollen vorgedrungen war. Konnte er überhaupt noch umdrehen? Für eine Wendung war der Gang zu eng - Körner konnte höchstens den gesamten Weg rückwärts kriechen. Er musste unbedingt eine Pause einlegen, um in Ruhe über sein Vorhaben nachzudenken. Während eines hellen Moments wurde ihm bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er feststecken und sterben würde. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er sich in keinem normalen Bergwerk befand. Die Wurzeln an der Wand erinnerten ihn an die Erzählung im Tagebuch des Messdieners, nur dass dieses Gewächs kräftiger war, seine Ranken weder Anfang noch Ende besaßen und ihn wie ein steifes, dickes Netz umgaben, kilometerlang ineinander verflochten. Wenn jene Beschreibung des Tagebuchs der Wahrheit entsprach, stimmte vielleicht alles andere auch, was Körner in dem Buch gelesen hatte. Womöglich führte ihn dieser Tunnel direkt zur Quelle des Geheimnisses.

Plötzlich neigte sich die Röhre ein weiteres Mal. Körner wollte sich abstützen, rutschte jedoch mit den Händen voran in die Tiefe. Der folgende Aufprall drückte ihm die Luft aus der Lunge. Als er wieder klar sah, stellte er fest, dass er in einer ebenen Röhre steckte. Er versuchte, flach zu atmen ohne sich zu bewegen. Für eine Umkehr war es endgültig zu spät. Über diese Neigung würde er sich niemals rückwärts hinaufschieben können. Einige Meter vor ihm erhellte die Taschenlampe den nächsten Teil des Stollens. Körner kroch darauf zu. Mit den Haaren streifte er an der Decke, mit den Schultern zwängte er sich an dem Gewächs vorbei. Mit jedem weiteren Meter scheuerte er sich die Hände noch mehr auf. Mit einem Mal drehte sich die Tunnelröhre vor ihm. Der Raum wurde weiter, verengte sich im nächsten Moment, die Wände verzogen sich, und mit ihnen schien sich sein eigener Körper zu verändern. Licht und Schatten wechselten einander permanent in einem schrecklich anzusehenden Spiel ab. Bald kam es ihm vor, als liege er auf dem Rücken und starre zur Decke. Da! Die schwarzen Wurzeln bewegten sich vor seinen Augen. Oder war es nur eine Täuschung, die das zuckende Lampenlicht hervorrief? Körner versuchte, genau hinzusehen, doch das Bild verschwamm vor seinen Augen. Lösten sich tatsächlich Teile aus dem Gewächs, die wie Schatten auf sein Gesicht zukrochen, seine Lippen und Wangen berührten? Blut sickerte ihm aus Nase und Mund, sammelte sich in seinem Rachen, doch er konnte nicht ausspucken. Er versuchte den Kopf zu heben, Blut aus dem Mund zu pressen, doch es schlug Blasen, lief ihm über Wangen, Kinn und in die Nase - er schluckte es unwillkürlich und begann krampfhaft zu husten. Gierig schnappte er nach Luft, krallte sich mit den Fingern in das Geäst und zog sich keuchend voran. Er musste weiter - wohin immer dieser Weg führte - oder sterben.

Ihm schien, als kämen die Blackouts immer häufiger, als würden die Abstände zwischen den Wachphasen kürzer. Sobald er wieder bei Sinnen war, zog er sich weiter, krallte sich mit den Händen in die Wände, schob sich mit den Knien vorwärts. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Als er einmal mehr die Finger in die wuchernden Ranken bohrte, versank seine Hand komplett in dem Gewächs. Es knackte. Seine Hand brach bis zum Gelenk ein. In dieser Stellung konnte er den anderen Arm mit der Lampe unmöglich herumdrehen, um zu sehen, was passiert war. Panisch bemühte er sich, die Hand herauszuziehen, doch sie steckte zu tief in der Wand. So tat er das genaue Gegenteil von dem, wozu ihm sein Instinkt riet. Er stemmte die Schulter an die gegenüberliegende Wand und drückte seinen Arm tiefer in das Gewächs. Als breche er durch eine Hülle, konnte er seine Finger plötzlich frei bewegen. Befand sich seine Hand jenseits des Wurzelwerks im Freien? Er spürte weder Nieselregen noch einen kühlen Luftzug. Wie einen Bohrer begann er den eingeklemmten Arm zu drehen. Langsam vergrößerte sich das Loch. Bald steckte er bis zur Schulter in der Wand und konnte die andere Hand hinzuziehen, um die Wurzeln zu entfernen. Ihm schien, als sträube sich das knorrige Gewächs nicht einmal gegen seine Bemühungen. Vor seinen Augen entstand eine Öffnung, durch die er beide Arme und den Kopf stecken konnte. Er stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand und presste den Oberkörper in das Loch. Es war an den Rändern verkrustet und verwachsen. Mit den Armen schob er sich weiter, drückte die Ellenbogen gegen die Wurzeln, welche plötzlich knackend nachgaben. Eine nach faulen Eiern stinkende Flüssigkeit spritzte ihm ins Gesicht, in die Haare und auf den Mantel. Die geborstenen Wurzeln sonderten einen ekelhaften Saft ab, der sich wie ein Gelee in den Mantelstoff sog. Würgend hielt Körner den Atem an, während er in den dahinterliegenden Raum schlüpfte.

Als Körners Oberkörper das Übergewicht bekam, rutschten seine Beine nach, wodurch er einen Meter tief auf einen harten Steinboden fiel. Er reagierte zu spät und schlug mit dem Kopf hart auf. Die Taschenlampe polterte einige Armlängen von ihm entfernt über die Bodenrillen, bis sie gegen eine Wand traf.

Körner rappelte sich mit zitternden Knien hoch. Im ersten Moment konnte er unmöglich das Gleichgewicht halten, da sein Kopf so schwer wie eine Kanonenkugel war. Er wischte sich die schmierige Flüssigkeit aus dem Gesicht. Benommen sah er sich um. Wie es schien, befand er sich in einem Gewölbe. Die Luft war stickig, doch der Schwefelgestank hatte nachgelassen. Er griff nach der Lampe und leuchtete den Raum aus. Vor ihm offenbarte sich ein Steingewölbe mit Nischen, so groß wie ein Weinkeller, jedoch befanden sich keine Stellagen darin, sondern nackte Wände und Torbögen, die in weitere Bereiche führten. Das Wurzelgeflecht war verschwunden, bloß an einigen wenigen Stellen brach es durch die Gesteinsrisse und rankte sich wie verdorrter Efeu über die Wände. Die wenigen Ausläufer ließen erahnen, was sich im Erdreich hinter dem Gewölbe befand. Ebenso war der Boden an manchen Stellen aufgerissen. Versteinerte Gewächse, dick wie Abwasserrohre, quollen daraus hervor und wucherten über den Boden. Körner stieg über das spröde Gebilde, welches sich durch das gesamte Gewölbe verzweigte.

Inmitten des größten Raumes befand sich eine merkwürdige Konstruktion. Sie glich keineswegs dem Eisengestell, das sich in der Gaslight Bar befand. Dieses Gerät war um ein Vielfaches größer und bestand aus Kurbeln, Zahnrädern, Ketten, Pedalen, brüchigen Seilen und Mühlsteinen, die als Gewichte dienten. Körner stolperte auf die Maschine zu. Der Anblick erinnerte ihn an eine Stelle aus dem Tagebuch: Durch ein schmales Loch konnte ich einen Blick in die Gruft und die Teile der Lautlosen Maschine werfen. War jene Maschine gemeint, die Körner gerade vor sich sah? War er durch denselben Tunnel gekrochen, den bereits der Messdiener mit seiner Öllampe auf der Suche nach dem Gezücht genommen hatte? Das würde bedeuten, dass sich das Gewölbe unmittelbar unter der Kirche befand.

Körner überlegte fiebrig. Nichts, was er bisher gesehen hatte, widersprach den Tagebucheintragungen. Je tiefer er in die Geschichte des Ortes vordrang, desto mehr ergaben die Zeilen des Messdieners einen Sinn. Angenommen, der Messdiener war nicht verrückt gewesen und alles, was Körner bisher in dem Buch gelesen hatte, entsprach der Wahrheit, dann musste er sich in jenem Gewölbe befinden, dessen Abgang die Lynchmeute der Dorfbewohner im Juni 1864 mit Hämmern, Nägeln und zerschlagenen Kirchenbänken verbarrikadiert und anschließend mit dem schweren Altarstein blockiert hatten. Falls all dies der Wahrheit entsprach, dann war der Ausgang seit 1864 versperrt. Vielleicht gab es im Tagebuch einen Hinweis dazu. Eilig kramte er das Buch aus der Manteltasche und richtete den Lichtstrahl auf die erste Eintragung, mit der alles begonnen hatte.

 

4. Jänner 1864: Der neue Altarstein, den wir vor zwei Monaten aus St. Gyden im Dekanat Kempen bekommen hatten, brachte uns bisher nur Unannehmlichkeiten. Bereits am Tag der Aufstellung senkte sich der Boden gewaltig, und zu allem Überfluss entstand gestern im Chorbogen ein Mauerriss, der sich seit Stunden weiter ausdehnt.

 

Der Rest der Seite war verwischt. Körner hockte sich im Schneidersitz an das Gestänge der Maschine, wo er sich im schwächer werdenden Lampenlicht dem Tagebuch widmete, dessen Aufzeichnungen am nächsten Tag fortgesetzt wurden.

 

5. Jänner: Heute Morgen reichte der Riss bis zum Boden und war so breit, dass ich zwei Finger hineinstecken konnte. Zu Mittag hörte ich, dass der Maurermeister von Haidenhof mit zwei Gesellen zur Kirche kommen werde. Als ich am Nachmittag Pater Dorn wie jeden Dienstag den Einkauf aus dem Ort brachte, waren die Männer bereits bei der Arbeit. Der Platz vor dem Altar sah schrecklich aus: überall Staub und Schutt. Holzlatten, Wassertröge, Kellen und Schaufeln lagen herum. Die Arbeiter hatten ein manngroßes Loch in die Wand gestemmt und rissen gerade den Holzboden auf. Die darunter liegenden Bohlen waren morsch, es stank erbärmlich nach brackigem Wasser. Kein Wunder, dass sich der Boden gesenkt hatte. Dem Zustand der Baustelle nach zu urteilen, würde das Chaos mindestens eine Woche andauern. Zu diesem Zeitpunkt hofften der Pater und ich noch, dass bis zur Sonntagsmesse das Gröbste erledigt sein würde. Doch es kam anders. Am Abend war plötzlich die Hölle los. Die Männer liefen wie aufgescheuchte Hühner durch die Kirche. Pater Dorn hetzte über die ausgebrochenen Mauerteile, um mit weißem Gesicht in das Loch zu starren. Bei den Ausbesserungsarbeiten unter der äußeren nördlichen Kirchenmauer waren die Arbeiter auf eine Gruft gestoßen. Ein Maurergeselle steckte bis zum Hals in der Spalte. Er rief nach einer Öllampe. Nachdem ich sie ihm gebracht hatte, rutschte er auf dem Hosenboden tiefer in das unterirdische Gewölbe, bis er verschwand. Danach sah ich nur noch das tanzende Lampenlicht unter der Bodenritze.

»Eine Gruft mit Gebeinen!«, brüllte er herauf.

Ich stand wie angewurzelt da und starrte auf den Riss im Boden. Pater Dorn drehte sich zu mir, den Zeigefinger über die Lippen gelegt. »Kein Wort darüber!«

Noch am selben Abend schickte Pater Dorn die Maurer zurück nach Haidenhof. Ich weiß nicht, was er vorhat, doch hoffe ich, es morgen zu erfahren.

 

6. Jänner: Vorläufig wurden die Restaurationsarbeiten eingestellt, da Pater Dorn Nachforschungen über den Zweck und das Ausmaß der Gruft anstellen möchte. Dabei sollte ich ihm helfen.

Nach dem Mittagessen begannen wir. Pater Dorn und ich trugen dicke Mäntel, festes Schuhwerk und waren mit Öllampen, Seilen und Spaten ausgerüstet. Ich folgte dem Pater in die Gruft. Mir war elend kalt, Atem stieg vor meinem Gesicht auf. Der Abstieg führte einige Meter über abschüssiges Geröll, doch dann stießen wir auf grob in den Stein gehauene Stufen. Schon bald erkannten wir, wo wir uns befanden: Eine geräumige Gruft schien sich wie ein Labyrinth unter dem gesamten Kirchberg auszudehnen. Die Kammern waren mit menschlichen Knochen gefüllt. Ohne die Details mit der Lampe auszuleuchten, folgte ich dem Pater. Er eilte von einem Raum zum nächsten, wobei er immer tiefer in den unterirdischen Steintunnel lief, bis dieser in einer Sackgasse endete. Enttäuscht stellte der Pater die Lampe zu Boden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was er sich von diesem unterirdischen Bauwerk erhofft hatte.

»Ich dachte, wir hätten den legendären Türkenschacht entdeckt.« Der Pater schlug mit der Faust auf das Gestein. Ich machte ihn auf ein rostiges Eisengitter aufmerksam, welches über unseren Köpfen mit zwei Scharnieren in die Felsdecke eingelassen war.

»Max, mach mal die Räuberleiter«, befahl er mir, und schon stieg er hoch, um den Riegel im Schloss zu lösen.

Nachdem das Gitter heruntergefallen war, kletterten wir an den in den Wänden befestigten Eisenhaken nach oben. In dem engen Schacht gelangten wir schon bald auf ein schmales Plateau. Licht fiel durch die winzigen Gucklöcher in der Marmorkuppel. Da wir uns dicht aneinander pressten, gelang es uns sogar, nach draußen zu sehen. Mir stockte der Atem. Wir befanden uns mitten auf dem Grainer Dorfplatz und konnten nach allen Richtungen blicken. Ich sah das Gasthaus, die Scheunen und den Weg zum Fluss. In unmittelbarer Nähe plätscherte Wasser, und da erst bemerkte ich, wo wir uns befanden: im Dorfbrunnen! Die Skulpturen der Marmorengel waren innen hohl. Ein Eisenscharnier verriet uns, dass es einen Weg nach draußen geben musste.

Pater Dorn kauerte sich auf den Boden. »Wir haben tatsächlich den Türkenschacht entdeckt.« Lächelnd erzählte er mir, was es mit dem Bauwerk auf sich hatte. Früher führte der unterirdische Geheimgang von der Kirche direkt zum Dorfplatz. Er wurde gewöhnlich bei räuberischen und kriegerischen Überfällen als Fluchtweg benutzt. Der im Dorfbrunnen verborgene Ausgang sollte besonders der Rettung kostbarer Kirchenschätze dienen. Bei der ersten Türkenbelagerung von Wien im Jahre 1529 verbargen sich die Dorfbewohner in dem Tunnel. Später wurde der Geheimgang um einige Räume erweitert und diente angeblich als Leichenhalle für die Opfer der Schwarzen Pest. Irgendwann wurde der Tunneleingang in der Kirche zugemauert, wonach der Schacht nur noch als Legende weiterlebte.

In der Grainer Kirchengeschichte finden sich weder Hinweise noch Aufzeichnungen über den Türkenschacht, dennoch haben wir ihn vor wenigen Stunden betreten!

 

7. Jänner: Heute inspizierten Pater Dorn und ich erneut den Türkenschacht. Während ich die Gebeine der Toten auf das Geheiß des Paters in Säcke verschnürte, damit er sie später in einem Massengrab beisetzen kann, kümmerte sich der Pater um eine bestimmte in den Berg gehauene Nische, die wir den »Werkraum» nannten. Von dort förderte er Zahnräder, Gestänge, rostige Metallfedern und ein altes Schreibpult zu Tage. Kurzerhand zersplitterte er die Lade mit einem Brecheisen, das die Maurer auf der Baustelle liegen gelassen hatten. Ich eilte rasch mit der Öllampe herbei, wurde aber enttäuscht. Ich hatte mir schaurige Aufzeichnungen erhofft, Tagebücher, Briefe oder ein geheimnisvolles Testament, doch die Lade enthielt lediglich ein brüchiges Buch, welches knapp nach der Jahrhundertwende verfasst worden war. Der Autor, ein gewisser Josef Hutzinger, hatte nur wenig Text, jedoch umso mehr Federzeichnungen zu Papier gebracht. Diese abstrusen Kritzeleien mussten um 1801 ziemlich merkwürdig angemutet haben, da sie selbst heute noch absonderlich wirken. Vielleicht schien sich Pater Dorn gerade deshalb dafür zu interessieren, denn er gab das Buch nicht mehr aus der Hand.

 

11. Jänner: Heute war wieder einmal Montag, mein freier Tag, doch diesmal wollte ich nicht auf den Zufahrtswegen zu Adalbert Schmals Gehöft Schnee schaufeln, obwohl mir der Landwirt dafür immer Geld gibt. Ich hatte auch nicht vor, seine Ställe auszumisten. Vielmehr beschäftigte mich die Frage: Wer war Josef Hutzinger?

Ich besuchte Ebus von Walbecks Tochter, die mir Zutritt zur Bibliothek ihres Vaters gewährte. Ich hatte schon viel von der Büchersammlung des Bürgermeisters gehört, mich jedoch nie sonderlich dafür interessiert. Diesmal war es anders. Ich wollte herausfinden, wer jener Hutzinger war, dessen Federzeichnungen Pater Dorn so faszinierten. Nach einem zweistündigen Studium der Bände in der nach Pfeifentabak miefenden Bücherstube wurde ich endlich fündig. Ich hatte meine Nachforschungen viel zu umständlich begonnen, dabei lag die Antwort so nahe! Es war kaum zu glauben, doch Hutzinger war ein ortsansässiger Historiker gewesen. Ich fand einen bemerkenswerten Eintrag im Grainer Taufbuch aus dem 18. Jahrhundert. Da Hutzinger während der Kriegsjahre um 1740 als Sohn einer gewissen Magda Hutzinger unehelich zur Welt gekommen und der Vater nicht benannt worden war, hatte der damalige Pfarrer ein lapidares Husarenkind in das Taufbuch eingetragen.

In den Grainer Annalen stand zu lesen, dass Josef Hutzinger 1761 nach Wien gegangen war, um an der von Maria Theresia errichteten Orientalischen Akademie fünf Jahre zu studieren. Dort wurden so genannte »fähige Jünglinge» für die Geschäfte mit der Ottomanischen Pforte ausgebildet, wie ich nachlesen konnte. Reisen in den Orient folgten, bis Hutzinger 1798 als alter Mann nach Grain zurückkehrte, um sich der Niederschrift seiner Erkenntnisse zu widmen. Leider war nichts darüber zu lesen, was er im Orient erlebt hatte.

Allerdings bot das Grainer Totenbuch einige interessante Details. Da die Geburtszeiten und das Alter der Verstorbenen nicht immer bekannt waren, fand ich von dem damaligen Pfarrer oftmals folgende Eintragungen in den Matrikeln: »Er ist beiläufig 70 Jahre alt«, oder »Er ist gegen 75 Jahre, so sagen die Kinder«. Über Josef Hutzinger stand folgendes zu lesen: »Er wurde 60 und etliche Jahr und hat weder Arzt noch Medizin gebraucht.« Da Josef Hutzinger bis zu seinem Lebensende allerdings ungetauft geblieben war, wurde er in einer Ecke des Friedhofs, im so genannten Unschuldigen Häuslein, begraben, wo auch heute noch die ungetauften Tot- und Fehlgeburten beigesetzt werden, da sie nicht in geweihter Erde bestattet werden dürfen. Ich kenne dieses Häuslein. Es ist ummauert und gedeckt, damit, wie man damals sagte, die Hexen und bösen Geister keine Gewalt über die toten Kinder bekommen konnten. Märchengarn!

 

17. Jänner: Ich bin schockiert, kann es immer noch nicht fassen. Pater Dorn ließ heute die Sonntagsmesse ausfallen! Der Pater schloss sich in seinem Studierzimmer ein, wo er keine Besucher duldete. Ich musste die Gläubigen vertrösten. Während wir unter dem Kirchenvordach standen, kam ein schreckliches Schneegestöber auf, dennoch gingen die letzten Wartenden erst zwei Stunden, nachdem die Messe hätte beginnen sollen, heim.

Bis lange in die Nacht brannte Licht in der Kammer des Paters. Er holte mich lediglich ein einziges Mal zu sich, da er um einen Krug Wasser bat. Ich sah, dass er an seinem Pult über Hutzingers Buch gebeugt saß und beim Schein der Öllampe merkwürdige Zeichnungen auf einen Papierbogen kritzelte. Danach ging ich in meinem Zimmer zu Bett.

 

18. Jänner: Pater Dorn empfing mich beim Frühstück mit den Worten: »Max, wir bauen eine Maschine!« Ohne weiteren Kommentar rieb er sich die Hände und marschierte in den Ort.

Obwohl es wiederum mein freier Tag war, verzichtete ich abermals darauf, Adalbert Schmal beim Ausmisten der Ställe zu helfen - stattdessen schlich ich mich in Pater Doms Studierzimmer. Bestimmt hielt er mich für einen einfältigen Burschen, unfähig, sich die eigenen Schlussfolgerungen zusammenzureimen. Doch da täuschte er sich. Mittlerweile wusste ich, wer Josef Hutzinger war, und dass er den Großteil seines Lebens im Orient verbracht hatte. Nun lag sein Buch vor mir, unauffällig klein, in weinrotes Leder gebunden. Der Titel lautete: Arghuls Maschinen. Ich öffnete es, blätterte die ersten knackenden Pergamentseiten um und begann zu lesen. Nach einer Stunde schlug ich das Buch bestürzt zu. Es enthielt auf weniger als einhundert Seiten nichts weiter als minutiöse Bauanleitungen für monströse Maschinen, deren Sinn ich nicht herausfinden konnte. Hutzingers Vorwort befasste sich mit dem Lebenslauf eines gewissen Ibn Ben Arghul, der um 750 n. Chr. in Damaskus gelebt hatte. Hutzinger widmete sein gesamtes Buch den Studien dieses Erfinders, von dem wohl die technischen Baupläne stammten. Unglaublich, dass so etwas vor über tausend Jahren im Orient existiert haben soll.

Hutzinger ließ sich über Ibn Ben Arghuls Tod nur kurz in seinem Nachwort aus. Im Alter von vierunddreißig Jahren wurde der arabische Erfinder geisteskrank und wollte sich zur Sühne für seine Werke selbst richten. Er baute seine letzte Maschine, die ihm bei lebendigem Leib die Eingeweide aus dem Körper riss.

Ich fuhr zusammen, als ich Pater Doms Stimme vor dem Kirchhof hörte. Rasch verließ icK seine Studierkammer und lief zu ihm in den Hof. Er hielt den Griff eines Leiterwagens in der Hand. »Schau nur!«, rief er erfreut und warf die Plane zurück. In dem Wagen befand sich alter, rostiger Krempel: Ketten, Fußpedale, Seilzüge, Handkurbeln, Zahnräder und metallene Federn. Das alles erinnerte mich an das Gerumpel, welches wir im Türkenschacht entdeckt hatten.

 

24. Jänner: Diesen Sonntag holte mich Pater Dorn eine halbe Stunde vor Messbeginn zu sich in die Studierkammer. Er hatte etliche Seiten aus Hutzingers Buch gerissen und die Blätter so zusammengesetzt, dass eine gigantische Skizze entstand. »Schau nur, Max!« Stolz präsentierte er mir den Bauplan, wie er sein Werk nannte. »Das ist der Schlüssel zur mächtigsten aller Apparaturen.« Die Lautlose Maschine stand zu oberst auf das Blatt gekritzelt. »Die Konstruktionsanleitung für den Bau dieser Maschine galt seit Ibn Ben Arghuls Tod als verschollen. Nach mehr als tausend Jahren hat sie der Autor dieses Buches in Konstantinopel aufgespürt. Die Blätter lagen in einer geheimen Kammer in der Hagia Sophia verborgen.« Pater Dorn grinste. »Max, du verstehst die Zusammenhänge natürlich nicht, doch wir werden diese Maschine bauen.« Ich verstand sehr wohl, und ich wusste, was der Bau der Maschine bedeutete. Während Pater Dorn fasziniert auf mich einredete, hörte ich das Gemurmel der Gläubigen aus der Kirche, die - es war bereits sechs Uhr abends - auf den Pater und seine Messe warteten.

»Schau nicht ständig zur Tür!«, fuhr mich Pater Dorn an. »Hier!« Er pochte auf die Blätter. »Hier liegt der wahre Glaube verborgen.«

Er packte mich am Kragen. »Du wirst die Wahrheit noch verstehen lernen, Max - später, viel später, wenn du das Buch mehrere Male gelesen hast. Glaube mir. Falls stimmt, was hier steht - und davon bin ich überzeugt - beschwört die Maschine eine Wahrheit kosmischen Ausmaßes. Es ist der endgültige Beweis, dass Gott existiert. Max, verstehst du? Gott ist nicht in dem Raum, wie wir ihn kennen, sondern dazwischen. Die Maschine funktioniert wie eine Brücke, sie schafft eine Verbindung, öffnet ein Tor zu anderen Sphären. Sie verwandelt Ungläubige in Sehende. Durch sie werden wir geläutert!«

Wirres Gerede! Unwillkürlich musste ich daran denken, wie sich Ibn Ben Arghul selbst umgebracht hatte. Bestimmt spürte Pater Dorn meine Bedenken, denn plötzlich verstummte er und sah mich mit funkelnden Augen an. »Du zweifelst doch nicht etwa an meinen Worten?« Ich schüttelte den Kopf.

»Es ist ein gefährlicher Weg, für den wir uns entscheiden, doch er wird sich lohnen. Wir sind Pioniere, am Ziel wartet die Erleuchtung auf uns.« Er packte mich fester. »Kann ich mich auf deine Hilfe verlassen?«

Ich wollte den Kopf schütteln, doch schließlich brachte ich ein krächzendes Ja hervor. Welche Wahl hatte ich? Ich konnte Messdiener bleiben oder Stalljunge werden. Oh, wie ich mich für meine Schwäche hasse!

 

25. Jänner: Wie ich eben von der Tochter des Bürgermeisters erfuhr, hat Pater Dorn gestern den Grainer Schmied gebeten, weitere Teile für ihn anzufertigen. Die Zahnräder, Platten, Bolzen und Federn seien für die Restauration des Chorbogens und des Holzbodens gedacht, wie Pater Dorn dem Schmied weismachte. Er stellte seine Zeichnungen mehreren Handwerkern zur Verfügung und blieb ihnen natürlich das Geld für den Auftrag schuldig. Unglaublich, wie der Pater die Ortsbewohner an der Nase herumführt!

 

26. Jänner: Heute tobte der Winter strenger denn je, und trotzdem reisten Pater Dorn und ich mit Adalbert Schmals Eselgespann nach St. Gyden im Dekanat Kempen. Während der Fahrt erfuhr ich, dass der Pater letzte Woche einige Briefe geschrieben hatte. So wurden wir in St. Gyden bereits von einem Maschinenschlosser empfangen, der uns die notwendigen Teile für das Triebwerk aushändigte, jenen Kernmechanismus, ohne den die Maschine nicht funktionieren würde, wir mir der Pater erklärte. Schwer beladen traten wir während des Sturms die lange Rückfahrt nach Grain an.

 

27. Jänner: Im Kirchhof stapeln sich bereits Dutzende Metallteile unter einer Plane, welche Pater Dorns eigenartige Errungenschaften vor dem Schnee und den Blicken Neugieriger schützen sollen. Heute begann er mit dem Zusammenbau der ersten Teile. Ich hörte ihn bis zum Abend hämmern, feilen und sägen.

 

28. Jänner: Der Pater schickte mich mehrere Male in den Ort, um Nägel, Zwingen, Winkeleisen und sonderbar aussehende Werkzeuge zu besorgen, von denen ich gar nicht wusste, dass sie existierten.

 

29. Jänner: Pater Dorn trug mir auf, das Gewölbe und den Türkenschacht von allem unnötigen Gerumpel zu säubern. Der Tag der Wahrheit naht, wie er sagte. Den gesamten Vormittag schleppte ich Dutzende Säcke mit Müll in den Pfarrhof, die ich nebeneinander an die Mauer stapelte. Nach einem kargen Mittagessen hievten wir die ersten Teile der Maschine durch den Bodenriss in das Gewölbe, wo Pater Dorn die Stücke zusammenmontierte.

»Es geht voran.« Der Pater rieb sich die Hände. Er arbeitete wie ein Besessener, studierte zwischendurch immer wieder die Anleitung und überprüfte jeden Handgriff mehrere Male, bis er damit zufrieden war. Langsam wurde mir die Dimension der Maschine bewusst. Das Monstrum besaß eine abnorme Geometrie. Gleichgültig von welcher Ecke des Gewölbes man es betrachtete, ständig hatte man das Gefühl, alle Seiten und Nischen einzusehen, als präsentiere sich die Apparatur immerfort in ihrer gesamten schrecklichen Komplexität.

Immer wieder schleppte ich Teile heran, bis ich Stunden später mit blutenden Händen auf der Steintreppe zusammenbrach.

»Max, weiter!«, herrschte mich Pater Dorn an. Ich atmete flach, ohne mich zu bewegen. »Übermorgen ist Sonntag«, keuchte ich. »Wir sollten uns auf die Heilige Messe vorbereiten.«

»Was glaubst du, was wir hier tun?« Er zerrte mich auf die Beine. »Wir sind auf dem besten Weg, die Heilige Messe in ihrer reinsten Form zu zelebrieren! Du zweifelst doch nicht daran?« Er schüttelte mich. »Möchtest du dich ein Leben lang in dem Gefühl der Unwissenheit wiegen, nie sehen und nie richtig begreifen? Oder möchtest du stattdessen die endgültige Wahrheit erfahren?«

»Ibn Ben Arghul ist darüber wahnsinnig geworden!«, entführ es mir.

Da ließ mich der Pater los. Sein Gesicht wurde länger, mit kalten Augen starrte er mich an. »Oh, ich verstehe«, flüsterte er. »Du hast hinter meinem Rücken spioniert und hältst dich für schlau. Du denkst, ich weiß nicht, worauf ich mich einlasse. Oh, du irrst.« Er lächelte. »Ich werde die Wahrheit erkennen.«

»Selbst wenn das im Wahnsinn endet?«, fuhr ich ihn an. Er holte aus und schlug mir ins Gesicht. »Ibn Ben Arghul war schwach, sein Geist auf Irrwegen. Ein Araber, ein Anhänger Mohammeds«, spie der Pater verächtlich aus. »Er hatte eine göttliche Vision, der Bauplan einer überirdischen Maschine offenbarte sich ihm, doch er wusste nicht, sie zu nutzen.«

Pater Dorn schritt mit ausgebreiteten Armen in die Mitte des Gewölbes. »Josef Hutzinger trug Arghuls Baupläne zusammen, schrieb sie in ein Buch, das durch eine glückliche Fügung hier in Grain landete … wo ich es fand! Wir wurden von Gott auserwählt. Es ist unsere Bestimmung, das zu Ende zu führen, woran Ibn Ben Arghul und alle, die ihm folgten, gescheitert sind. Gott ist auf unserer Seite, denn wir gehören der Gemeinschaft Christi an.«

»Doch wenn wir uns irren?« Tränen liefen mir über die Wangen.

Pater Dorn kniete sich vor mir nieder und flehte mich an. »Wir haben eine Mission zu erfüllen, Gott wird uns schützen!«

Ich wusste nicht mehr, woran ich glauben sollte. Seit der Pater in Hutzingers Buch gelesen hatte, war er von diesem Gedanken besessen. Aber er wusste nicht, worauf er sich mit dem Bau des Geräts einließ. Wie konnte er glauben, die Maschine unter Kontrolle halten zu können? Er konnte unmöglich voraussehen, wie dieser Wahnsinn enden würde. Und dann war es endlich heraus, es kam wie ein Frevel über seine Lippen.

»Mit dieser Maschine werde ich die Dorfbewohner Demut lehren.« Er gab mir zu trinken, wusch mir das Blut von den Händen und schickte mich nach oben, um weitere Teile zu holen. Danach arbeiteten wir ohne Unterbrechung bis in die Nacht.

 

31. Jänner: Heute war bereits der dritte Sonntag, an dem die Messe ausfiel. Doch diesmal war alles anders. Ich musste keine Gläubigen vertrösten, schon gar nicht mit knappen Worten abwimmeln, denn mittlerweile kam niemand mehr den Kirchberg herauf. Aber noch aus einem anderen Grund war es der bisher schrecklichste Tag in meinem Leben. Ich wurde Zeuge einer furchtbaren Entwicklung. Pater Dorn befahl mich abends zu sich in das Gewölbe. Das unterirdische Labyrinth wurde von der Maschine in ihrer gesamten Hässlichkeit eingenommen. In den wenigen freien Ecken standen Holzkisten, auf welchen sich Käfige befanden. Ratten und Mäuse quiekten in den Gefängnissen, und unter einem Glassturz glaubte ich sogar Fliegen zu erkennen, die summend gegen das Gefäß prallten. Pater Dorn bemerkte meinen skeptischen Blick. »Daran werden wir erkennen, ob es funktioniert.« Er setzte einen Hebel in Bewegung. Die Zahnräder griffen ineinander, Spulen wickelten sich auf, Ketten rasselten und windradähnliche Segel begannen sich zu entfalten. Plötzlich war die gesamte Maschine in Bewegung. Der Pater sprang zu zwei Handkurbeln, deren Griffe er schneller und immer schneller drehte. »Max! Die Pumpe, rasch!«

Ich lief zu dem mit Leder bespannten Blasebalg und betätigte das Pedal. Riesenhafte Teile der Maschine begannen sich zu verschieben, Mühlsteine rieben aneinander, schwirrten über meinen Kopf hinweg, liefen auf Rollen aneinander vorbei, trafen erneut aufeinander und produzierten dabei ein grässliches Geräusch. Zu dem Wetzen mischten sich neue, hässliche Klagetöne von reibenden Metallplatten und einem dumpf pochenden Hammer. Der Mechanismus stieß immer entsetzlichere Laute aus, die wie der Flügelschlag missgestalteter Insekten klangen - Laute, die kein Mensch hätte ausstoßen können - und plötzlich erkannte ich den perfiden Plan. Es entstand ein Rhythmus mit wiederkehrenden Klängen. »Rascher!«, forderte Pater Dorn.

Bald konnte ich die einzelnen Töne nicht mehr voneinander unterscheiden. Ein Dröhnen umgab mich, doch Minuten später schienen sich die Töne wie von Zauberhand gegenseitig aufzuheben, zu neutralisieren, denn das Getöse wurde immer leiser, bis es schließlich völlig abgeklungen war und eine beunruhigende Stille hinterließ. Die Maschine aber war voll im Gang, ohne dass es dazu noch einer Handkurbel oder eines Fußpedals bedurfte. Auch wenn ich nichts mehr hörte, so ahnte ich doch, dass die unheimlichen Geräusche weiterhin produziert wurden, denn ich spürte meinen Hosenstoff flattern. Ich fühlte den Druck im Magen, der sich immer heftiger verkrampfte. Diese lautlosen Töne, die rund um uns existierten, ließen meine Ohren schmerzen, meinen Gaumen austrocknen und brachten meinen Puls zum Rasen. Doch nicht nur das - Schrecklicheres passierte: Die Fliegen krochen benommen über den Boden der Holzkiste und verloren ihre Beine und Flügel. Die Ratten verendeten. Ihre Augäpfel drehten sich in den Höhlen. Sie rissen die Mäuler auf, als rängen sie nach Luft, doch gaben sie keinen einzigen Ton von sich.

Aufhören!, wollte ich schreien, aber auch ich brachte keinen Laut hervor, als stünde ich in einem schallgedämpften Raum, der alle Geräusche schluckte.

Mein Darm rumorte, Harn und Kot ergossen sich in meine Hose. Ich konnte nichts dagegen tun, wollte schreien, ballte die Hände zu Fäusten und merkte, dass mir Blut aus der Nase und den Ohren lief.

Hilflos, mit schlotterndem Körper, sah ich zu, wie sich das Gestein des Bodens in Wellen ablöste und schließlich verschwand. Unter der Maschine öffnete sich ein schwarzer Abgrund, über dem alles zu schweben schien. Das Loch verformte sich ständig, als lebe und pulsiere es. Welch gigantischer Hohlraum mochte sich darunter verbergen? Tränen schossen mir in die Augen, doch sie waren nicht der Grund, weshalb ich die Szene, die sich mir bot, nicht klar wahrnehmen konnte. Die Luft über der Öffnung begann zu flimmern, die Bilder verschoben sich ineinander. Da rumorte es in der Tiefe und ein Wesen schnellte daraus hervor, welches ich nicht genau erkennen konnte. Die unbeschreibliche Kreatur schnappte nach Pater Dorn. In alle Richtungen schnalzende Schatten rissen ihm die Kleider vom Leib und drangen blitzschnell in sämtliche seiner Körperöffnungen. Des Paters Gesicht verschwamm zu einem unkenntlichen Gebilde. Er riss den Mund auf und schrie, doch ich hörte keinen Ton. Im nächsten Augenblick glaubte ich sein erigiertes Glied monströs von seinem Körper abstehen zu sehen. Je tiefer sich die dunklen Schatten in seinen Körper bohrten, desto heftiger begann sein Glied zu zucken. Dann ging es Schlag auf Schlag: Die Fangarme aus der Tiefe zogen sich um die Handgelenke des Paters, seine Finger ballten sich zu Fäusten, er verdrehte die Augen zu einem grässlichen Weiß, als verspüre er ekstatische Lust, und Flüssigkeit ergoss sich aus seinem Glied in ein ovales, schwarzes Maul, das aus der Tiefe raste und unter ihm aufklaffte. Plötzlich schnellten die Greifarme zurück - und da begriff ich: Die Vergewaltigung war vorüber, dieses unbeschreibliche Etwas hatte bekommen, wonach es verlangt hatte.

Während Pater Dorn erschöpft zu Boden fiel, quollen Lippen aus dem ovalen Maul, die sich zu einer überdimensionalen Vagina formten. Eruptionen zuckten durch den Körper des unheiligen Gebildes, das nicht in diese Welt gehörte. Die unvorstellbaren Wehen dehnten sich im Raum aus, raubten mir den Atem und pressten meinen Brustkorb zusammen. Fleisch warf sich über Fleisch, aus der überdimensionierten, ekligen, nässenden Gebärmutter schlüpfte ein noch schrecklicher anzusehendes, verwachsenes Jungtier. Die Kreatur wurde regelrecht ausgeworfen, sie schlug um sich, riss das kleine Maul auf und gab Töne von sich, die Glas splittern ließen. Längst waren alle Fliegen und Ratten verendet. Erst bei diesen Geräuschen kam ich wieder zu Atem und bemerkte, dass die Maschine still stand und das Loch im Boden verschwunden war. Pater Dorn wälzte sich keuchend in einer Lache, schloss das glitschige Wesen in die Arme und drückte es liebevoll an seinen Körper. Zweifellos hatte der Wahnsinn nach ihm gegriffen.

Ich hingegen habe den Verstand behalten, obwohl ich Zeuge dieser entstellten Geburt geworden war.

 

11. Februar: Es ist entsetzlich. Seit dem unheiligen Geschlechtsakt ist Pater Dorn vollends verrückt geworden. Seine verzweifelte Suche nach Gott hat im Wahnsinn geendet …

 

Körner schlug das Buch zu, da er den folgenden Teil bereits in Marias Wohnung gelesen hatte. Damit kannte er die vollständige unglaubliche Geschichte des Messdieners, der nach dem Kirchenbrand vom Juni 1864 durch das Fenster seiner Kammer geklettert war, um nach Wien zu flüchten. Nur Gott wusste, was aus ihm geworden war, ob er die Nacht des 21. Juni überlebt, oder ob ihn die Dorfmeute erwischt und ebenso gelyncht hatte, wie zuvor Pater Dorn.

Körner, der noch immer an der Apparatur lehnte, zog sich an einer Stange hoch, die krachend unter dem Druck nachgab, sodass er zu Boden stolperte. Ungläubig hielt er die abgerissene rostige Metallstrebe in der Hand. Mit einem Mal bekam er einen unendlichen Hass auf die Maschine, dieses Machwerk dunkler Dämonen, die einen Weg gefunden hatten, die Menschen des Ortes zu unterjochen. Mit enormer Wucht holte er aus und schlug auf die Maschine ein. Bei jedem Schlag prellte der Griff der Eisenstange in seinen Händen. Der Wutausbruch tat gut. Körner hämmerte auf das Getriebe ein, bis seine Hände zu bluten begannen und sich die Stange schmerzhaft in sein Fleisch grub. Mit jedem weiteren Schlag verzog sich die Konstruktion. Er zertrümmerte die Zahnräder, hieb die Seile durch, brachte die Gewichte zum Absturz, riss die Pedale aus den Aufhängungen, verbog die Hebel und zerfetzte die Segel, welche wie Schwingen in den Raum ragten. Diese Konstruktion sollte dafür büßen, was die Ortsbewohner Maria und seinen Eltern angetan hatten. Hätte es die Maschine nie gegeben, wären Martin Goisser, die Krajnikgeschwister und vermutlich zahlreiche andere Kinder des Ortes noch am Leben.

Bald ragten nur noch zerbrochene Stangen wie Zahnstocher aus dem Mechanismus, an deren Enden zerfetzte Lederreste hingen. Die gesamte Maschine glich einer Ruine, die, von der Taschenlampe schwach beleuchtet, in der Dunkelheit kauerte. Das Donnern und Knirschen hallte in Körners Ohren nach, als er keuchend auf die Knie fiel und sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Mit etwas Glück war Hutzingers Buch mit Arghuls grässlichen Bauplänen bei dem Kirchenbrand vernichtet worden. Nun war auch die Maschine zerstört. Blieben nur die Kreaturen hinter den Wänden, die es zu vernichten galt. Körner starrte auf das Funkgerät. Auch darum würde er sich kümmern.

Eigentlich hätte das Gezücht schon vor hundertvierzig Jahren sterben sollen. Doch irgendetwas hatte nicht so geklappt, wie es der Messdiener in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Das Wesen war nicht gestorben, es hatte die Angriffe auf die Kirche überlebt … oder jemand hatte es erweckt … jemand, oder ein bestimmtes Ereignis, dachte Körner. Womöglich hatte die Erweckung etwas mit dem Grubenunglück im Bergwerk zu tun.

Weshalb sonst sollte sich Martin Goisser mit der Katastrophe von 1937 so intensiv auseinander gesetzt haben? An dieser Vermutung mochte einiges dran sein. Immerhin reichten die Gänge von diesem Gewölbe bis in die Bergwerksschächte. Hatte die Feuchtigkeit das Wesen zu neuem Leben erweckt oder die drei verunglückten Grubenkumpel, deren Leichen nie geborgen wurden? Doch darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen.

Körner erhob sich. Er musste schleunigst einen Weg aus dem Gewölbe finden, bevor das Licht der Taschenlampe gänzlich erlosch und er in der Dunkelheit heillos verloren war. Zweifelsohne befand er sich im Türkenschacht unter der Kirche. Irgendwo musste ein Aufgang mit Fallgitter direkt in den Dorfbrunnen führen. Mit etwas Glück würde er das Scharnier aufbrechen und nach draußen klettern können.

Als er hinter seinem Rücken ein Geräusch hörte, hielt er in der Bewegung inne. Es klang wie das Schlurfen von Schuhen. Kieselsteine scharrten über den Boden, jemand kam näher. Körner fuhr herum. Hastig leuchtete er mit der Lampe alle Winkel des Gewölbes aus, doch nichts war zu sehen. Das Geräusch schleppender Schritte kam aus einer der Nischen, welche sich hinter dem schmalen Torbogen befand. Körner ging darauf zu, die Taschenlampe wie eine Waffe geradeaus gerichtet. Als er erkannte, wessen Silhouette sich aus der Finsternis schälte, traute er seinen Augen nicht.

Vor ihm stand Jana Sabriski.

 

31. Kapitel

 

Fassungslos starrte Körner auf seine Kollegin. Sabriski trug die Jeans und den Pullover vom Vortag, als sie sich in Marias Wohnung in Heidenhof vor den Dorfbewohnern versteckt hatten. Dort hatte Körner mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Handgelenke mit Lederriemen an das Eisengestell gefesselt worden waren, wie sie trotz zwölf Milligramm Valium von drei Männern niedergehalten werden musste, als ihr das Ding in die Wirbelsäule fuhr. Sie musste genauso tot sein wie Sabine Krajnik und ihre beiden älteren Geschwister, mit hohem Blutverlust und einem faustgroßen Loch im Rücken.

Dennoch ging Jana Sabriski auf ihn zu. Ihre Haare standen in alle Richtungen, ihre Gesichtshaut hatte eine fahle, totenähnliche Färbung angenommen.

Als ihr Körner mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, zuckte sie für einen Moment zurück. Katzengleich veränderten sich ihre Pupillen. In dieser Sekunde erinnerte ihr Blick ihn an den von Waltraud Stoißer, als sie mit dem Bürgermeister und Doktor Weber in der Nacht vor der Gaslight Bar auf ihn gewartet hatte. Die gleichen starren Augen, der gleiche leblose kalte Ausdruck, mit dem sie auf den Schein der Taschenlampe reagierte.

Körner machte einen Schritt zurück, stolperte über den dicken, knorrigen Baumstamm auf dem Boden. Er fing sich, doch Sabriski war schneller als er. Plötzlich stand sie vor ihm. Sie lächelte schmal. »Gar keine Wiedersehensfreude?«

»Ich habe dich sterben sehen«, flüsterte Körner.

»Wie ich sehe, hast du die Maschine zerstört.« Sie blickte über seine Schulter hinweg. »Du warst nicht gerade leise. Wir haben den Lärm gehört und wussten sofort, das konntest nur du sein.«

Wir? Körner ballte die Hand zur Faust, schlagbereit. Dieses Wesen vor ihm war unmöglich Jana. »Du wurdest ermordet. Du bist tot!«

»Wir sterben nicht. Wir werden verwandelt.«

Wenn Sabriski ihn hier unten finden konnte, dann konnten es jene anderen auch, die sie in das Gewölbe geschickt hatten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihnen in die Falle ging. Oder war das bereits geschehen? Jedenfalls gab es diesen Weg zum Dorfbrunnen noch immer, denn Sabriski sah nicht so aus, als sei sie ihm durch den Wurzeltunnel gefolgt, durch den er stundenlang gekrochen war.

»Sabine Krajnik wurde nicht verwandelt - sondern ermordet!« Körner rief sich den Autopsiebericht in Erinnerung. »Ihre Wirbelsäule wurde von innen zerschmettert. Ein Liter Blut schoss aus ihrem zerfetzten Markkanal. Du hast das Resultat selbst gesehen, an Sabine, Carina und Mathias Krajnik - oder erinnerst du dich nicht mehr daran?«

Sabriski neigte den Kopf. »Das waren Unfälle«, erwiderte sie kalt. »Die Kinder litten unter Knochenmarkkrebs. Die Tumorzellen waren durch ihre gesamten Körper gestreut - die Metastasen sind Gift für das Serum.«

»Welches Serum?«

»Das Wesen lebt von unserem Knochenmark und unserer Gehirnflüssigkeit. Anfangs zapft es bloß ein bis zwei Milliliter Liquor ab, später auch zehn Milliliter, je nachdem wie schnell es wächst und wie hungrig es ist. Nach dem ersten Kontakt hast du fünf Stunden lang brutale Kopfschmerzen, du glaubst, es sprengt dir den Schädel.« Sabriski massierte sich die Schläfen. »Als Gegenleistung spritzt es dir ein halluzinogenes Serum in den Körper, eine Kochsalzlösung mit einer schwefelhaltigen Aminosäure, ähnlich wie Fluimucil.«

»Der Schwefelgestank!«, erinnerte sich Körner. »Woher weißt du das alles?«

»Ich bin Ärztin.«

»Blödsinn! Weber hat mit dir gesprochen!«

»Vielleicht!« Unbeirrt fuhr sie fort: »Der Prozess ist faszinierend, er fördert die Bildung einer hochdosierten Glutaminsäure. Das ist Gehirnnahrung für das Zentralnervensystem.« Sie tippte sich an die Stirn. »In Wahrheit ist das Serum aber noch um vieles komplexer, als du je verstehen würdest. Es ist einmalig, es ruft phantastische Visionen von Städten und Landschaften unter der Erde hervor, aus jenen Bereichen, wo das Wesen haust.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Willst du sie nicht sehen?«

Körner wich einen Schritt zurück. »Ich kenne diese Visionen. Es sind kranke Städte und verrückte Landschaften. Genauso krank und verrückt wie die Dorfbewohner. Diese Mörder! Was haben sie aus dir gemacht?«

Sabriski lächelte. Im schwächer werdenden Schein der Lampe machten die Schatten aus ihrem Gesicht eine Fratze. »Sie sind keine Mörder. Sie hatten keine Alternative, sie wurden auserwählt. In Grein hat es schon einmal begonnen: 1864. Doch hörte es wieder auf. Die Bevölkerung war noch nicht reif für dieses Geschenk, verstand es nicht, die Leute fürchteten sich davor. Niemand weiß, warum es vor fast siebzig Jahren von neuem begann, intensiver, umfassender, gewaltiger - und diesmal war das Wesen unaufhaltsam. Es holte sich die Energie, die es brauchte und wuchs zu einem enormen Ausmaß.«

»Wie kann es einmal in Grein, dann wieder in Heidenhof zuschlagen?«

Sabriski sah Körner mitleidig an. »Alex, es taucht nicht einmal da und dann wieder dort auf. Es wandert nicht, es existiert überall gleichzeitig! Es grub sich tief ins Erdreich, wo es sich ausdehnte und wie ein gigantischer Parasit verzweigte. Es ist überall unter uns. Wir alle sehen es als göttliche Fügung.«

»Wir alle …«, spottete Körner. »Jana, nur eine Hand voll Leute ist dafür verantwortlich! Weißmann gab zu, dass der Mord an der jüngsten Krajniktochter im Morgengrauen in der Bar bloß unter dem Beisein einiger Ortsbewohner vollzogen wurde.«

Sabriski schüttelte den Kopf. »Seit den späten dreißiger Jahren haben die Fangarme des Wesens ihren Weg in alle Häuser gefunden, mit Tentakeln und Stacheln, wie ein gigantischer Seeigel.«

»Es können nicht alle Bewohner darin verstrickt sein, es muss noch andere geben, die …«

»Seit gestern kenne ich die Wahrheit. Es gibt keine anderen, Alex. Es sind einfach alle! Nicht nur Grein, auch Heidenhof ist Teil dieser Welt. Die Einpflanzung wird am vierzehnten Geburtstag vollzogen. Mehrere hundert Menschen hängen über Bänke und Sitzecken an dem Wesen … sie alle sind Teil davon.«

Körner hörte ein Rascheln hinter seinem Rücken, doch war er von Sabriskis Worten zu schockiert, um den Blick von ihr zu nehmen. »Du stehst hinter einer Mörderbande!«

»Alex, versuch, die andere Seite zu sehen. Die Dorfbewohner löschen Leben aus, um ein Geheimnis zu hüten - um ein noch größeres Leben zu bewahren. Es sind selbstlose Taten, die Menschen töten nicht für sich selbst, sondern für ein mächtiges Geschöpf. Sie sind ihm loyal ergeben, es ist eine unfassbar große Dankbarkeit, die auch ich kennen lernte. Sie glauben an das Wesen, es offenbart ihnen eine neue Sichtweise der Dinge. Deine Eltern und deine Exfrau kannten diese Wahrheit. Alex, das ist deine letzte Chance. Lerne auch du diese Seite kennen!«

Die Taschenlampe flackerte, danach setzte ihr Strahl für einen Moment aus. Wieder hörte Körner das Rascheln hinter seinem Rücken.

»Auf diese Perspektive kann ich gern verzichten.« Körner dachte an die toten Kinder und den wahnsinnig gewordenen Dorfpfarrer aus dem Tagebuch.

Körner schüttelte die ersterbende Taschenlampe. Er hörte die Batterien im Lampengriff klappern, aber sie waren endgültig aufgebraucht. Vollkommene Schwärze umgab ihn. Er ließ das nutzlos gewordene Gerät fallen.

»Ich freue mich für dich, Alex«, hörte er Sabriskis Summe aus der Dunkelheit.

Als habe sie ein Kommando gesprochen, begann sich der Boden hinter Körner zu bewegen. Er wollte einen Schritt zur Seite machen, als er Sabriskis Hand auf seinem Mantelkragen spürte. Sie hielt ihn fest. Zur gleichen Zeit kroch ein klebriges Wesen an Körners Bein empor. Rasch zog es sich bis zu seinem Knie, umklammerte mit einer blitzartigen Bewegung seinen Oberschenkel und schob sich daran hoch.

Da begannen sämtliche Albträume, die bisher in seinem Kopf gespukt hatten, real zu werden. Das Zischeln und Krauchen in der Dunkelheit um ihn herum nahm zu, als schossen mehrere Fangarme über den Boden. Körner versuchte, mit der Hand nach dem Tentakel zu schlagen, der sich um sein Bein gewunden hatte, verfehlte ihn aber.

»Alex, wehre dich nicht dagegen«, flüsterte Sabriski direkt vor seinem Gesicht. »Es geht rasch vom…«

Körner schlug ihr mit dem Handballen an die Schläfe. Sie verstummte, gleichzeitig löste sich ihr Griff von seinem Mantelkragen. Ohne erst einen Schritt zurückzustolpern sackte ihr Körper auf den Boden. Danach blieb nur noch das Kriechgeräusch der Fangarme.

Ein zweiter Tentakel schlängelte sich an Körners Bein empor. Rasch ließ er sich zu Boden fallen und kroch auf allen Vieren in die Richtung, wo er Sabriski vermutete. Er tastete über den Steinboden, bekam ihre Schuhe zu fassen und arbeitete sich eilig an ihren Jeans bis zum Gürtel hoch. Es gab nur eine Möglichkeit, den Ausläufern des Gezüchts zu entkommen. Körner erinnerte sich an einen Satz aus dem Tagebuch: Fürchtete das Gezücht etwa das Feuer«? Womöglich hasste es das Feuer nach über hundert Jahren noch immer, vielleicht noch mehr als er selbst. Immerhin war Körner das Feuer eine Hilfe gewesen, als er seine Handfesseln in der Kerzenflamme gelöst hatte. Mit etwas Glück könnte ihm das Feuer ein weiteres Mal das Leben retten.

Mit hektischen Fingern durchsuchte er Sabriskis Hosentaschen nach dem silbernen Benzinfeuerzeug, welches sie noch vor zwei Tagen bei sich getragen hatte. Er spürte ein kaltes Metall in ihrer Tasche. Während die Schlangenarme zwischen Gürtel und Pullover in Körners Hose zu kriechen begannen, drehte er das Feuerzeug in den Fingern, darauf bedacht, jede hektische Bewegung zu vermeiden. Mit schweißnassen Händen versuchte er den Deckel des Zippos zu öffnen. Jetzt spürte er das kalte Ende eines Fangarms direkt auf seiner Haut. Wie ein riesiger Wurm schob das Ding Pullover und Hemd zur Seite und öffnete ein kleines, saugnapfähnliches Maul, welches tastend über seinen Rücken wanderte. Instinktiv beugte Körner den Rücken so weit zurück, dass seine Haut im Lendenbereich Falten schlug. Dann hielt er das Feuerzeug in der richtigen Position, bekam den Deckel auf und legte den Daumen auf das Zündrad. Gleich beim ersten Versuch schnellte eine Flamme in die Höhe.

Wie eine Peitsche schoss das Wesen aus seinem Pullover und suchte mit einem schnalzenden Geräusch das Weite. Im gleichen Augenblick lockerte sich der Griff um sein Bein. Körner hielt das brennende Zippo empor. Schattenhafte Tentakel wanden sich in dem Gewölbe, auf dem Boden, an den Wänden und an der Decke. Kaum zu glauben, dass dies alles Teil eines einzigen Wesens sein sollte. Er konnte nicht erkennen, wo sich das Zentrum des Körpers befand. Er schwenkte die Hand mit dem Zippo um seinen Kopf. Der Luftzug brachte die Flamme zum Flackern. In ihrem Schein flohen die Gliedmaßen in die Nischen und dunklen Gänge zurück. Das Getier stieß einen ekelhaften Schwefeldunst aus, ein Geruch wie von Moder und faulen Eiern. Nebelhafte Schwaden bildeten sich über dem Boden. Körner konnte nichts Genaues erkennen, sondern hörte bloß das ekelhafte Zischeln, welches ihm Schmerzen hinter der Stirn verursachte.

Sein nächster Blick galt Jana Sabriski. Sie lag reglos, mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Auf ihrer Schläfe, wo Körner sie erwischt hatte, zeichnete sich eine rote Prellung ab. Er tastete nach ihrer Halsschlagader. Ihr Puls war schwach. Körner fürchtete, dass Sabriski jeden Moment die Augen aufreißen und nach ihm greifen würde, doch nichts passierte. Sie blieb bewusstlos auf dem Boden liegen. Als er seine Hand von dem Rollkragen ihres Pullovers nehmen wollte, spürte er das Lederband an ihrem Hals. Er zog es unter dem Pullover hervor: ihr Talisman.

Im Flackern des Benzinfeuerzeugs betrachtete er das verformte Bleigeschoss, das die Brust eines Mannes durchschlagen hatte und im Rückgrat stecken geblieben war. Als ihm der Glücksbringer vor zwei Tagen spielerisch durch die Finger geglitten war, hatten sie zuvor miteinander geschlafen gehabt. Die Sabriski, die jetzt vor ihm lag, hatte nichts mit jener gemeinsam, mit der er gestern Vormittag aus dem Ort fliehen wollte. Er musste sie hier lassen, denn allein konnte er sie unmöglich aus diesem Gewölbe schaffen. Körner betrachtete ihr fahles Gesicht. Diesmal hatte ihr der Talisman kein Glück gebracht. Er legte sich das Lederband um den Hals, die Kugel baumelte vor seiner Brust. Es war das Einzige, das er als Erinnerung an Sabriski mitnehmen konnte. Körner ließ die nutzlose Stabtaschenlampe und das Tagebuch des Messdieners zurück. Mit dem Funkgerät in der Manteltasche und dem Zippo in der Hand ging er in jene Richtung, aus der Sabriski gekommen war. Er musste den Weg zum Dorfbrunnen finden.

Die Flamme vor dem Luftzug abschirmend, schritt er unter dem Torbogen hindurch in die Nische. Ein schmaler Gang folgte, dessen Perspektiven merkwürdig verschoben waren, als krümme sich der Raum. Mittlerweile war es ein vertrautes Gefühl für Körner geworden, doch glaubte er nicht mehr an eine Halluzination auf Grund des Wassermangels. Das Getier wollte ihn verrückt machen, es spielte mit seiner Wahrnehmung. Körner meinte zu taumeln, wankte durch den Korridor, hörte, wie ihn die unendlich langen Fangarme verfolgten. Etwas kroch vor seinen Füßen, krümmte sich geräuschvoll an der Decke und schob sich über die Wände. Er wagte nicht, nach oben zu blicken, aus Furcht, etwas Fremdes könnte ihm ins Gesicht fahren.

Die Zippoflamme flackerte vor seinen Augen. Der Benzingeruch schwächte den Schwefelgestank ab. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Wie lange würde das Zippo brennen? Körner eilte dem Ende des Gangs entgegen, wo der Weg plötzlich in zwei kreisrunde Offnungen mündete. Durch welche war Sabriski in das Gewölbe gekommen? Hinter seinem Rücken zischelte es. Ohne lange zu überlegen entschied sich Körner für die linke Abzweigung, stieg in das Loch und gelangte in einen Tunnel, der viel größer als jener war, den er zuvor durchkrochen hatte. Es roch nach feuchter Erde und moderigem Holz. Weit und breit war auch hier kein Lichtschimmer zu sehen. Doch falls es sich um jenen Gang handelte, durch den der Messdiener vor über hundert Jahren mit Pater Dorn gelaufen war, würde ihn dieser Weg direkt unter den Dorfplatz zum Marmorbrunnen führen. Falls nicht - würde Körner hier unten festhocken und darauf warten müssen, bis der letzte Tropfen Feuerzeugbenzin verbraucht war.

Während Körner mit eingezogenem Kopf durch den Tunnel lief, hielt er in der Wand nach Vertiefungen Ausschau, in denen sich womöglich Fackeln oder Kerzenstummel befanden, doch war nichts weiter als abgebröckeltes Erdreich, Moos, Flechten und dichtes Wurzelwerk zu erkennen. Keine Spur von brennbarem Material. Im Gegenteil - der Gang erschien von Meter zu Meter düsterer und wirkte zunehmend organisch. Die Schachtwände begannen feucht zu glänzen, das Licht glitzerte auf der schimmernden Oberfläche Dutzender Ranken und Knollen. Der Anblick schmerzte Körner, sein Schädel drohte zu zerspringen. Er musste immer öfter die Augen schließen, da sie ein Druck aus den Höhlen zu pressen schien. Seine Lider zuckten, Tränen liefen ihm über die Wangen. Aus den Augenwinkeln glaubte er winzige Mäuler und Dornen zu erkennen, die aus dem Wurzelwerk ragten und sich bewegen. Seine Sinne spielten verrückt, das war alles! Trotzdem wagte er nicht, den Kopf zu wenden, sondern blickte geradeaus, in die Flamme des Feuerzeugs, der er verbissen folgte. Doch schon bald war ihm auch dieser Anblick unerträglich, da er aus den Augenwinkeln sah, wie sich die Wände verschoben und sich in den Offnungen allerhand wandte und krümmte.

Er stolperte den Gang entlang, bis er mit der Hand gegen eine Erdwand stieß. Sackgasse! Hatte er die falsche Abzweigung gewählt? Weder eine Leiter noch in die Wand eingelassene Steighaken waren zu sehen. Hinter ihm brodelte es in der Dunkelheit. Er wandte sich um, konnte aber nichts erkennen. Ein Druck legte sich auf seine Ohren.

Mittlerweile war der Schein zu einer winzigen Flamme geschmolzen. Langsam begann das Feuerzeug in Körners Hand heiß zu werden. Da brachte ein feiner Luftzug die Flamme zum Flackern. Körner sah hoch. Direkt über seinem Kopf führte ein enger Schacht nach oben, der von dichten Ranken durchzogen war, wie ein ausgetrockneter, von Dutzenden Baumwurzeln durchdrungener Brunnenschacht. Über ihm musste sich der Dorfplatz befinden. Er stand so knapp vor dem Ziel, doch wie sollte er dort hinaufgelangen?

Viel Zeit blieb ihm nicht. Je kleiner die Flamme wurde, desto näher kroch das Wesen an ihn heran. Kurzerhand löschte er das Feuerzeug, ließ es in die Manteltasche gleiten und sprang hoch. Ohne etwas sehen zu können, krallte er sich in das Gewächs und zog sich mit einem Klimmzug in den Schacht. Schmerz brannte in seinen Muskeln. Er fand mit den Schuhen Halt, stemmte sich keuchend weiter in den Schacht hinauf, bis er sich mit dem Rücken anlehnen konnte. Ein Lichtkreis zeichnete sich über ihm ab. Körner erkannte die Streben eines Fallgitters. Zugleich spürte er, wie das Gewächs näher kroch und sich um seinen Körper zu ziehen begann. Dieser verdammte Schlund lebte, verengte sich um sein Opfer wie eine Fleisch fressende Pflanze! Körner wurden die Arme an die Seite gepresst. Nur einen knappen Meter über ihm war das Eisengitter, welches in den Hohlraum des Brunnens führte. Körner versuchte seine Arme zu befreien, doch das Geflecht hielt ihn eisern umschlossen. Diese organischen Fesseln wirkten so starr wie das knorrige Gewächs in dem Tunnel, durch den er noch vor wenigen Stunden gekrochen war. Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Der von oben durch das Eisengitter fallende Lichtstrahl ließ ihn die dicken Stränge des Wurzelgeflechts erkennen, die ihn fesselten.

Unterdessen schossen von unten die Fangarme heran. Binnen Sekunden schlug ein entsetzlicher Schwefelgestank herauf, viel intensiver als je zuvor. Die Dämpfe brannten Körner in den Augen und fraßen sich wie Säure in die offenen Wunden seiner Hände. Durch die Nasenwege drang der Dunst in seinen Rachen und legte sich wie ein pelziger Belag auf seinen Gaumen. Neue Tränen liefen ihm über die Wangen. Die Fangarme kamen immer näher. Feuer war seine einzige Rettung.

Körner ballte die Finger zur Faust und schlüpfte mit der rechten Hand durch die Ranken. Mit kreisenden Schulterbewegungen gelang es ihm, den Arm aus dem Geflecht zu winden, bis er ihn frei hatte. Er holte das Zippo aus der Manteltasche und schnippte es an. Die Flamme erlosch schon nach einer Sekunde. Doch dieser Augenblick genügte, damit die Ranken den Druck auf seinen Körper lockerten, wodurch er ein Stück nach unten sackte, bis er mit den Beinen wieder im dichten Geflecht steckte - weiter vom Gitter entfernt als zuvor.

Wieder und wieder schnippte er das Feuerzeug an, doch bis auf einige kurzlebige Funken sprang nichts heraus. Als bemerke das Gewächs seine aussichtslose Lage, begannen sich die Ranken wieder enger um seinen Körper zu ziehen. Bevor er gefesselt in den Flechten hängen blieb, wollte er es so weit wie möglich nach oben schaffen, aber im nächsten Moment waren die Ranken erneut da. Körner riss die Arme in die Höhe, ehe das Gewächs sie umschlingen und an seinen Körper pressen konnte. Da rutschte ihm das Feuerzeug aus der verschwitzten Hand. Im schwachen Lichtschein sah er, wie es über die Ranken sprang und schließlich auf einer schaufelförmigen Wurzel liegen blieb, mehr als eine Armlänge von seinem Gesicht entfernt. Die Wurzelfesseln des Gewächses hatten Körner so unerbittlich im Griff, dass das Zippo unerreichbar für ihn war. Er hätte ebenso gut kilometerweit weg liegen können.

Zuerst spürte er es auf seinen Fußgelenken, den Waden, danach auf seinen Oberschenkeln. Dünne, biegsame Fangarme krochen zwischen den dicken Wurzeln empor, schlängelten sich durch das Geflecht, tasteten sich an seinem Körper entlang. Die Tentakel umgarnten und liebkosten ihn, wie ein Muttertier ihr Junges, ohne sich in seine Wirbelsäule zu bohren, wie es bei Sabriski und den Krajnikkindern geschehen war. Fühlten die scheußlichen Extremitäten etwa den Odem des schwefelhaltigen Gelees, der wie eine Säure im Stoff von Körners Mantel nistete? Doch zuvor hatte sie das nicht abgeschreckt. Oder wussten die Greifarme, dass er ihr hilfloser Gefangener war? Siebenundzwanzig Jahre hatte das Gezücht auf ihn gewartet, ihn mit Albträumen und Visionen an das ihm bestimmte Schicksal erinnert. Feinfühlig und langsam kletterten die Glieder an ihm hoch, als seien sie sich einig, dass sie ihn jetzt endgültig in der Falle hatten, wo sie sich jederzeit an ihm laben konnten.

Beim geringsten Versuch, sich freizustrampeln, um weiter nach oben zu gelangen, zog sich das Geschlinge enger um Körner, bis es ihn zu ersticken drohte. Sauerstoffnot… Müdigkeit… Dunkelheit … endloser Schlaf… Sein Kopf zuckte. Sein Herz raste. Für einen Moment war er weggetreten. Hatte ihn eine Ohnmacht erfasst? Eine Eiseskälte kroch Körner über die Schulterblätter. Er spürte, wie die Tentakel nach seinem Rücken tasteten. Er glaubte, der Raum drehe sich um ihn. Das Blut rauschte in seinem Kopf, ein stetig steigender Druck legte sich auf seine Augen und Ohren und presste ihm Blutfäden aus der Nase. Wieder kippte sein Kopf nach vorne - immer wieder schreckte er sekundenlang aus einer Ohnmacht. Als er einen kurzen klaren Moment hatte, sah er einen glänzenden Gegenstand. Das Feuerzeug! Es war seine einzige Chance. Irgendwie musste er herankommen und es ein letztes Mal zum Brennen bringen.

Mit behutsamen Bewegungen schlängelte er einen Arm aus dem Geflecht, um Sabriskis Lederband vom Hals zu nehmen, an dessen Ende das Bleigeschoss baumelte. Das Band in der Faust, schob er sie so nah wie möglich durch das Wurzelwerk an das Zippo heran. Ein schwacher Lichtschein spiegelte sich auf dem Metall des aufgeklappten Deckels. So sehr er den Arm reckte, es fehlten Körner an die fünfzehn Zentimeter. Er öffnete die Faust, schwang das Lederband aus dem Handgelenk. Mit einem metallenen Klicken berührte das Bleigeschoss das Feuerzeug. Das Band umfing das Zippo. Körner hielt den Atem an. Mit einer unendlich langsamen Bewegung spannte er das Band, bis sich das Feuerzeug rührte. Sachte zog er das Zippo über die schaufelartige Wurzel zu sich heran. Als es nahe genug war, griff er danach.

Körner legte sich Sabriskis Glücksbringer wieder um den Hals, danach rieb er den Daumen über das Zahnrad. Ein Funke, sonst nichts! Er schüttelte das Zippo und versuchte es wieder und immer wieder, doch nur ein müder Funke kam heraus. Mittlerweile waren Körners Finger ölig vor Schweiß. Das Zippo musste nur ein einziges Mal Feuer geben. Bloß ein letztes Mal noch! Körners Muskeln brannten. Je öfter er es versuchte, desto mehr verkrampften sich seine Finger. Er atmete tief aus, lockerte die Hand, schüttelte den Arm, um wieder zu Kräften zu kommen. Erneut biss er sich auf die Lippen, um der schleichenden Ohnmacht zu entfliehen. Dann versucht er es erneut.

Diesmal sprang die Flamme an, als habe sich ein letzter Tropfen Benzin gesammelt, der verzehrt werden wollte.

Unerwartet vom Licht geblendet, fuhr Körners Arm zur Seite. Für einen Moment berührte das Feuer den Zipfel des anderen Mantelärmels, was genügte, damit die Flamme auf das brüchige Gewebe übersprang. Noch bevor Körner das versengte Material roch, züngelten die Flammen gierig über das schwefelhaltige Gelee, welches sich tief in den Mantelstoff gesogen hatte.

Körner brüllte. In Panik ließ er das Zippo fallen. Der gesamte Mantel brannte lichterloh. Zuerst schnalzten die dünnen Fangarme wie Peitschen davon, gefolgt von den mächtigen Wurzeln. Als Körner von der letzten Ranke freigegeben wurde, wäre er in die Tiefe gestürzt, doch reaktionsschnell stemmte er sich mit gespreizten Beinen in das Gewächs, balancierte für einen Moment hilflos im Schacht, bis er mit den Händen Halt fand. Hitze umhüllte ihn. Die Flammen gierten nach seinen Haaren. Es roch nach brodelndem Schwefeldampf. Umständlich schlüpfte Körner mit den Schultern aus dem schweren Mantel und begann den flammenden Stoff abzuschütteln. Keine Sekunde zu spät zog er das Funkgerät aus der Tasche, worauf der Arbeiterkittel, einer Fackel gleich, abwärts segelte.

Staub wölkte empor, als der Mantel aufschlug. Die Tentakel flohen vor dem Feuer, doch lange würde es nicht brennen. Sobald die letzte Glut erloschen war, würden sie wiederkehren, gewiss zorniger als zuvor - und ihn diesmal nicht verschonen. Körner steckte das Funkgerät in den Hosenbund. Ohne lange zu überlegen, hangelte er sich weiter den Schacht hinauf, die Schuhe im Wurzelwerk verkeilt, die Finger in die Ranken gekrallt. Über seinem Kopf befand sich das Fallgitter. Er packte den Eisenrost, drückte ihn hoch. Die Scharniere knarrten, Rost regnete ihm ins Gesicht. Körner stemmte sich mit der Schulter gegen das Hindernis und hob es aus der Verankerung.

Der Raum über ihm glich einem Bretterverschlag, durch dessen Ritzen Lichtstrahlen fielen. Befand er sich tatsächlich im Inneren des Marmorbrunnens? Unmittelbar über Körners Kopf hing eine windschiefe Holzbank auf drei Winkeleisen, darüber baumelten Seilzüge mit Lederfesseln von der Decke. Er stemmte die Beine in das Erdreich der Schachtwand und griff nach einer der Fesseln. Die Ketten klirrten, das Leder knirschte. Körner zog sich daran hoch, bis er, mit den Beinen gegen das Fallgitter gestützt, auf der Bank saß.

Er atmete tief durch. Was immer unter ihm in der Tiefe lauerte, es würde jeden Augenblick nach oben schießen, um ihn hinabzuzerren. Die Stoffreste des Mantels glommen nur noch matt. Körner warf sich mit der Schulter gegen den Holzverschlag. Rostige Nägel knirschten in den faulen Pfosten. Immer wieder ließ sich Körner gegen die Latten fallen, bis sie krachend einbrachen. Er fiel durch die Bretterwand und stolperte durch eine Plane. Seine Knie schlugen auf kalte Marmorfliesen.

Er wälzte sich herum. Auf dem Rücken liegend starrte er von der Decke zur Seite, wo er auf Leinwand gespannte Ölfarbendrucke sah, die Bilder des Kreuzwegs. Er roch ein Gemisch aus Kerzenwachs und Weihrauch. Die Greiner Kirche! Pater Sahms heilige Stätte. Körner rappelte sich auf den Ellenbogen hoch. Unter der Plane, durch die er getaumelt war, erkannte er den schwarzen, geteerten Sockel des Judas-Schreins.

»Hat Ihre Kollegin Sie gefunden? Wir haben Sie erwartet.«

Körner fuhr herum. Pater Sahms stand über ihn gebeugt, mit Sorgenfalten auf der Stirn und einem kummervollen Blick. Der Priester trug eine Soutane und hatte das wenige, schlohweiße Haar nach hinten gekämmt. Er reichte Körner die von Altersflecken übersäte Hand. Körner zog sich daran hoch. Bei dem Händedruck zuckte er zusammen. Seine von Brandwunden, Schwielen und Blutblasen malträtierten Hände glichen einer offenen Wunde.

»Willkommen in Grein.« Pater Sahms lächelte. Hinter ihm standen Bert und Marga Krajnik, Wolfgang Heck, der Totengräber Hans Apfler, Doktor Weber und der alte Gehrer mit einer hässlich aufgeplatzten Lippe, wo ihn Körner mit dem Schaufelblatt getroffen hatte. Weiter hinten sah Körner den Gendarmen Alois Friedl, ebenso schlimm zugerichtet, Waltraud Stoißer, Bürgermeister Heinrich Weißmann, die Gemeindebeamtin, Frau Lusack und ein Dutzend weitere Dorfbewohner, die offensichtlich ihren Posten bei der Deichkrone aufgegeben hatten. Sie waren in dunkle Mäntel gehüllt, als würde eine Totenmesse gefeiert. Körner hätte sich keinen besseren Moment aussuchen können, um in den Ort zurückzukehren.

Wolfgang Heck trat aus der Menge hervor. »Diesmal sorge ich höchstpersönlich dafür, dass es dich erwischt«, zischte er und schlug Körner die Faust ins Gesicht.

 

32. Kapitel

 

Körner wurde zurückgeschleudert, sein Hinterkopf krachte gegen die Holzbalken, mit denen der Judas-Schrein zugenagelt worden war. Der Schmerz riss ihn endgültig aus seiner Benommenheit. Der Tagtraum und die Visionen, die seinen Verstand wie in ein Wattekissen gebettet hatten, waren verflogen.

Er rappelte sich auf und riss mit einem Ruck eines der zersplitterten Bretter heraus. Da war auch schon Heck heran, die Faust zum Schlag geballt. Während sich Körner duckte, trieb er Heck die Nägel des Lattenendes in die Kniescheibe. Im nächsten Moment wurde Körner links und rechts an den Armen gepackt und mit dem Rücken gegen den Beichtstuhl gedrückt. Vor ihm lag Heck auf dem Boden und jaulte beim Versuch, sich die rostigen Nägel aus dem Knie zu ziehen. Körner trat ihm den Fuß ins Gesicht, worauf Heck tonlos zusammenbrach.

»Passt auf seine Füße auf!«, brüllte Weißmann.

Körner holte ein weiteres Mal mit dem Bein aus und bohrte dem Mann zu seiner Rechten die Schuhspitze in die Magengrube. Das Opfer krümmte sich, wobei ihm pfeifend die Luft aus den Lungen zischte. Körners rechte Hand war nun frei.

»Achtung! Er befreit sich!«, schrie Weißmann.

Körner hieb dem kräftigen Mann links von ihm die Handkante in die Kehle. Die Augen des Hünen wurden groß, er taumelte zurück. Körner schlug noch einmal zu, diesmal traf er den Solar Plexus. Dabei fiel das Funkgerät aus Körners Hosenbund und schlitterte über den Marmorboden. Körner hoffte, dass sich der Kanalwahlschalter nicht verstellte.

Im Moment waren Körners Arme und Beine frei, doch sogleich stürzten weitere Männer herbei, die ihn grob am linken Oberarm packten. Körner stieß sich vom Beichtstuhl ab, wollte zum Funkgerät hechten, doch die Männer hielten ihn mit eisernem Griff fest. Er fiel auf den Bauch, dabei wurde sein linker Arm nach oben gebogen, dass es knirschte. Er schrie auf. Sofort saß ein Mann auf seinem Rücken und drückte sein Gesicht zu Boden. Körners Wange scheuerte schmerzhaft über den rauen Marmor.

»Bleib schön unten, Freundchen.« Er hatte Bert Krajniks Stimme erkannt.

Körner tastete nach dem Funkgerät. Wenn es ihm nur gelang, die Sendetaste zu drücken, um die Funkverbindung herzustellen … dadurch würde das andere Gerät automatisch aktiviert und das Sprengmaterial gezündet.

Körner bekam das Funkgerät tatsächlich zu fassen, wollte es heranziehen. Da trat ihm jemand mit schwerem Schuhwerk auf die Finger. Körner biss die Zähne zusammen. Er blickte hoch, sah aber bloß die Hosenbeine eines dunklen Anzugs. Ein weiterer Schuh fegte über den Boden, der das Funkgerät meterweit wegschleuderte.

Der Mann, der auf Körners Hand stand, ließ sich ächzend in die Knie sinken. Es war Weißmann - Körner roch es an seinem aufdringlichen Aftershave. Der Greiner Bürgermeister presste sich die Hand auf die Seite, als wolle er die Schmerzen einer angeknacksten Rippe lindern. Mittlerweile hockten mehrere Männer auf Körner. Seine Arme und Beine waren gespreizt und er hatte keine Möglichkeit auch nur einen Finger zu krümmen. Ein Mann trat ihm zweimal in die Rippen. Körners Augenlider flatterten.

»Das genügt!«

Die Schläge hörten auf.

»Unglaublich, Sie sind zäh!« Weißmann fuhr sich mit den Fingern durch den silbergrauen Bart. »Doch Sie sind genauso naiv und dumm, wie sie stark sind. Was glauben Sie, bringt Ihnen das Funkgerät? Wen wollen Sie anfunken? Die Feuerwehr? Die Gendarmerie? Oder etwa die Kripo?«

Weißmann trug ein Pflaster über der Nase. Er lächelte mitleidig. »In Spoisdorf ist eine Chemie-Katastrophe ausgebrochen. Die Tanks sind überflutet, Millionen Tonnen giftiges Chlor und Cadmium sind ausgeflossen und in die Trier geströmt. Sämtliche Hilfskräfte sind im Einsatz. Wer glauben Sie, würde sich da wohl um einen Funkspruch von Ihnen kümmern?«

Körners Kopf wurde an den Haaren hochgerissen. Er sah, wie weitere Männer herantraten und eine dunkle Mauer vor ihm bildeten. Dahinter erspähte er für einen Moment den Schopf eines zappelnden Mädchens in Jeans und Pullover-Verena! Ein Bauer mit hochrotem Krebsgesicht und der Statur eines Stiers stand hinter Körners Tochter und presste ihr die schwielige Hand auf den Mund. Das Mädchen strampelte mit den Beinen und versuchte, nach dem Mann zu boxen, doch der Koloss verzog keine Miene, gab keinen Zentimeter nach.

»Verena«, flüsterte Körner. »Lasst das Mädchen gehen!«

Weißmann grinste höhnisch. »Natürlich. Wir lassen die Kleine laufen, sie schwimmt durch den Fluss und läuft zum nächsten Gendarmerieposten - wirklich clever!« Er wurde ernst. »Jahrelang haben wir die Angelegenheiten in unserem Ort so gehandhabt, dass nichts durchgesickert ist. Wir werden das auch weiterhin so erledigen. Sie werden heute sterben, und Ihre Tochter hat in drei Tagen ihren vierzehnten Geburtstag. Die Einpflanzung ist bloß ein kleiner Eingriff, danach wird das Mädchen zu einem Teil unserer Welt - wie Ihre Exfrau, Ihre Eltern und Ihre Kollegin.«

»Nein, nicht Verena!« Körner bäumte sich auf, doch die Männer hielten ihn nieder. Seine Muskeln erschlafften, seine Kräfte versagten. Wie konnte er die Teufel besiegen?

Doktor Weber trat aus der Menge hervor, diesmal nicht in einen Arztkittel, sondern in einen schwarzen Mantel gekleidet, der bis zum Hals zugeknöpft war. Er hob das Funkgerät vom Boden auf und drehte es kopfschüttelnd in der Hand. »Statt diese Nummer abzuziehen, hätten Sie durch den Fluss schwimmen und abhauen sollen, solange noch Zeit dafür war. Aber nein, Sie kommen hierher. Körner, Sie sind verrückt.« Er deutete mit der Antenne des Geräts auf Körner. »Wollten Sie uns damit erledigen?« Sein Finger lag gefährlich nahe an der Sendetaste.

Körners Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er den Arzt dazu bringen, das Funkgerät zu aktivieren?

»Schalten Sie es doch ein!«, versuchte Körner den Doktor zu provozieren, erkannte aber im gleichen Moment, dass es ein plumper Trick war, der nie funktionieren würde.

Doktor Weber schüttelte den Kopf. »Armseliger Versuch. Das Funkgerät wird gemeinsam mit Ihnen, Ihrem Wagen und Ihren gesamten Unterlagen in der Trier landen. Bei dem Versuch, den Fluss zu überqueren, werden Sie leider ertrinken.«

»Die Autopsie wird das Gegenteil beweisen.«

»Oh, ich vergaß, wir haben es mit einem scharfsinnigen Kripobeamten zu tun.«

»Töten wir ihn gleich!«, rief jemand aus der Menge, den Körner nicht ausmachen konnte.

»Wir schaffen uns das Problem anders vom Hals!« Weber bedeutete einem Mann mit einem Aktenkoffer, näher zu kommen. Daraufhin holte er eine Injektionsnadel mit einer Ampulle aus einem der Fächer. »In wenigen Minuten werden Sie sich an nichts mehr erinnern.«

Körner wusste, ihm blieben nur noch wenige Sekunden, denn gleich würde er die kalte Nadel unter der Haut spüren und erst wieder erwachen, wenn ihn, eingeschlossen im Auto, die eiskalte Flut umklammerte. Hilflos würde er mit ansehen müssen, wie im Wageninneren das Wasser anstieg, während das Auto in der Trier versank, bis es im Schlamm des acht Meter tiefer gelegenen Flussbetts versackte. Sein Albtraum, unter Wasser zu stehen und durch ein Glas die trübe Unterwasserwelt zu beobachten, würde Wirklichkeit werden. Wie hätte es auch anders kommen können? Er war der einzige Außenstehende, der die Wahrheit über Grein und seine Bewohner kannte. Sie mussten ihn so rasch wie möglich beseitigen, wie all die anderen, die sie bereits aus dem Weg geräumt hatten - so, wie sie bisher immer vorgegangen waren.

Weber drückte den Kolben der Spritze an, sodass die ersten Tropfen aus der Nadel quollen. Da kreischte der Mann mit dem Stiernacken und dem hochroten Kopf auf. Verena hatte den Mund frei bekommen und dem Koloss in die Hand gebissen. Das Mädchen riss sich aus der Umklammerung und rannte auf Doktor Weber zu.

»Fangt die Göre ein!«, rief Weißmann aufgebracht. Verena lief auf den Arzt zu, den Kopf gesenkt, die Arme an den Körper gepresst. Wie bei einem Hindernislauf hetzte sie zwischen den Leibern hindurch. Ihr schwarzer Pilzkopf flog hinter ihr her. Als Weber erkannte, worauf sie zusteuerte, schnellte sein Arm mit der Injektion reflexhaft in die Höhe. Doch als Verena ihn erreichte, griff sie nicht nach der Spritze sondern riss ihm das Sprechfunkgerät aus der Hand.

Während sie weiter durch die Kirche floh, hielt sie es sich vor den Mund. »Hilfe! Hilfe! Kann mich jemand hören?«

»Nehmt ihr das verdammte Ding weg!«, herrschte Weißmann die umstehenden Männer an, die sich sofort in Bewegung setzten.

»Die Sendetaste!«, brüllte Körner. »Du musst auf die Taste mit den Rillen drücken!« Sein Kopf wurde hart zu Boden geschlagen. Er bäumte sich auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Verena alle Tasten zugleich drückte.

Körner wurde schwarz vor Augen. »Nicht die Kanalwahl verstellen …«, presste er hervor.

»Hilfe!«, hörte er Verenas atemlose Stimme. »Mein Papa und ich werden in der Greiner Kirche gefangen gehalten …«

Ein Mann fing Verena ab, packte ihr Handgelenk und wand ihr das Gerät aus den Fingern. In dem Moment, wo er ausholte, um es auf dem Boden zu zerschmettern, tönte in weiter Ferne eine gewaltige Explosion. Die Kirchenfenster klirrten. Das Donnern der Detonation war durch das gesamte Tal zu hören, und Sekunden später hallte es vom Gebirge zurück.

Körners Widerstand ließ nach, seine Muskeln erschlafften und er sank zu Boden. Es war vollbracht. Gnade ihnen Gott, angesichts dessen, was jetzt auf sie zukam.

Die Köpfe der Dorfbewohner zuckten herum. Noch hatte niemand begriffen, was passiert war. Weißmann löste sich als Erster aus der Erstarrung. Er rannte an den Kirchenbänken vorbei zum Ausgang, riss die Flügeltür auf und blieb als dunkle Silhouette im Türrahmen stehen. Vor ihm war der Tag in milchiges Grau getaucht. Körner sah das düstere Einerlei aus Wolken und Nieselregen. Von draußen strömte eisige Luft in die Halle und brachte die Weihrauchkessel zum Schwingen.

Für Sekunden war es in der Kirche totenstill.

»Der Damm ist weg.« Weißmanns Flüstern war nur leise aus dem Pfeifen des Winds herauszuhören.

Da drehte er sich um und brüllte: »Das Hochwasser kommt!«

Augenblicklich stürzten die Leute zur Tür. Sobald der Eingang verstopft war, rannten die übrigen Bewohner zu den Fenstern, um vom Kirchberg auf den Ort zu blicken. Auch Bert Krajnik und die Männer, die Körner zu Boden hielten, sprangen auf. Niemand wollte glauben, was der Bürgermeister gesagt hatte. Wie Schaulustige drängten sie sich um einen Stehplatz vor den Fenstern.

Körner rappelte sich auf. Seine Glieder schmerzten bei jeder Bewegung. Er versuchte eine Faust zu formen, doch seine Finger waren empfindungslos und wirkten tot. Die blutverkrustete Haut spannte, die Brandblasen schmerzten. Erst als er einen kurzen Schwindelanfall überwunden hatte und aufrecht vor dem Beichtstuhl stand, merkte er, dass er allein war. Alle anderen waren zur Tür geflohen. Nur Verena stand einige Meter von ihm entfernt. Sie stürzte auf ihn zu und drückte sich an ihn.

Er umarmte sie, strich ihr durch die dichte, nackenlange Mähne. In diesem Moment war sie nicht länger die rebellische Vierzehnjährige mit dem Piercing, die heimlich rauchte … sie war einfach nur sein kleines Mädchen, das er um jeden Preis aus diesem vermaledeiten Ort bringen musste.

Er packte sie am Arm, um sie zum Ausgang zu zerren, aber sie wehrte sich wie ein Tier. In ihren Augen sah er die Angst und die Abscheu vor den Dorfbewohnern, die Schulter an Schulter wie eine Wand aus dunklen Mänteln vor dem Kirchentor standen.

»Wir müssen hier raus!«

Sie deutete in die andere Richtung. »Ja, aber zur Sakristei.«

Unentschlossen blickte sich Körner um. War das ihre Chance, unbemerkt aus der Kirche zu fliehen? Als plötzlich der Boden unter ihren Füßen zu rumoren begann, als schieße eine gigantische Druckwelle durch das Erdreich, und eine brackige Wasserfontäne durch den Judas-Schrein nach draußen gedrückt wurde, ließ er Verenas Hand los. Die Schlammflut spritzte drei Bankreihen weit bis in die Mitte der Kirche. Augenblicklich breitete sich eine übel riechende Lache auf dem Boden aus. Weitere Schwalle ergossen sich durch die Lücke der geborstenen Holzlatten, als würde das Innere des Berges durch den Beichtstuhl erbrochen. Die Dorfbewohner vor den Fenstern fuhren mit entsetzten Gesichtern herum.

Verena lief voran. Körner folgte ihr, vorbei am Altar, an den Heiligenfiguren, durch die Tür in die Sakristei. Die Stube war klein geraten, Folianten stapelten sich auf dem Schreibtisch, die Kästen waren mit Büchern gefüllt. Es roch nach Kerzenwachs. Mehr konnte Körner nicht erkennen, Verena war bereits durch die Tür ins Freie geschlüpft. Er rannte ihr hinterher, gelangte in einen Hof, hetzte weiter über die Schotterwege entlang der Heckenreihen bis zu einem Torbogen, der unmittelbar zum Abhang des Kirchbergs führte. Körner hielt inne. Sie befanden sich am Ende des alten Friedhofs. Auf der anderen Seite der Marmortafeln, Hügel und Grabreihen strömten die Dorfbewohner aus dem Kirchentor, wo sie sich vor der Steintreppe versammelten, die zum Dorfplatz führte.

Für Körner und Verena gab es nur zwei Fluchtwege: entweder über den Friedhof zu den Dorfbewohnern oder geradewegs den Abhang hinunter … es sei denn sie verharrten an dieser Stelle. Noch hatte sie niemand entdeckt, da sämtliche Leute über den Dorfplatz und die Acker hinweg schockiert zum Flussbett der Trier starrten. Als Körner ihren Blicken folgte, erstarrte er. Der Damm war über eine Länge von mehreren hundert Metern gebrochen. Die Trier ergoss sich über die Deichkrone und riss immer mehr Erdreich mit sich. Wie eine Dominokette fiel der Damm in sich zusammen. Keine Talsperre konnte das Wasser aufhalten, das immer schneller über die Felder heranschoss. Unaufhaltsam steuerte die Flut auf den Ort zu, den sie jeden Moment erreichen musste.

Dann war es soweit.

Zunächst wurden Parkbänke umgerissen, danach Gartenzäune, Kinderschaukeln, Bäume und Straßenlaternen. Mit vernichtender Urkraft rollte die Wasserwalze durch die Gassen, spülte Autos und Verkehrsschilder vor sich her. Die braune Flut schlug an die Häusermauern und stieg und stieg, bis sie durch die Türen, Auslagen und Fenster in die Gebäude strömte. Strudel entstanden, an Wegkreuzungen trafen die Wasserwalzen aus zwei Richtungen aufeinander, sodass die Gischt bis zu den Dachgiebeln spritzte. Der gesamte Ortskern, eineinhalb Meter tief in den Wellen versunken, verwandelte sich in einen braunen, schlammigen See. Holzlatten, Fässer, Autoreifen, Äste und Wurzelwerk tanzten auf dem Wasser oder wurden vor der Flutwelle hergespült.

Die Schutzwälle aus Sandsäcken, die sich vor den Häusern und Gärten befanden, wurden binnen Sekunden mit einer Leichtigkeit davongetragen, als hätten sie nie existiert. Körner konnte den Blick nicht von der unglaublichen Katastrophe wenden. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß des Dramas bewusst, das er heraufbeschworen hatte. Das Hochwasser würde sich zu einer gigantischen Chemie-Katastrophe ausweiten. Die Flutwelle, welche Grein und Heidenhof verschlang, war mit Chlor und Cadmium aus der chemischen Fabrik in Spoisdorf verseucht. Die Chemikalien steckten im Wasser, drangen ein in die Häuser, in die Kellerabteile, in das Erdreich, die Bergwerkstunnel und sogar in das Gewölbe unter der Kirche. Ein Schauer erfasste Körner. Er hatte das vollbracht, woran die Dorfbewohner vor über hundert Jahren gescheitert waren. Seine Sintflut würde das Wesen endgültig vernichten. Ähnlich, wie die Greifarme am Knochenmarkkrebs verreckt waren, würde das Gezücht jetzt die Chemikalien in sich aufnehmen und qualvoll verenden.

Plötzlich raste das Wasser wie eine Springflut über den Dorfplatz. So etwas hatte Körner noch nicht erlebt. In kürzester Zeit war der Dorfbrunnen zur Hälfte von dem gelbbraunen See verschluckt. Rund um die Marmorengel schossen Luftblasen in die Höhe, das Wasser fauchte und sprudelte wie ein Geysir. Für einen Augenblick dachte Körner an Sabriski, die bewusstlos in dem unterirdischen Gewölbe lag. Die Flut brandete mit immenser Gewalt gegen den Kirchberg. Als die Gischt meterweit emporspritzte, schrien die Menschen vor der Kirche auf. Das Wasser erhielt eine Eigendynamik, begann zu kreiseln und stieg immer höher.

»Papa, wohin?« Verenas Stimme riss Körner aus der Erstarrung.

Panik lag in ihrem Tonfall. Ihm selbst erging es nicht anders. Er sah sich um. Direkt hinter ihnen, unscheinbar in eine Nische gekauert, befand sich eine kleine gemauerte Hütte mit abgeblättertem Verputz und verfallenem Schindeldach, das Körner gerade mal bis zur Schulter reichte. An der Holztür hing ein rostiges Vorhängeschloss. Das musste das Unschuldige Häuslein sein, welches der Messdiener in seinem Tagebuch erwähnt hatte, worin die ungetauften Tot- und Fehlgeburten beigesetzt worden waren, da sie nicht in geweihter Erde bestattet werden durften.

Mit einem Fußtritt brach Körner das Vorhängeschloss entzwei und zog die Tür auf. Moderiger, fauler Gestank schlug ihm entgegen.

Er packte Verena am Pullover und schob sie in die Hütte. »Warte da auf mich!«

Körner drückte die Tür zu. Er brauchte Zeit, um sich einen anderen Plan zu überlegen, wie sie aus dem Ort gelangen konnten, ohne dass die Dorfbewohner sie in der Flut ertränken würden. Mit einem Mal sah er sich in der gleichen Situation wie der Messdiener, der nachts aus dem Ort flüchten wollte, um sich irgendwie nach Wien durchzuschlagen.

Als sich Körner aufrichtete und auf die Tragödie blickte, die sich unter ihm abspielte, blieb ihm fast das Herz stehen. Dutzende, nein Hunderte braune Gliedmaßen, allesamt ungeheuer lang wie enorme Schläuche, wanden sich im Wasser, züngelten aus der Flut und schnalzten umher, als stünden sie unter Strom. Immer mehr wurden sie, immer dicker, bis sie bald die Größe monströser Seeschlangen erreicht hatten.

 

33. Kapitel

 

Schrilles Sirenengeheul tönte aus dem Feuerwehrhaus zu Körner hinauf. Entweder hing die Sirene an einer Batterie oder an einem Generator, denn nach wie vor konnte es in Grein keine Elektrizität geben. Sekunden später schaltete sich eine zweite, weit entfernte, Sirene dazu, die nur aus dem nahe gelegenen Viehofen stammen konnte. Wenn das einen Katastrophenalarm auslöste, musste der Landeshauptmann eine Evakuierung von Grein und Umgebung anordnen. Mit etwas Glück würden in einigen Stunden die Helikopter des Katastrophen-Hilfsdienstes über dem Ort patrouillieren. Körner musste es nur schaffen, mit Verena so lange am Leben zu bleiben.

Plötzlich explodierte ein stechender Schmerz in Körners Rippen. Er wurde von hinten zu Boden gestoßen und landete mit dem Gesicht auf der Erde. Als er sich herumwälzte, sah er die wutverzerrten Fratzen von Doktor Weber und Bert Krajnik über sich. Zu zweit traten sie auf ihn ein. Der Metzger bückte sich schwerfällig, um Körner mit den Fäusten ins Gesicht zu dreschen. Körner robbte bis zum Bordstein vor dem Abhang. Bevor er sich hochrappeln konnte, packten ihn beide am Pullover. Ohne ein Wort zu sagen, rangelten die Männer, bis Weber schließlich merkte, dass sie die Kontrolle über Körner verloren, worauf er rief: »Hierher! Wir haben ihn!«

Körner hoffte, dass Verena, von Webers Schreien aufgeschreckt, nicht das Häuslein verlassen würde. Sie durfte den Verrückten um keinen Preis in die Hände fallen. Bevor das geschehen konnte, packte Körner die beiden Männer am Kragen und riss sie mit sich über die Böschung. Zu dritt verloren sie auf der von Wasser getränkten abschüssigen Wiese das Gleichgewicht. Sie rollten den Abhang des Kirchbergs hinunter, bis sie im eiskalten Wasser landeten.

Die Wellen schlugen über Körners Kopf zusammen.. Das beißend kalte Wasser drang ihm in Ohren und Nase. Er tauchte auf, schnappte nach Luft. Sogleich klammerte sich Krajnik an seinen Hals und wollte ihn in die Tiefe ziehen. Da schoss Weber prustend durch die Wasseroberfläche. Auch er stemmte sich unverzüglich auf Körners Schultern und drückte ihn mit seinem gesamten Gewicht hinunter. Körner konnte gerade noch seine Lungen füllen, da schlugen die Wellen abermals über seinem Kopf zusammen. Doch diesmal ließ die Kälte seine Muskeln erstarren. Im trüben Wasser war gar nichts zu erkennen. Unter sich spürte er die Pflastersteine des Dorfplatzes. Er wollte sich abstoßen, als er eine schlangenhafte Bewegung bemerkte, die aus der Dunkelheit kam und an seinem Bein entlangstreifte. Sein Herzschlag setzte aus. Voller Panik schoss er herum. Seine Arme drängten nach oben, durchbrachen die Wasseroberfläche und bekamen einen Kopf zu fassen. Vom Wasser gedämpft, hörte er Doktor Webers Schrei, ließ aber nicht los. Wie ein Besessener klammerte er sich an die Haare des Doktors. Wenn er ertrinken sollte, dann würde er den Doktor mit sich in die Tiefe reißen.

Füße traten nach Körner, während Weber versuchte, Körners Finger aufzubiegen. Als Körners Luft knapp wurde, erinnerte er sich an eine Tae-Kwon-Do-Technik, die er bisher nur im Dojo trainiert und nie in der Praxis angewendet hatte. Er packte Webers Kopf fester, krallte sich mit den Fingern unter sein Kinn und riss den Schädel um neunzig Grad herum. Sogar unter Wasser hörte er das Brechen der Halswirbel.

Augenblicklich wich der Druck von seinen Schultern. Wie eine Rakete durchstieß er die Wasseroberfläche und atmete gierig ein. Neben ihm brodelte es. Krajnik strampelte mit Armen und Beinen, dass es schäumte. Aus der braunen Flut ragten zwei lange, glänzende, biegsame Gliedmaßen, die den Brustkorb des Metzgers umschlungen hatten. Einen Atemzug später war Krajnik weg, nur ein Schuh schwamm noch im Wasser. Daneben trieb Webers Leiche auf den Wellen, mit aufgerissenen Augen, den starren Blick zum Himmel gerichtet. Ohne lange zu überlegen, begann Körner zu kraulen. Dabei wurde er von einem einzigen Gedanken getrieben: Nur weg von dieser Stelle! Er schwamm quer durch den Hochwassersee auf das Dach der Gaslight Bar zu, von der nur noch die Regenrinne, die Satellitenschüssel und ein Schornstein aus der Flut ragten. Die Strömung half ihm dabei, da die Flut in einem großen Strudel über dem Dorfplatz zu zirkulieren begann, wodurch er direkt auf die Diskothek zugetrieben wurde. Unbeholfen versuchte er, das Knie über die Regenrinne zu heben. Mit einem Ruck zog er sich aus dem Wasser, Schindel für Schindel über das Dach empor. Was immer Krajnik gepackt und in die Tiefe gezogen hatte - ihn würde es nicht mehr erwischen.

Nach einer Verschnaufpause kletterte Körner weiter. Als er auf den nassen Schindeln ausrutschte, griff er im Reflex nach dem Gestänge der Satellitenschüssel. Knirschend verbog sich die Eisenstrebe, die dafür konstruiert war, die Anlage vor Sturmböen zu sichern, doch keinen Mann zu halten. Er zog sich an der Konstruktion hoch, bis er den First des Satteldachs erreicht hatte. Zitternd, an den Schornstein gekauert, saß er an der höchsten Stelle, von wo er sich umschaute.

Sein Atem dampfte. Durch den Hauch sah der mittlerweile über zwei Meter unter Wasser stehende Ortskern gespenstisch aus. Mehr als fünfhundert Bewohner waren eingeschlossen. In Heidenhof war die Situation bestimmt nicht besser. Das Wasser war überall, soweit das Auge reichte, es konnte nicht versickern, da der voll gesogene Boden keine zusätzliche Feuchtigkeit mehr aufnehmen konnte. Es würde Wochen dauern, bis die Flut zurückging.

Körner hauchte sich in die Faust. Er zitterte am ganzen Leib. Irgendwie musste er die nassen Kleider los werden, die tonnenschwer an seinem Körper hingen, doch brachte er nicht die Kraft auf, sich zu erheben. Er wollte nur reglos dasitzen, um Kräfte zu sammeln. Wie sollte er mit Verena jemals aus diesem Ort kommen? Im Moment sah er keine Möglichkeit, sie aus dem Häuslein zu holen und mit ihr unbemerkt aus Grein zu verschwinden.

Wie durch einen Schleier nahm er die Umgebung wahr: Äste, Firmenplakate, Kartons, Eimer, Tischdecken, Holzstühle und leere Sandsäcke trieben im Wasser. Die mächtigen Torbögen zwischen den Häusern, die zu den Schuppen und Hinterhöfen führten, wirkten nunmehr wie niedrige Gewölbe, durch die das trübe Wasser floss. In den Seitengassen hatten sich Autos zwischen die Häuser und umgerissenen Bäume verkeilt. Körner sah, wie Hände tonlos von innen gegen die Scheiben klopften. Niemand half den Menschen, sollten sie doch verrecken! Die Brut hatte nichts Besseres verdient. Jahrelang waren sie ungeschoren geblieben - doch heute war der Tag gekommen, an dem mit ihnen abgerechnet wurde.

Körner stierte ins Wasser vor sich. Hin und wieder platzten Luftblasen an der Oberfläche, Wellen kräuselten sich, doch er konnte keine weiteren Tentakel erkennen. Falls sie noch da waren, mussten sie sich auf dem Boden bewegen. Vielleicht waren sie tot. Langsam setzte der Nieselregen ein. Zunächst fielen kleine Tropfen ins Wasser, danach dickere. Der aufkommende Wind ließ Körner noch mehr frieren.

Hin und wieder tönte ein Ruf durch den Ort, der an den Hauswänden widerhallte. Menschen spähten aus den Fenstern der oberen Stockwerke, einige hatten sich auf die Dächer niedrigerer Gebäude gerettet, die nur noch wie spitze, rote Dreiecke aus dem See ragten. Hunde und Katzen liefen verstört zwischen den Schornsteinen herum, standen in den Regenrinnen und starrten hinab, als wollten sie jeden Moment springen. Das Miauen klang schaurig einsam durch das Tal. Für einen Moment beruhigte sich das ständige Auf und Ab der Wellen, langsam klärten sich die Spiegelbilder der Häuser auf dem See, schmutzig gelbe Fassaden mit weißen Fensterrahmen, beigem Mauerwerk, braunen Dachvorsprüngen. Dahinter spiegelte sich der eintönig graue Himmel.

Der Anblick wirkte so unrealistisch wie ein phantastisches Gemälde, das immer wieder vom Nieselregen zerpflückt wurde.

Mit einem Mal schwappte eine neuerliche Flutwelle zwischen den Gassen auf den Hauptplatz, als hätten soeben die Nachwehen der Katastrophe eingesetzt. Möglicherweise hatten sich auch die Schleusen des Trieracher Staudamms geöffnet. Ein metallenes Knirschen ließ Körner aufhorchen. Aus der Seitengasse, in der sich Gehrers Laden befand, trieb ein Pumpwagen auf die Mitte des Dorfplatzes zu. Körner erinnerte sich, dass die Feuerwehrleute das Heizöl aus den privaten Kesseln der Keller abgepumpt hatten. Der Tank des Wagens musste randvoll mit Öl sein. Der Wasserdruck presste das Fahrzeug aus der Seitengasse, doch verfingen sich die Hinterräder mitsamt der Stoßstange an der Hausmauer, sodass der Verputz von der Wand brach. Glas splitterte. Eine umgestürzte Straßenlaterne bohrte sich durch das Führerhaus, spießte den Wagen regelrecht auf und verschwand zur Gänze darin.

Körner roch es, noch bevor er es sah. Heizöl! Eine bläulichviolett schillernde Lache breitete sich auf der Wasseroberfläche rund um den Tankwagen aus. Plötzlich begann das Wasser zu zirkulieren. Da waren sie wieder! Lange Gliedmaßen schnellten durch den Ölteppich und peitschten über die Oberfläche. Das Ende der Katastrophe war noch lange nicht erreicht. Körner zog sich hoch, um zum Ortsende zu blicken. Wo sich einst die Tankstelle befunden hatte, trieben zwei umgekippte Tanklastwagen im Wasser. Auch dort glaubte er das Schillern auslaufenden Benzins zu erkennen. Das Cadmium und Chlor aus der Fabrik, gemischt mit dem Öl und Benzin aus den Tanks, würde eine tödliche Mischung ergeben. Bei dem Gedanken beschleunigte Körners Puls. Mit etwas Glück nahm das Gezücht das mit Giftstoffen versetzte Wasser in sich auf. Es sollte den Chemiedreck verschlingen und elend am Benzin verrecken!

In diesem Moment kippte der ausgefahrene Kran eines Feuerwehrautos. Der Stahlarm mit dem Korb stürzte in die Starkstromleitung. Ein Mast knickte, die Kabel rissen, ihre Enden peitschten durch die Luft und fielen dann ins Wasser mit dem Ölteppich - doch nichts passierte. Kein Funke sprühte. Die Umspannwerke waren seit zwei Tagen überflutet, die Orte ohne Stromversorgung. Doch das Szenario brachte Körner auf eine Idee. Ein winziger Funke würde genügen, um den gesamten Ort hochgehen zu lassen, wodurch das Getier endgültig verbrannte.

Ein Gluckern ließ Körner herumfahren. Er glaubte schon, die Fangarme würden sich aus der Flut erheben, um nach ihm zu greifen. Doch etwas anderes trieb im Wasser.

»Verena, was zum Teufel tust du hier?«

»Ich habe die Schlägerei vor der Hütte gehört.« Seine Tochter lag mit dem Bauch auf einer Holzpalette, die Beine im Wasser, mit den Armen rudernd. Wenige Meter trennten sie vom Dach der Gaslight Bar. Körner rutschte über die Schindeln bis zur Regenrinne, beugte sich nach vorne und zog das Ende der Palette zu sich heran. Da sah er etwas Großes, Mächtiges unter dem Wasser auf die Oberfläche zurasen.

»Rasch!«

Bei Verenas Versuch, auf die Dachrinne zu steigen, kippte die Palette und das Mädchen fiel ins Wasser. Körner fing sie am Handgelenk und zerrte sie mit einer groben Bewegung zu sich aufs Dach. Das Mädchen schlug mit den Knien auf die Schindeln.

»Rauf zum Schornstein!«, befahl er ihr. Er schob sie vor sich her. Mit den nassen Turnschuhen glitt sie immer wieder aus, krabbelte aber auf allen Vieren weiter. Körner war ihr dicht auf den Fersen. Er klammerte sich an ein Drahtseil, mit dem die Satellitenschüssel verankert war. Mit der anderen Hand schob er Verena zum Dachfirst hinauf. Ständig rutschten ihr die Füße weg, aber auch er fürchtete permanent, den Halt zu verlieren.

Das Drahtseil schnitt in seine Hand. »Schneller!«

Verena zappelte, als seien sämtliche Teufel hinter ihr her. Sie stolperte bis zum Schornstein, wo sie zusammenbrach. Hinter sich hörte Körner ein Schmatzen im Wasser, doch als er sich umdrehte, sah er nur ein Kräuseln der Wellen. Erst jetzt merkte er, dass sich das Satellitengestänge vollkommen verbogen hatte. Da löste sich eines der Seile aus der Verankerung, worauf das Gestänge ruckartig nachgab. Der Draht schnitt wie eine Klinge durch Körners Handballen. Das Fleisch klaffte auf, die rosafarbene Wunde füllte sich mit Blut. Die Hand unter die Achsel geklemmt, arbeitete er sich auf die Knie und stieg mit zittrigen Beinen zu Verena empor.

Zusammengekrümmt wie ein Fötus, mit geschlossenen Augen, hockte sie auf dem Dachfirst. Ihre Haare waren verfilzt, der Pullover hing ihr schwer und wassertriefend am Leib. Keuchend setzte sich Körner neben Verena auf die Schindeln. Er lehnte sich an den Schornstein, nahm seine Tochter in den Arm, spürte ihren leisen Atem, während er ihr mit der gesunden Hand durchs Haar strich.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, presste er hervor.

Durch die nasse Mähne, die ihr in Strähnen in die Stirn hing, wirkte sie viel erwachsener, als sie tatsächlich war. »Ich wollte doch nur …«

Da kam ihm eine Idee. »Rauchst du noch?«

Erstaunt riss sie die Augen auf. »Nein - hab ich nie!«

Doch am Ausdruck ihrer Augen merkte er, dass sie log. »Gib mir dein Feuerzeug!«

»Ich habe keines … was ist mit deiner Hand?«

»Gib mir dein Feuerzeug!«

Sie kramte in den Taschen ihrer Jeans, worauf sie ein silbernes Zippo herauszog, ähnlich dem von Jana Sabriski, nur dass es schwerer wog und deutlich größer war.

»Dafür brauchtest du einen Waffenschein!« Das Zippo war vollkommen nass. Körner ließ es aufschnappen, schüttelte es aus und hauchte hinein, damit der Feuerstein trocknete. Er drehte am Zündrad. Zweimal hustete das Zippo, beim dritten Versuch schoss eine Flamme hervor. Körner wich zurück.

Verena sah ihn mit geweiteten Augen an. »Seit wann zündest du ein Feuer an?«

»In den letzten Tagen hat sich vieles geändert.« Er hätte es selbst nicht für möglich gehalten, aber die Flammen waren in dieser kurzen Zeit bereits zweimal zu seinem Verbündeten geworden. Mit etwas Glück würde es ein drittes Mal klappen. Er kniff die Augen zusammen und reckte die Nase in den Wind.

»Was tust du?«

»Schscht!«, zischte er. Als der Wind für einen Moment nachließ, beruhigte sich die flackernde Flamme des Feuerzeugs. Körner ging in die Hocke und warf das brennende Zippo knapp über der Wasseroberfläche auf den Ölteppich vor dem Pumpwagen.

»Papa!«, rief Verena entsetzt.

»Runter!« Körner hielt ihren Kopf nach unten und duckte sich ebenfalls.

Das Zischen und Prasseln breitete sich explosionsartig aus. Geblendet schloss Körner die Augen. Er spürte die Hitze in seinem Gesicht. Die Flammen rasten förmlich über das Wasser, züngelten in gelben und blauen Farben über die Wellen und schlugen meterhoch empor. Im gesamten überfluteten Dorfplatz leuchtete das Feuer auf der Wasseroberfläche. Zischend verdampfte der Nieselregen in der Hitze.

»Das war ein Pumpwagen!«, keuchte Verena.

»Ich weiß, bleib unten!«

Unmittelbar darauf detonierte das Fahrzeug. Der Wagen wurde von einer unterseeischen Wucht aus dem Wasser gehoben und verursachte eine Flutwelle, die sich an den Häuserwänden brach. Eine gigantische Stichflamme schoss in den Himmel, wo sie sich in eine schwarze, pilzförmige Rauchwolke verwandelte. Glassplitter prasselten um Körner herum ins Wasser. Wie winzige Meteoriten schlugen sie in das lichterlohe Feuermeer. Bald sah Körner nichts mehr außer Flammen, die rund um ihn in den grauen Himmel züngelten, als brenne der gesamte Ort mit Ausnahme des Daches, auf dem sie standen.

»Verrecke!«, brüllte Körner.

Der Messdiener hatte die Wahrheit herausgefunden. Das Wesen fürchtete das Feuer - ebenso wie er selbst. Da wurden die Erinnerungen an seine Kindheit wieder lebendig. Die verdammten Albträume - neuerlich Wirklichkeit geworden! Als er vor der Hitze die Augen schließen musste, erinnerte er sich nur zu deutlich wie die Hand seiner Mutter aus dem Feuer geragt hatte, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannt war und sie ihn mit Worten zum Teufel gejagt hatte, weil er nicht loslassen wollte. Damals war sein Arm bis zur Schulter versengt worden, bis der Schmerz so unerträglich wurde, dass er rücklings aus der Küche taumelte. Doch diesmal würde niemand im Feuer sterben, der ihm nahe stand - dieses Mal nicht! Seine Tochter war in Sicherheit. Aber etwas anderes würde an diesem Tag sterben. Hunderte Grade Hitze sollten das Wesen zum Brennen bringen, es zu einem kläglichen Haufen verkohlen lassen.

Körner stand inmitten des Flammenmeers und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben frei. Als die Hitze seinen nassen Pullover trocknete, spürte er, dass er nicht mehr fror. Er streckte die Arme von sich, ballte die verletzte Hand zur Faust, stieß einen Jubelschrei aus. Da schossen aus der Tiefe Dutzende Fangarme mit einem schmatzenden Geräusch an die Luft. Körner zuckte zurück, doch kamen sie ihm nicht zu nahe. Verzweifelt wanden sie sich in den Flammen, als gierten sie nach Sauerstoff.

Verena kauerte an der Schornsteinmauer, die Hände vor dem Gesicht, zwischen den Fingern hindurchblinzelnd. »Woher kommen die?«

Körner antwortete nicht. Fasziniert starrte er auf die panisch rasenden Arme, die wie Peitschenschnüre so lange im Feuermeer tanzten, bis einer nach dem anderen versengt wurde. Wie groß musste die Kreatur sein, damit sie mit ihren Fangarmen ein derartiges Ausmaß erreichen konnte? Schließlich gab es in Heidenhof und Grein keinen Winkel, den sie nicht erreichen konnte. Auch diesmal war es Körner unmöglich, die Teile der Kreatur genau zu erkennen, da die Luft um die Fangarme vor Hitze flirrte, doch glaubte er, Krusten und hornartige Stacheln zu sehen.

»Verbrenne endlich!«

Im Knistern der Flammen vernahm er ein sirrendes Geräusch, das sein Trommelfell zu sprengen drohte. Die Teile des Gezüchts ragten wie schmelzende Kerzen aus dem Feuer. Sie veränderten ihre Form, zerfielen zu Tropfen, wobei ihre Umgebung sich krümmte, als biege sich der Raum zu einem Trichter, zu einem Strudel, der alles in sich einsog. Körner spürte die Schmerzen in der Hand gar nicht mehr, die Qualen in seinem Kopf waren um ein Vielfaches stärker. Er meinte, den Todeskampf des Gezüchts mitzuerleben, die letzten Minuten eines gigantischen Wesens zu spüren, dessen mit Chlor und Cadmium voll gepumpten Fangarme zerplatzten, dessen Tentakel im Öl verbrannten, und dessen gewaltiger unterirdischer Leib in den Fluten ertrank.

Körner nahm Verena in den Arm, um sie zu beruhigen. Über ihren Kopf hinweg starrte er gebannt ins Feuer. Die schwarz verkohlten Enden zuckten durch die Flammen, bäumten sich auf und fielen kraftlos ins Wasser, wo sie verschwanden. Zurück blieben die Flammen, die wie Irrlichter über den Ölteppich geisterten. Der Anblick hatte etwas Beruhigendes. Er erinnerte Körner nicht länger an den Tod seiner Mutter, an die Urängste seiner Kindheit - diesmal bedeutete er den Tod des Gezüchts!

Sein Blick schweifte lange über die Landschaft. Nur noch an wenigen Stellen loderten die Flammen empor. Mittlerweile trieben lediglich einige schwarze Fetzen an der Oberfläche, wie aufgequollene, riesenhafte Fahrradschläuche. Zunächst hörte Körner das Knattern gar nicht, doch dann starrte er zum Himmel, wo das Geräusch vom Wind über den Ort getragen wurde.

Mehrere Helikopter kreisten über dem Hochwassergebiet. Nicht nur der Katastrophen-Hilfsdienst war im Einsatz, auch Verkehrshubschrauber, die Helikopter des Roten Kreuzes und der gelbe Christophorus des OAMTC. In diesem Augenblick musste sich alles, was sich in der kurzen Zeit hatte auftreiben lassen, im Himmel über Grein befinden.

 

34. Kapitel

 

Als Körner die Augen aufschlug, starrte er auf eine weiße Zimmerwand. Er versuchte, sich zu bewegen. Ein Kissen sowie eine Decke raschelten leise. Er lag in einem weichen Bett, umgeben vom Duft frischer Laken. Seine Beine schmerzten, jeder einzelne Muskel sandte Feuer durch seine Nervenbahnen. Überhaupt fühlte sich sein gesamter Körper an, als habe man ihm jeden Knochen gebrochen. Obwohl seine Rippen schon beim bloßen Luftholen schmerzten, richtete er sich halb auf und stützte sich mit dem Ellenbogen ab.

Er befand sich im Einzelzimmer eines Krankenhauses. Die Zimmertür war geschlossen. In der rechten oberen Ecke hing ein kleines Fernsehgerät an der Wand, darunter ein Handwaschbecken, daneben standen ein Spind und ein Stuhl. Körners Kleider waren nirgends zu sehen. Er selbst trug ein weißes Baumwollhemd. Das Licht der Deckenlampe spiegelte sich im Fenster. Draußen herrschte stockfinstere Nacht. Ab und zu drang Autolärm durch das Fenster, worauf ein Scheinwerferlicht über die Scheibe huschte.

Körner versuchte sich zu konzentrieren. Ihm fehlte jede Ahnung, wie er hierhin gekommen war. Wo steckte Verena? Das letzte, woran er sich erinnerte, waren Boote, die durchs Wasser trieben, und Helikopter, die jeden Winkel unter den Hausdächern ausleuchteten. Mit Militärhubschraubern wurden gebrechliche und verletzte Menschen über Seilwinden und Tragen aus dem Hochwasser geborgen. Als die Rotorblätter das Wasser rund um das Dach der Gaslight Bar aufpeitschten und das Knattern zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwoll, landete eine Strickleiter vor Körners Beinen.

Sind Sie verletzt? Die metallisch klingende Stimme aus einem Megafon war in dem Lärm kaum zu verstehen gewesen.

Während des Helikopterflugs saß seine Tochter ihm gegenüber, zwischen einem Arzt und einer Helferin. Als die Mediziner den tiefen Schnitt in seinem Handballen bemerkten, wurde ihm sogleich eine Injektion in den Oberarm gejagt. Unmittelbar darauf musste er eingeschlafen sein.

Im Moment konnte Kömer keinen einzigen Finger der verletzten Hand bewegen. Er zog die Hand unter der Bettdecke hervor, in der Hoffnung, dass sie vollkommen heil und das Erlebnis der letzten Tage nur ein böser Traum gewesen sei. Doch die weiße Mullbinde, die seine Hand vollständig umhüllte, war real. Genauso real wie der Kampf gegen die Kreatur aus dem Greiner Bergwerk. Erneut war Körner dem Gezücht Pater Dorns nur knapp entkommen, wie bereits in seiner Kindheit, als ihn seine Tante kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag nach Wien geholt hatte. Falls das Schicksal es gut meinte, war der Schrecken nun zu Ende.

Mühsam zog sich Körner hoch. Sein Oberkörper steckte in einem Korsett. Offensichtlich waren einige Rippen angeknackst. Jeder Atemzug versetzte ihm einen empfindlichen Stich. Er erinnerte sich an die Fausthiebe des Metzgers, während Doktor Weber ihn mit Tritten auf dem Boden gehalten hatte. Um den Doktor aus Grein brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Seine Leiche trieb irgendwo im Wasser, wahrscheinlich verkohlt.

Beschwerlich schob Körner die Beine aus dem Bett. Als er keuchend am Bettrand saß, die nackten Füße auf dem kalten PVC-Boden, blickte er direkt auf das Fenster, worin sich jedoch nur sein Spiegelbild vor der Nachtschwärze abzeichnete. Behutsam tastete er sich über Kinn und Wangen. Die Bartstoppeln waren nicht wesentlich länger als zu seiner Zeit in Grein. Bestimmt war jetzt die Nacht von Freitag auf Samstag.

Da hallte fernes Schuheklappern durch einen Gang jenseits des Zimmers. Unmittelbar vor seiner Tür erstarb das Geräusch. Verhaltenes Stimmengemurmel. Als es verstummte, wurde die Tür aufgezogen. Eine Krankenschwester um die vierzig, im weißen Kittel, mit hoch gesteckten Haaren und einer Lesebrille trat ein.

»Oh, wie ich sehe, sind Sie munter. Ausgeschlafen?« Die Schwester sprach mit einem starken steirischen Akzent. Sie marschierte durch den Raum und zog die Vorhänge vor das Fenster. Das schrille Gleiten der Metallringe schmerzte in Körners Kopf.

»Wo ist meine Tochter?« Körners Stimme versagte. Ein rauer Geschmack saß in seinem Rachen, als kündige sich eine Grippe an. Bei jedem Versuch zu schlucken, verkrampfte sein Hals.

»Das Mädchen, das bei Ihnen war?« Die Schwester baute sich vor Körner auf, drückte ihn sanft ins Bett zurück, und zog ihm die Decke bis zum Hals.

Er wehrte sich kraftlos.

»Schön liegen bleiben!« Die Schwester deutete auf das Tablett, welches neben dem Bett auf einem Beitisch stand.

Körner sah sich angewidert um. Im Moment hatte er keinen Appetit auf Orangensaft oder geruchloses Fleisch mit Nudeln und Soße.

»Sie stehen nur auf, um das hier zu essen! Haben wir uns verstanden?« Die Schwester zeigte eine strenge Miene.

Körner wusste nicht, ob sie es Ernst meinte oder bloß einen Scherz mit ihm trieb. »Meine Tochter«, erinnerte er sie.

»Das Mädchen steht unter schwerem Schock. Sie wurde in ein anderes Krankenhaus eingeliefert.«

»Wo bin ich?«

»In der Kaibacherklinik.«

Körner bekam große Augen. »In Graz?«

»Wo sonst!« Sie deutete auf den Teller. »Probieren Sie Ihre Mahlzeit, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Ich weiß, es ist unsensibel, das zu sagen, aber Sie sehen schrecklich aus. Falls Sie etwas brauchen, läuten Sie. Die Notfallklingel ist auf dem Nachtschrank.« Die Schwester wandte sich zur Tür. »Wie spät ist es?«

Demonstrativ wandte sie den Kopf, um einen Blick auf die Anzeige des Fernsehgeräts zu werfen. »Dreiundzwanzig Uhr dreißig«, las sie vor. »Wollen Sie fernsehen?«

Körner sank stumm ins Kissen zurück und starrte zur Decke, worauf die Schwester das Gerät einschaltete und aus dem Zimmer verschwand. Als er ihr nachblickte, bemerkte er einen vor der Tür postierten Kripobeamten. Der Mann drehte ihm den Rücken zu. Körner sah nur das ausrasierte Nackenhaar unter der Mütze, dann fiel die Tür ins Schloss.

Fernsehen konnte er später. Er schob sich die Decke vom Körper, um abermals die Beine aus dem Bett zu drehen. Er musste unbedingt mit dem Kollegen von der Kripo sprechen. Verena brauchte Polizeischutz, wohingegen Weißmann, Gehrer, Apfler, Stoißer, Pfarrer Sahms und eine Hand voll weiterer Dorfbewohner in Untersuchungshaft überstellt werden mussten, bevor sie sich untereinander absprechen konnten. Er brauchte dringend ein Telefon mit einer Leitung zu Jutta Koren, um sie über die Zusammenhänge des Falls aufzuklären. Seit Mittwoch war die Verbindung aus Grein unterbrochen gewesen - seit dieser Zeit war unglaublich viel passiert. Menschen schwebten in Gefahr!

Als Körner mit wackeligen Beinen auf dem Fliesenboden stand und die Klingel bereits in den Händen hielt, bohrten sich drei Wörter in sein Gehör: Grein am Gebirge! Er zuckte zusammen. Soeben liefen die Spätnachrichten im Fernsehprogramm. Am unteren Bildschirmrand wurde eine Infozeile eingeblendet: Eine Sondersendung aus dem Katastrophengebiet an der niederösterreichischburgenländischen Grenze.

Körner glitt die Klingel aus der Hand. Ungläubig starrte er auf den Monitor. Während eine Helikopteraufnahme von Grein und der Trier gezeigt wurde, erklang die Stimme des Nachrichtensprechers.

»… eskalierten die Vorfälle zu einem tragischen Höhepunkt Innerhalb einer Woche verlor das Landesgendarmeriekommando Wien im Greiner Katastrophengebiet vier Ermittler. Einsatzleiter des Teams war der einundvierzigjährige Chefinspektor Alexander Körner. Er gilt als der mutmaßliche Urheber des Dramas. Laut Zeugenaussagen hielt er der psychischen Belastung der jüngsten Ermittlungen nicht stand …« Pause.

»Ungewöhnlich kooperativ zeigte sich das Landesgendarmeriekommando gegenüber der Presse bei der Aufklärung der Tragödie von Grein. Der Tathergang konnte nach bisherigen Untersuchungen wie folgt rekonstruiert werden: Bereits vor drei Tagen erstach Körner den Kripofotografen Elmar Kralicz, einen zweifachen Familienvater. Anschließend erschoss er die Psychologin Doktor Sonja Berger mit seiner Dienstwaffe. Bei seiner Flucht aus Grein überfuhr Körner den Spurensicherer Rolf Philipp, der noch an Ort und Stelle verstarb. Während der ortsweiten Suche nach dem Täter zog Körner seine blutige Spur fort. Sie hinterlässt folgende Schreckensbilanz: Körner tötete seine Exfrau, sowie den ortsansässigen Hermann Goisser, der ihn davon abhalten wollte, den Greiner Friedhof zu schänden. Was Körner zu diesem Akt des Vandalismus getrieben hatte, ist bisher ungeklärt. Der Tod des Feuerwehrkommandanten Wolfgang Heck und des Greiner Arztes Doktor Konrad Weber geht ebenfalls auf das Konto des ehemaligen Kripobeamten. Auslöser des dreitägigen Amoklaufs dürfte die Suspendierung Körners gewesen sein.«

Körners Herz raste. Hitze wallte in ihm auf. Diese Idioten! Er musste dringend ein Gespräch mit Jutta Koren führen. Die Bilder von Grein verschwanden, stattdessen wurde ein Archivfoto eingeblendet, von einer Frau Ende dreißig, mit langen, braunen Haaren und einem augenzwinkernden Lächeln.

»Jana!«, hauchte Körner. Kraftlos sank er auf das Bett, den Blick ungläubig auf den Monitor gerichtet.

Der Nachrichtensprecher raschelte mit den Papieren. Danach sprach er weiter: »Die Gerichtsmedizinerin Doktor Jana Sabriski gilt zur Zeit als wichtigste Belastungszeugin in der Tragödie von Grein. Schwer angeschlagen überlebte sie als Einzige aus Körners Ermittlerteam die Mordversuche, die sich auch gegen ihre Person gerichtet hatten.«

»Himmel, Jana!« Körners Mund klappte auf. Wie hatte sie es rechtzeitig aus dem überfluteten Gewölbe unter der Kirche geschafft? Sie konnte sich nur in den Hohlraum des Dorfbrunnens gerettet haben. Nun war sie eine Belastungszeugin gegen ihn.

Warum nur, um Himmels willen? Wie in Trance starrte Körner auf den Monitor. Sabriskis Bild verschwand, wiederum wurden Aufnahmen von Grein gezeigt, diesmal von dem geborstenen Damm und der lehmfarbenen Flut, die das Land in einen gigantischen See verwandelt hatte.

»Im Moment ist noch unklar, wie Körner zu dem Sprengmaterial gekommen ist. Laut Zeugenaussagen ist es ihm gelungen, den Damm mit einem Fernzünder auf einer Länge von mehreren Hundert Metern zu zerstören, wodurch die unmenschliche Tragödie von Grein heraufbeschworen wurde. Bisher ist bekannt, dass zwanzig Menschen in der Flut ertranken. Dutzende werden vermisst. Die Bergungsaktion läuft seit mittlerweile sechseinhalb Stunden, die Einsätze werden die gesamte Nacht andauern … soeben wurde bekannt, dass die Greiner Hochwasserkatastrophe das einundzwanzigste Todesopfer gefordert hat … zurück zum Amokläufer. Körners Tochter überlebte die Katastrophe mit leichten Verletzungen. Auch sie konnte aus seiner Gewalt befreit werden, allerdings steht sie unter Schock …«

»Blödsinn!« Körner trat den Beitisch um, sodass das Tablett mit dem Essen klirrend zu Boden fiel.

»… laut Aussage des Landesgendarmeriekommandos wird sie innerhalb der nächsten Tage nach Heidenhof in die Obhut ihrer Großeltern übergeben.«

»Nein!« Körner ballte die Hand zur Faust. Der Verband knirschte. Blut sickerte durch die Mullbinde. Der Schmerz hielt ihn wach. Er musste bei Sinnen bleiben, da er jeden Augenblick den Verstand zu verlieren glaubte.

Indessen wurde zurück ins Nachrichtenstudio geschaltet. Der Sprecher blätterte in seinen Unterlagen, ein Blick in die Kamera folgte. »Körner wäre heute in drei Tagen zu einer Anhörung vor Gericht vorgeladen gewesen, da wegen seiner Fahrlässigkeit während seines letzten Falls zwei Kripobeamte angeschossen wurden, und ein mutmaßlicher Geiselnehmer an den Folgen seiner Verletzungen im Krankenhaus verstarb. Das Verfahren gegen Körner verzögert sich nun. Der Amokläufer ist zurzeit in psychiatrischer Behandlung. Zurück zu den aktuellen Meldungen aus Grein …«

Körners Sinne wurden taub. Er sah die Bilder im Fernsehen wie durch einen grauen Filter: Hochwasser, wohin das Auge reichte. Aus dem Hubschrauber glich der Ort einem schmutzigen See, aus dem Dutzende rote Schindeldächer ragten. Mitten im schlammigen Wasser trieben Boote. Dazwischen glaubte Körner schlangenhafte, braune Tentakel schwimmen zu sehen.

»Da ist es doch«, presste er ungläubig hervor. Sah das denn niemand? Der Grund, weshalb er den gesamten Ort vernichtet hatte war doch offensichtlich zu erkennen.

»… Murenabgänge verschlimmern die Bergungsarbeiten der Feuerwehr. Aus den Wäldern rollte die Schlammflut wie eine Lawine ins Tal.«

»Keine Muren, es ist das Gezücht … es kommt an die Oberfläche!« Ungläubig starrte Körner auf den Monitor. Wie konnte das sein? Das Getier war doch in den Greiner Wassermassen ertrunken, im Ölteppich verbrannt oder zumindest an den Chemikalien verreckt. Es konnte das alles nicht überlebt haben. Und falls doch? Ein schrecklicher Gedanke erfasste Körner. Konnte das Ding überhaupt sterben? Er versuchte, sich die Konsequenz der Ergebnisse von Sabriskis Autopsie an der Krajniktochter auszumalen. Unter dem Elektronenmikroskop hatte das untersuchte fremde Gewebe ein merkwürdiges Bild gezeigt. Die Fleischfetzen, Hautteile, Knorpel- und Blutspuren hatten eine Eigenautonomie aufgewiesen. Normalerweise hätte der Zerfallsprozess bereits einsetzen müssen, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Sämtliche Teile besaßen eine erhöhte Zellteilung, das Gewebe aktivierte sich von selbst und die Nerven reagierten auf Einflüsse von außen. Das Gewebe war nicht tot. Es lebte weiter, für sich allein! Und wenn das Wesen nun nicht tot war? Der Gedanke trieb ihn schier in den Wahnsinn.

Eine Zeit lang stierte Körner wie benommen durch den Monitor hindurch. Längst war die Sondersendung aus Grein beendet, stattdessen liefen Werbungen, aber seine Augen nahmen das Fernsehgerät nicht mehr wahr. In welcher Hölle war er da gelandet? Wer waren die Drahtzieher, die ihn als Schuldigen auserkoren hatten? Erst das Öffnen der Tür holte ihn in die Realität zurück.

Befand er sich überhaupt in der Realität - oder war er vielmehr in einem verrückten Traum gefangen? Körner sah auf. Diesmal kam keine Schwester herein, sondern zwei Ärzte in Kitteln.

Der ältere, mit Vollbart, gerunzelter Stirn und ernster Miene deutete auf seinen jüngeren Kollegen. »Doktor Pirrer aus der Kremser Unfallklinik«, brummte er. »Ich bin Doktor Czerny. Wie geht es Ihnen?«

Der jüngere Arzt betrachtete zuerst das auf dem Boden liegende Tablett, anschließend nahm er das Krankenblatt vom Bettende, um flüchtig über den Bericht zu lesen.

»Krems«, hauchte Körner. Soeben krempelte sich sein Gedächtnis von innen nach außen. »In Krems gab es vor sieben Jahren ähnliche Fälle wie in Grein …« Er erinnerte sich an die Akten, zu denen ihm Staatsanwalt Hauser den Zutritt verweigert hatte. »Genauso wie in Krems werden die Ereignisse in Grein zur Verschlussakte erklärt werden, habe ich Recht? Die Wahrheit wird verschwiegen, sie kann unmöglich an die Öffentlichkeit gelangen, nicht wahr?«

Körner starrte die Ärzte an. Mit einem Mal dämmerte ihm, was er soeben gesagt hatte. Es war die einzige plausible Erklärung. Nur so konnte es gewesen sein: Krems 1996, Gmunden 1999. Auch dort wurden Vierzehnjährige mit zerfetzter Wirbelsäule gefunden … ähnlich wie dieses Jahr in Grein. Schon damals hatte Philipp in den Fällen ermittelt, Basedov die Fotos geschossen. Bestimmt gab es auch in diesen Orten Eisengestänge mit Seilwinden und Lederfesseln, irgendwo verborgen in den Häusern. Bestimmt gab es auch dort Maschinen unter der Erde. Natürlich gab es auch dort Menschen mit Haltungsschäden, Wirbelsäulenproblemen und chronischen Kopfschmerzen. Zweifelsohne trugen die Menschen auch dort Heftpflaster auf dem Rücken.

Körner erinnerte sich an Weißmanns Aussage über die Reporterin von der Rundschau, die sich im Nervenkrankenhaus die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Wir haben etwas nachgeholfen - auch wir haben Kontakte. Natürlich hatten sie Kontakte und umfassende Beziehungen. Das Netz der Lügen reichte weiter, als Körner je geahnt hätte. Bei dem Gedanken drehte sich alles um ihn. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß der Hölle bewusst, die er aufgestoßen hatte.

»Die Opfer von damals hatten auch Knochenmarkkrebs, nicht wahr?«

Die beiden Ärzte warfen sich einen Blick zu. Körner entging es nicht, für einen Moment veränderten sich ihre Pupillen katzenhaft. Bei dem Anblick gefror Körner das Blut in den Adern. Die Ärzte standen zu dicht an der Wand. Bestimmt war es auch hier, direkt hinter ihnen, verborgen in den Steckdosen, hinter den Bänken, den Tapeten, Bildern, Spiegeln. Nicht nur in Grein, es wohnte noch in so vielen anderen Orten …