Schlagartig waren sämtliche Gerüchte aus seiner Kindheit wieder präsent und spukten in seinem Kopf herum. Daniel! Plötzlich war der Name da. Was hatte es mit Daniel auf sich? Was war noch gleich mit ihm geschehen? Der Junge aus dem Ort war ein Jahr jünger gewesen als er. Ein Gesicht entstand in seiner Vorstellung, langsam nahm die Erinnerung Formen an. Als er mit sechs Jahren in die erste Volksschulklasse ging, besuchte Daniel die Vorschule. Er wurde von seinem Onkel gezwungen, in Mädchenkleidern zum Unterricht zu kommen. Täglich bemerkte er die Tränen des Jungen. Die Ortsbewohner sahen zu und schwiegen, auch als ihnen klar wurde, dass Daniels Onkel ihm zu Hause nicht nur Röcke anzog sondern noch andere Dinge antat. Erst nach dem Selbstmord des Buben kam an die Öffentlichkeit, was sich in den letzten sechs Jahren im Keller des Onkels abgespielt hatte.

Im Nachbarort hatte sich Ähnliches zugetragen. Was war es noch gleich gewesen? Die Jugendlichen erzählten sich, dass ein Mädchen mit fünfzehn Jahren bereits zweimal abgetrieben hatte, obwohl jedem klar war, dass sie mit keinem Freund ging. Leni! Jeder wusste, sie kannte keinen Freund haben, da ihr Vater sie nicht aus dem Haus ließ. Darüber, wer das Mädchen geschwängert hatte, gab es nur Vermutungen.

Spekulationen kursierten auch darüber, was in jenem Jahr im Sommer passierte, als er zehn wurde. Körner erinnerte sich dumpf daran. Er wusste nur so viel, dass die meisten Frauen in den Sommermonaten bis spät in die Nacht auf den Feldern arbeiteten. Es war eine Katastrophe, wenn eine während der Erntezeit für zwei Tage ausfiel. Die Entbindung einer Schwangeren im Krankenhaus kam nicht in Frage, Hausgeburten standen auf der Tagesordnung, aber nicht alle gingen gut aus. Anna! Sie war so ein Fall. Sie gebar ein totes Kind, angeblich wurde es nie beerdigt. Im Wirtshaus erzählten sich die Bauern, dass sie ein von Füchsen angenagtes rosafarbenes Bündel in der Furche liegen sahen, als sie mit den Traktoren den Acker pflügten.

Und immer wieder gab es Geschichten über Kinder. Die Tochter des Mechanikers war eine pummelige, unansehnliche Frau. Sie hatte keinen Mann, dennoch gingen bei ihr die Männer ein und aus. Manuela! Sie war so dick, dass die Frauen im Ort gar nicht bemerkten, dass sie schwanger war, nicht einmal sie selbst hatte es bemerkt - erst als sie im Hinterhof ihres Vaters auf dem Plumpsklo saß und schlagartig die Wehen einsetzten. Das Kind wurde nie gefunden, es hatte auch keiner danach gesucht. Jeder im Ort ahnte, was passiert war, doch niemand redete darüber. Alle hielten dicht wie eine Mauer.

Im Gegensatz zu Manuela war die alte Greißlerin des Ortes beinahe sechzig Jahre, als sie noch einmal schwanger wurde und ein Kind gebar. Liesbeth! Angeblich starb ihr Baby bei der Geburt, doch die alte Liesbeth, über die man sich erzählte, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sei, wurde immer wieder im Ort gesehen, wie sie ihr Kind im Arm trug. Es war im Spätsommer und viele dachten, sie wasche sich nicht, doch als man ihr Wochen nach der Geburt das Bündel aus dem Arm nahm, erkannte man, dass nicht sie es war, die den süßen, aufdringlichen Gestank verbreitete.

Eines Tages tauchen die toten Kinder wieder auf. Eines Tages wird man sie finden, nicht in den Äckern, in den Senkgruben und in den Armen der Schwachsinnigen. Auch in der Gaslight Bar werden sie versteckt. Tote Kinder unter den speckigen Bodenbrettern, hinter dem abfallenden Putz, verborgen im Fundament des Kellers. Verstümmelt, an die Stahlkonstruktion gefesselt, mit weit aufgerissenen Wunden, in denen das Fleisch weiterwächst, das Gewebe wuchert und sich vermehrt.

Inmitten des faulen Geruchs steht Wolfgang Heck. Sein Feuerwehranzug ist blutig, er watet durch menschliches Gewebe, sinkt knietief ein.

»Körner wird uns helfen, die Sandsäcke zu füllen.«

Heck drückt ihm einen leeren Jutesack in die Hand. Seine Finger sind blutig.

»Wir müssen alles wegschaffen, bevor der Regen kommt. Pack an!«

Heck sieht ihm fanatisch in die Augen. »Komm nicht zurück, Alex! Bleib, wo du bist. Du kannst deine Mutter nicht retten. Sie ist hier bei uns.«

Heck wedelt mit den Armen und versucht, ihn mit wilden Gesten zu vertreiben.

»Komm nicht zurück! Du wirst genauso verbrennen wie sie.«

Die Flammen züngeln und greifen nach ihm. Seine Haut brennt, das Feuer lodert an seinem Arm hinauf, bis zur Schulter. Die Haare verdampfen, das Fleisch wirft Blasen. Er spürt die Finger seiner Mutter. Er will nach ihrer Hand greifen, doch sie sitzt auf der brennenden Küchenbank und rührt sich nicht von der Stelle.

Er ruft nach ihr, will sie aus den Flammen zerren, doch sie hilft nicht mit. Sie bleibt sitzen, und er ist zu schwach, sie aus den Flammen zu reißen.

»Mama!«

»Geh mein Junge, ich bleibe hier.«

»Mama! Komm!«

»Ich kann nicht.«

Schreiend fuhr Körner hoch. Er schlug mit der Hand nach seinem Arm, um die Flammen zu ersticken, doch da waren keine Flammen, keine Hitze, kein Feuer. Er hatte im Reflex den Telefonapparat von der Couch geworfen; der Hörer war über den Teppichboden gesprungen. Das Freizeichen holte ihn in die Realität zurück. Das Wohnzimmer! Sein Wohnzimmer. Das Fernsehgerät lief. Die rote Anzeige am Videorekorder zeigte 03.20 Uhr. Er war in Wien, nicht in Grein am Gebirge, sondern in seiner Wiener Wohnung in Sicherheit.

»Verdammt.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein nackter Oberkörper war nass. Ihn fröstelte.

Langsam öffnete er die linke Hand, die zur Faust verkrampft war. Er hatte sich die Fingernägel in den Handballen gegraben. Die zerknitterte Zeichnung der Reporterin kam zum Vorschein. Er hatte das Blatt im Traum zu einem Papierball zerknüllt.

»Herrgott!«

Er ließ sich auf die Couch fallen und atmete tief durch. Über zwanzig Jahre hatten sie ihn in Ruhe gelassen, doch jetzt waren sie wieder da, die Albträume, die ihn in seiner Kindheit heimgesucht hatten. Das war erst der Anfang, und er wusste, es würden noch schlimmere kommen. Bevor sie ihn innerlich auffraßen, musste er den Mörder finden.

Er schaltete das Licht und den Fernsehapparat aus, nahm eine Decke, legte sich auf die Couch und hoffte, traumlos zu schlafen.