»Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Wenn du mir sagst, wo ich finde, was ich
suche.«
»Hier, vor dir, in der roten Dose.«
»In dieser? Früher war das doch woanders,
ich meine – Pardon, ich höre dir zu.«
»Wie viele Jahre habt ihr euch
getroffen?«
»Mathilde und ich?«
»Ja.«
»Zwischen Hongkong und unserem letzten
Gespräch, fünf Jahre und sieben Monate.«
»Und habt ihr viel Zeit miteinander
verbracht?«
»Nein, das habe ich doch schon gesagt. Ein
paar Stunden nur, ein paar Tage.«
»Und das hat euch gereicht?«
»…«
»Das hat euch gereicht?«
»Nein, natürlich nicht. Das heißt, ja, ich
habe schließlich nichts dafür getan, die Situation zu ändern. Das
habe ich mir jedenfalls hinterher gesagt. Vielleicht gefiel es mir
sogar. ›Gefallen‹ – was für ein häßliches Wort. Vielleicht kam es
mir ja sehr gelegen, auf der einen Seite die beruhigende Ehegattin
und auf der anderen das Prickeln. Mein Abendessen, wenn ich von der
Arbeit nach Hause kam, und das Gefühl, von Zeit zu Zeit über die
Stränge zu schlagen. Den Magen gefüllt und wohlgenährt. Das war
praktisch, das war bequem.«
»Hast du sie gerufen, wenn du sie gebraucht
hast?«
»Ja, so etwa war es.«
Er stellte den Tee vor mich hin.
»Das heißt, eigentlich nein. Ganz so war
es nicht. Einmal, ganz am Anfang, hat sie mir einen Brief
geschrieben. Den einzigen, den sie mir im übrigen je geschickt hat.
Sie schrieb:
Ich habe nachgedacht, und ich mache mir keine
Illusionen, ich liebe dich, aber ich vertraue dir nicht. Was wir
erleben, ist nicht wirklich, sondern ein Spiel. Da es ein Spiel
ist, braucht man Regeln. Ich will dich nicht mehr in Paris treffen.
Weder in Paris noch an irgendeinem anderen Ort, an dem du Angst
hast. Wenn ich mit dir zusammen bin, will ich dir auf der Straße
die Hand geben können und dich im Restaurant küssen, sonst
interessiert mich das alles nicht. Ich bin nicht mehr in dem Alter,
in dem man Katz und Maus spielen will. Wir werden uns folglich nur
ganz weit weg sehen, in anderen Ländern. Sobald du weißt, wohin du
fährst, schreibst du mir an diese Adresse, es ist die Adresse
meiner Schwester in London, sie weiß, wohin sie die Post nachsenden
muß. Mach dir nicht die Mühe, etwas Nettes zu schreiben, gib
einfach nur kurz Bescheid. Schreib mir, in welchem Hotel du
absteigst, und wo und wann. Wenn ich kommen kann, werde ich kommen,
wenn nicht, Pech gehabt. Versuch nicht, mich anzurufen oder
herauszufinden, wo ich bin oder wie ich lebe, ich glaube, das ist
nicht mehr das Thema. Ich habe darüber nachgedacht und glaube, die
beste Lösung besteht darin, es so zu machen wie du, mein eigenes
Leben zu führen und dich zu lieben, aber auf Abstand. Ich möchte
nicht auf deine Anrufe warten, ich will nicht ausschließen, daß ich
mich verliebe, ich will schlafen können mit wem ich will und wann
ich will, ohne Skrupel. Denn du hast recht, ein Leben ohne Skrupel
ist – it’s more convenient. So hatte ich es
bisher nicht gesehen, aber warum nicht? Ich will es gerne
versuchen. Was habe ich schließlich zu verlieren? Einen feigen
Mann? Und zu gewinnen? Das Vergnügen, ab und zu in deinen Armen
einzuschlafen. Ich habe darüber nachgedacht, ich will es gerne
versuchen. Alles oder nichts.
Was ist?«
»Nichts. Es gefällt mir, daß du einen
ebenbürtigen Gegner gefunden hast.«
»Leider nein. Sie ließ die Muskeln spielen
und gab sich als Femme fatale aus, dabei
war sie eine ganz Anhängliche. Das wußte ich noch nicht, als ich
mich auf ihre Bedingungen einließ, das habe ich erst sehr viel
später begriffen. Erst fünf Jahre und sieben Monate später.
Das heißt. Jetzt lüge ich. Ich habe es
zwischen den Zeilen gelesen, ich konnte mir denken, wieviel
Überwindung Sätze wie diese sie kosteten, aber ich wollte das Thema
nicht ansprechen, denn mir paßten diese Regeln sehr gut. Sehr, sehr
gut sogar. Ich würde den Import-Export-Bereich ausbauen und mich an
das Fliegen gewöhnen, das war alles. Ein solcher Brief ist für den
Mann, der seine Frau ungestört betrügen will, geradezu ein
Glücksfall. Natürlich gingen mir ihr Bettgerede und ihre Pläne,
sich zu verlieben, ein wenig gegen den Strich, aber so weit waren
wir noch nicht.«
Er setzte sich ans Tischende auf seinen
gewohnten Platz.
»Ich war ein schlauer Kerl, nicht? Ja, ich
war damals ein schlauer Kerl. Vor allem habe ich dank dieser
Geschichte nicht wenig Geld verdient. Ich hatte nämlich immer die
Tendenz, den internationalen Markt ein wenig zu vernachlässigen
…«
»Warum dieser Zynismus?«
»Diese Frage hast du vorhin selbst sehr
richtig beantwortet.«
Ich beugte mich vor, um das Teesieb
rauszunehmen.
»Und außerdem war es äußerst romantisch.
Mit Herzklopfen stieg ich aus dem Flugzeug, ich meldete mich im
Hotel in der Hoffnung, mein Schlüssel wäre nicht mehr da, ich
stellte mein Gepäck in fremden Zimmern ab und durchsuchte alles, um
herauszufinden, ob sie schon dagewesen war, ich ging zur Arbeit,
ich kam abends zurück und flehte den Himmel an, sie möge in meinem
Bett liegen. Manchmal war sie da, manchmal nicht. Sie kam mitten in
der Nacht, und wir verloren uns ineinander, ohne ein Wort
gewechselt zu haben. Wir lachten unter der Bettdecke, verzückt
darüber, daß wir uns hier gefunden hatten. Endlich. So fern. So
nah. Manchmal kam sie erst am nächsten Morgen, und ich verbrachte
die Nacht an der Bar, wo ich auf ihre Schritte in der Halle
lauschte. Manchmal nahm sie sich ein eigenes Zimmer und befahl mir,
am frühen Morgen zu ihr zu kommen. Manchmal kam sie nicht, und ich
haßte sie. Schlechtgelaunt kehrte ich nach Paris zurück. Am Anfang
hatte ich wirklich viel Arbeit, aber dann wurde es weniger. Ich
ließ mir irgend etwas einfallen, um wegfahren zu können. Manchmal
sah ich mir das Land an, und manchmal sah ich nichts anderes als
mein Hotelzimmer. Es kam sogar vor, daß wir nicht über das
Flughafengelände hinauskamen … Es war lächerlich. Es ergab
überhaupt keinen Sinn. Manchmal hörten wir nicht auf zu reden, und
manchmal hatten wir uns nichts zu sagen. Ihrem Versprechen treu,
sprach Mathilde fast nie über ihr Gefühlsleben. Es sei denn im
Bett. Sie erwähnte Männer oder Situationen, die mich verrückt
machten, aber nur im Bett. Ich war dieser Frau ausgeliefert, ihrem
durchtriebenen Gesichtsausdruck, wenn sie vorgab, im Dunkeln den
Vornamen zu verwechseln. Ich gab mich gekränkt, war aber am Boden
zerstört. Ich nahm sie noch viel brutaler, obwohl ich davon
träumte, sie in die Arme zu schließen.
Wenn einer von uns beiden spielte, litt der
andere Qualen. Es war vollkommen absurd. Ich träumte davon, sie zu
packen und zu schütteln, bis sie es ausspuckte, ihr Gift. Bis sie
mir sagte, daß sie mich liebte. Bis sie es mir sagte, mein Gott.
Aber ich konnte nicht, ich war der Dreckskerl. Das alles war meine
Schuld.«
Er war wieder aufgestanden, um sein Glas zu
holen.
»Was hatte ich geglaubt? Daß es jahrelang
so weitergehen würde? Jahrelang? Nein, das glaubte ich nicht. Wir
trennten uns verstohlen, traurig und unbeholfen, ohne jemals über
das nächste Mal zu sprechen. Nein, es war unerträglich. Und je mehr
ich mich sträubte, um so mehr liebte ich sie, und je mehr ich sie
liebte, um so weniger glaubte ich daran. Ich fühlte mich
überfordert, machtlos, in meinem Netz gefangen. Gelähmt,
resigniert.«
»Weshalb resigniert?«
»Daß ich sie eines Tages verlieren
könnte.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Doch. Natürlich verstehst du das. Was
sollte ich tun, he? Du antwortest nicht?«
»Nein.«
»Nein, du kannst natürlich keine Antwort
geben. Du bist der Mensch, der auf der ganzen Welt am wenigsten
dazu geeignet ist, auf diese Frage zu antworten.«
»Was genau hast du ihr versprochen?«
»Ich weiß es nicht mehr – nicht viel, nehme
ich an, oder aber das Unmögliche. Nein, nicht viel. Ich besaß den
Anstand, die Augen zu schließen, wenn sie mir Fragen stellte, und
sie zu küssen, wenn sie auf die Antwort wartete. Ich war fast
fünfzig und fühlte mich alt. Ich hielt dies für das Ende des
Parcours. Ein sonniges Ende… ›Überstürzen wir nichts‹, dachte ich,
›sie ist so jung, sie wird diejenige sein, die als erste geht‹, und
jedesmal, wenn ich sie wieder traf, war ich glücklich, aber auch
überrascht. Wie? Sie ist immer noch da? Warum? Ich konnte nicht
verstehen, was sie an mir liebenswert fand, und überlegte: ›Warum
ein Chaos anrichten, da sie doch diejenige ist, die mich verlassen
wird?‹ Das war unausweichlich. Es gab überhaupt keinen Grund für
sie, das nächste Mal noch da zu sein, überhaupt keinen. Am Ende war
ich sogar so weit, daß ich hoffte, sie wäre nicht da. Bis jetzt
hatte das Leben so wunderbar die Aufgabe übernommen, Entscheidungen
für mich zu treffen, weshalb sollte sich das ändern? Weshalb? Ich
hatte schon unter Beweis gestellt, daß ich nicht dafür geschaffen
war, die Dinge in die Hand zu nehmen. Draußen, im Beruf, ja, da war
es ein Spiel, und ich war der beste, aber drinnen? Ich zog es vor,
alles zu ertragen, ich zog es vor, mich zu trösten, indem ich mir
sagte, daß ich derjenige war, der litt. Ich zog es vor zu träumen
oder Sehnsüchte zu haben. Das ist um so vieles einfacher.
Meine Großtante väterlicherseits, eine
Russin, sagte oft zu mir:
›Du bist wie mein Vater, du hast Sehnsucht
nach den Bergen.‹
›Nach welchen Bergen, Muschka?‹ fragte
ich.
›Nun, nach den Bergen, die du nie gesehen
hast!‹«
»Das hat sie zu dir gesagt?«
»Ja. Das sagte sie jedesmal, wenn ich aus
dem Fenster sah.«
»Und was hast du dir angesehen?«
»Die Busse!«
Er lachte.
»Noch eine Person, die dir gefallen hätte.
Ich werde dir an einem unserer Freitage von ihr erzählen.«
»Dann gehen wir zu Chez Dominique.«
»Wir gehen, wohin du willst, das habe ich
dir doch schon gesagt.«
Er schenkte mir noch einen Tee ein.
»Und sie, was hat sie in der Zeit
gemacht?«
»Ich weiß nicht. Sie hat gearbeitet. Sie
hatte eine Stelle bei der Unesco angenommen und wenig später wieder
aufgegeben. Es machte ihr keinen Spaß, dieses unterwürfige Gesülze
zu übersetzen. Sie hielt es nicht aus, tagelang eingesperrt zu sein
und die Moralpredigten der Politiker herunterzubeten. Sie zog die
Business-World vor, in der das Adrenalin von besserer Qualität war.
Sie ging auf Reisen, besuchte ihre Brüder, Schwestern und Freunde,
die über den ganzen Erdball verstreut waren. Sie blieb einige Zeit
in Norwegen, aber diese helläugigen Ayatollahs gefielen ihr auch
nicht, und außerdem fror sie die ganze Zeit. Und als sie von der
ständigen Zeitverschiebung genug hatte, blieb sie in London und
übersetzte technische Beipackzettel. Sie liebte ihre Neffen.«
»Und abgesehen von der Arbeit?«
»Tja, das – das ist ein großes
Fragezeichen. Ich habe weiß Gott versucht, ihr die Würmer aus der
Nase zu ziehen, aber – sie war verschlossen, wich mir aus, entzog
sich meinen Fragen. ›Laß mir wenigstens das‹, sagte sie, ›laß mir
wenigstens meine Würde auf diesem Gebiet. Die Würde derjenigen aus
der Back Street. Das ist doch nicht zuviel
verlangt, oder?‹ Oder aber sie zahlte es mir mit gleicher Münze
heim und quälte mich lachend. ›Ach, habe ich dir noch gar nicht
gesagt, daß ich letzten Monat geheiratet habe? Nein, wie dumm, ich
wollte dir Fotos zeigen, aber ich habe sie vergessen. Er heißt
Billy, er ist nicht sonderlich helle, aber er kümmert sich rührend
um mich, weißt du.‹«
»Konntest du darüber lachen?«
»Nein. Nicht wirklich.«
»Hast du sie geliebt?«
»Ja.«
»Wie hast du sie geliebt?«
»Ich habe sie geliebt.«
»Und welche Erinnerung hast du an diese
Jahre?«
»Ein Leben aus lauter Punkten: Nichts.
Etwas. Dann wieder nichts. Dann wieder etwas. Und dann wieder
nichts … Plötzlich war es ganz schnell vorbei. Wenn ich daran
zurückdenke, habe ich das Gefühl, die ganze Geschichte hätte nur
einen Sommer gedauert. Nicht einmal einen Sommer, einen Atemzug.
Eine Art Fata Morgana. Uns fehlte der Alltag. Darunter hat Mathilde
am meisten gelitten, glaube ich. Ich hatte es schon geahnt,
wohlgemerkt, aber eines Abends, nach einem langen Arbeitstag, gab
sie mir den Beweis.
Als ich von der Arbeit kam, saß sie vor
einem kleinen Schreibtisch und schrieb auf dem Hotel-Briefpapier.
Sie hatte mit ihrer kleinen, engen Schrift schon ein Dutzend Seiten
gefüllt.
›Wem schreibst du da?‹ habe ich sie gefragt
und mich über ihren Nacken gebeugt.
›Dir.‹
›Mir?‹
Sie verläßt mich, fuhr es mir durch den
Kopf, und ich fühlte mich gleich weniger gut.
›Was ist los? Du bist ganz blaß? Stimmt
etwas nicht?‹
›Warum schreibst du mir?‹
݀h, eigentlich schreibe ich dir nicht
wirklich, ich schreibe auf, was ich gerne mit dir machen
würde.‹
Die Blätter lagen überall verstreut. Um sie
herum, zu ihren Füßen, auf dem Bett. Ich griff wahllos ein Blatt
heraus:
… picknicken, am Flußufer Mittagsschlaf halten,
Pfirsiche, Garnelen, Croissants und klebrigen Reis essen,
schwimmen, tanzen, mir Schuhe, Wäsche und Parfum kaufen, Zeitung
lesen, einen Schaufensterbummel machen, Metro fahren, die Uhr im
Auge behalten, dich wegschubsen, wenn du dich zu sehr ausbreitest,
Wäsche aufhängen, in die Oper gehen, in Bayreuth, in Wien, im
Supermarkt einkaufen, grillen, schimpfen, weil du die Kohle
vergessen hast, mir gleichzeitig mit dir die Zähne putzen, dir
Unterhosen kaufen, den Rasen mähen, über deine Schulter hinweg die
Zeitung lesen, dich davon abhalten, zu viele Erdnüsse zu essen, die
Weinkeller der Loire besichtigen und die von Hunter Valley, Faxen
machen, plaudern, dir Martha und Tino vorstellen, Brombeeren
pflücken, kochen, noch einmal nach Vietnam reisen, einen Sari
tragen, im Garten arbeiten, dich wecken, weil du schnarchst, in den
Zoo gehen, auf den Flohmarkt, nach Paris, London, Melrose und
Picadilly fahren, dir etwas vorsingen, mit dem Rauchen aufhören,
dich bitten, mir die Nägel zu schneiden, Geschirr, Krimskrams und
unnütze Dinge kaufen, Eis essen, Leute betrachten, dich beim
Schachspiel schlagen, Jazz und Reggae hören, Mambo und Cha-cha-cha
tanzen, mich langweilen, launisch sein, schmollen, lachen, dich um
den kleinen Finger wickeln, ein Haus mit Blick auf Kühe suchen,
idiotische Einkaufswagen volladen, die Decke streichen, Vorhänge
nähen, stundenlang am Tisch sitzen bleiben, um mit interessanten
Leuten zu reden, dein Kinn in die Hand nehmen, dir die Haare
schneiden, Unkraut rupfen, das Auto waschen, das Meer sehen, mir
alte Schinken im Kino anschauen, dich anrufen, dir grobe Sachen an
den Kopf werfen, stricken lernen, dir einen Schal stricken, das
scheußliche Teil wieder aufribbeln, Katzen, Hunde, Papageien und
Elefanten beherbergen, Fahrräder ausleihen, sie nicht benutzen, in
einer Hängematte liegen, noch einmal die Comics meiner Großmutter
lesen, Kleider von Suzy anschauen, im Schatten Margheritas trinken,
schummeln, den Umgang mit einem Bügeleisen erlernen, das Bügeleisen
zum Fenster hinauswerfen, im Regen singen, vor Touristen flüchten,
mich betrinken, dir die ganze Wahrheit sagen, mich daran erinnern,
daß die Wahrheit nicht immer angenehm ist, dir zuhören, dir die
Hand geben, mein Bügeleisen wieder reinholen, Liedertexte anhören,
den Wecker stellen, unsere Koffer vergessen, nicht weiter durch die
Gegend rennen, den Müll nach unten bringen, dich fragen, ob du mich
noch immer liebst, mich mit der Nachbarin unterhalten, dir von
meiner Kindheit in Bahrein erzählen, von den Ringen meiner
Kinderfrau, dem Hennageruch und den Bernsteinkügelchen, Brot in
Streifen schneiden, Etiketten für Marmeladengläser beschriften
…
Und so ging es weiter, Seite um Seite.
Seite um Seite … Ich erzähle dir, was mir durch den Kopf geht,
woran ich mich erinnere. Es war unglaublich.
›Seit wann schreibst du daran?‹
›Seit du zur Arbeit gegangen bist.‹
›Und warum?‹
›Weil ich mich langweile‹, antwortete sie
in fröhlichem Ton, ›stell dir vor, ich sterbe vor
Langeweile!‹
Ich habe den ganzen Kram aufgehoben und
mich auf die Bettkante gesetzt, um klarer zu sehen. Ich lächelte,
aber in Wirklichkeit war ich von so viel Verlangen, so viel Energie
wie gelähmt. Ich lächelte trotzdem. Sie konnte die Dinge so witzig
ausdrücken, so geistreich, und lauerte dann auf meine Reaktion. Auf
einer der Seiten, zwischen ›wieder bei Null anfangen‹ und ›Fotos
einkleben‹, regelrecht dazwischengequetscht, stand ›ein Kind‹,
einfach so, ohne Kommentar. Ich sah diese ellenlange Liste durch,
ohne einen Mucks von mir zu geben, während sie sich auf die Lippen
biß.
›Na?‹ Sie hielt den Atem an. ›Was denkst
du?‹
›Wer sind Martha und Tino?‹ fragte
ich.
So, wie sich ihr Mund verzogen hatte, wie
ihre Schultern und ihre Hand herabhingen, wußte ich, daß ich sie
verlieren würde. Daß ich, indem ich diese bescheuerte Frage
stellte, meinen Kopf in die Schlinge gelegt hatte. Sie verschwand
ins Badezimmer und antwortete ›anständige Leute‹, bevor sie die Tür
schloß. Aber anstatt ihr nachzugehen, anstatt mich ihr zu Füßen zu
werfen und ihr zu sagen, ja, alles, was du willst, denn ja, ich bin
auf dieser Welt, um dich glücklich zu machen, ging ich auf den
Balkon, um eine Zigarette zu rauchen.«
»Und dann?«
»Nichts dann. Sie schmeckte mir nicht. Wir
gingen nach unten zum Essen. Mathilde war schön. Schöner denn je,
kam es mir vor. Und lebhaft, und fröhlich. Alle sahen zu ihr hin.
Die Frauen drehten sich um, und die Männer lächelten mir zu. Sie
war – wie soll ich sagen – sie leuchtete. Ihre Haut, ihr Gesicht,
ihr Lächeln, ihre Haare, ihre Gestik, alles an ihr fing das Licht
ein und gab es anmutig zurück. Es war eine Mischung aus Vitalität
und Zärtlichkeit, die mich immer wieder überraschte. ›Du bist
schön‹, gestand ich ihr. Sie zuckte mit den Schultern. ›In deinen
Augen.‹ ›Ja‹, pflichtete ich ihr bei, ›in meinen Augen.‹
Und wenn ich heute an sie denke, nach all
den Jahren, ist dies das erste Bild, das mir in den Sinn kommt: wie
sie mit ihrem langen Hals, den dunklen Augen und dem kleinen
braunen Kleid in diesem österreichischen Speisesaal die Schultern
zuckte.
Übrigens war es Absicht, diese ganze
Schönheit, diese ganze Anmut. Sie wußte genau, was sie an jenem
Abend tat: Sie machte sich unvergeßlich. Vielleicht irre ich mich
auch, aber ich glaube nicht. Es war ihr Schwanengesang, ihr
Abschied, ihr Taschentuch am Fenster. Sie war so feinfühlig, sie
mußte es spüren. Sogar ihre Haut war weicher. War sie sich dessen
bewußt? War es Großzügigkeit von ihrer Seite oder Grausamkeit?
Beides, denke ich – beides.
Und in der Nacht, nach den Zärtlichkeiten
und dem Liebesgestöhn, sagte sie zu mir:
›Darf ich dir eine Frage stellen?‹
›Ja.‹
›Wirst du mir antworten?‹
›Ja.‹
Ich hatte die Augen wieder geöffnet.
›Findest du nicht, daß wir gut
zusammenpassen?‹
Ich war enttäuscht, ich hatte so etwas wie
– ja – eine lodernde Frage erwartet.
›Doch.‹
›Findest du auch?‹
›Ja.‹
›Ich finde, daß wir sehr gut
zusammenpassen. Ich bin gern mit dir zusammen, weil es nie
langweilig ist. Auch dann, wenn wir nicht miteinander reden, wenn
wir uns nicht berühren, wenn wir nicht im gleichen Zimmer sind,
langweile ich mich nicht. Langweile ich mich nie. Ich glaube, das
liegt daran, daß ich dir vertraue, daß ich deinen Gedanken
vertraue. Kannst du das verstehen? Alles, was ich von dir sehe, und
alles, was ich nicht sehe, liebe ich. Trotzdem kenne ich deine
Fehler. Aber ich habe gerade das Gefühl, daß deine Fehler gut zu
meinen Vorzügen passen. Wir fürchten uns nicht vor den gleichen
Dingen. Sogar unsere schlechten Eigenschaften passen gut zusammen!
Du bist mehr wert, als du zeigst, und für mich gilt das Gegenteil.
Ich brauche deinen Blick, um etwas mehr – etwas mehr Bodenhaftung
zu haben? Wie sagt man dazu? Substanz? Wenn man sagen will, daß
jemand innerlich interessant ist?‹
›Tiefe?‹
›Genau! Ich bin wie ein Drachen im Wind,
wenn jemand die Schnur losläßt, pfff, fliege ich davon. Und du, das
ist witzig, ich denke oft, daß du stark genug bist, um mich zu
halten, und intelligent genug, um mich ziehen zu lassen.‹
›Warum erzählst du mir das alles?‹
›Ich wollte, daß du es weißt.‹
›Warum gerade jetzt?‹
›Ich weiß nicht. Ist es denn nicht
unglaublich, daß man jemanden kennenlernt und denkt: Bei diesem
Menschen geht es mir gut.‹
›Aber warum erzählst du mir das
jetzt?‹
›Weil ich manchmal das Gefühl habe, du bist
dir gar nicht darüber im klaren, was für ein Glück wir
haben.‹
›Mathilde?‹
›Ja.‹
›Wirst du mich verlassen?‹
›Nein.‹
›Bist du nicht glücklich?‹
›Nicht sehr.‹
Dann schwiegen wir.
Am nächsten Tag sind wir auf die Berge
gekraxelt, und am übernächsten Tag sind wir wieder in unser
jeweiliges Leben zurückgekehrt.«
Mein Kräutertee wurde kalt.
»War’s das?«
»Fast.«
»Ein paar Wochen später kam sie nach
Paris und bat mich, mir ein bißchen Zeit für sie zu nehmen. Ich war
glücklich und zugleich verstimmt. Wir haben einen langen
Spaziergang gemacht, fast ohne ein Wort zu wechseln, und dann habe
ich sie am Rond-Point des Champs-Élysées zum Essen
ausgeführt.
Als ich es wagte, ihre Hände in meine zu
nehmen, hat sie mir den Schlag versetzt:
›Pierre, ich bin schwanger.‹
›Von wem?‹ habe ich geantwortet, plötzlich
blaß im Gesicht.
Freudestrahlend stand sie auf.
›Von niemandem.‹
Sie zog ihren Mantel über und schob den
Stuhl zurück. Ein wunderschönes Lächeln legte sich über ihr
Gesicht.
›Ich danke dir, du hast genau die Worte
gesagt, auf die ich gewartet habe. Ja, ich habe diesen ganzen Weg
zurückgelegt, um diese zwei Worte zu hören. Es war nicht ohne
Risiko.‹
Ich stotterte, ich wollte ebenfalls
aufstehen, aber das Tischbein – sie bedeutete mir:
›Bleib sitzen.‹
Ihre Augen glänzten.
›Ich habe bekommen, was ich wollte. Ich
habe es nicht geschafft, dich zu verlassen. Ich kann nicht mein
ganzes Leben lang auf dich warten, aber ich … Nichts. Ich mußte
diese Worte hören. Ich mußte sie sehen, deine Feigheit. Sie mit dem
Finger berühren, verstehst du? Nein, bleib sitzen, bleib sitzen,
sage ich! Bleib sitzen! Ich muß jetzt gehen. Ich bin so müde. Wenn
du wüßtest, wie müde ich bin, Pierre. Ich – ich kann nicht
mehr.‹
Ich stand auf.
›Du wirst mich doch gehen lassen, oder? Du
wirst mich doch gehen lassen? Du mußt mich jetzt gehen lassen, du
mußt mich jetzt …‹ Ihr versagte die Stimme. ›Du wirst mich doch
gehen lassen, nicht wahr?‹
›Ja‹, sagte ich.
›Aber du weißt, daß ich dich liebe, das
weißt du, nicht wahr?‹ brachte ich schließlich heraus.
Sie ging weg und drehte sich noch einmal
um, bevor sie aus der Tür trat. Sie starrte mich an und wendete den
Kopf von links nach rechts.«
*
Mein Schwiegervater war aufgestanden, um
ein Insekt auf der Lampe zu töten.
Er goß den Rest der Flasche in sein
Glas.
»Das war’s jetzt?«
»Ja.«
»Du bist ihr nicht nachgelaufen?«
»Wie im Film?«
»Ja. In Zeitlupe.«
»Nein. Ich habe mich ins Bett
gelegt.«
»Ins Bett?«
»Ja.«
»Wo denn?«
»Nun, zu Hause!«
»Warum?«
»Ein Schwächeanfall, eine große Müdigkeit.
Seit ein paar Monaten schon verfolgte mich die Idee von einem toten
Baum. Zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten träumte ich, daß
ich einen toten Baum hinaufkletterte und mich in seinen hohlen
Stamm fallen ließ. Und der Aufprall war sanft, ganz sanft – als
würde ich auf einem Sprungtuch landen. Ich federte noch einmal nach
oben, fiel dann tiefer und flog noch einmal hoch. Ununterbrochen
mußte ich daran denken. In Sitzungen, bei Tisch, im Auto, beim
Einschlafen. Ich kletterte auf meinen Baum und ließ mich jäh
fallen.«
»Eine Depression?«
»Nicht so ein großes Wort, ich bitte dich,
nicht so ein großes Wort. Du weißt ja, wie es bei den Dippels
zugeht«, grinste er, »du hast es vorhin schon gesagt. Keine
Stimmungsschwankungen, keine Ausscheidungen, keine Galle. Nein,
solche Kapriolen konnte ich mir nicht erlauben. Ich bekam also eine
Gelbsucht. Das war angemessener. Ich wachte am nächsten Morgen auf,
das Weiße im Auge zitronengelb, Ekel und dunkler Urin, und schon
war die Sache geritzt. Eine saftige Hepatitis bei einem Mann, der
viel reiste, das bedurfte keiner Erklärung.
Christine übernahm es an diesem Tag, mich
auszuziehen.
Ich konnte kein Glied mehr rühren. Einen
ganzen Monat lang hütete ich das Bett, mir war speiübel, und ich
war erschöpft. Wenn ich Durst hatte, wartete ich, bis jemand ins
Zimmer kam und mir ein Glas reichte, und wenn ich fror, hatte ich
nicht die Kraft, die Decke allein hochzuziehen. Ich hatte aufgehört
zu reden. Ich erlaubte den anderen nicht, die Fensterläden zu
öffnen. Ich war zu einem Greis geworden. Suzannes Güte, meine
Ohnmacht, das Geflüster der Kinder, alles strengte mich an. Konnte
man denn nicht ein für allemal die Tür zumachen und mich meinem
Kummer überlassen? Wäre Mathilde gekommen, wenn … Wäre sie … Ach …
Ich war so müde. Und meine Erinnerungen, meine Sehnsüchte und meine
Feigheit belasteten mich noch mehr. Die Augen halb geschlossen,
kurz vorm Erbrechen, dachte ich über das Debakel nach, das sich
mein Leben nannte. Das Glück war dagewesen, und ich hatte es
vorbeiziehen lassen, um mir das Dasein nicht zu erschweren. Dabei
wäre es so einfach gewesen. Ich hätte bloß die Hand auszustrecken
brauchen. Der Rest hätte sich sicher irgendwie geregelt. Alles
regelt sich schließlich irgendwie, wenn man verliebt ist, meinst du
nicht auch?«
»Ich weiß nicht.«
»Aber ich weiß es. Du kannst mir vertrauen,
Chloé. Ich weiß nicht viel, aber das weiß ich. Ich sehe nicht
klarer als andere, ich bin nur doppelt so alt wie du. Doppelt so
alt, kannst du dir das vorstellen? Das Leben, auch wenn du es
verleugnest, auch wenn du es dir nicht eingestehen willst, ist
stärker als du. Stärker als alles andere. Menschen sind aus
Konzentrationslagern wiedergekehrt und haben Kinder gezeugt. Männer
und Frauen, die gefoltert worden waren, die ihre Angehörigen haben
sterben sehen, deren Häuser vor ihren Augen niedergebrannt wurden,
sind wieder zum Bus gerannt, haben sich über das Wetter unterhalten
und ihre Töchter verheiratet. Es ist unglaublich, aber es ist so.
Das Leben ist stärker als alles andere. Und außerdem, wer sind wir,
daß wir uns so wichtig nehmen? Wir regen uns auf, wir werden laut,
na und? Wozu? Und was dann?
Was ist aus der kleinen Sylvie geworden,
für die Paul hier im Zimmer nebenan gestorben ist? Was ist aus ihr
geworden?
Das Feuer ist heruntergebrannt …«
Er stand auf, um noch ein Holzscheit
aufzulegen.
Und ich, dachte ich, wo ist mein Platz
bei alledem?
Wo ist mein Platz?
Er kniete vor dem Kamin.
»Glaubst du mir, Chloé? Glaubst du mir,
wenn ich dir sage, daß das Leben stärker ist als du?«
»Natürlich.«
»Vertraust du mir?«
»Das hängt von der Tagesform ab.«
»Und heute?«
»Ja.«
»Dann tätest du gut daran, dich jetzt
schlafen zu legen.«
»Hast du sie nie wiedergesehen? Hast du nie
versucht, etwas über sie in Erfahrung zu bringen? Hast du sie nie
angerufen?«
Er seufzte.
»Hast du noch nicht genug?«
»Nein.«
»Ich habe natürlich bei ihrer Schwester
angerufen, ich bin sogar hingefahren, aber es hat nichts genützt.
Der Vogel war ausgeflogen. Um sie zu finden, hätte ich wissen
müssen, auf welcher Hemisphäre ich überhaupt suchen soll. Und
außerdem hatte ich versprochen, sie in Ruhe zu lassen. Es gibt
einen Charakterzug, den man mir trotz allem zugestehen muß. Ich
spiele fair.«
»Das ist ja total bescheuert, was du da
sagst. Es ging doch nicht darum, fair zu spielen oder unfair. Ein
guter oder schlechter Verlierer zu sein. Was für ein
schwachsinniger Gedanke, schwachsinnig und kindisch. Es war ja
schließlich kein Spiel – oder? War es denn ein Spiel?«
Er freute sich.
»Um dich mache ich mir wahrhaftig keine
Sorgen, meine Große. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für
eine hohe Meinung ich von dir habe. Du bist all das, was ich nicht
bin, du bist mir hundertfach überlegen, und dein gesunder
Menschenverstand wird uns alle retten …«
»Du bist betrunken, stimmt’s?«
»Von wegen. Ich habe mich noch nie so gut
gefühlt!«
Er stand auf und hielt sich dabei am
Kaminsturz fest.
»Gehen wir schlafen.«
»Du bist noch nicht fertig.«
»Soll ich noch mehr Unsinn reden?!«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich mag schöne Geschichten.«
»Findest du die Geschichte schön?«
»Ja.«
»Ich auch.«
»Du hast sie noch einmal wiedergesehen,
nicht wahr? Im Palais-Royal?«
»Woher weißt du das?«
»Du hast es mir selbst erzählt!«
»Tatsächlich? Habe ich das gesagt?«
Ich nickte.
»Gut, das wäre dann der letzte Akt …
An jenem Tag hatte ich Kunden ins Grand
Véfour eingeladen. Françoise hatte alles organisiert.
Jahrgangsweine, steife Ober, der ganze Schnickschnack. Ich hatte
mitgespielt. Es war längst fällig gewesen. Es war ein langweiliges
Essen. Das habe ich schon immer gehaßt. Stundenlang am Tisch zu
sitzen, mit Typen zu scherzen, die mir vollkommen egal sind, und
mir ihre Geschichten über die Arbeit anzuhören … Außerdem galt ich
als Spielverderber, wegen meiner Leber. Ich habe über lange Zeit
keinen Schluck Alkohol mehr getrunken und bat die Ober, mir genau
zu sagen, was sich in jedem Gericht befand. Na ja, du siehst schon,
was für eine Stimmungskanone ich war. Und außerdem mag ich die
Gesellschaft anderer Menschen nicht sonderlich. Sie langweilen
mich. Seit meiner Schulzeit hat sich daran nichts geändert. Die
Angeber sind immer noch die gleichen, die Arschkriecher auch.
Da stand ich also in diesem Moment
meines Lebens, vor der Tür eines Nobelrestaurants, ein wenig
schwerfällig, ein wenig gelangweilt davon, einem feisten
Zigarrenraucher auf den Rücken zu klopfen und nur auf den
Augenblick zu warten, wo ich endlich meinen Gürtel lockern konnte,
als ich sie sah. Sie lief schnell, rannte fast und zog einen
schmollenden kleinen Jungen hinter sich her. ›Mathilde!‹ flüsterte
ich. Ich sah, wie sie blaß wurde. Ich sah, wie ihr der Boden unter
den Füßen schwankte. Sie ging nicht langsamer. ›Mathilde!‹
wiederholte ich etwas lauter, ›Mathilde!‹ Und ich rannte davon wie
ein Dieb. ›Mathiiilde!‹ Ich schrie fast. Der kleine Junge hatte
sich umgedreht.
Ich lud sie ein, unter den Arkaden einen
Kaffee mit mir zu trinken. Sie hatte nicht die Kraft, die Einladung
abzulehnen. Sie war noch immer wunderschön. Ich gab mir Mühe. Ich
war ein wenig linkisch, ein wenig dumm, machte ein paar Scherze. Es
war schwierig.
Wo wohnte sie? Warum war sie hier? Sie
sollte mir von sich erzählen. Sag mir, wie es dir geht? Lebst du
hier? Lebst du in Paris? Widerstrebend gab sie Antwort. Es war ihr
unangenehm, und sie knabberte an ihrem Kaffeelöffel. Ich hörte ihr
sowieso nicht zu, ich hörte ihr nicht länger zu. Ich betrachtete
den kleinen blonden Jungen, der alle Brotreste von den
Nachbartischen geklaubt hatte und den Vögeln Krumen zuwarf. Er
hatte zwei Häufchen gemacht, eins für die Spatzen und eins für die
Tauben, und voller Inbrunst herrschte er über diese kleine Welt.
Die Tauben durften die Krumen der kleineren Vögel nicht fressen.
›Go away you!‹ schrie er und trat nach
ihnen, ›Go away you stupid bird!‹ Als ich
mich zu seiner Mutter umdrehte und gerade etwas sagen wollte,
schnitt sie mir das Wort ab:
›Mach dir keine Gedanken, Pierre, mach dir
keine Gedanken. Er ist noch keine fünf, verstehst du?‹
Ich machte den Mund wieder zu.
›Wie heißt er?‹
›Tom.‹
›Spricht er englisch?‹
›Englisch und französisch.‹
›Hast du noch mehr Kinder?‹
›Nein.‹
›Du – du – ich meine – lebst du mit
jemandem zusammen?‹
Sie kratzte den Zucker auf dem Boden der
Tasse zusammen und lächelte mich an.
›Ich muß jetzt los. Wir werden
erwartet.‹
›Schon?‹
Sie war aufgestanden.
›Kann ich euch irgendwo absetzen, ich
…‹
Sie griff nach ihrer Tasche.
›Pierre, ich bitte dich …‹
In diesem Moment brach ich zusammen. Damit
hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich weinte wie ein Schloßhund.
Ich – er gehörte zu mir, der Kleine. Es war meine Aufgabe, ihm zu
zeigen, wie man Tauben jagt, es war meine Aufgabe, seinen Pullover
aufzuheben und ihm die Mütze aufzusetzen. Das war meine Aufgabe.
Außerdem wußte ich, daß sie mich anlog! Der Junge war älter als
vier. Ich war schließlich nicht blind! Ich wußte genau, daß sie
mich anlog. Warum log sie mich an?! Warum hatte sie mich angelogen?
Es ist nicht erlaubt, so zu lügen! Es – ich schluchzte. Ich wollte
ihr sagen, daß …
Sie schob ihren Stuhl zurück.
›Ich muß jetzt los. Ich habe meine Tränen
alle vergossen.‹«
»Und dann?«
»Dann bin ich gegangen.«
»Nein, ich meine mit Mathilde, was geschah
dann?«
»Dann war es vorbei.«
»Endgültig vorbei?«
»Endgültig.«
Langes Schweigen.
»Hatte sie gelogen?«
»Nein. Danach habe ich aufgepaßt. Ich habe
ihn mit anderen Kindern verglichen, mit deinen Mädchen – nein, ich
glaube nicht, daß sie gelogen hat. Die Kinder sind heute so groß.
Bei all den Vitaminen, die ihr ihnen in die Fläschchen mixt.
Manchmal denke ich an ihn. Er dürfte heute fast fünfzehn sein. Er
muß riesengroß sein, der Junge.«
»Hast du nie versucht, sie
wiederzusehen?«
»Nein.«
»Und heute? Vielleicht ist sie …«
»Heute ist es vorbei. Heute bin ich – ich
weiß nicht einmal, ob ich noch in der Lage wäre, sie …«
Er klappte das Feuergitter auf.
»Ich mag nicht mehr darüber reden.«
Er ging, um die Eingangstür
abzuschließen und alle Lampen zu löschen.
Ich rührte mich nicht.
»Auf, Chloé. Hast du gesehen, wie spät
es ist? Leg dich jetzt schlafen.«
Ich antwortete nicht.
»Hörst du?«
»Also ist die Liebe großer Quatsch?
Oder? Es klappt nie.«
»Doch, es klappt. Aber man muß dafür
kämpfen.«
»Wie dafür kämpfen?«
»Man muß ein bißchen dafür kämpfen. Jeden
Tag ein kleines bißchen, den Mut haben, man selbst zu sein, sich
vornehmen, glück…«
»Oh! Klingt das gut, was du da sagst! Man
könnte meinen, Paulo Coelho persönlich.«
»Lach du nur, lach du nur.«
»Man selbst sein, damit ist gemeint, seine
Frau und seine Kinder sitzenzulassen?«
»Wer redet davon, seine Kinder
sitzenzulassen?«
»Ach! Hör auf. Du weißt genau, was ich
meine.«
»Nein.«
Ich hatte wieder angefangen zu
weinen.
»Los! Geh jetzt. Laß mich allein. Ich kann
deine edlen Gefühle nicht länger ertragen. Ich kann nicht mehr. Das
wird mir alles zuviel, Monsieur Zartbesaitet, das wird mir alles
zuviel.«
»Ich geh schon, ich geh schon. Wenn man
mich so nett bittet.«
Kurz bevor er das Zimmer verließ, sagte
er:
»Eine letzte Geschichte noch, darf
ich?«
Ich wollte nicht.
»Einmal, vor ganz langer Zeit, als meine
Tochter noch sehr klein war, bin ich mit ihr in der Bäckerei
gewesen. Es kam selten vor, daß ich mit meiner Tochter in die
Bäckerei ging. Es kam selten vor, daß ich ihr die Hand gab, und
noch seltener, daß ich mit ihr allein war. Es muß ein Sonntagmorgen
gewesen sein, die Bäckerei war voll, die Leute kauften
Erdbeerkuchen und Baisertorte. Beim Hinausgehen bat mich meine
Tochter um das Knäuschen des Baguettes. Ich habe es ihr verweigert.
Nein, habe ich gesagt, nein. Erst wenn wir bei Tisch sind. Wir
kamen zurück und setzten uns an den Tisch. Eine hübsche kleine
Familie. Ich schnitt das Brot auf. Aber als ich meinem Töchterchen
das Knäuschen hinhielt, gab sie es an ihren Bruder weiter.
›Du hast doch gesagt, du wolltest es
haben.‹
›Vorhin wollte ich es haben‹, hat sie
geantwortet und ihre Serviette auseinandergefaltet.
›Aber es schmeckt doch jetzt noch genauso
gut‹, insistierte ich, es ist das gleiche.
Sie drehte den Kopf weg.
›Nein, danke.‹
Ich werde mich schlafen legen, ich werde
dich im Dunkeln zurücklassen, wenn du das willst, aber bevor ich
das Licht lösche, würde ich dir gerne noch eine Frage stellen. Ich
stelle sie nicht dir, ich stelle sie nicht mir, ich stelle sie der
Holzverkleidung an der Wand:
›Hätte dieses kleine dickköpfige Mädchen
nicht lieber mit einem glücklicheren Papa zusammengelebt?«