Die Mädchen sind ohne Abendessen ins
Bett. Zu viele Bonbons.
Babar hat die alte Frau verlassen. Sie
bleibt allein zurück. Sie weint. Sie fragt sich: »Wann werde ich
meinen kleinen Babar wiedersehen?«
Auch Pierre ist unglücklich. Er blieb
lange in seinem Arbeitszimmer. Angeblich, um die Zeichnungen seines
Bruders zu suchen. Ich bereitete das Abendessen zu. Spaghetti mit
kleingeschnittenen Innereien, von Suzanne eingelegt.
Wir hatten beschlossen, morgen am späten
Vormittag abzureisen. Es war also das letzte Mal, daß ich mich in
dieser Küche zu schaffen machte.
Ich mochte sie gern, diese Küche. Ich warf
die Nudeln ins kochende Wasser und verfluchte meine Rührseligkeit.
»Ich mochte sie gern, diese Küche …« Aber hallo, Muttchen. Es gibt
schließlich noch andere Küchen.
Ich war grob zu mir, obwohl ich die Augen
voller Tränen hatte, bescheuert.
Er legte eine kleine Aquarellzeichnung
auf den Tisch. Eine Frau von hinten, die las.
Sie saß auf einer Gartenbank. Ihr Kopf war
leicht geneigt. Vielleicht las sie gar nicht, vielleicht schlief
sie oder träumte.
Das Haus war gut zu erkennen. Die Stufen
zur Terrasse, die abgerundeten Fensterläden und die weiße
Glyzinie.
»Das ist meine Mutter.«
»Wie hieß sie?«
»Alice.«
»…«
»Das ist für dich.«
Ich wollte protestieren, aber er sah
mich streng an und legte den Finger auf den Mund. Pierre Dippel ist
ein Mann, der es nicht mag, wenn man sich ihm widersetzt.
»Dir muß man immer gehorchen, nicht
wahr?«
Er hörte nicht zu.
»Hat sich schon einmal jemand getraut, dir
zu widersprechen?« fügte ich hinzu und legte Pauls Zeichnung auf
den Kamin.
»Nicht jemand. Das ganze Leben.«
Ich verbrannte mir die Zunge.
Er hatte sich auf den Tisch gestützt, um
aufzustehen.
»Mmh – was willst du trinken, Chloé?«
»Etwas, das fröhlich macht.«
*
Er kam mit zwei Flaschen aus dem Keller
zurück, die er wie Babys an sich drückte.
»Château Chasse-Spleen. Gib zu, daß das
paßt. Genau das, was wir brauchen. Ich habe zwei mitgebracht, eine
für dich und eine für mich.«
»Du bist verrückt! Du solltest auf einen
feierlicheren Anlaß warten.«
»Einen feierlicheren Anlaß als was?«
Er zog seinen Stuhl näher an den
Kamin.
»Als – ich weiß nicht. Als mich – als uns –
als heute abend.«
Er hielt seine Schätze in den Armen, um sie
zu wärmen.
»Aber wir sind doch ein feierlicher Anlaß,
Chloé. Wir sind der feierlichste Anlaß der Welt. Ich komme seit
meiner Kindheit in dieses Haus, ich habe in dieser Küche schon
unzählige Mahlzeiten eingenommen, und glaube mir, ich weiß, was ein
feierlicher Anlaß ist!«
Dieser selbstgefällige Ton,
schade.
Er saß mit dem Rücken zu mir und
betrachtete das Feuer, ohne sich zu rühren.
»Chloé, ich will nicht, daß du
gehst.«
Ich schütte die Nudeln in ein Sieb,
werfe ein Handtuch darüber.
»Du gehst mir auf die Nerven mit diesem
Schwachsinn. Du denkst nur an dich. Anstrengend ist das. ›Ich will
nicht, daß du gehst.‹ Warum sagst du so etwas Dämliches? Ich darf
dich daran erinnern, daß nicht ich es bin, die geht. Du hast einen
Sohn, erinnerst du dich? Einen großen Jungen. Und, na ja, er ist
derjenige, der geht. Er! Weißt du nicht Bescheid? Wie ärgerlich.
Warte, ich erzähle es dir, es ist eine lustige Geschichte. Nun, es
war einmal … Wann war es noch mal? Unwichtig. Adrien, der
wunderbare Adrien hat kürzlich seine Koffer gepackt. Versetz dich
mal an meine Stelle, ich war verblüfft. Ach, das habe ich dir noch
nicht gesagt, der Zufall will es, daß ich die Frau dieses Jungen
bin. Seine Frau, du weißt schon, dieses praktische Teil, das man
überall mit hin nimmt und das lächelt, wenn man ihm einen Kuß gibt.
Ich war also verblüfft, wie du dir vorstellen kannst. Und er steht
da mit unseren Koffern vorm Fahrstuhl vor unserer Wohnung und
stöhnt beim Blick auf seine Uhr. Er stöhnt, denn er ist genervt,
der arme Schatz! Der Fahrstuhl, die Koffer, seine Alte und das
Flugzeug, das war zuviel! Gewiß doch! Er durfte es nämlich nicht
verpassen, das Flugzeug, denn darin wartete seine Geliebte! Die
Geliebte, du weißt schon, diese ungeduldige junge Frau, die ein
bißchen die Nerven kitzelt. Keine Zeit für eine Szene, wie du dir
denken kannst. Und außerdem, so was Banales wie eine Szene zwischen
Eheleuten. Bei den Dippels hat man das nicht gelernt, oder?
Schreie, Szenen, Stimmungsschwankungen, so etwas Vulgäres, nicht?
Oh ja, so etwas Vulgäres. Bei den Dippels gilt never explain, never complain, das ist doch was ganz
anderes. Das hat Klasse.«
»Hör sofort auf, Chloé!«
Ich heulte.
»Hörst du denn, was du sagst? Hörst du, wie
du zu mir sprichst!? Ich bin doch kein Hund, Pierre. Ich bin doch
nicht dein Hund, verdammt noch mal! Ich habe ihn ziehen lassen,
ohne ihm die Augen auszukratzen, ich habe die Tür ganz leise wieder
geschlossen, und jetzt stehe ich hier, stehe hier vor dir, vor
meinen Kindern. Ich tue mein möglichstes. Verstehst du, ich tue
mein möglichstes. Kennst du diesen Ausdruck? Wer hat mein
verzweifeltes Weinen gehört, wer? Drum spiel hier nicht den
Beleidigten mit deinen kleinen Verstimmungen. Du willst nicht, daß
ich gehe – ach, Pierre – ich werde ungehorsam sein müssen – so leid
es mir tut – so leid …«
Er hatte mich bei den Handgelenken gepackt
und hielt sie mit aller Kraft fest. Ich konnte meine Arme nicht
mehr bewegen.
»Laß mich los! Du tust mir weh! Ihr tut mir
alle weh in dieser Familie! Pierre, laß mich los.«
Kaum hatte er seine Umklammerung gelockert,
fiel mein Kopf auf seine Schulter.
»Ihr tut mir alle weh …«
Ich weinte an seinem Hals und vergaß,
wie unwohl er sich dabei fühlen mußte, er, der nie einen Menschen
berührte. Ich weinte und dachte gelegentlich an unsere Spaghetti,
die ungenießbar sein würden, wenn ich sie nicht abschreckte. Er
sagte: »Na, na …« Er sagte: »Verzeihung.« Er sagte auch: »Ich bin
ebenso traurig wie du…« Er wußte nicht, wohin mit seinen
Händen.
Schließlich machte er sich los, um den
Tisch zu decken.