»Auf dich, Chloé.«
Ich stieß mit meinem Glas gegen seins.
»Ja, auf mich«, antwortete ich mit einem gequälten Lächeln.
»Du bist ein großartiges Mädchen.«
»Ja, großartig. Und außerdem zuverlässig, mutig … Was noch?«
»Witzig.«
»Ach ja, fast hätte ich’s vergessen, witzig.«
»Aber ungerecht.«
»…«
»Du bist ungerecht, nicht wahr?«
»…«
»Du denkst, daß ich nur mich liebe?«
»Ja.«
»Dann bist du nicht ungerecht, sondern dumm.«
Ich hielt ihm mein Glas hin.
»Ja, das wußte ich schon – schenk mir noch mal von diesem wunderbaren Trank nach.«
»Du hältst mich für einen alten Kotzbrocken?«
»Ja.«
Ich nickte. Ich war nicht boshaft, ich war unglücklich.
Er seufzte.
»Warum bin ich ein alter Kotzbrocken?«
»Weil du niemanden liebst. Dich niemals gehenläßt. Nie da bist. Nie bei uns bist. Dich nie an unseren Gesprächen, unseren Späßen beteiligst, an unserem mittelmäßigen Geplänkel. Weil du nicht zärtlich bist, nie etwas sagst und dein Schweigen an Verachtung grenzt. Weil du …«
»Danke, danke, das genügt.«
»Entschuldige bitte, ich antworte auf deine Frage. Du fragst mich, warum du ein alter Kotzbrocken bist, und ich antworte dir. Allerdings muß ich einschränkend hinzufügen, daß ich dich nicht sonderlich alt finde.«
»Du bist zu liebenswürdig.«
»Gern geschehen.«
Ich bleckte die Zähne, während ich ihm freundlich zulächelte.
»Aber wenn ich so bin, wie du behauptest, warum bin ich dann mit dir hierhergefahren? Warum habe ich so viel Zeit mit euch verbracht?«
»Weil, wegen, das weißt du genau.«
»Wegen was?«
»Wegen deinem Ehrgefühl. Diese Koketterie der guten Familien. Sieben Jahre laufe ich euch jetzt schon zwischen den Füßen herum, und zum ersten Mal interessierst du dich für mich. Ich will dir sagen, was ich denke. Ich finde dich weder wohlwollend noch wohltätig. Ich sehe vollständig klar. Dein Sohn hat eine Dummheit gemacht, und du, du kommst hinterher, wischst auf, stopfst zu. Du versuchst, die Risse zu kitten, so gut du kannst. Weil du Risse nicht magst, oder, Pierre? Nein, nein! Risse magst du überhaupt nicht.
Ich will dir sagen, was ich denke. Du hast mich hierhergebracht, um den Schein zu wahren. Der Kleine hat Mist gebaut, okay, man beißt die Zähne zusammen und bereinigt die Angelegenheit, ohne viele Worte zu verlieren. Früher hast du dem geschädigten Bauerntölpel ein paar Scheinchen hingeblättert, wenn der GTI des arroganten Rotzbengels wieder einmal einen Vorgarten gerammt hatte, und heute führst du die Schwiegertochter aus. Ich warte nur noch auf den Moment, wo du mir mit schmerzlichem Gesichtsausdruck verkündest, daß ich auf dich zählen kann. Finanziell, versteht sich. Du bist ein wenig in der Bredouille, nicht wahr? Ein großes Mädchen wie ich läßt sich nicht so leicht entschädigen wie ein Feld mit Rüben …«
Er stand auf.
»Tja. Es stimmt also – du bist dumm. Eine niederschmetternde Erkenntnis.
Komm, reich mir deinen Teller.«
Er stand hinter mir.
»Du triffst mich in einem Maße, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Mehr noch, du läßt mich bluten. Aber, weiß Gott, ich bin dir nicht böse, ich schiebe es auf deinen Kummer.«
Er stellte einen dampfenden Teller vor mich hin.
»Aber es gibt trotzdem eine Sache, die ich nicht ungestraft durchgehen lassen kann, eine Sache nur …«
»Was denn?« fragte ich und sah auf.
»Rede bitte nicht von Rüben. Ich wette, du findest in zig Kilometern Umkreis keinen einzigen Rübenacker.«
Der Schalk stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er lächelte verschmitzt.
»Mmh, schmeckt köstlich. Du wirst mich als Köchin vermissen, oder?«
»Als Köchin, ja, aber ansonsten, danke. Du hast mir den Appetit nicht verdorben …«
»Nicht?!«
»Nein.«
»Hast du mir einen Schrecken eingejagt!«
»Es gehört mehr dazu, mich am Genuß dieser herrlichen Nudeln zu hindern.«
Er stach mit seiner Gabel in die Nudeln und hob eine Menge zusammengeklebter Spaghetti hoch.
»Mmmh, wie sagt man noch mal? Al dente …«
Ich lachte.
»Es gefällt mir, wenn du lachst.«
Wir blieben lange Zeit sitzen, ohne ein Wort zu sagen.
»Bist du verärgert?«
»Nein, nicht verärgert, eher unschlüssig.«
»Es tut mir leid.«
»Weißt du, ich habe den Eindruck, etwas Unentwirrbares vor mir zu haben. Eine Art Knoten – von riesigen Ausmaßen …«
»Ich woll…«
»Sei still, sei still. Laß mich erzählen. Ich muß das alles erst einmal entwirren. Das ist sehr wichtig. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, aber du mußt mir zuhören. Ich muß jetzt an einem Faden ziehen, fragt sich nur, an welchem. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo oder womit ich anfangen soll. Meine Güte, ist das kompliziert. Wenn ich am falschen Faden ziehe oder zu fest, besteht die Gefahr, daß der Knoten sich noch weiter zuzieht. Daß er sich so fest oder so unglücklich zuzieht, daß nichts mehr zu machen ist und ich betrübt von dir Abschied nehme. Denn, du sollst wissen, Chloé, mein Leben, mein ganzes Leben ist wie diese geschlossene Faust. Ich sitze hier vor dir in dieser Küche. Ich bin fünfundsechzig. Ich bin zu nichts nutze. Ich bin dieser alte Kotzbrocken, den du vorhin aufgerüttelt hast. Ich habe nichts begriffen, ich bin nie in den sechsten Stock gefahren. Ich hatte Angst vor meinem Schatten, und jetzt sitze ich hier, in Gedanken an meinen Tod, und … Nein, ich bitte dich, unterbrich mich nicht. Nicht jetzt. Laß mich die Faust öffnen. Ein ganz kleines bißchen.«
Ich schenkte uns nach.
»Ich werde mit dem ungerechtesten, dem grausamsten Teil anfangen – das heißt mit dir.«
Er hatte sich entspannt zurückgelehnt.
»Als ich dich das erste Mal gesehen habe, warst du ganz blau. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich war. Ich sehe dich vor mir in diesem Türrahmen hier. Adrien stützte dich, und du hast mir eine Hand hingestreckt, die vor Kälte gekrümmt war. Du konntest mich nicht begrüßen, du brachtest kein Wort heraus, ich habe dir als Willkommensgruß den Arm gedrückt, und ich sehe noch heute die weißen Flecken, die meine Finger auf deinem Handgelenk hinterlassen haben. Zu Suzanne, die schon ganz aufgelöst war, hatte Adrien lachend gesagt: ›Ich habe euch eine Schlümpfin mitgebracht!‹ Dann hat er dich nach oben getragen und in ein heißes Bad versenkt. Wie lange du darin geblieben bist? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur noch, daß Adrien ständig zu seiner Mutter sagte: ›Ganz ruhig, Mama, ganz ruhig! Sobald sie gar ist, können wir essen.‹ Schließlich hatten wir Hunger, ich jedenfalls. Und du kennst mich ja, du weißt ja, wie so ein alter Kotzbrocken ist, wenn er Hunger hat … Ich wollte gerade den Befehl geben, ohne euch zu Tisch zu gehen, als du herunter kamst, mit nassen Haaren und schüchternem Lächeln in einem alten Bademantel von Suzanne.
Dieses Mal waren deine Wangen rot, rot, rot.
Beim Essen habt ihr uns dann erzählt, daß ihr euch in der Kinoschlange für Ein Sonntag auf dem Lande getroffen habt und nicht mehr reingekommen seid und daß dir Adrien, der Aufschneider – das liegt in der Familie –, genau das vorgeschlagen hat, einen Sonntag auf dem Lande, dort vor seinem Motorrad. ›Das ist ein einmaliges Angebot‹, hatte er gesagt und du hattest eingewilligt, was deinen fortgeschrittenen Zustand der Erfrierung erklärte, da du in T-Shirt und Regenjacke aus Paris weggefahren warst. Adrien verschlang dich mit den Augen, was nicht ganz einfach für ihn gewesen sein muß, denn du hieltest die ganze Zeit über den Kopf gesenkt. Ein Grübchen war zu sehen, wenn er von dir sprach, wir stellten uns daher vor, daß du uns anlächelst. Ich erinnere mich auch noch, daß du ausgefallene Turnschuhe anhattest …«
»Gelbe Converse, stimmt!«
»Natürlich stimmt’s. Darum – du kannst gerne über die Turnschuhe schimpfen, die ich Lucie gekauft habe. Ach ja, das muß ich ihr noch erzählen. Hör nicht auf sie, mein Schatz, als ich deine Mutter kennengelernt habe, trug sie gelbe Turnschuhe mit roten Schnürsenkeln.«
»Du erinnerst dich noch an die Schnürsenkel?«
»Ich erinnere mich an alles, Chloé, an alles, hörst du? Die roten Schnürsenkel, das Buch, das du am nächsten Tag unterm Kirschbaum gelesen hast, während Adrien an seiner Maschine herumschraubte.«
»Wie hieß es?«
»Garp und wie er die Welt sah, stimmt’s?«
»Genau.«
»Ich weiß noch, daß du Suzanne angeboten hast, die Treppe zu dem alten Keller vom Gestrüpp zu befreien. Ich erinnere mich noch an die begeisterten Blicke, die sie dir zuwarf, als sie sah, wie du dich mit den Brombeersträuchern abgerackert hast. Darin stand in blinkender Leuchtschrift ›Schwiegertochter? Schwiegertochter?‹ zu lesen. Ich bin mit euch zum Markt von Saint-Amand gefahren, du hast einen Ziegenkäse gekauft, und wir haben vor Ort einen Martini getrunken. Du hast einen Artikel gelesen, ich glaube über Andy Warhol, während wir uns am Flipper ausgetobt haben, Adrien und ich.«
»Nicht zu fassen, wie kommt es, daß du dich an das alles erinnerst?«
»Ähh – ich will mich damit nicht brüsten – es war eins der wenigen Male, daß wir etwas gemeinsam hatten.«
»Du meinst, du und Adrien?«
»Ja.«
»Ja.«
Ich stand auf, um den Käse zu holen.
»Nein, nein, keine neuen Teller, das ist nicht nötig.«
»Doch doch, ich weiß, daß du es haßt, den Käse vom gleichen Teller zu essen.«
»Daß ich es hasse? Ach ja – so ist es – noch so ein Spleen von diesem alten Kotzbrocken, nicht wahr?«
»Äh, ich glaube schon.«
Mit einer Grimasse hielt er mir den Teller hin.
»Biest.«
Grübchen.
»Ich erinnere mich natürlich auch an eure Hochzeit … Du gingst an meinem Arm und sahst wunderschön aus. Du hattest dir den Knöchel verstaucht. Wir überquerten gerade den Platz von Saint-Amand, als du mir ins Ohr flüstertest: ›Du solltest mich entführen, dann würde ich diese verfluchten Schuhe aus dem Autofenster werfen, und wir könnten Chez-Yvette-Muscheln essen …‹ Von diesem Scherz war mir richtig schwindlig geworden. Ich zupfte an meinen Handschuhen. Hier, nimm dir zuerst.«
»Erzähl weiter, erzähl weiter …«
»Was soll ich dir sonst noch erzählen? Ich erinnere mich, daß wir uns einmal unten im Café bei mir auf der Arbeit verabredet hatten, weil du mir einen Vorlegelöffel oder etwas in der Art zurückgeben wolltest, was Suzanne dir geliehen hatte. Ich muß dir an diesem Tag unerträglich vorgekommen sein, ich stand unter Zeitdruck, hatte allerhand Sorgen … Ich bin gegangen, bevor du deinen Tee ausgetrunken hattest. Ich habe dir Fragen zu deiner Arbeit gestellt und mir die Antworten wahrscheinlich nicht angehört, na ja, so war es … Und dann, am selben Abend, bei Tisch, als Suzanne mich gefragt hat: ›Gibt’s was Neues?‹, habe ich ihr, ohne es selbst zu glauben, geantwortet: ›Chloé ist schwanger.‹ ›Hat sie es dir gesagt?‹ ›Nein. Ich bin auch gar nicht sicher, daß sie es selbst schon weiß …‹ Suzanne hatte mit den Schultern gezuckt und die Brauen hochgezogen, aber ich hatte recht. Wenige Wochen später habt ihr uns die Neuigkeit verkündet.«
»Wie hast du es erraten?«
»Ich weiß nicht. Es kam mir so vor, als hätte sich deine Gesichtsfarbe verändert, als hätte deine Müdigkeit eine andere Ursache.«
»…«
»Ich könnte noch lange so fortfahren. Du siehst, daß du ungerecht bist. Was hast du noch gesagt? Daß ich mich die ganze Zeit über, all die Jahre, nicht für dich interessiert hätte – oh, Chloé, ich hoffe, daß du dich schämst.«
Er sah mich streng an.
»Hingegen bin ich ein Egoist, in diesem Punkt hast du recht. Ich sage, daß ich nicht will, daß du gehst, weil ich nicht will, daß du gehst. Ich denke an mich. Du bist mir näher als meine eigene Tochter. Meine eigene Tochter würde mir nie sagen, daß ich ein alter Kotzbrocken bin, sie hält mich einfach nur für einen Kotzbrocken, basta!«
Er war aufgestanden, um den Salzstreuer zu holen.
»Aber – was hast du denn?«
»Nichts. Ich habe nichts.«
»Aber ja doch, du heulst.«
»Nicht doch, ich heule nicht. Sieh nur, ich heule nicht.«
»Doch, du heulst! Möchtest du ein Glas Wasser?«
»Ja.«
»Ach, Chloé – ich will nicht, daß du heulst. Das macht mich unglücklich.«
»Da haben wir’s. Schon wieder du. Du bist unverbesserlich.«
Ich versuchte, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, aber der Rotz tropfte mir aus der Nase, ich bot einen mitleiderregenden Anblick.
Ich lachte. Ich heulte. Dieser Wein erheiterte mich mitnichten.
»Ich hätte dir das alles nicht erzählen sollen.«
»Doch, doch. Es sind ja auch meine Erinnerungen. Ich muß mich nur ein wenig daran gewöhnen. Ich weiß nicht, ob du dir das wirklich vorstellen kannst, aber für mich ist die Situation ganz neu. Vor zwei Wochen war ich noch eine wohlsituierte Hausfrau und Mutter. Ich blätterte in der Metro in meinem Terminkalender, um Essenseinladungen zu planen, feilte mir die Fingernägel und dachte dabei an die Ferien. Überlegte: ›Nehmen wir die Mädchen mit, oder fahren wir zu zweit weg?‹ Na ja, du siehst schon, die Art von Problemen …
Dachte auch: ›Wir sollten uns eine neue Wohnung suchen, unsere jetzige ist zwar ganz nett, aber zu dunkel…‹ Ich wollte warten, bis es Adrien wieder besser ging, um mit ihm darüber zu reden, denn ich konnte deutlich sehen, daß er in letzter Zeit nicht ganz auf dem Damm war – reizbar, empfindlich, müde. Ich machte mir Sorgen um ihn, dachte: ›Sie werden ihn mir in dieser Firma noch zugrunde richten, mit diesen bescheuerten Arbeitszeiten.‹«
Er hatte sich dem Feuer zugewandt.
»Wohlsituiert, aber nicht sehr helle, was? Ich habe mit dem Essen auf ihn gewartet. Habe stundenlang gewartet. Oft bin ich beim Warten sogar eingeschlafen. Irgendwann kam er dann nach Hause, sah mitgenommen aus, ausgepowert. Ich räkelte mich und schleppte mich in die Küche. Ich machte mich eifrig zu schaffen. Er hatte keinen Hunger, natürlich nicht, er hatte wenigstens den Anstand, keinen Appetit mehr zu haben. Vielleicht hatten sie aber auch schon zusammen gegessen? Vielleicht …
Wieviel Überwindung es ihn gekostet haben mußte, sich mir gegenüber zu setzen! Wie unerträglich ich gewesen sein muß mit meiner üblichen Fröhlichkeit und meinen Fortsetzungsromanen über die Ecke am Square Firmin-Gédon. Welche Qualen für ihn, wenn ich nur daran denke … Lucie hat einen Zahn verloren, meiner Mutter geht es nicht gut, das polnische Au-pair-Mädchen des kleinen Arthur geht jetzt mit dem Sohn von der Nachbarin, ich habe heute morgen meinen Marmor fertiggestellt, Marion hat sich die Haare geschnitten, es sieht schrecklich aus, die Lehrerin sammelt Eierkartons, du siehst müde aus, nimm dir einen Tag frei, gib mir die Hand, willst du noch Spinat? Der Arme – welche Qualen für einen untreuen, aber gewissenhaften Mann. Welche Qualen … Aber ich merkte nichts. Ich habe nichts kommen sehen, verstehst du? Wie kann man so blind sein? Wie? Entweder war ich völlig verblödet oder ich habe ihm völlig vertraut. Was letztendlich aufs gleiche hinausläuft.«
Ich ließ mich auf dem Stuhl zurückfallen.
»Ach, Pierre – was ist das Leben für ein Schlamassel…«
»Er ist gut, oder?«
»Sehr. Schade, daß er nicht hält, was sein Name verspricht.«
»Ich trinke ihn zum ersten Mal.«
»Ich auch.«
»Wie dein Rosenbusch, den ich auch nur des Namens wegen gekauft habe.«
»Ja. Ein Schlamassel – der reinste Schwachsinn.«
»Aber du bist noch jung.«
»Nein, ich bin alt, ich fühle mich alt. Ich bin völlig ramponiert. Ich merke, daß ich jetzt mißtrauisch werde. Ich werde mein Leben durch den Spion betrachten. Ich werde die Tür nicht mehr aufmachen. Treten Sie ein paar Schritte zurück. Zeigen Sie mir Ihre weiße Pfote. So ist es gut, jetzt die andere. Ziehen Sie die Filzschlappen an. Bleiben Sie im Eingang stehen. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
»Nein, so wirst du nie werden. Auch wenn du es noch so sehr wolltest, du könntest es nicht. Die Leute werden auch weiterhin in dein Leben poltern, du wirst wieder Leid erfahren, und das ist auch gut so. Ich mache mir um dich keine Sorgen.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wieso natürlich nicht?«
»Du machst dir um mich keine Sorgen. Du läßt dir wegen niemandem graue Haare wachsen.«
»Das stimmt, du hast recht. Ich bringe es nicht über mich.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Weil mich die anderen nicht interessieren, nehme ich an …«
»… außer Adrien.«
»Wieso Adrien?«
»Ich denke an ihn.«
»Du machst dir Sorgen um Adrien?«
»Ja, ich glaube schon – ja. Um ihn mache ich mir jedenfalls am meisten Sorgen.«
»Warum?«
»Weil er unglücklich ist.«
Ich fiel aus allen Wolken.
»Also, das ist doch der Gipfel! Er ist überhaupt nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil, glücklich ist er! Er hat eine ramponierte und langweilige Frau gegen ein unverbrauchtes junges Mädel eingetauscht. Jetzt ist sein Leben viel lustiger, weißt du.«
Ich krempelte einen Ärmel hoch.
»Überhaupt, wie spät ist es eigentlich? Viertel vor zehn? Wo er wohl gerade ist, unser kleiner Märtyrer? Im Kino oder im Theater? Oder irgendwo zum Essen? Sie haben bestimmt schon die Vorspeise hinter sich. Er krault ihre Handfläche und träumt von später. Achtung, die Hauptspeise kommt, sie zieht die Hand zurück und erwidert sein Lächeln. Vielleicht sind sie auch im Bett. Was ja wohl am wahrscheinlichsten ist, oder? Am Anfang macht man das oft, wenn ich mich recht erinnere.«
»Du bist zynisch.«
»Reiner Selbstschutz.«
»Was immer er tut, er ist unglücklich.«
»Durch meine Schuld, willst du damit sagen? Ich verderbe ihm das Vergnügen? Nein, wie undankbar.«
»Nein. Nicht durch deine, durch seine eigene Schuld. Das Leben ist schuld, das nicht macht, was man von ihm verlangt. Unsere Anstrengungen sind lächerlich …«
»Du hast recht, der arme Schatz.«
»Du hörst mir nicht zu.«
»Nein.«
»Warum hörst du mir nicht zu?«
Ich biß in mein Baguette.
»Weil du eine Planierraupe bist, du machst alles platt, was sich dir in den Weg stellt. Meine Sorgen – ja, was eigentlich? – belasten, ja nerven dich höchstens, das weiß ich. Und dann die Sache mit den Blutsbanden … Diese bescheuerte Vorstellung. Du warst völlig unfähig, deine Bälger in den Arm zu nehmen, ihnen auch nur ein einziges Mal zu sagen, daß du sie lieb hast, aber davon einmal abgesehen weiß ich, daß du sie immer verteidigen wirst. Egal, was sie sagen, egal, was sie tun, sie haben immer recht gegenüber uns anderen, uns Barbaren. Uns, die wir nicht den gleichen Namen tragen wie ihr.
Man sollte meinen, daß dir deine Kinder nicht viel Anlaß zur Zufriedenheit gegeben haben, aber du bist der einzige, der sie kritisieren darf. Der einzige! Adrien hat sich davongemacht und mich mit den Mädchen sitzen lassen. Gut, das ist dir nicht recht, aber ich hoffe nicht mehr darauf, aus deinem Mund ein paar strenge Worte zu hören. Ein paar strenge Worte – das würde nichts ändern, aber es würde mir guttun. So guttun, wenn du wüßtest … Ja, das ist kleinlich. Ich bin kleinlich. Aber ein paar deutliche Worte, ein paar harsche Worte, wie du sie so gern von dir gibst. Warum nicht an seine Adresse? Das hätte ich verdient. Ich warte auf das Urteil des Patriarchen, der den Vorsitz am Tisch führt. So viele Jahre schon habe ich miterlebt, wie du die Welt in zwei Hälften teilst. Die Guten und die Schlechten, diejenigen, die deine Achtung verdienen, und die, die sie nicht verdienen. So viele Jahre schon, daß ich dein Geschwätz über mich ergehen lasse, deine Autorität, deine Kommandeursfratze, dein Schweigen … Die ganze Palette. Die ganze Palette … All die Jahre, die du uns auf den Geist gegangen bist, Pierre.
Du weißt, ich habe ein schlichtes Gemüt, und es ist mir ein Bedürfnis, daß du sagst: Mein Sohn ist ein Dreckskerl, und ich entschuldige mich bei dir. Ich brauche das, verstehst du?«
»Zähle nicht auf mich.«
Ich räumte die Teller ab.
»Ich habe nie auf dich gezählt.«
»Möchtest du einen Nachtisch?«
»Nein.«
»Du möchtest nichts?«
»Es ist also schiefgelaufen. Ich habe wohl am falschen Faden gezogen.«
Ich hörte ihm nicht mehr zu.
»Der Knoten hat sich noch stärker zugezogen, und wir haben uns weiter denn je voneinander entfernt. Ich bin also ein alter Kotzbrocken, ein Monstrum … Und was noch?«
Ich holte den Lappen.
»Und was noch?!«
Ich sah ihm direkt in die Augen.
»Hör zu, Pierre, ich habe jahrelang mit einem Mann zusammengelebt, der nichts zustande brachte, weil sein Vater ihn niemals richtig unterstützt hat. Als ich Adrien kennengelernt habe, traute er sich nichts zu, aus Angst, seinen Vater zu enttäuschen. Und alles, was er unternahm, deprimierte mich, weil er es nie für sich tat, sondern für dich. Um dich zu beeindrucken oder dich zu ärgern. Dich zu provozieren oder dir Freude zu bereiten. Es war rührend. Ich war kaum zwanzig und habe ihm mein ganzes Leben geopfert. Um ihm zuzuhören und den Nacken zu streicheln, als er sich mir endlich anvertraut hat. Ich bereue nichts. Ich hätte sowieso nicht anders gekonnt. Ich hielt es nicht aus, daß ein Junge wie er sich in dem Maße schlechtmacht. Wir haben Nächte damit verbracht, alles auseinanderzuklamüsern und zu analysieren. Ich habe ihn aufgerüttelt. Ich habe ihm tausendmal gesagt, daß seine Geschichte zu einfach ist. Daß es zu einfach ist! Wir haben Vorsätze gefaßt und haben sie mit Füßen getreten, wir haben neue gefaßt, und schließlich habe ich mit dem Studium aufgehört, damit er seins wieder aufnehmen konnte. Ich habe die Ärmel hochgekrempelt und ihn drei Jahre lang an der Uni abgesetzt, um meine Zeit im Untergeschoß des Louvre totzuschlagen. Es war eine Abmachung zwischen uns: Ich würde mich nicht beklagen, vorausgesetzt, er spräche nicht mehr von dir. Ich will mich damit nicht brüsten. Ich habe ihm nie gesagt, daß er der Beste sei. Ich habe ihn einfach geliebt. Ge-liebt. Verstehst du, wovon ich rede?«
»…«
»Dann verstehst du wahrscheinlich auch, warum ich heute so schwer daran trage.«
Ich wischte mit dem Lappen um seine Hände, die auf dem Tisch lagen.
»Sein Selbstvertrauen ist zurückgekehrt, der verlorene Sohn hat sich gemausert. Er hat das Steuer in die Hand genommen wie ein Großer, und jetzt verläßt er sogar seine Alte unter den zärtlichen Blicken des bösen Herrn Papa. Du mußt zugeben, das ist ganz schön hart, oder?«
»…«
»Du sagst nichts?«
»Nein. Ich gehe schlafen.«
Ich stellte die Maschine an.
»In Ordnung, gute Nacht.«
*
Ich biß mir auf die Lippen.
Schrecklichere Dinge behielt ich für mich.
Ich nahm mein Glas und setzte mich aufs Sofa. Ich zog die Schuhe aus und kauerte mich unter den Kissen zusammen. Ich stand wieder auf und holte die Flasche, die noch auf dem Tisch stand. Ich schürte das Feuer, löschte das Licht und begrub mich erneut.
Ich bereute es, noch nicht betrunken zu sein.
Ich bereute es, dazusein.
Ich bereute … Ich bereute so viele Dinge.
So viele Dinge.
Ich legte den Kopf auf die Lehne und schloß die Augen.