»Auf dich, Chloé.«
Ich stieß mit meinem Glas gegen
seins.
»Ja, auf mich«, antwortete ich mit einem
gequälten Lächeln.
»Du bist ein großartiges Mädchen.«
»Ja, großartig. Und außerdem zuverlässig,
mutig … Was noch?«
»Witzig.«
»Ach ja, fast hätte ich’s vergessen,
witzig.«
»Aber ungerecht.«
»…«
»Du bist ungerecht, nicht wahr?«
»…«
»Du denkst, daß ich nur mich liebe?«
»Ja.«
»Dann bist du nicht ungerecht, sondern
dumm.«
Ich hielt ihm mein Glas hin.
»Ja, das wußte ich schon – schenk mir noch
mal von diesem wunderbaren Trank nach.«
»Du hältst mich für einen alten
Kotzbrocken?«
»Ja.«
Ich nickte. Ich war nicht boshaft, ich war
unglücklich.
Er seufzte.
»Warum bin ich ein alter
Kotzbrocken?«
»Weil du niemanden liebst. Dich niemals
gehenläßt. Nie da bist. Nie bei uns bist. Dich nie an unseren
Gesprächen, unseren Späßen beteiligst, an unserem mittelmäßigen
Geplänkel. Weil du nicht zärtlich bist, nie etwas sagst und dein
Schweigen an Verachtung grenzt. Weil du …«
»Danke, danke, das genügt.«
»Entschuldige bitte, ich antworte auf deine
Frage. Du fragst mich, warum du ein alter Kotzbrocken bist, und ich
antworte dir. Allerdings muß ich einschränkend hinzufügen, daß ich
dich nicht sonderlich alt finde.«
»Du bist zu liebenswürdig.«
»Gern geschehen.«
Ich bleckte die Zähne, während ich ihm
freundlich zulächelte.
»Aber wenn ich so bin, wie du
behauptest, warum bin ich dann mit dir hierhergefahren? Warum habe
ich so viel Zeit mit euch verbracht?«
»Weil, wegen, das weißt du genau.«
»Wegen was?«
»Wegen deinem Ehrgefühl. Diese Koketterie
der guten Familien. Sieben Jahre laufe ich euch jetzt schon
zwischen den Füßen herum, und zum ersten Mal interessierst du dich
für mich. Ich will dir sagen, was ich denke. Ich finde dich weder
wohlwollend noch wohltätig. Ich sehe vollständig klar. Dein Sohn
hat eine Dummheit gemacht, und du, du kommst hinterher, wischst
auf, stopfst zu. Du versuchst, die Risse zu kitten, so gut du
kannst. Weil du Risse nicht magst, oder, Pierre? Nein, nein! Risse
magst du überhaupt nicht.
Ich will dir sagen, was ich denke. Du hast
mich hierhergebracht, um den Schein zu wahren. Der Kleine hat Mist
gebaut, okay, man beißt die Zähne zusammen und bereinigt die
Angelegenheit, ohne viele Worte zu verlieren. Früher hast du dem
geschädigten Bauerntölpel ein paar Scheinchen hingeblättert, wenn
der GTI des arroganten Rotzbengels wieder einmal einen Vorgarten
gerammt hatte, und heute führst du die Schwiegertochter aus. Ich
warte nur noch auf den Moment, wo du mir mit schmerzlichem
Gesichtsausdruck verkündest, daß ich auf dich zählen kann.
Finanziell, versteht sich. Du bist ein wenig in der Bredouille,
nicht wahr? Ein großes Mädchen wie ich läßt sich nicht so leicht
entschädigen wie ein Feld mit Rüben …«
Er stand auf.
»Tja. Es stimmt also – du bist dumm. Eine
niederschmetternde Erkenntnis.
Komm, reich mir deinen Teller.«
Er stand hinter mir.
»Du triffst mich in einem Maße, wie du es
dir nicht vorstellen kannst. Mehr noch, du läßt mich bluten. Aber,
weiß Gott, ich bin dir nicht böse, ich schiebe es auf deinen
Kummer.«
Er stellte einen dampfenden Teller vor mich
hin.
»Aber es gibt trotzdem eine Sache, die ich
nicht ungestraft durchgehen lassen kann, eine Sache nur …«
»Was denn?« fragte ich und sah auf.
»Rede bitte nicht von Rüben. Ich wette, du
findest in zig Kilometern Umkreis keinen einzigen
Rübenacker.«
Der Schalk stand ihm ins Gesicht
geschrieben, und er lächelte verschmitzt.
»Mmh, schmeckt köstlich. Du wirst mich
als Köchin vermissen, oder?«
»Als Köchin, ja, aber ansonsten, danke. Du
hast mir den Appetit nicht verdorben …«
»Nicht?!«
»Nein.«
»Hast du mir einen Schrecken
eingejagt!«
»Es gehört mehr dazu, mich am Genuß dieser
herrlichen Nudeln zu hindern.«
Er stach mit seiner Gabel in die Nudeln und
hob eine Menge zusammengeklebter Spaghetti hoch.
»Mmmh, wie sagt man noch mal? Al dente …«
Ich lachte.
»Es gefällt mir, wenn du lachst.«
Wir blieben lange Zeit sitzen, ohne ein
Wort zu sagen.
»Bist du verärgert?«
»Nein, nicht verärgert, eher
unschlüssig.«
»Es tut mir leid.«
»Weißt du, ich habe den Eindruck, etwas
Unentwirrbares vor mir zu haben. Eine Art Knoten – von riesigen
Ausmaßen …«
»Ich woll…«
»Sei still, sei still. Laß mich erzählen.
Ich muß das alles erst einmal entwirren. Das ist sehr wichtig. Ich
weiß nicht, ob du mich verstehst, aber du mußt mir zuhören. Ich muß
jetzt an einem Faden ziehen, fragt sich nur, an welchem. Ich weiß
es nicht. Ich weiß nicht, wo oder womit ich anfangen soll. Meine
Güte, ist das kompliziert. Wenn ich am falschen Faden ziehe oder zu
fest, besteht die Gefahr, daß der Knoten sich noch weiter zuzieht.
Daß er sich so fest oder so unglücklich zuzieht, daß nichts mehr zu
machen ist und ich betrübt von dir Abschied nehme. Denn, du sollst
wissen, Chloé, mein Leben, mein ganzes Leben ist wie diese
geschlossene Faust. Ich sitze hier vor dir in dieser Küche. Ich bin
fünfundsechzig. Ich bin zu nichts nutze. Ich bin dieser alte
Kotzbrocken, den du vorhin aufgerüttelt hast. Ich habe nichts
begriffen, ich bin nie in den sechsten Stock gefahren. Ich hatte
Angst vor meinem Schatten, und jetzt sitze ich hier, in Gedanken an
meinen Tod, und … Nein, ich bitte dich, unterbrich mich nicht.
Nicht jetzt. Laß mich die Faust öffnen. Ein ganz kleines
bißchen.«
Ich schenkte uns nach.
»Ich werde mit dem ungerechtesten, dem
grausamsten Teil anfangen – das heißt mit dir.«
Er hatte sich entspannt
zurückgelehnt.
»Als ich dich das erste Mal gesehen
habe, warst du ganz blau. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich war.
Ich sehe dich vor mir in diesem Türrahmen hier. Adrien stützte
dich, und du hast mir eine Hand hingestreckt, die vor Kälte
gekrümmt war. Du konntest mich nicht begrüßen, du brachtest kein
Wort heraus, ich habe dir als Willkommensgruß den Arm gedrückt, und
ich sehe noch heute die weißen Flecken, die meine Finger auf deinem
Handgelenk hinterlassen haben. Zu Suzanne, die schon ganz aufgelöst
war, hatte Adrien lachend gesagt: ›Ich habe euch eine Schlümpfin
mitgebracht!‹ Dann hat er dich nach oben getragen und in ein heißes
Bad versenkt. Wie lange du darin geblieben bist? Ich weiß es nicht
mehr, ich weiß nur noch, daß Adrien ständig zu seiner Mutter sagte:
›Ganz ruhig, Mama, ganz ruhig! Sobald sie gar ist, können wir
essen.‹ Schließlich hatten wir Hunger, ich jedenfalls. Und du
kennst mich ja, du weißt ja, wie so ein alter Kotzbrocken ist, wenn
er Hunger hat … Ich wollte gerade den Befehl geben, ohne euch zu
Tisch zu gehen, als du herunter kamst, mit nassen Haaren und
schüchternem Lächeln in einem alten Bademantel von Suzanne.
Dieses Mal waren deine Wangen rot, rot,
rot.
Beim Essen habt ihr uns dann erzählt, daß
ihr euch in der Kinoschlange für Ein Sonntag
auf dem Lande getroffen habt und nicht mehr reingekommen seid
und daß dir Adrien, der Aufschneider – das liegt in der Familie –,
genau das vorgeschlagen hat, einen Sonntag auf dem Lande, dort vor
seinem Motorrad. ›Das ist ein einmaliges Angebot‹, hatte er gesagt
und du hattest eingewilligt, was deinen fortgeschrittenen Zustand
der Erfrierung erklärte, da du in T-Shirt und Regenjacke aus Paris
weggefahren warst. Adrien verschlang dich mit den Augen, was nicht
ganz einfach für ihn gewesen sein muß, denn du hieltest die ganze
Zeit über den Kopf gesenkt. Ein Grübchen war zu sehen, wenn er von
dir sprach, wir stellten uns daher vor, daß du uns anlächelst. Ich
erinnere mich auch noch, daß du ausgefallene Turnschuhe anhattest
…«
»Gelbe Converse, stimmt!«
»Natürlich stimmt’s. Darum – du kannst
gerne über die Turnschuhe schimpfen, die ich Lucie gekauft habe.
Ach ja, das muß ich ihr noch erzählen. Hör nicht auf sie, mein
Schatz, als ich deine Mutter kennengelernt habe, trug sie gelbe
Turnschuhe mit roten Schnürsenkeln.«
»Du erinnerst dich noch an die
Schnürsenkel?«
»Ich erinnere mich an alles, Chloé, an
alles, hörst du? Die roten Schnürsenkel, das Buch, das du am
nächsten Tag unterm Kirschbaum gelesen hast, während Adrien an
seiner Maschine herumschraubte.«
»Wie hieß es?«
»Garp und wie er die
Welt sah, stimmt’s?«
»Genau.«
»Ich weiß noch, daß du Suzanne angeboten
hast, die Treppe zu dem alten Keller vom Gestrüpp zu befreien. Ich
erinnere mich noch an die begeisterten Blicke, die sie dir zuwarf,
als sie sah, wie du dich mit den Brombeersträuchern abgerackert
hast. Darin stand in blinkender Leuchtschrift ›Schwiegertochter?
Schwiegertochter?‹ zu lesen. Ich bin mit euch zum Markt von
Saint-Amand gefahren, du hast einen Ziegenkäse gekauft, und wir
haben vor Ort einen Martini getrunken. Du hast einen Artikel
gelesen, ich glaube über Andy Warhol, während wir uns am Flipper
ausgetobt haben, Adrien und ich.«
»Nicht zu fassen, wie kommt es, daß du dich
an das alles erinnerst?«
»Ähh – ich will mich damit nicht brüsten –
es war eins der wenigen Male, daß wir etwas gemeinsam
hatten.«
»Du meinst, du und Adrien?«
»Ja.«
»Ja.«
Ich stand auf, um den Käse zu holen.
»Nein, nein, keine neuen Teller, das ist
nicht nötig.«
»Doch doch, ich weiß, daß du es haßt, den
Käse vom gleichen Teller zu essen.«
»Daß ich es hasse? Ach ja – so ist es –
noch so ein Spleen von diesem alten Kotzbrocken, nicht wahr?«
»Äh, ich glaube schon.«
Mit einer Grimasse hielt er mir den Teller
hin.
»Biest.«
Grübchen.
»Ich erinnere mich natürlich auch an
eure Hochzeit … Du gingst an meinem Arm und sahst wunderschön aus.
Du hattest dir den Knöchel verstaucht. Wir überquerten gerade den
Platz von Saint-Amand, als du mir ins Ohr flüstertest: ›Du solltest
mich entführen, dann würde ich diese verfluchten Schuhe aus dem
Autofenster werfen, und wir könnten Chez-Yvette-Muscheln essen …‹
Von diesem Scherz war mir richtig schwindlig geworden. Ich zupfte
an meinen Handschuhen. Hier, nimm dir zuerst.«
»Erzähl weiter, erzähl weiter …«
»Was soll ich dir sonst noch erzählen? Ich
erinnere mich, daß wir uns einmal unten im Café bei mir auf der
Arbeit verabredet hatten, weil du mir einen Vorlegelöffel oder
etwas in der Art zurückgeben wolltest, was Suzanne dir geliehen
hatte. Ich muß dir an diesem Tag unerträglich vorgekommen sein, ich
stand unter Zeitdruck, hatte allerhand Sorgen … Ich bin gegangen,
bevor du deinen Tee ausgetrunken hattest. Ich habe dir Fragen zu
deiner Arbeit gestellt und mir die Antworten wahrscheinlich nicht
angehört, na ja, so war es … Und dann, am selben Abend, bei Tisch,
als Suzanne mich gefragt hat: ›Gibt’s was Neues?‹, habe ich ihr,
ohne es selbst zu glauben, geantwortet: ›Chloé ist schwanger.‹ ›Hat
sie es dir gesagt?‹ ›Nein. Ich bin auch gar nicht sicher, daß sie
es selbst schon weiß …‹ Suzanne hatte mit den Schultern gezuckt und
die Brauen hochgezogen, aber ich hatte recht. Wenige Wochen später
habt ihr uns die Neuigkeit verkündet.«
»Wie hast du es erraten?«
»Ich weiß nicht. Es kam mir so vor, als
hätte sich deine Gesichtsfarbe verändert, als hätte deine Müdigkeit
eine andere Ursache.«
»…«
»Ich könnte noch lange so fortfahren. Du
siehst, daß du ungerecht bist. Was hast du noch gesagt? Daß ich
mich die ganze Zeit über, all die Jahre, nicht für dich
interessiert hätte – oh, Chloé, ich hoffe, daß du dich
schämst.«
Er sah mich streng an.
»Hingegen bin ich ein Egoist, in diesem
Punkt hast du recht. Ich sage, daß ich nicht will, daß du gehst,
weil ich nicht will, daß du gehst. Ich denke an mich. Du bist mir
näher als meine eigene Tochter. Meine eigene Tochter würde mir nie
sagen, daß ich ein alter Kotzbrocken bin, sie hält mich einfach nur
für einen Kotzbrocken, basta!«
Er war aufgestanden, um den Salzstreuer zu
holen.
»Aber – was hast du denn?«
»Nichts. Ich habe nichts.«
»Aber ja doch, du heulst.«
»Nicht doch, ich heule nicht. Sieh nur, ich
heule nicht.«
»Doch, du heulst! Möchtest du ein Glas
Wasser?«
»Ja.«
»Ach, Chloé – ich will nicht, daß du
heulst. Das macht mich unglücklich.«
»Da haben wir’s. Schon wieder du. Du bist
unverbesserlich.«
Ich versuchte, einen scherzhaften Ton
anzuschlagen, aber der Rotz tropfte mir aus der Nase, ich bot einen
mitleiderregenden Anblick.
Ich lachte. Ich heulte. Dieser Wein
erheiterte mich mitnichten.
»Ich hätte dir das alles nicht erzählen
sollen.«
»Doch, doch. Es sind ja auch meine
Erinnerungen. Ich muß mich nur ein wenig daran gewöhnen. Ich weiß
nicht, ob du dir das wirklich vorstellen kannst, aber für mich ist
die Situation ganz neu. Vor zwei Wochen war ich noch eine
wohlsituierte Hausfrau und Mutter. Ich blätterte in der Metro in
meinem Terminkalender, um Essenseinladungen zu planen, feilte mir
die Fingernägel und dachte dabei an die Ferien. Überlegte: ›Nehmen
wir die Mädchen mit, oder fahren wir zu zweit weg?‹ Na ja, du
siehst schon, die Art von Problemen …
Dachte auch: ›Wir sollten uns eine neue
Wohnung suchen, unsere jetzige ist zwar ganz nett, aber zu dunkel…‹
Ich wollte warten, bis es Adrien wieder besser ging, um mit ihm
darüber zu reden, denn ich konnte deutlich sehen, daß er in letzter
Zeit nicht ganz auf dem Damm war – reizbar, empfindlich, müde. Ich
machte mir Sorgen um ihn, dachte: ›Sie werden ihn mir in dieser
Firma noch zugrunde richten, mit diesen bescheuerten
Arbeitszeiten.‹«
Er hatte sich dem Feuer zugewandt.
»Wohlsituiert, aber nicht sehr helle,
was? Ich habe mit dem Essen auf ihn gewartet. Habe stundenlang
gewartet. Oft bin ich beim Warten sogar eingeschlafen. Irgendwann
kam er dann nach Hause, sah mitgenommen aus, ausgepowert. Ich
räkelte mich und schleppte mich in die Küche. Ich machte mich
eifrig zu schaffen. Er hatte keinen Hunger, natürlich nicht, er
hatte wenigstens den Anstand, keinen Appetit mehr zu haben.
Vielleicht hatten sie aber auch schon zusammen gegessen? Vielleicht
…
Wieviel Überwindung es ihn gekostet haben
mußte, sich mir gegenüber zu setzen! Wie unerträglich ich gewesen
sein muß mit meiner üblichen Fröhlichkeit und meinen
Fortsetzungsromanen über die Ecke am Square Firmin-Gédon. Welche
Qualen für ihn, wenn ich nur daran denke … Lucie hat einen Zahn
verloren, meiner Mutter geht es nicht gut, das polnische
Au-pair-Mädchen des kleinen Arthur geht jetzt mit dem Sohn von der
Nachbarin, ich habe heute morgen meinen Marmor fertiggestellt,
Marion hat sich die Haare geschnitten, es sieht schrecklich aus,
die Lehrerin sammelt Eierkartons, du siehst müde aus, nimm dir
einen Tag frei, gib mir die Hand, willst du noch Spinat? Der Arme –
welche Qualen für einen untreuen, aber gewissenhaften Mann. Welche
Qualen … Aber ich merkte nichts. Ich habe nichts kommen sehen,
verstehst du? Wie kann man so blind sein? Wie? Entweder war ich
völlig verblödet oder ich habe ihm völlig vertraut. Was
letztendlich aufs gleiche hinausläuft.«
Ich ließ mich auf dem Stuhl
zurückfallen.
»Ach, Pierre – was ist das Leben für ein
Schlamassel…«
»Er ist gut, oder?«
»Sehr. Schade, daß er nicht hält, was sein
Name verspricht.«
»Ich trinke ihn zum ersten Mal.«
»Ich auch.«
»Wie dein Rosenbusch, den ich auch nur des
Namens wegen gekauft habe.«
»Ja. Ein Schlamassel – der reinste
Schwachsinn.«
»Aber du bist noch jung.«
»Nein, ich bin alt, ich fühle mich alt. Ich
bin völlig ramponiert. Ich merke, daß ich jetzt mißtrauisch werde.
Ich werde mein Leben durch den Spion betrachten. Ich werde die Tür
nicht mehr aufmachen. Treten Sie ein paar Schritte zurück. Zeigen
Sie mir Ihre weiße Pfote. So ist es gut, jetzt die andere. Ziehen
Sie die Filzschlappen an. Bleiben Sie im Eingang stehen. Rühren Sie
sich nicht vom Fleck.«
»Nein, so wirst du nie werden. Auch wenn du
es noch so sehr wolltest, du könntest es nicht. Die Leute werden
auch weiterhin in dein Leben poltern, du wirst wieder Leid
erfahren, und das ist auch gut so. Ich mache mir um dich keine
Sorgen.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wieso natürlich nicht?«
»Du machst dir um mich keine Sorgen. Du
läßt dir wegen niemandem graue Haare wachsen.«
»Das stimmt, du hast recht. Ich bringe es
nicht über mich.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Weil mich die anderen
nicht interessieren, nehme ich an …«
»… außer Adrien.«
»Wieso Adrien?«
»Ich denke an ihn.«
»Du machst dir Sorgen um Adrien?«
»Ja, ich glaube schon – ja. Um ihn mache
ich mir jedenfalls am meisten Sorgen.«
»Warum?«
»Weil er unglücklich ist.«
Ich fiel aus allen Wolken.
»Also, das ist doch der Gipfel! Er ist
überhaupt nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil, glücklich ist er!
Er hat eine ramponierte und langweilige Frau gegen ein
unverbrauchtes junges Mädel eingetauscht. Jetzt ist sein Leben viel
lustiger, weißt du.«
Ich krempelte einen Ärmel hoch.
»Überhaupt, wie spät ist es eigentlich?
Viertel vor zehn? Wo er wohl gerade ist, unser kleiner Märtyrer? Im
Kino oder im Theater? Oder irgendwo zum Essen? Sie haben bestimmt
schon die Vorspeise hinter sich. Er krault ihre Handfläche und
träumt von später. Achtung, die Hauptspeise kommt, sie zieht die
Hand zurück und erwidert sein Lächeln. Vielleicht sind sie auch im
Bett. Was ja wohl am wahrscheinlichsten ist, oder? Am Anfang macht
man das oft, wenn ich mich recht erinnere.«
»Du bist zynisch.«
»Reiner Selbstschutz.«
»Was immer er tut, er ist
unglücklich.«
»Durch meine Schuld, willst du damit sagen?
Ich verderbe ihm das Vergnügen? Nein, wie undankbar.«
»Nein. Nicht durch deine, durch seine
eigene Schuld. Das Leben ist schuld, das nicht macht, was man von
ihm verlangt. Unsere Anstrengungen sind lächerlich …«
»Du hast recht, der arme Schatz.«
»Du hörst mir nicht zu.«
»Nein.«
»Warum hörst du mir nicht zu?«
Ich biß in mein Baguette.
»Weil du eine Planierraupe bist, du machst
alles platt, was sich dir in den Weg stellt. Meine Sorgen – ja, was
eigentlich? – belasten, ja nerven dich höchstens, das weiß ich. Und
dann die Sache mit den Blutsbanden … Diese bescheuerte Vorstellung.
Du warst völlig unfähig, deine Bälger in den Arm zu nehmen, ihnen
auch nur ein einziges Mal zu sagen, daß du sie lieb hast, aber
davon einmal abgesehen weiß ich, daß du sie immer verteidigen
wirst. Egal, was sie sagen, egal, was sie tun, sie haben immer
recht gegenüber uns anderen, uns Barbaren. Uns, die wir nicht den
gleichen Namen tragen wie ihr.
Man sollte meinen, daß dir deine Kinder
nicht viel Anlaß zur Zufriedenheit gegeben haben, aber du bist der
einzige, der sie kritisieren darf. Der einzige! Adrien hat sich
davongemacht und mich mit den Mädchen sitzen lassen. Gut, das ist
dir nicht recht, aber ich hoffe nicht mehr darauf, aus deinem Mund
ein paar strenge Worte zu hören. Ein paar strenge Worte – das würde
nichts ändern, aber es würde mir guttun. So guttun, wenn du wüßtest
… Ja, das ist kleinlich. Ich bin kleinlich. Aber ein paar deutliche
Worte, ein paar harsche Worte, wie du sie so gern von dir gibst.
Warum nicht an seine Adresse? Das hätte ich verdient. Ich warte auf
das Urteil des Patriarchen, der den Vorsitz am Tisch führt. So
viele Jahre schon habe ich miterlebt, wie du die Welt in zwei
Hälften teilst. Die Guten und die Schlechten, diejenigen, die deine
Achtung verdienen, und die, die sie nicht verdienen. So viele Jahre
schon, daß ich dein Geschwätz über mich ergehen lasse, deine
Autorität, deine Kommandeursfratze, dein Schweigen … Die ganze
Palette. Die ganze Palette … All die Jahre, die du uns auf den
Geist gegangen bist, Pierre.
Du weißt, ich habe ein schlichtes Gemüt,
und es ist mir ein Bedürfnis, daß du sagst: Mein Sohn ist ein
Dreckskerl, und ich entschuldige mich bei dir. Ich brauche das,
verstehst du?«
»Zähle nicht auf mich.«
Ich räumte die Teller ab.
»Ich habe nie auf dich gezählt.«
»Möchtest du einen Nachtisch?«
»Nein.«
»Du möchtest nichts?«
»Es ist also schiefgelaufen. Ich habe wohl
am falschen Faden gezogen.«
Ich hörte ihm nicht mehr zu.
»Der Knoten hat sich noch stärker
zugezogen, und wir haben uns weiter denn je voneinander entfernt.
Ich bin also ein alter Kotzbrocken, ein Monstrum … Und was
noch?«
Ich holte den Lappen.
»Und was noch?!«
Ich sah ihm direkt in die Augen.
»Hör zu, Pierre, ich habe jahrelang mit
einem Mann zusammengelebt, der nichts zustande brachte, weil sein
Vater ihn niemals richtig unterstützt hat. Als ich Adrien
kennengelernt habe, traute er sich nichts zu, aus Angst, seinen
Vater zu enttäuschen. Und alles, was er unternahm, deprimierte
mich, weil er es nie für sich tat, sondern für dich. Um dich zu
beeindrucken oder dich zu ärgern. Dich zu provozieren oder dir
Freude zu bereiten. Es war rührend. Ich war kaum zwanzig und habe
ihm mein ganzes Leben geopfert. Um ihm zuzuhören und den Nacken zu
streicheln, als er sich mir endlich anvertraut hat. Ich bereue
nichts. Ich hätte sowieso nicht anders gekonnt. Ich hielt es nicht
aus, daß ein Junge wie er sich in dem Maße schlechtmacht. Wir haben
Nächte damit verbracht, alles auseinanderzuklamüsern und zu
analysieren. Ich habe ihn aufgerüttelt. Ich habe ihm tausendmal
gesagt, daß seine Geschichte zu einfach ist. Daß es zu einfach ist!
Wir haben Vorsätze gefaßt und haben sie mit Füßen getreten, wir
haben neue gefaßt, und schließlich habe ich mit dem Studium
aufgehört, damit er seins wieder aufnehmen konnte. Ich habe die
Ärmel hochgekrempelt und ihn drei Jahre lang an der Uni abgesetzt,
um meine Zeit im Untergeschoß des Louvre totzuschlagen. Es war eine
Abmachung zwischen uns: Ich würde mich nicht beklagen,
vorausgesetzt, er spräche nicht mehr von dir. Ich will mich damit
nicht brüsten. Ich habe ihm nie gesagt, daß er der Beste sei. Ich
habe ihn einfach geliebt. Ge-liebt. Verstehst du, wovon ich
rede?«
»…«
»Dann verstehst du wahrscheinlich auch,
warum ich heute so schwer daran trage.«
Ich wischte mit dem Lappen um seine Hände,
die auf dem Tisch lagen.
»Sein Selbstvertrauen ist zurückgekehrt,
der verlorene Sohn hat sich gemausert. Er hat das Steuer in die
Hand genommen wie ein Großer, und jetzt verläßt er sogar seine Alte
unter den zärtlichen Blicken des bösen Herrn Papa. Du mußt zugeben,
das ist ganz schön hart, oder?«
»…«
»Du sagst nichts?«
»Nein. Ich gehe schlafen.«
Ich stellte die Maschine an.
»In Ordnung, gute Nacht.«
*
Ich biß mir auf die Lippen.
Schrecklichere Dinge behielt ich für
mich.
Ich nahm mein Glas und setzte mich aufs
Sofa. Ich zog die Schuhe aus und kauerte mich unter den Kissen
zusammen. Ich stand wieder auf und holte die Flasche, die noch auf
dem Tisch stand. Ich schürte das Feuer, löschte das Licht und
begrub mich erneut.
Ich bereute es, noch nicht betrunken zu
sein.
Ich bereute es, dazusein.
Ich bereute … Ich bereute so viele
Dinge.
So viele Dinge.
Ich legte den Kopf auf die Lehne und
schloß die Augen.