4. Kapitel

Travis Harden stand ruckartig auf. Der Drucker spuckte soeben die letzte Seite seiner Rede aus. Harden verließ mit finsterer Miene sein Arbeitszimmer.

Er fand seine Frau in der Küche. Sie hatte ein aufgeschlagenes Kochbuch vor sich liegen und ihre Hände waren mehlig. Er erzählte ihr verärgert von Allegras unziemlichem Anruf und von Y. O. Olapan, der plötzlich in der Telefonleitung gewesen war, und Allegra unbefugt erlaubt hatte, mit Neely und deren Eltern nach Brighton zu fahren.

Sonya sah ihn verblüfft an. »Wie kommt dieser Mann in unsere Telefonleitung? Und wie kommt er dazu, Allegra …«

»Sie wird nicht nach Brighton fahren«, unterbrach Harden seine Frau grimmig.

»Du willst es ihr verbieten?«

»Allerdings.« Harden nickte heftig. »Solange sie ihre Füße unter meinen Tisch stellt, hat sie zu gehorchen und gewisse familiäre Konventionen zu beachten.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich werde ihr diese Eigenmächtigkeiten abgewöhnen, darauf kannst du dich verlassen. ›Neelys Eltern fahren nach Brighton und ich werde mitfahren.‹ Wo sind wir denn? So darf sie mir nicht kommen. Sie kann mich doch nicht selbstherrlich vor vollendete Tatsachen stellen und erwarten, dass ich das einfach so schlucke. So geht das nicht. So nicht!« Er machte auf den Hacken kehrt.

»Travis …«

»Ja?«

»Dieser Olapan …«

Harden drehte sich wieder zu seiner Frau um.

Sonya leckte sich die Lippen. »Ich weiß nicht, warum, aber … Irgendwie ist mir der Mann nicht geheuer.«

Harden empfand zwar ähnlich, aber er wollte nicht, dass seine Frau sich beunruhigte, deshalb winkte er ab und brummte: »Ach, vergiss den Idioten, Sonya.«

 

Ich kehrte auf die Terrasse zurück. »Vicky hat das Ding schon gesehen.«

Mr. Silver grinste. »Ich nehme an, sie war schockiert.«

»Das kannst du laut sagen. Doch inzwischen weiß sie Bescheid und stößt sich nicht mehr daran, dass so etwas in meiner Nachttischlade liegt.«

»Mago wird deinen Schlaf nicht noch mal so manipulieren können.«

Mein Blick wanderte über die Stadt. »Ich wollte, ich wüsste, wo der Mistkerl steckt.«

»Er kann überall sein.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Irgendwann kriegen wir ihn.«

Ein böses Funkeln erschien in Mr. Silvers perlmuttfarbigen Augen. »Oh ja, und dann ziehen wir ihm bei lebendigem Leibe seine gottverdammte granitgraue Haut ab.«

Vicky kam zu uns auf die Terrasse. »Hättest du dem Traumfänger keine andere Form geben können, Silver?«

»Welche?«, erkundigte sich der Ex-Dämon.

»Keine Ahnung.« Vicky zuckte mit den Achseln. »Ein hölzerner Wecker zum Beispiel hätte sich sehr gut auf Tonys Nachttisch gemacht. Den hätte er nicht in der Lade zu verstecken brauchen.«

»Ein hölzerner Wecker wäre …« Mr. Silver kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Es läutete an der Tür. Ich verließ die Terrasse, und als ich gleich darauf die Penthousetür öffnete, weiteten sich meine Augen in freudigem Erstaunen.

Pater Severin stand vor mir. »Hey, Mann Gottes«, sagte ich aufgekratzt. »Schön, dich zu sehen.«

Das Pferdegesicht des Priesters blieb ernst.

Ich blinzelte irritiert. »Ist was passiert?«

»Das kann man wohl sagen, Tony«, knurrte Pater Severin.

Ich machte eine einladende Handbewegung. »Komm herein.«

»Ich bin nicht allein.« Der große, kräftige Pfarrer trat einen Schritt zur Seite, und ich erblickte einen kugelrunden Mann. »Das ist Quentin Rymer«, erklärte Severin. »Quentin Rymer – Tony Ballard. Tony Ballard – Quentin Rymer«, machte er uns miteinander bekannt.

Ich gab Rymer die Hand und zog ihn ins Penthouse. Pater Severin folgte ihm und schloss die Tür.

»Wer stört?«, fragte Neely Elliott nach dem zweiten Läuten am andern Ende der Leitung.

»Travis Harden.«

»Oh.« Neely wurde gleich sehr freundlich. »Hallo, Mr. Harden. Ich finde es cool, dass Sie Allegra erlauben …«

»Ich möchte mit ihr sprechen«, sagte Harden ruppig.

»Okay. Einen Augenblick, Mr. Harden.« Neely Elliott deckte die Sprechmuschel ein wenig ab. »Es ist dein Vater, Allegra«, hörte Harden sie sagen.

»Was will er?«, fragte Allegra wenig begeistert.

»Weiß ich nicht.«

»Warum hast du nicht gesagt, ich bin nicht da?«

»Soll ich's jetzt sagen?«

»Gib schon her.« Dann – Allegra. Laut und deutlich: »Ja, Dad?«

»Du wirst nicht nach Brighton fahren.«

»Was?«

»Ich möchte, dass du nach Hause kommst.«

»Aber du hast mir doch vorhin erlaubt …«

»Hab ich nicht.«

»Spinne ich oder was? Du hast doch vor wenigen Minuten gesagt …«

»Du bist in einer Stunde hier, sonst kannst du was erleben.« Travis Harden knallte den Hörer auf den Apparat. Aber mit dem Telefon war irgendetwas nicht in Ordnung.

»Ist der Alte noch zu retten?«, hörte er seine Tochter wütend sagen. »Der hat sie echt nicht mehr alle. Zuerst sagt er Ja, dann Nein. Das ist doch bescheuert.« Es folgte ein Fluch. »Der kann mich mal. Ich lass mir doch von dem nichts verbieten. Ich bin kein kleines Kind mehr.«

Harden starrte den Apparat perplex an. Lachen kam aus dem Hörer. Obwohl er auf der Gabel lag. Und dann Olapans Stimme: »Die Kleine ist ziemlich sauer.«

Wie macht er das?, durchfuhr es Harden. Er muss mein Telefon manipuliert haben. Aber wie hat er das angestellt?

»Oh, ich kann noch viel mehr«, sprach Y. O. Olapan aus dem Telefonhörer.

Hardens Mund klappte auf.

Olapan lachte wieder. »Jetzt bist du baff, was?«

Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, dachte Harden verdattert.

»Findest du?«, sagte Olapan spöttisch.

»Können Sie etwa meine Gedanken lesen?«

»Ich muss gestehen, es gelingt mir nicht immer so gut wie bei dir«, antwortete Y. O. Olapan.

Harden streckte die Hand aus. Hatte er den Hörer schlecht aufgelegt?

»Nicht anfassen!«, zischte Olapan. »Heiß!«

Travis Harden griff dennoch nach dem Hörer. Im selben Moment schrie er erschrocken auf. Der Hörer war tatsächlich unglaublich heiß. Ein beißender Schmerz durchzuckte Hardens Finger. Er riss die Hand zurück.

Olapan lachte höhnisch. »Ich habe dich gewarnt.«

Die Tür flog auf. Sonya Harden erschien.

»Travis, was ist los?«, rief sie besorgt. »Wieso hast du geschrien?«

Harden hielt sich die schmerzende Hand. »Sonya … Mein Gott, Sonya … Ich glaube … Ich glaube, ich habe den Verstand verloren.«

 

»Mr. Rymer hat etwas ganz Schreckliches erlebt, Tony«, sagte Pater Severin.

Der dicke Mann nickte. Er quetschte dabei mehrmals sein schwammiges Doppelkinn und nagte nervös an seiner wulstigen Unterlippe.

»Etwas Grauenvolles«, ergänzte Severin. »Etwas, das so unfassbar und unglaublich ist, dass er damit nur zu mir kommen konnte, um es loszuwerden, weil ihm sonst niemand geglaubt hätte.«

In meinem Kopf blitzte ein Name auf: Mago!

Hatte der Schwarzmagier auch anderswo seine dreckigen Fäden gezogen?

Ich holte Vicky und Mr. Silver von der Terrasse herein und machte sie mit Quentin Rymer bekannt. Wir setzten uns, und der dicke Mann erzählte uns seine wahrhaft extrem haarsträubende Geschichte.

Er regte sich dabei so sehr auf, dass ich ihm einen Cognac aufdrängte, damit er nicht zusammenklappte. Nachdem er geendet hatte, war es kurze Zeit so still im Raum, dass man einen Floh hätte husten hören können.

Mr. Silver schüttelte finster den Kopf. »Das ist ja ein Ding.«

Wir hatten Nia van Cleefe alle gekannt. Nicht persönlich, aber aus den Zeitungen und vom Fernsehen her. Es war immer wieder über sie berichtet worden.

Ihr Foto hatte viele Spendenaufrufe begleitet. Nia van Cleefe war ein Engel der Armen gewesen. Eine leuchtende Galionsfigur, wenn es um Güte und Hilfsbereitschaft gegangen war. Sie war für viele der allerletzte Hoffnungsschimmer in größter Not gewesen, eine Heilige, die bereit gewesen war, für ihre bedürftigen Mitmenschen alles zu geben.

Jemand, von dem man sich wünschte, er würde ewig leben, damit er ewig helfen konnte. Aber das wünschte sich die Hölle natürlich nicht, und deshalb hatte sie diesen schlangenhäuptigen, abgrundtief hässlichen Kretin zu ihr geschickt, damit er sie nicht nur tötete, sondern darüber hinaus so komplett auslöschte, dass nichts mehr von ihr übrig blieb.

Nichts, was man wenigstens noch hätte in Würde beerdigen können. Zu Staub war diese wunderbare Frau zerfallen. Vor Quentin Rymers fassungslosen Augen.

Er war total fertig. Obwohl er seine Geschichte nun schon zum zweiten Mal erzählt hatte (einmal Pater Severin, einmal uns), wurde er den Schock, den das Erlebte bei ihm ausgelöst hatte, einfach nicht los.

 

»Ich komme auf jeden Fall mit nach Brighton«, sagte Allegra aufgebracht. Sie schüttelte ihr langes, dunkles Haar trotzig in den Nacken.

Neely Elliott schaute auf das Telefon. Sie war rothaarig und in ihrem Gesicht befanden sich mehr Sommersprossen als Sterne nachts am Himmel.

»Aber …«

»Das lasse ich mir nicht gefallen«, stieß Allegra Harden wütend hervor. »Ich bin keine Sklavin. Ich bin ein freier Mensch. Meine Eltern dürfen mich nicht einsperren. Dazu haben sie kein Recht. Wir leben schließlich nicht im Mittelalter und ich habe nichts verbrochen.« Ihre Lippen wurden schmal. »Ich fahre nach Hause und kläre das gleich mal mit Mom und Dad. Du kannst deinen Eltern sagen, dass ich auf jeden Fall dabei bin, wenn sie losfahren.«

Neely rollte die Augen. »Ich wünsch dir viel Glück.«

»Das brauch ich nicht. Wenn meine Eltern nicht nachgeben, hau ich ab.«

»Wohin?«

Allegra zuckte mit den Achseln. »Irgendwohin – wo sie mich nicht finden.«

»Ich drücke dir die Daumen.«

Die Freundinnen umarmten sich.

»Auf in den Kampf«, sagte Allegra ebenso kriegerisch wie siegesgewiss. Dann verließ sie das Haus der Elliotts. Sie ging zur Bushaltestelle.

Auf dem Weg dorthin war ihr, als würde sie jemand beobachten, doch wenn sie sich umblickte, sah sie niemanden. Die Straße war menschenleer.

Links und rechts standen gepflegte Einfamilienhäuser mit schmucken Vorgärten und schneeweißen Vorhängen hinter den sauberen Fenstern.

Es herrschte eine friedliche Stille. Allegra wäre nie auf die Idee gekommen, dass ihr Gefahr drohte. Sie erreichte die Bushaltestelle und wartete.

Das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden, blieb, und je länger Allegra wartete, desto intensiver wurde es. Sie fröstelte leicht, obwohl es nicht kalt war.

Aber Angst hatte sie keine. Wovor oder vor wem auch, wenn überhaupt niemand in der Nähe war? Sie dachte an ihre Eltern, mit denen es heute einen Strauß auszufechten galt, der die Weichen für die Zukunft in ihrem Sinn stellen würde. Es war ja nicht so, dass sie Mom und Dad nicht liebte.

Sie konnte es bloß absolut nicht ausstehen, von ihnen noch immer wie ein unreifes Kind behandelt und fortwährend bevormundet zu werden.

Sie hatte immerhin vor fast einem Jahr zum ersten Mal ihre Periode bekommen, und ihr waren Brüste gewachsen, die schon fast so groß waren wie die ihrer Mutter.

Mit dieser lächerlichen Unterdrückung muss endlich Schluss sein, dachte Allegra rebellisch. Ich weiß selbst, was für mich gut ist, und möchte meine eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Wenn sie sich nicht damit abfinden können, werde ich sie mit Konsequenzen konfrontieren, die ihnen ganz und gar nicht gefallen werden.

Neely hatte sie gefragt, wohin sie abhauen würde. Nun, sie konnte jederzeit bei Brian Lockwood unterkommen. Er hatte eine eigene Wohnung.

Er war achtzehn. Und er war in sie verknallt. Das war sie in ihn zwar nicht, aber sie würde ihn trotzdem bitten, sie bei sich aufzunehmen, wenn ihre Eltern auf stur schalteten. Und er würde es auch ganz bestimmt tun.

Der Bus bog um die Ecke. Und plötzlich stand ein Mann neben Allegra. Sie musterte ihn unauffällig. Boah, ist der hässlich, dachte sie.

Der Mann machte einen höchst unsympathischen Eindruck auf sie und sah aus, als würde er die ganze Welt verachten. Seine Lippen waren schmal, die Nase war unansehnlich geformt – Allegra hatte noch nie eine so widerlich geschnittene Visage gesehen. Die ganze Scheußlichkeit wurde von einem bösen, grausamen Blick abgerundet, der Allegra unwillkürlich veranlasste, einen Schritt zur Seite zu treten.

Der Bus erreichte die Haltestelle. Allegra stieg ein. Sie hätte es lieber gesehen, wenn der Mann draußen geblieben wäre. Aber er folgte ihr. Der Bus war leer. Keine Fahrgäste. Jede Menge freie Sitze.

Allegra ging ganz nach hinten und setzte sich. Der Hässliche nahm eine Reihe vor ihr Platz, und der Bus fuhr weiter. Allegra sah aus dem Fenster, um nicht ständig den kahlen Schädel anschauen zu müssen.

Sie versuchte sich abzulenken, so gut es ging, las Aufschriften auf Straßenschildern und Firmenwagen, zählte parkende Autos, interessierte sich für sämtliche Plakate am Straßenrand – Werbung für Smartphones, Babynahrung, Waschmittel, Unterwäsche, Zeitschriften …

Ein mysteriöses Flüstern geisterte mit einem Mal durch ihren Kopf. »Allegra …«

Sie war gezwungen, nach vorn zu sehen.

»Allegra«, wiederholte der Mann, ohne sich umzudrehen.

Sie schluckte nervös. Wieso kannte der Fremde ihren Namen? War er es überhaupt, der zu ihr sprach? Und noch dazu auf diese total irre Weise.

Zwischen ihr und ihm begann die Luft zu flimmern. Oder bildete sie sich das nur ein? Okay, sie hatte mit Neely ein bisschen gekifft.

Aber die Wirkung konnte doch nicht so lange anhalten. Das war ja noch nie so gewesen. Und es sollte noch verrückter kommen. Der Mann wandte ihr sein Gesicht zu. Er drehte seinen Kopf um hundertachtzig Grad, ohne dass sein Körper sich mit bewegte. Um hundertachtzig Grad! Eigentlich war das unmöglich. Kein Mensch war dazu imstande.

Wieso kann er das?, fragte sich Allegra Harden völlig perplex.

»Allegra«, sprach der Furcht erregende sie nun direkt an.

»W-wer sind Sie?«, stammelte der Teenager. »W-was wollen Sie von mir? Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich bin Yoolapan, und ich möchte, dass du mit mir kommst.«

»Mit Ihnen? Wohin? Ich gehe doch nicht mit einem …«

»Dein Vater hat uns verärgert«, fiel Yoolapan der Vierzehnjährigen ins Wort. »Es wurde von höchster Stelle angeordnet, ihn zu bestrafen, und ich soll diesen Auftrag ausführen.«

Allegra begann sich zu fürchten. Sie wollte aufspringen und nach vorn zum Busfahrer laufen, doch Yoolapan ließ es nicht zu. Eine unsichtbare Kraft – weich, elastisch und zäh – zwang das Mädchen, sitzen zu bleiben. Allegra wollte dem Fahrer etwas zurufen, doch auch das verhinderte der Exekutor mit seiner Magie. »Bitte«, flüsterte sie zitternd. »Bitte tun Sie mir nichts.«

Der Bus hielt an.

»Wir steigen aus«, sagte Yoolapan.

»Nein.«

»Komm!«

»Ich will nicht.«

»Komm!«, wiederholte Yoolapan streng. Er stand auf, drehte den Kopf wieder nach vorn, griff nach Allegras Hand, öffnete die Tür, indem er auf einen daneben befindlichen Knopf drückte, und stieg mit seiner Geisel aus.

Der Busfahrer bekam nicht mit, dass sie entführt wurde. Er sorgte dafür, dass sich die Tür wieder schloss, nachdem die beiden Fahrgäste ausgestiegen waren, und setzte seine Tour fort. Yoolapan legte seinen Arm um Allegras Schultern, als wollte er sie vor allen Feindseligkeiten der Welt beschützen. Es sah ungemein fürsorglich aus. In Wahrheit war das Mädchen jedoch noch nie in so großer Gefahr gewesen.

 

Yoolapan … Wir hörten diesen Namen zum ersten Mal.

»Sieht so aus, als wäre er im Auftrag der Hölle unterwegs«, knurrte Mr. Silver.

»Vielleicht hat ihn sogar Loxagon persönlich geschickt«, mutmaßte Vicky.

Der neue Name drängte Mago bei mir ein wenig in den Hintergrund. Ich sah Quentin Rymer nachdenklich an. »Was wird nun aus dem ›Haus der Barmherzigkeit‹?«

Rymer runzelte die Stirn. »Mein erster Gedanke war, dass es geschlossen werden muss, doch Pater Severin meint …«

»Ich denke, ich kann Tucker Peckinpah dazu überreden, es fortzuführen«, fiel der Priester dem Dicken ins Wort.

Ich nickte. »Das kann gerne ich übernehmen, und ich bin sicher, es wird nicht viel Überredungskunst erforderlich sein, um Mr. Peckinpah für diese gute Sache zu gewinnen.«

»Das denke ich auch«, sagte Pate Severin.

Mr. Silver bat Rymer, Yoolapan so genau wie möglich zu beschreiben. Der Dicke versuchte es, aber es kam nicht viel dabei heraus.

Groß. Kräftig. Furchtbar hässlich. Mal kahlköpfig. Mal mit Schlangen auf dem Schädel. Das war alles, was Quentin Rymer in Erinnerung geblieben war. Fürs Erste konnten wir damit nicht allzu viel anfangen.

Quentin Rymer sah mich ängstlich an. »Wenn Yoolapan zurückkommt …«

»Ich glaube nicht, dass er das wird«, entgegnete ich. »Er hat getan, was er tun musste, hat Nia van Cleefe ausgelöscht und wird nun – davon gehe ich aus – nach einem gleichwertigen Opfer Ausschau halten. Nach einer Person, die genauso geschätzt und beliebt und für ihre guten Taten bekannt ist, wie es Ms. van Cleefe war.« Meine Worte vermochten dem Dicken jedoch nicht die bohrende Angst zu nehmen, die ihn peinigte, das sah ich ihm an. Deshalb fuhr ich fort: »Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen einen Schutzengel mitgeben.«

Er horchte interessiert auf. »Einen Schutzengel?«

Ich nickte. »Der auf Sie aufpasst und niemanden an Sie heranlässt. Der über Ihre Sicherheit wacht, ohne dass Sie ihn sehen.«

»So jemanden gibt es?«, fragte Rymer ungläubig.

Ich lächelte. »Es gibt nicht nur schlangenhäuptige Höllenwesen, Mr. Rymer. Wir sind zum Glück in der Lage, auf Freunde zurückgreifen zu können, mit deren Hilfe es uns möglich ist, der schwarzen Macht sehr erfolgreich die Stirn zu bieten.«

Vicky, Mr. Silver und Pater Severin wussten, an wen ich im Moment dachte. Nur Quentin Rymer hatte – klarerweise – keine Ahnung, und so sollte es auch bleiben.

»Ich – ich werde meinen Schutzengel nicht sehen?«

»So ist es, Mr. Rymer.«

»Aber wie weiß ich dann, dass er da ist, wenn mir Gefahr droht?«

»Er wird da sein. Er wird so lange in Ihrer Nähe bleiben, bis ich ihn zurückrufe. Sie können sich darauf verlassen.«

Rymer sah Pater Severin an. Er erhoffte sich vom Priester eine Bestätigung, und Severin sagte auch sofort: »Tony Ballard hat noch nie sein Wort gesprochen, Quentin.«

Ich stand auf. »Entschuldigt mich einen Moment.« Ich verließ das Wohnzimmer, schloss die Tür und rief Boram.

Der Nesselvampir erschien. »Ja, Herr?«, sagte er hohl und rasselnd.

Er sagte nie Tony zu mir. Dazu war er einfach nicht zu bewegen. Würde ich mich jemals daran gewöhnen? Boram hatte keinen Körper.

Er war lediglich eine Dampfgestalt, die sich so weit auszudehnen vermochte, dass sie nicht mehr zu sehen war. Er konnte den Dampf aber auch so sehr verdichten, dass er einem Gegner einen gewaltigen Schlag versetzen konnte.

Wer Boram berührte, bekam nicht nur sein schmerzhaftes Nesselgift zu spüren. Da Boram ein Energievampir war, verlor man bei jedem Kontakt auch Kraft an ihn. Deshalb fasste ich ihn niemals an.

»Hör zu, Boram, ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte ich.

»Was soll ich tun, Herr?«

Ich erklärte ihm die Situation.

»Ich werde nicht von der Seite dieses Mannes weichen«, versprach der Nesselvampir, sobald ich geendet hatte.

»Ich rechne zwar nicht damit, dass Yoolapan zurückkommt, aber …« Ich wackelte mit dem Kopf. »Sicher ist sicher. Und Quentin Rymer fühlt sich zudem sehr viel wohler, wenn er weiß, dass er beschützt wird.«

 

»Wo ist Allegra?«, blaffte Travis Harden, sobald Neely Elliott sich am Telefon gemeldet hatte.

»Ist sie noch nicht zuhause?«, fragte das rothaarige Mädchen verwundert.

»Nein«, schnappte Harden. »Sonst würde ich ja wohl kaum anrufen.«

»Sie ist gleich nach Ihrem Anruf weggegangen.«

»Und warum ist sie dann noch immer nicht hier?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Ich habe verlangt, dass sie heimkommt.«

»Das weiß ich«, sagte Neely.

»Aber sie ist …«

»Herrgott, schreien Sie mich nicht an, Mr. Harden«, unterbrach Neely den aufgebrachten Vater ihrer Freundin wütend. »Allegra ist nicht mehr bei mir, okay? Sie sagte, sie würde nach Hause fahren, okay? Wenn sie es sich anders überlegt hat, ist das nicht meine Schuld, okay?«

Er atmete schwer aus. »Entschuldige, Neely«, lenkte er ein. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht … Ich mache mir … Nun ja, meine Frau und ich sind in Sorge. Allegra müsste schon längst hier sein.«

»Vielleicht hat sie auf dem Heimweg jemanden getroffen«, vermutete Neely Elliott. »Ich kann ja mal herumtelefonieren, wenn Sie möchten.«

»Ja, bitte tu das.« Travis sprach jetzt sanft, versöhnlich und flehentlich. »Und gib mir bitte sofort Bescheid, wenn du weißt, wo Allegra abgeblieben ist.«

»Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, Mr. Harden.«

Er stieß die Luft gequält aus. »Das hoffe ich. Das hoffen meine Frau und ich sehr.«

 

Eine Stunde, nachdem Pater Severin und Quentin Rymer bei uns gewesen waren, stieg ich aus meinem schwarzen Rover und blickte mich aufmerksam um.

War Mago in der Nähe?

Oder Yoolapan?

Wenn ja, dann hatten sie sich gut versteckt. Das Äußere des Hauses, an dessen Tür ich läutete, ließ nicht erahnen, wie unermesslich reich sein Besitzer war.

Tucker Peckinpah hatte noch nie mit seinem vielen Geld geprahlt. Da sich alles, was er anfasste, in Gold verwandelte, wurde er von Jahr zu Jahr reicher, doch er nutzte seinen Reichtum lobenswerterweise nicht zum Fluch, sondern zum Segen seiner Mitmenschen.

Die Tür öffnete sich – und ich hätte niemanden gesehen, wenn ich nicht nach unten geschaut hätte, denn Peckinpahs Leibwächter war ein Gnom, den wir vor Jahren von der extrem gefahrvollen Prä-Welt Coor mitgebracht hatten.

Er strahlte. »Tony!«

Ich grinste. »Hallo, Romeo.« Es gab für mich einen guten Grund, ihn so zu nennen. Der Kleine war frisch verliebt – in Priyna, die sogar noch ein bisschen kürzer war als er. »Wie geht es Julia?«

»Oh, der geht es prächtig«, antwortete Cruv. Er warf sich in die schmale Brust. »Sie hat ja schließlich mich.«

Ich streckte meine Hand vor – die Handfläche wies nach unten – und bewegte sie zweifelnd hin und her. »Ich weiß nicht, ob sie da so zu beneiden ist.«

»Wenn du möchtest, dass ich dich einlasse, solltest du ein wenig netter zu mir sein«, rügte mich der Gnom.

»Ist Mr. Peckinpah zuhause?«

Cruv nickte. »Ist er.«

»Kann ich deiner Braut kurz Hallo sagen?«

»Priyna ist unterwegs.«

»Allein?«

»Ich glaube nicht, dass ihr Gefahr droht.«

Ich dachte an Mago.

Der Schwarzmagier hatte vor langer Zeit Cruvs Lebensgefährtin Tuvvana getötet. Endlich hatte der Kleine ein neues Glück gefunden, und ich hoffte, dass Mago das nicht gleich wieder sauer aufstieß. Ich marschierte an Cruv vorbei, nachdem er zur Seite getreten war. Er führte mich ins gediegen ausgestattete Wohnzimmer, forderte mich auf, Platz zu nehmen und füllte ein Glas mit Pernod für mich. Ohne Eis. Ohne Wasser. Ohne Zucker. Ohne alles. Pur.

»Sekunde«, sagte der Gnom und entfernte sich.

Ich nippte an meinem Drink. Der Pernod brannte angenehm auf meiner Zunge und in meiner Kehle. Ich genoss ihn mit halb geschlossenen Augen.

Cruv kam mit dem Industriellen zurück. Mir kam vor, als wäre Peckinpahs Haar noch schütterer geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte.

Ich stand auf.

»Tony.« Der Sechzigjährige streckte mir herzlich die Hand entgegen.

Ich schüttelte sie. »Partner.«

Wir setzten uns. Auch Cruv.

Tucker Peckinpah sah mich unsicher an. »Sie sind hoffentlich nicht hier, um abzusagen.«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Keine Sorge, Partner. Den Galaabend lassen wir uns nicht entgehen. Vicky hat sich eigens dafür ein schickes Kleid gekauft.«

»Ich bin sicher, sie wird darin wunderschön aussehen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wenn man bedenkt, was es gekostet hat …« Ich wedelte mit der Hand, als hätte ich mir die Finger verbrannt.

»Edles gehört edel verpackt«, meinte der Industrielle.

Ich wechselte das Thema und erzählte ihm und seinem kleinen Leibwächter von Yoolapans Auftritt bei Nia van Cleefe, und er überraschte mich mit der Befürchtung, dass Noah Dayan ein ähnliches Schicksal ereilt haben könnte. Ich wusste selbstverständlich, wer Dayan war.

Alle Welt kannte den rührigen Wohltäter, der in vielen Grafschaften Englands Kinderdörfer für arme Waisen aus dem Boden gestampft hatte.

Darüber hinaus hatte Noah Dayan mit großem Engagement eine Benefizveranstaltung nach der andern organisiert, Charity-Events mit Stars aus Kunst, Politik und Sport gemanagt und es meisterhaft verstanden, den Leuten eine Menge Geld für gute Zwecke aus der Tasche zu ziehen.

Der Industrielle hatte erfahren, dass Dayans Haus heute bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, und dass darin zwar die Überreste eines Menschen gefunden worden waren, die jedoch mit absoluter Sicherheit nicht Noah Dayan zugeordnet werden konnten. Im Haus war ein unlöschbares Feuer ausgebrochen.

»Ein unlöschbares Feuer!«, betonte Tucker Peckinpah. »Es hörte erst auf zu brennen, als es nicht mehr brennen wollte, soll ein Feuerwehrmann gesagt haben.«

Es wunderte mich schon lange nicht mehr, dass der Industrielle immer so hervorragend informiert war. Er verfügte über weltumspannende Verbindungen, war geschäftlich, politisch und privat so gut vernetzt, wie es sonst niemand war, und verfügte über ein Heer von hellhörigen Informanten, die ihm unverzüglich alles berichteten, was er wissen musste.

Deshalb war ihm auch bekannt, dass ein ausnehmend hässlicher Mann mit Schlangenhaaren und eisernem Brustpanzer im Stadtteil Shacklewell den Tankwagen eines Mannes namens Martin Law in die Luft gejagt hatte.

In Shacklewell!

Also da, wo sich Nia van Cleefes »Haus der Barmherzigkeit« befand. Peckinpah wusste ferner von einem Reporter namens Vin Rockwell – vom Crown Journal –, dem zu Ohren gekommen war, dass der Tankwagenfahrer nach der Explosion einen Mann mit Schlangenhaaren erwähnt hatte. Begreiflicherweise hatte Rockwell sofort eine Sensation gewittert und Martin Low dazu befragen wollen, doch Low war zu keiner Stellungnahme bereit gewesen.

»Law hatte offenbar sehr großes Glück«, sagte Tucker Peckinpah.

Ich sah ihn an. »Sie meinen, weil er die Begegnung mit Yoolapan überlebt hat?«

Er nickte. »Genau.«

»Das hat Quentin Rymer auch«, sagte ich. »Er hat Yoolapan ebenfalls gesehen – und lebt noch.«

»Dann konzentriert sich der Mann aus der Hölle wohl nur auf Personen, die einem bestimmten Profil entsprechen«, warf Cruv ein.

»Das könnte hinkommen«, gab ich ihm Recht. Ich brachte das Gespräch auf das »Haus der Barmherzigkeit«, das nun niemand mehr leitete. »Könnten Sie sich vorstellen, diesen Job zu übernehmen, Partner?«, erkundigte ich mich.

»Ich werde einen vollwertigen Ersatz für Nia van Cleefe suchen«, erwiderte der Industrielle. »Und bis ich die hierfür am besten geeignete Person gefunden habe, werde ich mich selbstverständlich selbst um die Weiterführung dieses wichtigen Hauses kümmern.«

Ich hatte nichts anderes erwartet. Ich nickte zufrieden und trank wieder von meinem Pernod. Plötzlich lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

Ich stellte mein Glas hart ab. Nia van Cleefe … Noah Dayan … Das waren besondere Menschen gewesen. Große Vorbilder. Echte Ausnahmeerscheinungen.

Personen, denen es ein ganz spezielles Anliegen gewesen war, ein ehrliches Herzensbedürfnis, zu helfen, jederzeit für andere da zu sein, wenn sie gebraucht wurden.

Niemand passte besser in dieses Bild als der passionierte Samariter Tucker Peckinpah. Würde Yoolapan nicht geradezu gezwungen sein, sich auch um den Industriellen zu kümmern? Und zwar schon sehr bald?

Ich spürte, wie mir bei diesem höchst unerfreulichen Gedanken das Blut aus den Wangen wich. Leider fiel es auch Tucker Peckinpah auf.

Der Sechzigjährige hatte eine außerordentlich sensible Antenne. Er beugte sich etwas vor und fragte: »Ist alles in Ordnung, Tony?«

Ich räusperte mich. Verflucht, ich wollte, ich könnte Ja sagen, ging es mir durch den Sinn. Aber das kann ich nicht. Und ich darf ihn auch nicht belügen und in Sicherheit wiegen. Das wäre grundfalsch. Ich muss ihm sagen, was mich bedrückt.

Ich kniff die Augen zusammen. »Sie sollten sich ab sofort vorsehen, Partner.«

Der Industrielle schmunzelte. »Das tue ich eigentlich immer.«

»Mehr als normalerweise.«

»Verstehe.«

Cruv musterte mich ernst. »Du machst dir wegen Yoolapan Sorgen, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Du befürchtest, Mr. Peckinpahs Name könnte auch auf Yoolapans Liste stehen«, sagte der kleine Leibwächter des Industriellen. Er zupfte unangenehm berührt an seinem fleischigen Ohrläppchen.

»Ich wünschte, ich könnte es mit Sicherheit ausschließen, Kleiner. Aber wenn man sich den Weg, den Yoolapan allem Anschein nach eingeschlagen hat – und vermutlich auch weiterzugehen beabsichtigt –, etwas genauer ansieht, begegnet man bekannten Namen … Zum Beispiel Nia van Cleefe, Noah Dayan, Chris Sweeney, Emily Brega, Travis Harden – Tucker Peckinpah …«

Der Industrielle strich sich mit der Hand nachdenklich über das schüttere Haar. »Aus dieser Sicht habe ich es noch nicht betrachtet, Tony.«

»Mir ist es auch eben erst eingefallen, Partner.«

Er zeigte auf mein Gesicht. »Deshalb Ihre plötzliche Blässe.«

Ich nickte und leerte mein Glas. Cruv stand auf, um die Pernodflasche zu holen, doch ich schüttelte den Kopf. »Keinen zweiten Drink, Kleiner.«

»Okay.« Cruv setzte sich wieder und schlug die kurzen Beine übereinander.

Tucker Peckinpah verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo könnte Yoolapan als Nächstes zuschlagen?«

Ich seufzte. »Ich wollte, ich wüsste es.«

»Es wird nicht einfach sein, ihn unschädlich zu machen«, bemerkte Cruv mit gerunzelter Stirn.

Ich richtete meinen Blick auf den Gnom. »Es war noch nie leicht, einem schwarzen Feind das Handwerk zu legen. Manche von ihnen scheinen geradezu auf einen Dauererfolg abonniert zu sein. Sie entwischen uns immer wieder. Mago zum Beispiel. Oder Agassmea. Oder Jan van Vermeer …«

Cruv – er war alles andere als schön, aber ungemein sympathisch – rümpfte die breite Nase. »Hoffentlich gehört nicht bald auch Yoolapan dazu.«

»Wir werden alles daransetzen, um das zu verhindern«, sagte ich grimmig. »Mr. Silver und Roxane haben gute Spürnasen. Wenn wir Glück haben, gelingt es ihnen, die Witterung des gefährlichen Höllenwesens aufzunehmen.«

Cruv zeigte auf sich. »Wenn ihr Hilfe braucht …«

Ich schüttelte den Kopf. »Du hältst hier die Augen offen und weichst Mr. Peckinpah nicht von der Seite.« Ich stand auf. »Danke für den Drink.«

»Wir sehen uns heute Abend«, sagte der Industrielle und erhob sich ebenfalls.

Ich nickte lächelnd. »Das lassen wir uns auf keinen Fall entgehen, Partner.«