3. Kapitel

Mr. Silver konnte sich mit Roxanes Idee absolut nicht anfreunden. Wenn sie dem Schwarzmagier eine Falle stellte, bestand die große Gefahr, dass der Schuss nach hinten losging, und damit konnte sich der Ex-Dämon begreiflicherweise unmöglich einverstanden erklären.

Mago, der Jäger der abtrünnigen Hexen, »arbeitete« schließlich nicht allein. Ihm standen etliche grausame Schergen zur Verfügung, die er jederzeit einsetzen konnte, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen.

Auch Vicky gefiel Roxanes Vorschlag nicht. »Ich möchte nicht, dass du dich opferst. Wenn diese Aktion schiefgeht, verlierst du dein Leben – und für Tony bleibt alles beim Alten.«

Sie trat näher an das Bett heran. Ihr trauriger Blick war auf ihren Mann gerichtet, der den Eindruck erweckte, er würde nicht mehr leben.

Vicky wusste nicht, dass Magos unsichtbarer Zauber »strahlte«, und die Kraft des Schwarzmagiers löste in ihr auch sogleich seltsame Empfindungen aus, über die sie jedoch nicht zu sprechen vermochte, weil sie sich auf einer eigens dafür geschaffenen mental-magischen Ebene abspielten.

Sie hörte plötzlich Tonys Stimme. Nur sie. Sonst niemand im Raum. »Vicky.«

»O mein Gott, Tony«, entfuhr es ihr im Geist.

»Nicht dieses Wort, Vicky.«

»Welches Wort?«

»Ich will es nicht hören.«

»Meinst du ›Gott‹?«

»Verdammt, ich will dieses Scheiß-Wort nicht hören.«

»Entschuldige, Tony.«

»Schick Roxane und Mr. Silver weg.«

»Warum?«

»Schick sie weg. Ich möchte mit dir allein sein.«

»Sie möchten dir helfen, Tony.«

»Das können sie nicht.«

»Kann ich es?«

»Du kannst es, Vicky.«

»Wieso ich?«

»Weil du meine Frau bist. Und weil du mich liebst. Du liebst mich doch, oder?«

»Natürlich liebe ich dich, Tony.«

»Dann tu, was ich sage. Die weiße Hexe und der Silberdämon sollen sich verziehen. Sie werden sich weigern, dich mit mir allein zu lassen, aber du musst dich durchsetzen. Dies ist unser Penthouse. Wirf sie raus. Ich will sie hier nicht haben. Sobald wir allein sind, verrate ich dir, was du für mich tun kannst.«

»Roxane und Silver …«

»Was?«

»Sie sind unsere Freunde, Tony.«

»Wer bedeutet dir mehr? Sie oder ich?«

»Was für eine Frage. Du natürlich.«

»Dann sollte dir klar sein, was du zu tun hast.«

»Vicky.« Roxanes Stimme. »Hey, Vicky.« Die weiße Hexe schüttelte sie. »Vicky, was ist mit dir?«

»Zieh sie zurück, Roxane«, sagte Mr. Silver hastig. »Sie ist zu nahe bei Tony. Magos Zauber nimmt Einfluss auf ihre Psyche.«

Die Hexe aus dem Jenseits griff nach Vickys Schultern. Sie wollte die Freundin aus dem Gefahrenbereich holen. »Komm, Vicky.«

Doch Vicky Bonney wehrte sich. Sie schüttelte Roxanes Hände ab und schnauzte sie an: »Lass mich in Ruhe! Fass mich nicht an! Geh! Geh, und nimm Silver mit! Lasst mich mit meinem Mann allein!«

»Den Teufel werden wir tun«, knurrte der Ex-Dämon. Er trat zwischen sie und Tony Ballard und stieß sie mit beiden Händen in Roxanes Arme.

Sobald Vicky sich nicht mehr im gefährlichen Strahlungsbereich befand, blinzelte sie verwirrt. »Äh, was …« Sie berührte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. »Mir scheint, als wäre ich soeben irgendwie nicht ganz da gewesen.«

»Du bist mit Magos Zauber in Berührung gekommen«, erklärte Mr. Silver.

Vicky sah ihn verwundert an. »Wieso habe ich nichts davon gemerkt?«

»Das hat der Schwarzmagier so eingerichtet«, gab der Ex-Dämon zur Antwort.

»Woran erinnerst du dich, Vicky?«, wollte Roxane wissen.

Vicky senkte den Blick und dachte nach. »An nichts«, sagte sie schließlich kopfschüttelnd.

»An gar nichts?«, fragte Roxane enttäuscht.

»Mein Denkapparat muss für eine Weile ausgesetzt haben.«

Mr. Silver nickte wütend. »Mago.«

»Ich kam erst wieder zu mir, als du mich geschüttelt hast«, sagte Vicky zu Roxane.

Der Ex-Dämon richtete seinen Blick besorgt auf seinen »schlafenden« Freund. »Ich sage es nicht gern, aber im Moment ist Tony eine tickende Bombe.«

 

Noah Dayans Haus brannte total ab. Nur einige wenige Mauerfragmente blieben stehen. Der Rest war Yoolapans Höllenfeuer zum Opfer gefallen.

Den Feuerwehrleuten war es nicht gelungen, den Brand zu löschen. Das Feuer ging schließlich von selbst aus. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Wie hätten sie auch ahnen sollen, dass hier schwarzmagische Kräfte am Werk gewesen waren. Es war ihnen lediglich gelungen, zu verhindern, dass das Feuer auf die Nachbarhäuser übergriff. Ein mäßiger Erfolg, mit dem sie sich zufriedengeben mussten.

Sie konnten auch nicht wissen, dass es sehr viel schlimmer hätte kommen können. Wenn dem Höllenfeuer nicht selbst die Lust am Brennen vergangen wäre, hätte dies zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes führen können. Man konnte es als Glück ansehen, dass sich das magische Feuer darauf beschränkt hatte, ausschließlich Noah Dayans Haus zu zerstören. Niemand hätte es daran hindern können, weiter zu wüten.

Mick Bannister hatte seinen Freund und Nachbarn mit zu sich nach Hause genommen. Kent Lynch konnte sich noch immer nicht erklären, wieso er sich das Leben hatte nehmen wollen. Es gab absolut keinen Grund dafür.

Er war gesund, hatte keine finanziellen Sorgen, hatte vor einem halben Jahr eine attraktive Witwe kennen gelernt und sich – wie ein Teenager – unsterblich in sie verliebt.

»Scheiße«, sagte er erschüttert. »Wieso, Mick? Wieso habe ich das getan?«

Bannister nickte. »Das wüsste ich auch gern.« Er füllte zwei Gläser mit Scotch und reichte eines seinem Freund. »Warum rennst du überhaupt mit 'ner geladenen Kanone herum?«, fragte er verständnislos.

Lynch zuckte mit den Achseln. »Macht der Gewohnheit.«

»Aber du bist im Ruhestand.«

Der pensionierte Sicherheitsmann trank einen Schluck. »Ich werde es mir abgewöhnen.«

Bannister klopfte mit der Hand auf Lynchs Waffe, die in seinem Gürtel steckte. »Die behalte ich erst mal.«

Lynch war damit einverstanden. »Okay. Danke, dass du mich davor bewahrt hast, diese riesengroße Dummheit zu begehen, Mick.«

Bannister betrachtete den Scotch in seinem Glas. »Wenn ich du wäre, hätte ich jetzt Angst vor mir selbst.«

Lynch nickte ernst. »Das habe ich, Mick.«

»Du solltest dich schnellstens auf die Couch eines Seelenklempners legen. Kent Lynch ist nämlich zu einer verdammt großen, unberechenbaren Gefahr für Kent Lynch geworden.«

Lynch widersprach dem Nachbarn nicht. Er leerte sein Glas und hielt es Bannister hin. »Kann ich noch einen haben?«

»Klar. Von mir aus kannst du die ganze Flasche aussaufen – wenn es dir gut tut.« Bannister füllte das Glas diesmal großzügiger als beim ersten Mal. Er wohnte bescheiden. Alle Möbel waren aus dem Versandhauskatalog und selbst zusammengebaut. Einen Tischler konnte er sich nicht leisten. »Ich kenne jemanden, der kennt einen ziemlich guten Psychiater«, sagte er, während er die Flasche zuschraubte.

»Besorg mir die Nummer«, verlangte Lynch mit kummervoller Miene. Er nippte an seinem Glas und zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen. »Irgendetwas ist mit mir passiert, Mick …«

Bannister wackelte mit dem Kopf. »Das kann man wohl sagen.«

Lynch sah in eine geistige Ferne. Sein Blick war leer. »Etwas oder jemand … hat – hat Einfluss auf meinen Verstand genommen«, sagte er wie in Trance. Schleppend und ohne Betonung.

Bannister kniff die Augen zusammen. »Du meinst, du wurdest hypnotisiert?«

»Da war ein Mann«, sprach Lynch monoton. »Groß, kräftig, sehr hässlich. Alle liefen zum brennenden Haus. Er nicht. Er entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. Das weckte mein Misstrauen …«

»Und?«

»Ich sprach ihn an.«

»Und?«

»Mehr weiß ich nicht.«

Es entstand eine kurze Pause. Bannister nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. Schließlich sagte er: »Willst du dazu meine Meinung hören, Kent?«

Lynch nickte und sah den Freund interessiert an. »Natürlich.«

»Ich glaube, wir sollten das der Polizei melden«, sagte Mick Bannister.

 

Vicky Bonneys blaue Augen weiteten sich entsetzt. Tony – eine tickende Bombe. So hatte Mr. Silver ihn genannt. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Obwohl der Ex-Dämon mit seiner Behauptung garantiert nicht falsch lag, mochte sie so etwas verständlicherweise überhaupt nicht hören.

Sie benetzte ihre trockenen Lippen mit der Zunge. »Wie – wie soll es nun weitergehen?«, stieß sie stockend hervor. Ihr Blick pendelte wie Hilfe suchend zwischen dem Ex-Dämon und der weißen Hexe hin und her. »Wenn wir nichts für Tony tun können … Woher könnten wir Hilfe bekommen?«

Roxane kniff die meergrünen Augen zusammen. »Manchmal ist es sinnvoll, Feuer mit Feuer zu bekämpfen«, sagte sie nachdenklich.

»Wie meinst du das?«, wollte Mr. Silver wissen.

Die weiße Hexe hob die Schultern. »Wir könnten mit irgendeinem schwarzen Feind einen Pakt zu Tonys Rettung schließen.«

»Denkst du dabei an jemand Bestimmten?«, erkundigte sich Mr. Silver.

»Vielleicht lässt sich Jan van Vermeer vor unseren Karren spannen?«

»Der schwarze Ritter?«

»Warum nicht?«

»Was hätte er davon?«, fragte Mr. Silver.

»Wir müssten uns überlegen, was wir ihm anbieten könnten«, sagte die Hexe aus dem Jenseits.

Mr. Silver winkte ab. »Vergiss das ganz schnell wieder, Roxane. Mit van Vermeer kann man keinen Pakt schließen. Dieser hinterhältige Schurke würde uns bei der erstbesten Gelegenheit in den Rücken fallen und alles daransetzen, Tony zu töten.«

»Ich glaube auch nicht, dass Jan van Vermeer eine gute Idee ist«, warf Vicky Bonney ein.

Roxane seufzte entmutigt. »Dann weiß ich nicht …«

»Eine Möglichkeit sehe ich noch«, fiel ihr der Hüne mit den Silberhaaren plötzlich ins Wort.

Sowohl Vicky als auch die weiße Hexe sahen ihn sofort hoffnungsvoll an. Er sagte ihnen nicht, was er im Sinn hatte, handelte lieber sofort. Er beugte sich tief zu Tony Ballard hinunter.

»Was hat er vor, Roxane«, flüsterte Vicky gespannt.

»Keine Ahnung«, gab die Hexe aus dem Jenseits zurück. Sie sprach ganz leise, um Mr. Silver nicht zu stören – bei was auch immer.

Wieder überzog sich Mr. Silvers Haut mit einem silbernen Flirren. Diesmal konzentrierte es sich vor allem auf sein Gesicht. Er griff nach Tony Ballards Kinn.

Das sieht nach einer Mund-zu-Mund-Beatmung aus, dachte Vicky Bonney. Hat er das wirklich vor?

Der Ex-Dämon öffnete den Mund seines Freundes, und als er seinen eigenen aufmachte, begann bleiches Ektoplasma zu fließen. Es sank in Tony Ballards Mundhöhle, füllte sie aus, glitt in seine Kehle und bahnte sich seinen Weg in den nahezu völlig leblosen Körper des Dämonenhassers.

Selbstverständlich wehrte sich Magos Magie sofort. Der Zauber des Schwarzmagiers attackierte den gasförmigen Eindringling mit beispielloser Aggressivität. Doch diesmal hatte die Silberkraft Erfolg.

Sie breitete sich mehr und mehr in Tony Ballards Körper aus, und jedes Mal, wenn sie mit der Kraft des Schwarzmagiers in Berührung kam, schwächte sie sie, drängte sie zurück und löste sie sukzessive auf.

Vicky Bonney presste ihre Lippen aufgeregt zusammen und drückte Tony ganz fest die Daumen. Roxane legte ihren Arm um Vickys Schultern.

»Sieht so aus, als hätte es Tony bald überstanden«, sagte sie leise.

Vicky Bonney legte die Fäuste auf ihre Wangen und betete im Geist.

Das Ektoplasma strebte unaufhaltsam dem Zentrum der schwarzen Kraft entgegen, die während der Nacht tückisch von Tony Ballard Besitz ergriffen hatte. Es bildete einen spitzen Keil, bohrte sich in den schwarzen Zauberkern, setzte darin seine vernichtende Kraft frei und sprengte die gefährliche Energiekonzentration des Schwarzmagiers.

All das bekam jedoch nur Mr. Silver voll mit. Für Vicky und Roxane lief der Kampf, der Tony Ballard retten sollte, weitgehend im Verborgenen ab.

Irgendwann schlug der Dämonenhasser dann endlich die Augen auf.

»Tony!«, schluchzte Vicky. Sie wollte vorwärtsstürmen.

»Noch nicht«, stieß der Ex-Dämon hastig hervor. »Er ist noch nicht so weit, steht noch unter schwarzmagischem Einfluss. Lass das Ektoplasma erst seine Arbeit abschließen.«

Roxane achtete darauf, dass Vicky so lange blieb, wo sie war, bis Mr. Silver Entwarnung gab. In dieser kritischen Phase durfte nichts mehr schiefgehen.

Tony war noch nicht richtig bei sich. Das war ziemlich deutlich an seinem verlorenen Blick zu erkennen. Aber der Kampf, der sich in seinem Inneren abspielte, ging nun rasend schnell zu Ende.

Mr. Silvers Ektoplasma spürte selbst die kleinsten Reste schwarzen Zaubers auf und zerstörte sie nachhaltig. Danach verließ es den Körper des Dämonenhassers.

Tony atmete eine bleiche Wolke aus, die sich auflöste, sobald sie seinen Mund verlassen hatte. Er kam zu sich und sah als Erstes Mr. Silvers Gesicht.

 

Es war ein weites Feld, auf dem Loxagons Exekutor sich bewegte. Es gab eine Vielzahl gemeinnütziger Vereine mit Spendensiegel. Nächstenliebe-Organisationen. Hilfswerke für Krebskranke, HIV-Infizierte, Blinde, Gehbehinderte oder Katastrophenopfer. Altenhilfeverbände. Pflegedienste. Charity-Cliquen der verschiedensten Art … Und all diese – der Hölle höchst unliebsamen – Wohlfahrtseinrichtungen wurden von Menschen geleitet, denen es immens wichtig war, Gutes zu tun. Ohne zu begreifen, wie sehr sie mit ihrem enthusiastischen Eifer die schwarze Seite ärgerten.

Sie wussten nicht, dass sie mit ihren gütigen Taten das Böse provozierten, kamen nicht im Entferntesten auf die Idee, dass sie damit ihr kostbares Leben aufs Spiel setzten.

Nun, Mr. Y. O. Olapan, der Furcht erregend hässliche Killer mit den Schlangenhaaren, war gekommen, um sie alle – einen nach dem andern – grausam zu bestrafen, und er würde sehr lange bleiben müssen, bis seine Mission – weltweit – restlos erfüllt war. Nach Nia van Cleefe und Noah Dayan nahm der Exekutor sein nächstes Opfer ins Visier.

Den Gründer der »Child Foundation«, der kürzlich ein zweites Projekt namens »Helping Mothers« aus der Taufe gehoben hatte. Er hieß Travis Harden und hatte sich einen ganz besonders cleveren Coup einfallen lassen, von dem er sich eine Menge Gratiswerbung versprach.

Schon bald würde er in aller Munde sein, und das würde sich enorm auf die Spendierlaune der Leute im In- und Ausland auswirken. Der Mittelstand. Die Reichen. Die Superreichen. Alle würden spenden. Und sogar die Armen – sofern sie nicht selbst zu den Bedürftigen und Not leidenden gehörten.

Das war sein Leben. Darin ging er völlig auf. Dafür brachte er sehr viele Opfer. Und das hatte ihn (noch wusste er es nicht) auf Yoolapans Liste gebracht.

Travis Harden war glücklich verheiratet und hatte eine vierzehnjährige – extrem stark und nervig – pubertierende Tochter namens Allegra.

Da er beruflich viel um die Ohren hatte, musste sich die meiste Zeit seine Ehefrau mit dem trotzigen Teenager herumärgern. Allegra war aufsässig, eigensinnig, frech, überheblich, respektlos, sprunghaft, arrogant, zänkisch, uneinsichtig, unbelehrbar, widerspenstig, wankelmütig … Kurzum, sie vereinte alle negativen »Vorzüge« in sich, die man in ihrem schwierigen Alter nur haben konnte.

Harden saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und feilte am Computer an einer Rede, die er schon bald halten würde. Sonya, seine Frau, brachte ihm eine Tasse Tee.

Er nahm die Lesebrille ab und küsste seine Gattin. »Danke, Liebling.«

Sonya deutete auf den Bildschirm. »Kommst du gut voran?«

»Ich muss noch ein paar Ecken und Kanten abschleifen, aber im Großen und Ganzen steht meine Rede. Sie wird den Leuten unter die Haut gehen und ihr Herz berühren.«

Sonya lächelte. »Ich bin sehr stolz auf dich.«

Er legte seinen Arm um sie. »Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine erfolgreiche Frau.«

Sie waren gleich alt. Nämlich 45. Beide sogar im selben Monat geboren. Und zwar im Mai. Er am 1., sie am 15. Sonyas Figur war noch immer makellos, während Travis mit einem kleinen Bauchansatz zu kämpfen hatte, was seine Frau aber nicht störte.

»Ist Allegra inzwischen zuhause?«, erkundigte sich Travis Harden.

Sonya schüttelte den Kopf. »Sie ist noch bei ihrer Freundin.«

Er rümpfte die Nase. »Meinst du, es war richtig, sie bei Neely übernachten zu lassen?«

»Hätte ich es ihr verbieten sollen?«

Er hob die Schultern. »Na ja. Mit vierzehn Jahren kann man auf eine Menge dummer Gedanken kommen. Vor allem dann, wenn man eine Freundin wie Neely hat.«

»Allegra macht im Moment eine ziemlich schwierige Phase durch …«

»Die hatten wir alle mal.«

»… aber wir können ihr vertrauen«, brachte Sonya ihren Satz zu Ende.

»Bist du sicher?«

»Ich kenne mein Kind.«

Er drückte sie innig an sich. »Du bist eine großartige Mutter. Und eine ebenso gute Ehefrau. Ich liebe dich.«

Sie löste sich sanft von ihm und ließ ihn allein, damit er weiter an seiner wichtigen Rede arbeiten konnte. Er wollte sich wieder in die Materie vertiefen, da klingelte das Telefon.

Er schnappte sich den Hörer. »Harden.«

»Travis Harden?«

»Ja.«

»Der Mann, der ›Helping Mothers‹ und die ›Child Foundation‹ gegründet hat?«

»So ist es. Was kann ich für Sie tun, Mister …«

Klick.

Der Anrufer hatte aufgelegt.

»Silver«, sagte ich irritiert. »Was tust du in unserem Schlafzimmer?« Der Muskelprotz aus der Silberwelt war bis auf die Boxershorts nackt. Ich fand das höchst merkwürdig. »Wo ist Vicky?«

»Ich bin hier, Tony«, sagte meine Frau hinter dem Ex-Dämon. Sie erschien in meinem Blickfeld, als Mr. Silver zur Seite trat. Neben ihr stand zu meiner großen Verwunderung auch noch Roxane.

Ich setzte mich auf. »Scheint so, als hätte ich irgendetwas verpasst.«

Vicky kam zu mir, umarmte und küsste mich. »Liebe Güte, ich habe mir so große Sorgen um dich gemacht, Tony.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Weshalb denn?«

»Du hattest einen sehr bösen Traum.«

Ich fuhr mir mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Ich habe schlecht geschlafen.«

Vicky erzählte mir, womit ich sie so sehr beunruhigt hatte, dass sie sich genötigt sah, Hilfe zu holen, und mir dämmerte allmählich, was ich geträumt hatte. Ein Vampir hatte mich zum Untoten gemacht, und ich hatte danach als grausamer Blutsauger Menschen getötet. Als ich darüber sprach, erklärte mir Mr. Silver, dass ich diesen Horrortraum unserem Erzfeind Mago zu verdanken hatte.

»Der Schwarzmagier hat sich bei dir mit einem höchst realistischen Albtraum zurückgemeldet«, grollte der Silberdämon. »Und nicht nur das. Er belegte dich außerdem mit einem schwarzen Zauber, der so stark war, dass ich dich davon beinahe nicht hätte befreien können.«

Ich wollte wissen, wie er es geschafft hatte. Er sagte es mir.

Ich horchte in mich hinein. Gab es noch magische Reste, die Mr. Silvers Ektoplasma nicht aufgespürt hatte? War ich wieder total sauber oder schlummerte noch irgendwo in meinem Inneren, gut verborgen, schwarzes Gift? Mir fiel nichts auf. Durfte ich beruhigt sein? Ich hoffte es.

Draußen brach ein neuer Tag an. Im Osten wurde der Himmel allmählich hell. Bis zum Sonnenaufgang würde aber noch einige Zeit vergehen.

Roxane wollte wissen, wie ich mich fühlte.

Ich nickte. »Ich bin so weit okay. Ich fühle mich so, wie man sich fühlt, wenn man schlecht geschlafen hat.«

Mr. Silver rieb sich die Hände, als würde er sie waschen. »Roxane, wir lassen Mr. und Ms. Ballard jetzt allein und kehren in unsere eigenen vier Wände zurück.«

Vicky dankte den beiden für ihre Unterstützung, und ich schloss mich dem Dank meiner Frau an.

Mr. Silver winkte gönnerhaft ab. »Dafür sind Freunde doch da«, sagte er, tippte sich grüßend an die Stirn und tönte: »Man sieht sich.«

Ich griff das auf und fragte: »In einer Stunde? Hier? Zum Frühstück? An Schlaf ist jetzt sowieso nicht mehr zu denken.«

»Wir nehmen die Einladung sehr gerne an, mein Freund«, sagte der Hüne mit den Silberhaaren. Er hob den Finger. »Aber ich muss dich fairerweise warnen.«

»Wovor?«

»Ich habe am Morgen immer ganz fürchterlichen Kohldampf. Roxane kann das bestätigen.«

Roxane nickte und verdrehte die Augen.

»Kein Problem«, erwiderte ich. »Unser Kühlschrank ist gut gefüllt. Wir kriegen dich mit Sicherheit satt.«

»Dann also bis in einer Stunde«, sagte der Silberdämon und verließ mit Roxane unser Penthouse.

Ich ging ins Bad und duschte. Vicky kam zu mir und wir liebten uns unter den nadeldünnen, angenehm warmen Wasserstrahlen. Es war wundervoll, das Leben auf diese Weise zu genießen.

Als Roxane und Mr. Silver läuteten, öffnete ich ihnen in Hemd und Jeans, war glatt rasiert und bester Laune. »Ich wünsche euch einen wunderschönen guten Morgen«, sagte ich aufgekratzt. »Hattet ihr eine angenehme Nacht?«

»Nicht ganz«, antwortete der Silberdämon. Ihm saß dabei der Schalk im Nacken. Aber seine Miene war total ernst. »Zunächst schon«, fuhr er fort. »Aber dann mussten wir einem guten Freund aus der Klemme helfen.«

»Tatsächlich?« Ich tat interessiert. »Kenne ich ihn?«

»Kann sein, dass du schon mal von ihm gehört hast.«

»Wie ist sein Name?«

»Tony Ballard.«

Ich schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Ist mir nicht bekannt.«

Mr. Silver winkte ab. »Den muss man auch nicht unbedingt kennen.«

»Ach ja? Wie ist er denn so?«

Mr. Silver feixte. »Hat eine Menge Mucken, der Knabe.«

»Trotzdem nanntest du ihn vorhin einen guten Freund.«

Der Ex-Dämon zuckte mit den Achseln. »Ich habe eine Schwäche für Typen mit Mucken.«

Roxane lachte. »Ihr zwei seid verrückt. Wisst ihr das?«

»Aber wieso denn?«, fragte Mr. Silver scheinheilig.

Ich hatte Vicky geholfen, den Frühstückstisch festlich zu decken. Sogar brennende Kerzen steckten in den silbernen Kandelabern.

Wir setzten uns, und Mr. Silver bewies, dass er vor einer Stunde die volle Wahrheit gesagt hatte, aber wir bekamen ihn trotzdem satt – mit Baked Beens, gebratenem Speck, Rührei, Käse, Schinken, Salami, Butter, Marmelade, Honig, Apfelmus, Graubrot, Toastbrot, Donuts, Kuchen, Cornflakes, Jogurt und so weiter und so fort.

Es war ein gelungener Start in einen Tag, der fabelhaft zu werden versprach. Aber wie heißt es doch so treffend? Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Es gab seit kurzem einen sehr bösen Nachbarn in unserer Stadt.

Und es war nicht Mago.

 

Eine halbe Stunde später läutete Travis Hardens Telefon abermals. Er war gerade dabei, seine Rede auszudrucken. Gut leserlich.

Mit großen Buchstaben, damit er keine Brille benötigte, wenn er sie vortrug. Während der Tintenstrahldrucker das nächste Blatt einzog, griff Harden nach dem Hörer und meldete sich.

»Dad.« Es war Allegra.

»Was gibt's?«

»Neelys Eltern werden das Wochenende in ihrem Haus in Brighton verbringen.«

»Und?«

»Ich werde mitfahren.«

»Es wäre nett, wenn du entweder deine Mutter oder mich erst mal um Erlaubnis fragen würdest.«

»Mann!«

»So sind nun mal die Regeln.«

»Ich bin vierzehn.«

»Eben.«

»Darf ich nun oder darf ich nicht?«

»Du darfst, mein Kind«, sagte plötzlich jemand. Aber nicht Travis Harden. Und dann war Allegra weg.

»Verdammt, wer sind Sie denn?«, ärgerte sich Harden. Er glaubte zu wissen, dass es derselbe Mann war, der vor einer halben Stunde schon einmal angerufen hatte, und er fragte sich, wie es dem unverschämten Kerl gelungen war, sich in sein Gespräch mit Allegra zu drängen.

»Schon mal von Y. O. Olapan gehört?«, fragte der Anrufer.

»Sind Sie das?«

»Bingo, Harden. Ich werde schon bald eine sehr entscheidende Rolle in Ihrem Leben spielen.«

»Inwiefern?«

»Lassen Sie sich überraschen.« Mehr sagte der Anrufer nicht. Danach war die Leitung tot.

 

Eine Stunde, nachdem Mr. Silver unseren Kühlschrank leergefuttert hatte, brachte er mir etwas. Vicky war in ihrem Arbeitszimmer und schrieb an ihrem neuen Buch, und ich stand auf der Penthouseterrasse und genoss den beeindruckenden Ausblick über Londons Dächer.

Der Wind zerzauste mein Haar. Ich genoss es, so lebendig zu sein, wie ich es in dem Traum, den mir Mago, der Schwarzmagier und Jäger der abtrünnigen Hexen, untergejubelt hatte, nicht mehr gewesen war. Verdammt, es war alles so erschreckend realistisch gewesen.

Ich hatte tatsächlich geglaubt, ein Furcht erregendes Monster, ein schwarzer Unhold, eine grausame Bestie geworden zu sein. Ein gefährlicher Untoter, der die Sonne nicht nur hasste, sondern auch fürchten musste, und der Nacht für Nacht loszog, um Menschen zu töten und gierig ihr Blut zu trinken. Mr. Silver reichte mir einen länglichen Gegenstand, den er aus Eichenholz gefertigt hatte. Das Ding fühlte sich gut an, war glatt geschliffen und farblos lackiert – auf der einen Seite gerade abgeschnitten und auf der anderen sanft abgerundet.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Wonach sieht es aus?«

Ich grinste. »Das sage ich lieber nicht.«

Der Ex-Dämon zog eine seiner beiden Silberbrauen hoch. »Warum nicht?«

»So etwas holen sich normalerweise einsame Frauen aus dem Sexshop – wenn du verstehst, was ich meine. Es steht im Regal für Love Toys.«

Mr. Silver lachte. »Du hältst das für einen Dildo.«

Ich zog die Schultern hoch. »Nun ja – Größe und Form …«

»Es ist etwas ganz anderes«, fiel mir der Silberdämon ins Wort.

»Tatsächlich? Und was?«

»Ich habe absichtlich diese Form gewählt, damit es niemand für das hält, was es wirklich ist.«

»Nun sag schon«, drängte ich den Hünen mit den Silberhaaren.

»Es ist ein Traumfänger.«

»Ein was?«

»Ein Traumfänger«, wiederholte Mr. Silver.

»Ist nicht wahr. Ich hab solche Dinger schon massenhaft im Esoterikladen gesehen, aber die haben alle total anders ausgesehen.«

»Dennoch sind sie nicht annähernd so wirkungsvoll wie dieser«, behauptete der Silberdämon.

Ich feixte. »Ich muss ihn mir hoffentlich nicht übers Bett hängen.«

»Nein, das ist nicht nötig.«

»Na, Gott sei Dank«, sagte ich erleichtert.

»Es genügt, wenn du ihn in deine Nachttischlade legst. Dann kann dir weder Mago noch irgendein anderes schwarzes Wesen noch mal so einen Albtraum schicken, wie du ihn in der vergangenen Nacht hattest.«

»Was ist mit Vicky?«, wollte ich wissen. »Ist auch sie geschützt?«

Mr. Silver nickte. »Der Abwehrzauber wirkt im gesamten Schlafzimmer.«

»Dann muss ich Vicky nur noch die tatsächliche Funktion dieses eigenartig geformten ›Ausnahmegeräts‹ erklären.« Ich klatschte das glatte Holz in meine linke Hand. »Ich komme gleich wieder«, sagte ich und verließ die Terrasse, um das Schlafzimmer aufzusuchen. Dass ausgerechnet jetzt Vicky aus dem Arbeitszimmer kam, war mir, ehrlich gesagt, nicht sehr recht. Sie sah den »schlüpfrigen« Gegenstand, der nicht das war, was er darstellte, in meiner Hand und sah mich höchst befremdet an.

»Tony, was …«

Mist! Ich grinste schief. »Ein Geschenk von Silver.«

»Meint er, dass wir das brauchen?«

»Allerdings.«

Vicky versteifte. »Dann solltest du ihm klar machen …«

»Hörst du mir einen Augenblick zu, Schatz?«

Vicky verschränkte die Arme vor der Brust. »Okay.«

Ich erklärte ihr, was der »Ding-Dong« wirklich war und merkte, wie sie sich entspannte. Sie schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Dieser Silver hat Einfälle.«

Ich ging ins Schlafzimmer und legte das Holz in die Schublade meines Nachttischs. Es glänzte plötzlich, als bestünde es aus Silber.

Aber nur ganz kurz. Dann zog sich der Abwehrzauber gleich wieder in die Tiefe zurück und war nicht mehr zu sehen. Ich schloss die Lade und zeigte Mago im Geist den Stinkefinger.