2. Kapitel

Todesängste durchtobten Noah Dayan. Sie waren so heftig, dass sie ihn die fürchterlichen Schmerzen vergessen ließen, die ihn peinigten.

Während er sich mit kleinen Schritten auf das Höllenwesen zubewegte, umklammerte er den schweren Schürhaken mit schweißnassen Händen. Obwohl er tief in seinem Innern wusste, dass er nichts gegen den schwarzen Feind ausrichten konnte, blieb er nicht stehen.

Olapan standen übernatürliche Kräfte zur Verfügung. Wie sollte man denen als gewöhnlicher Mensch beikommen? Das war unmöglich.

Dennoch hielt Noah Dayan den Schürhaken zum Schlag erhoben. Fast hätte man meinen können, er würde sich ängstlich daran festhalten.

Wieder erschien dieser zwingende Ausdruck in den Augen des Exekutors. »Was willst du mit dem Eisenhaken, Dayan? Mich totschlagen? Glaubst du wirklich, dass du das kannst? Du hast doch gesehen, wozu ich imstande bin. Und das war nur ein kleiner Teil meines magischen Repertoires. Ich kann noch viel mehr. Sehr viel mehr, als du dir vorstellen kannst. Stell den Schürhaken an seinen Platz zurück.«

Dayan dachte nicht daran, zu gehorchen. Aber er blieb stehen.

»Nun mach schon.«

Dayan schüttelte trotzig den Kopf.

Das hässliche Höllenwesen nickte. »Ich verstehe. Du möchtest mit irgendeiner Waffe in der Hand sterben.« Er grinste diabolisch. »Ich könnte das als deinen letzten Wunsch ansehen und ihn dir großzügig erfüllen.« Sein Gesicht verwandelte sich in eine eisige Maske. »Ich tu's aber nicht. Stattdessen lasse ich dich die Allmacht der Hölle spüren.«

Er richtete seinen Blick auf den Schürhaken. Mehr brauchte er nicht zu tun. Das Eisen begann in Dayans Händen zu glühen.

Jetzt wollte Noah Dayan sich davon trennen. Doch nun erlaubte es ihm der Exekutor nicht mehr. Der glühende Schürhaken verbrannte Dayans Haut, das Fleisch, die Sehnen, ja sogar die Knochen. Er brüllte ohne Unterlass.

»Jaaa-ahhh«, dehnte Yoolapan begeistert. »Das höre ich gern. Das ist Musik in meinen Ohren.« Er machte eine fordernde Handbewegung. »Lauter. Kannst du's noch ein wenig lauter?«

In seiner Verzweiflung fing Noah Dayan an zu beten.

Das passte Yoolapan natürlich nicht. »Schweig!«, herrschte er Dayan an.

Doch der betete weiter. Lauter. Immer lauter.

»Hör auf damit!«

Dayan betete.

»Halt sofort das Maul!«

Dayan schrie sein Gebet heraus. Daraufhin verschloss ihm Yoolapan den Mund mit schwarzer Magie. Etwas nähte Noah Dayan die Lippen mit einem dicken, teerigen Faden zusammen. Er konnte nicht mehr schreien und musste durch die Nase atmen.

»Ihr mit euren blöden Gebeten«, sagte der Exekutor angewidert. »Da lässt sich irgendjemand so einen lächerlichen Schwachsinn einfallen, und alle brabbeln ihn nach, ohne darüber nachzudenken, was sie eigentlich sagen. Viele begreifen überhaupt nicht, was sie daherschwafeln. Aber sie beten. Hirnlos und inbrünstig.« Yoolapan nahm die Glut aus dem Schürhaken. Dann sah er seinem Opfer fest in die Augen und knurrte: »Es ist Zeit, zu gehen, Noah Dayan.« Die Hässlichkeit seiner Fratze nahm zu. »Bist du bereit?«

 

Mr. Silver öffnete gleich beim ersten Schlag die Augen. Aber auch Roxane war sofort hellwach. Ein weiterer Schlag traf die Penthousetür.

Der Ex-Dämon sprang elastisch aus dem Bett. Die weiße Hexe stand ebenfalls auf. In seinen Boxershorts sah der Hüne mit den Silberhaaren aus wie der frisch gekürte Mr. Universum. Er eilte aus dem Schlafzimmer. Seine attraktive Lebensgefährtin folgte ihm. Der Silberdämon riss die Tür auf und erblickte Vicky Bonney. Sie trug einen Morgenrock aus cremefarbener Seide, fiel ihm atemlos in die Arme.

»Vicky!«, sagte Roxane erschrocken.

»Was ist los, Vicky?«, wollte der Hüne mit den Silberhaaren wissen.

»Tony.«

»Was ist mit Tony?«, fragte Mr. Silver sofort alarmiert. Tony Ballard war sein bester Freund. Er hatte keinen besseren.

»Er … Er …« Vicky brachte es nicht heraus.

Mr. Silver schüttelte sie behutsam. »Was, Vicky? Was?«, fragte er eindringlich.

»Er ist …« Vickys Kehle war so eng, dass sie nicht weitersprechen konnte.

Mr. Silver schob sie in Roxanes Arme. »Kümmere dich um sie«, verlangte er. »Ich sehe nach Tony.«

Die weiße Hexe wäre gerne mitgekommen, doch sie musste zuerst dafür sorgen, dass Vicky, die in großer Sorge um ihren Ehemann zu sein schien, sich beruhigte.

Roxane drückte die blonde Freundin fürsorglich an sich und strich sanft über deren Rücken. Vicky zitterte und vibrierte in den Armen der abtrünnigen Hexe.

Mr. Silver eilte davon.

Roxane legte die Hand auf Vickys heißen Hinterkopf. Obwohl sie nicht wusste, was die Freundin so sehr aus der Fassung gebracht hatte, sagte sie leise: »Es wird alles gut. Mach dir keine Sorgen. Alles kommt wieder in Ordnung.«

»Tony ist so …« Wieder vermochte Vicky Bonney den Satz nicht zu vollenden.

»Silver wird sich seiner annehmen«, sagte die Hexe aus dem Jenseits.

»Er – er sieht entsetzlich aus«, stammelte Vicky. »Totenbleich. Als wäre kein Leben mehr in ihm.«

»Komm. Ich gebe dir etwas zu trinken.«

Vicky rührte sich nicht von der Stelle.

»Nun komm schon.«

Vicky sträubte sich. »Nein, Roxane. Ich muss zurück. Ich muss zu Tony.«

Roxane nickte. »Na schön. Gehen wir.«

 

Heiße Tränen rannen Noah Dayan über die Wangen. Er musste sterben, weil er Gutes getan hatte. Weil er Menschen, vor allem armen, bedauernswerten Kindern, die keine Eltern mehr hatten, geholfen hatte.

War das nicht paradox? Man hatte ihn mehrfach ausgezeichnet. Sein humanitäres Engagement war von den Medien ausgiebig gewürdigt worden.

Man hatte ihn als leuchtendes Beispiel für all jene dargestellt, die die Augen vor der Not ihrer Mitmenschen lieber verschlossen.

Dass ihm sein untadeliger Lebenswandel und seine lobenswerte Hilfsbereitschaft nun den Tod einbringen sollte, war ihm unbegreiflich.

Grundgütiger, er hatte doch alles richtig gemacht. Es war doch nicht falsch, zu helfen. Seine bis auf die Knochen verbrannten und verschmorten Hände öffneten sich.

Er ließ den Schürhaken fallen, dachte nicht mehr daran, sich zu verteidigen. Y. O. Olapan war nicht zu besiegen. Das sah Noah Dayan endlich ein.

Das Höllenwesen hatte ihn vorhin gefragt, ob er bereit sei. Er war es. Bereit, den Tod zu empfangen. Aber nicht gewillt, zu bereuen, was er all die Jahre getan hatte. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, sagte er sich. Ich habe stets reinen Gewissens gehandelt, mich niemals bereichert und ein gottgefälliges Leben geführt. Wenn es denn sein muss, dafür zu sterben, dann soll es geschehen. Ich würde es wieder tun. Immer wieder. Selbst wenn ich wüsste, wozu es führt. Entschlossen hob er den Kopf. Trotz flackerte in seinen Augen. Er wollte nicht warten, bis das grausame Höllenwesen ihn angriff, sondern ging langsam auf den Exekutor zu.

Yoolapan lachte. »Du bist auf einmal sehr mutig, Dayan. Doch das beeindruckt mich nicht.«

Seine Schlangen reagierten auf Noah Dayans Nähe. Sie streckten sich dem »Delinquenten« ungeduldig entgegen, schienen es nicht erwarten zu können, ihm ihr tödliches Gift ins Fleisch zu spritzen. Für den qualvollen Tod bereit, ließ sich Dayan nach vorn fallen – und die Schlangen bissen augenblicklich zu.

Mr. Silver erreichte die offene Tür der Nachbarwohnung. Er zögerte keinen Augenblick, das Penthouse zu betreten, obwohl er etwas spürte, das ihn in allerhöchste Alarmbereitschaft versetzte. Schwarze Kräfte schwebten dem Ex-Dämon aus allen Richtungen entgegen. Kräfte, die er einem Erzfeind zuordnete, der sehr lange nichts von sich hören lassen hatte.

»Tony!«, rief der Silberdämon mit fester Stimme.

Der Freund antwortete nicht.

»Tony!«

Stille im Penthouse.

Mr. Silver zog die silbernen Augenbrauen argwöhnisch zusammen. »Tony, hörst du mich?«

Keine Reaktion.

»Tony, wo bist du?«

Der Silberdämon sparte sich jedes weitere Wort. Er fand sich damit ab, dass er keine Antwort bekommen würde. Mit grimmiger Miene suchte er den Freund.

Er stieß die Tür zum Bad auf, warf einen Blick in die leere Küche, eilte durch das geräumige Wohnzimmer, schaute auf die Dachterrasse hinaus, kehrte gleich wieder um und steuerte auf die halb offen stehende Schlafzimmertür zu.

»Tony?«

Der Ex-Dämon legte die Hand auf das Türblatt und drückte dagegen. Er befürchtete, gleich mit etwas sehr Unerfreulichem konfrontiert zu werden.

Die Tür schwang zur Seite – und da war Tony Ballard. Er lag im Bett. Unter der Decke, die bis an sein Kinn reichte. Kreidebleich. Blutleer. Wie tot. Aber war er das wirklich? Tot? Im Schlaf gestorben?

Der Silberdämon näherte sich dem breiten Doppelbett. Er hörte Roxane und Vicky hinter sich, blieb stehen und schaute über seine Schulter zurück.

Er richtete seinen Blick auf die weiße Hexe. »Kommst du mit Vicky klar?«

Roxane nickte.

Vicky starrte mit sorgenvoller Miene auf ihren Ehemann, der im Moment von einer ausgeprägten Katatonie befallen zu sein schien. »Er hat geschrien, als würden ihn entsetzliche Schmerzen quälen. Ich wurde davon wach, habe alles versucht, ihn aus seinem furchtbaren Albtraum zu holen, doch es gelang mir nicht. Er ist einfach nicht wach zu kriegen. Und es wurde immer schlimmer mit ihm. Tony knurrte wie ein gereiztes Tier und fauchte wie eine aggressive Bestie, und sein bleiches Gesicht wurde dabei zu einer Furcht erregenden Dämonenfratze. Wut, Hass und Mordlust prägten seine Züge. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Er machte mir Angst. Meine Sorge um ihn uferte so sehr aus, dass ich das Allerschlimmste befürchtete, dass – dass – dass er sterben würde. Als mir klar wurde, dass ich allein nichts, absolut gar nichts, für ihn tun konnte, habe ich euch geweckt.«

Roxanes Blick war auf Tony Ballard gerichtet, während sie den Ex-Dämon fragte: »Was ist mit ihm, Silver?«

Der Hüne nickte langsam. »Tony hatte einen sehr schlimmen Albtraum.«

»Und … jetzt?«, fragte die weiße Hexe zaghaft. »Ist Tony jetzt tot?«

»O mein Gott«, entfuhr es Vicky.

Roxane fragte dennoch: »Hat ihn sein schrecklicher Traum so sehr aufgeregt, dass er daran gestorben ist, Silver?«

Der Hüne beugte sich über den Freund und sah ihn sich etwas genauer an. Vicky und Roxane sahen gespannt zu.

»Jemand hat ihm diesen Schreckenstraum geschickt«, murmelte der Ex-Dämon nach einer Weile grimmig.

»Jemand?«, flüsterte Vicky. Sie wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen.

»Jemand, den wir alle sehr gut kennen«, sagte der Ex-Dämon.

»Wer ist es?«, fragte Roxane.

»Jemand, der sich auf diese eindrucksvolle Weise zurückmeldet und seine große magische Macht an seinem erbittertsten Feind demonstriert.«

»Sag uns seinen Namen, Silver«, verlangte Roxane.

»Mago«, knurrte der Silberdämon.

 

Yoolapan weidete sich am Todeskampf seines Opfers. Als von Noah Dayan nur noch eine dünne Staubschicht auf dem Boden übrig war, verließ er den Heizungsraum.

Die Schlangen begannen allmählich zu schrumpfen und sich langsam zurückzuziehen. Während der Exekutor die Kellertreppe hinaufstieg, verschwanden die gefährlichen Reptilien mehr und mehr in seinem Kopf.

Auch sein eiserner Brustpanzer verschwand wieder unter einer ganz normalen Kleidung. Im Erdgeschoss verharrte das Höllenwesen für kurze Zeit.

Yoolapan liebäugelte mit dem Gedanken, auch Da-ans Haus zu zerstören, und er gab der Versuchung schließlich nach, ging von Raum zu Raum und schuf überall kleine magische Glutnester. Es würde eine Weile dauern, bis das Haus komplett in Flammen stand, aber dann würde das Feuer nicht zu löschen sein. Weil es ein unirdisches Feuer war.

Yoolapan nickte zufrieden. Loxagon hätte sich für keinen geeigneteren Exekutor entscheiden können. Keine andere Höllenkreatur konnte dieser wichtigen Aufgabe besser gerecht werden.

Der Hässliche wollte das Haus seines zweiten Opfers verlassen. Da läutete jemand an der Tür. Yoolapan überlegte nicht lange.

Er öffnete die Tür und sah sich einem konservativ gekleideten Mann Anfang dreißig gegenüber. Bügelfalten wie ein Sarazenenschwert. Exakt gescheiteltes, dichtes, gegeltes Haar. Die Schuhe auf Hochglanz poliert.

»Äh … Ich war gerade in der Nähe, und da dachte ich …«

»Ja?«, sagte Yoolapan.

»Äh, ich muss gestehen, ich bin ein bisschen verwirrt.« Der Mann lächelte verlegen.

»Sie möchten zu Noah Dayan, richtig?«

»Äh, ja.« Der Mann kratzte sich hinterm Ohr. »Mein Name ist Adam Gass.«

»Gass.«

Adam Gass nickte. »Äh, ja.« Irgendetwas schien ihn an seinem Gegenüber zu stören – und zu verunsichern. Spürte er Kälte? Bosheit? Feindseligkeit?

»Nun, Mr. Gass«, hob der Exekutor mit fester Stimme an, »ich muss Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass Sie Mr. Dayan knapp verpasst haben.«

»Äh, verpasst?« Gass blinzelte verdutzt.

Yoolapan nickte. »Ganz knapp. Er ist nicht mehr da.«

Gass räusperte sich. »Äh, wieso sind Sie in seinem Haus, wenn er nicht mehr da ist?« Er fasste sich nervös an die Nase. »Bei allem Respekt, Sir, aber … Da stimmt doch irgendetwas nicht. Darf ich Sie um Ihren Namen bitten, Sir?«

»Y. O. Olapan.«

»Sind Sie ein Freund von Noah, Mr. Olapan?«

Der Exekutor lachte. »Ich bin alles andere als das.«

Der Hässliche brachte Adam Gass immer mehr durcheinander. »Wie bitte? Was tun Sie in seinem Haus, wenn – wenn er gar nicht da ist?«

»Oh, er war da. Aber jetzt ist er weg.«

»Weg?«

Yoolapan nickte. »Für immer.«

»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, Mr. Olapan. Was heißt für immer?«

»Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen erklärte, ich habe ihn verschwinden lassen?«

»Was ich dazu sagen würde?«

Yoolapan nickte wieder. »Das war meine Frage.«

»Äh, also ehrlich … Sagen Sie mal, machen Sie sich über mich lustig? Nehmen Sie mich auf den Arm oder was?«

»Keineswegs«, entgegnete Yoolapan. »Ich sage die volle Wahrheit. Und ich wiederhole es gerne für Sie noch einmal ganz langsam: Ich – habe – Noah – Dayan – verschwinden – lassen. Wieso fällt es euch Menschen so schwer, mit einer simplen Wahrheit klarzukommen?«

Es zuckte ärgerlich in Adam Gass' Gesicht. »Was heißt denn nun das schon wieder? Euch Menschen. Sind Sie denn kein Mensch?«

Yoolapan bleckte sein scheußliches Gebiss. »Was meinen Sie? Bin ich einer?«

 

»Mago hat Tony einen Albtraum geschickt?«, fragte Vicky Bonney bestürzt. »Wie hat er das gemacht?«

Der Hüne hob die nackten Schultern. »Ein Schwarzmagier ist zu sehr vielem fähig. Das wissen wir. Ich bin sicher, Mago ließ Tony sehr leiden und ihn seine schreckliche nächtliche Illusion so grausam und so realistisch wie nur irgend möglich erleben.«

»Wieso konnte ich Tony nicht aufwecken?«, fragte Vicky.

»Schwarze Kräfte haben es verhindert«, gab Mr. Silver zur Antwort. »Du hattest keinen Zugang zu Tony. Die Magie des Schwarzmagiers ließ es nicht zu.«

»Sieht so aus, als stünde Tony noch immer unter Magos magischem Einfluss«, sagte Roxane.

Mr. Silver nickte bestätigend. »Das tut er.«

»Kannst du die Sperre knacken?«, fragte Vicky hoffnungsvoll. Es schmerzte sie ungemein, Tony so hilflos und so teilnahmslos daliegen zu sehen.

»Ich werde es versuchen, muss aber erst herausfinden, wie sehr sich der schwarze Zauber in Tony festgekrallt hat. Ich könnte ihn natürlich brutal aus seinem Körper herausreißen, aber dabei würde Tony höchstwahrscheinlich einen irreparablen Schaden davontragen, und das kann, darf und möchte ich ihm nicht antun.«

»Wie wirst du vorgehen?«, erkundigte sich Roxane.

»Meine Strategie wird sich danach richten, wie sehr Tony von den bösen Kräften des Schwarzmagiers befallen ist.«

Vicky Bonney leckte sich die trockenen Lippen. »Und …«

Der Silberdämon richtete seine perlmuttfarbigen Augen auf sie. »Ja, Vicky?«

Sie räusperte sich. »Kannst du dafür sorgen, dass so etwas nicht noch mal passiert?«

»Auch das werde ich versuchen. Aber erst später. Nachdem ich Tony geholfen habe.«

»Möchtest du, dass wir dich allein lassen, Silver?«, erkundigte sich Roxane.

Vicky schüttelte sofort den Kopf. »Ich möchte bleiben. Bitte«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Mr. Silver nickte. »Ich habe nichts dagegen.«

Er entfernte die Decke von Tonys Körper und legte sie auf Vickys Seite. Dann streckte er die Hände vor. Seine Handflächen wiesen nach unten.

Er aktivierte seine starken Silberkräfte. Das konnte man auch sogleich sehen. Auf seinen Händen entstand nämlich ein silbernes Flirren.

Als wären sie mit Silberstaub bestreut. Bedächtig und sehr gründlich »scannte« er seinen Freund. Langsam wanderten seine Hände von Tony Ballards Kopf bis zu dessen Zehen hinunter und wieder zurück.

Danach wusste er genau, wo der Kern des Bösen saß und wie stark er war – und nun musste er überlegen, auf welche Weise die schwarze Magie aus Tony zu vertreiben war, ohne dass der davon befallene Freund dabei psychisch oder physisch lädiert wurde.

»Kann ich irgendetwas tun, Silver?«, erkundigte sich Vicky angespannt.

Der Ex-Dämon sah sie an. »Ich wüsste im Moment nicht, was, Vicky. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es dir nicht leicht fällt, untätig mit anzusehen, was ich tue, aber ich denke, es ist sicherer, wenn du Tony nicht zu nahe kommst.«

»Könnte das Böse auf Vicky überspringen?«, fragte Roxane.

»Sagen wir so: Ich kann es im Augenblick nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen.«

Mr. Silver berührte seinen Freund da, wo er die Kraftkonzentration des Schwarzmagiers aufgespürt und präzise lokalisiert hatte.

Tony stöhnte sofort gequält auf. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer schmerzlichen Grimasse.

»Entschuldige, mein Freund«, sagte der Silberdämon mitfühlend, nahm seine Hände zurück und ließ schmerzstillende Ströme fließen.

Sobald sie wirkten, attackierte er den schwarzen »Feind« in Tony Ballards Leib erneut.

Jedoch nur mit wohldosierten Silberkräften. Tony reagierte dennoch sehr heftig. Er begann konvulsivisch zu zucken und seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Es hatte den Anschein, als würde er entsetzlich frieren. Als der von Mr. Silver ausgelöste Reflex immer stärker wurde, konnte Vicky sich nicht länger beherrschen.

»Silver, bitte nicht«, rief sie flehend. »Lass es. Tu ihm das nicht an. Siehst du nicht, wie sehr er leidet?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass er nichts spürt«, erwiderte der Ex-Dämon.

»Ich glaube, es ist trotzdem … irgendwie … eine grauenvolle Tortur für ihn«, entgegnete Vicky Bonney mit besorgter Miene.

Der Ex-Dämon richtete sich auf. »Okay.« Er atmete hörbar aus und richtete seine perlmuttfarbigen Augen auf sie. »Und was schlägst du vor?«

»Ich?« Vicky blinzelte, sah ihn ratlos an und zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.«

»Gibt es keinen Silberspruch, mit dem du Tony helfen kannst?«, erkundigte sich Roxane.

»Es gibt sehr viele effiziente Sprüche, Formeln und Wortkombinationen«, antwortete der Hüne. »Aber wenn sie nicht genau den Nerv des Bösen treffen, bleiben sie wirkungslos.«

Er legte die großen Hände auf sein markantes Gesicht und konzentrierte sich. Die Stille, die folgte, machte Vicky arg zu schaffen.

Roxane griff nach ihrer Hand und drückte sie. Vicky sah sie kurz an. Roxane schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Mr. Silver ließ die Hände nach einer Weile langsam sinken. Seine Miene hatte sich erheblich verändert. Seine Züge waren nunmehr hart, feindselig und entschlossen.

»Anndes nyf tuna wacom«, sagte er mit gutturaler Stimme. Es waren Worte aus der Sprache der Silberdämonen. Vicky und Roxane sahen gespannt auf Tony Ballard.

Wie lange mochte es wohl dauern, bis die Worte wirkten? Griffen sie überhaupt? Hatte der Ex-Dämon die richtigen Worte gewählt?

Sekunden vertickten.

Nichts passierte.

An Tony Ballards katatonischem Zustand änderte sich nichts. Der Ex-Dämon schien sich für den falschen Spruch entschieden zu haben. Unmut erschien in seinem Blick. Er versuchte es mit einem andern Silberbefehl.

»Inx gaeme rryon.«

Auch damit hatte er keinen Erfolg.

»Xesgin zon donet«, zischte er.

Wieder nichts.

»Lemdha uyden urab troph.«

Tony Ballard regte sich nicht. Mr. Silver ließ die Schultern hängen. Er sah Roxane und Vicky entmutigt an, schien mit seinem Latein am Ende zu sein. Zwangen ihn die Umstände zur totalen Resignation?

»Was ist mit deiner Heilmagie?«, fragte die Hexe aus dem Jenseits.

»Was soll ich heilen?«, fragte der Hüne mit den Silberhaaren zurück. »Bei Tony gibt es nichts zu heilen. Er hat keine Wunden, nichts ist gebrochen …«

»Heißt das, er bleibt hier für – für immer so liegen?«, stammelte Vicky entsetzt. »Nicht lebendig? Nicht tot? Untot?«

»Mago hat seine Kraft raffiniert abgesichert«, grollte der Ex-Dämon.

»Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, ihr irgendwie beizukommen«, sagte Roxane.

Mr. Silver zog die silbernen Augenbrauen zusammen und schwieg.

 

Adam Gass musterte Yoolapan wütend. Hatte er es mit einem Geistesgestörten zu tun?

Wofür hielt sich der kahlköpfige Kerl? Für einen Außerirdischen etwa?

Wie viele Schrauben waren denn in diesem kahlen Schädel locker? Gass zuckte auf einmal zusammen, als hätte der Hässliche ihn grob angestupst.

»Mo-Moment mal …« Adam Gass hob ruckartig den Kopf und schnupperte. »Hier riecht's doch …« Er riss die Augen auf. »Äh, Feuer … Es riecht nach …«

»Ich habe mich entschlossen, das Haus niederzubrennen«, fiel ihm Yoolapan scharf ins Wort.

Er sagte es so, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Als hätte er das verbriefte Recht, eine solche Entscheidung zu treffen.

»Sie haben den Brand gelegt?«

»Wer denn sonst? Noah Dayan braucht sein Haus nicht mehr. Wie ich vorhin bereits erwähnte …«

Jetzt stand für Adam Gass zweifelsfrei fest, dass Olapans Geist defekt war. Gleichzeitig befürchtete er für Noah Dayan, mit dem er seit Jahren befreundet war, das Schlimmste. Hatte dieser Irre Noah ermordet und danach ein Feuer gelegt? Wenn ja – aus welchem Grund hatte er das getan? Einfach so? Aus reiner Mordlust? Und weil er gerne Häuser brennen sah? Oder weil ihn sein Irrsinn dazu verleitet hatte?

»Mein Gott, Sie sind ja …«, begann Gass bestürzt. Weiter kam er nicht.

Yoolapans Hände schossen auf ihn zu. Das schwarze Wesen packte ihn, riss ihn ins Haus und stieß die Tür mit einem kräftigen Fußtritt zu.

Gass wehrte sich.

»Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort«, fauchte der Exekutor ihm grausam ins bleiche Gesicht. »Wenn du ein bisschen später geläutet hättest, wäre ich nicht mehr hier gewesen. Dein Pech, dass du zu früh dran warst, denn nun wirst du im Höllenfeuer schmoren.« Er zerrte Gass mit sich.

»Hilfe!«, schrie Adam Gass verstört. Furcht verzerrte seine Züge. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. »Hilfe! Hiiilfeee!«

Yoolapan rammte mit ihm die Wohnzimmertür wuchtig auf. Der flackernde Feuerschein, der auf ihn und auf Gass fiel, war orangerot.

Das magische Glutnest, das er hier, wie auch in den anderen Räumen, gelegt hatte, hatte inzwischen den Teppich in Brand gesetzt, und die hochlodernden Flammen stürzten sich nun gierig auf alles, was für sie fressbar war. Adam Gass sah brennende Teufelsfratzen.

Wie so etwas möglich war, konnte er sich nicht erklären. Yoolapan brauchte nicht zu befürchten, dass er Feuer fing. Ihm konnten die Flammen nichts anhaben. Gass, der noch immer verzweifelt um Hilfe schrie, hingegen schon. Ringsherum knisterte, knackte, flackerte und qualmte es.

Yoolapan grinste. »Wollen wir ein Feuertänzchen wagen?«

»Hilfe!«, brüllte der Mann aus vollen Lungen.

»Hierher!«, befahl Yoolapan den Feuerfratzen.

Sie gehorchten sofort. Er war schließlich ihr Schöpfer. Sie hüllten ihn und Gass ein, rissen ihre hässlichen Mäuler auf und begannen hungrig in Gass' Kleidung zu beißen. Den Exekutor attackierten sie nicht. Yoolapan stieß Gass von sich, als würde er ihn anwidern.

»Da habt ihr ihn«, knurrte er. »Er gehört euch. Fresst ihn. Nehmt ihm das Leben. Aber tut es nicht zu schnell. Lasst ihn leiden.«

Er trat aus dem Flammenkreis und beobachtete, was weiter geschah. Die brennenden Fratzen rückten zusammen. Gass versuchte dem Feuerring zu entrinnen, doch das ließen die Fratzen nicht zu. Sie schlugen ihm ihre heißen Zähne nicht nur ins Jackett und in die Hosen, sondern auch in die Hände, in den Hals und ins Gesicht. Seine Haut warf Blasen, platzte auf, rohes Fleisch kam zum Vorschein.

Er schlug schreiend um sich, vermochte aber nicht zu verhindern, dass ihm immer mehr schmerzhafte Bisse zugefügt wurden. Aus seinen Wunden züngelten Flammen, als wäre sein Blut eine zähe, brennbare Flüssigkeit.

Er wurde zur lebenden Fackel, tanzte mit unkontrollierten Bewegungen im Kreis, taumelte und torkelte und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, der vor wenigen Minuten an Noah Dayans Tür geläutet hatte.

Inzwischen tobte auch in den andern Räumen ein extrem aggressives, unlöschbares Feuer. Noah Dayans Haus würde bis auf die Grundmauern niederbrennen.

Das hätten nicht einmal sämtliche Feuerwehren Londons zusammen verhindern können. Gass hörte auf zu schreien. Er konnte nicht mehr, gab stattdessen nur noch Laute von sich, die sich anhörten, als würde ein verendendes Tier sie ausstoßen.

Yoolapan sah sich das höllenheiße Schauspiel bis zum qualvollen Ende des Mannes an. Glas klirrte ringsherum. Die Fenster barsten.

Tödliche Rauchgase fauchten durch die Zimmer. Yoolapan atmete sie gefahrlos ein, aber Adam Gass ging daran zugrunde. Als er zusammenbrach, nagten sich die gefräßigen Feuerfratzen hungrig in seinen Leib.

Nichts sollte von ihm übrig bleiben. Nichts, außer dem Skelett und einige wenige Reste verkohlten Fleisches. Zufrieden mit dem, was die Flammenteufel ihm geboten hatten, trat Yoolapan aus dem Haus.

Adam Gass hätte nicht zu sterben brauchen. Sein Name hatte nicht auf der Liste des Exekutors gestanden. Der Mann hatte einfach nur Pech gehabt.

Inzwischen brannte Noah Dayans Haus lichterloh. Die Flammen leckten wie riesige Monsterzungen aus den Fenstern. Eine dunkle, fast schwarze Rauchsäule ragte weithin sichtbar in den Himmel. Autofahrer stoppten ihre Wagen und sprangen auf die Straße. Aus den Nachbarhäusern kamen verstörte Menschen. Yoolapan war der Einzige, der sich von dem brennenden Haus entfernte. Alle andern liefen darauf zu.

In der allgemeinen Aufregung fiel das nur einer Person auf. Einem pensionierten Sicherheitsmann namens Kent Lynch. Er blieb stehen und drehte sich argwöhnisch um.

»Sir!«

Yoolapan ignorierte ihn.

»Sir!«

Yoolapan ging weiter.

»Sir!« Kent Lynch folgte ihm, ohne zu ahnen, wie gefährlich das war.

Yoolapan stellte sich auf Ärger mit dem Mann ein. Er tastete ihn magisch ab, ohne sich umzudrehen, und stellte fest, dass er bewaffnet war.

»Sir!«

Yoolapan hielt inne und wandte sich dem lästigen Kerl unwillig zu. Kent Lynch war kahl wie er. »Meinen Sie mich?«, fragte der Exekutor abweisend.

»Ja, genau Sie.« Lynch hatte sich den verbliebenen Haarkranz abrasiert. Dadurch glich sein Kopf einem großen Ei mit Augen, Mund und Nase.

»Was wollen Sie?«, schnarrte Yoolapan.

»Ich möchte Sie was fragen.«

»Schießen Sie los.«

»Wieso haben Sie es so eilig, fortzukommen?«, knurrte Kent Lynch.

»Wenn ich es eilig hätte, würde ich mir wohl kaum die Zeit nehmen, mit Ihnen zu reden.«

»Noah Dayans Haus brennt.«

Yoolapan nickte. »Das ist nicht zu übersehen.«

»Wieso laufen Sie weg?«

»Tu ich das?«

»Haben Sie etwas mit dem Brand zu tun?«, fragte Lynch misstrauisch.

»Erwarten Sie, dass ich Ja sage?«

»Sie haben was damit zu tun. Sie waren in Dayans Haus. Ich habe Sie herauskommen sehen.«

Der Exekutor grinste. »Schlechte Augen, was?«

»Oh, ich sehe noch sehr gut. Und ich erkenne auf den ersten Blick, ob jemand koscher ist oder nicht. Sie haben Dreck am Stecken, Mister.«

»Ich glaube nicht, dass Sie diese haltlose Behauptung beweisen können.«

»Die Polizei wird herausfinden, dass ich Recht habe.«

»Denken Sie allen Ernstes, ich bleibe hier und warte auf das Eintreffen der Polizei?«

»Sie werden keine andere Wahl haben.« Kent Lynch öffnete seine Jacke, zog seine Waffe und richtete sie auf Yoolapan.

Der Exekutor blieb unbeeindruckt. Seine Lippen wurden schmal. »Wieso lässt man einen Verrückten wie Sie mit einer geladenen Pistole herumlaufen?«

»Pfoten hoch!«

»Hören Sie zu, Sie kleiner Möchtegern-Sheriff …«

»Hände hoch! Auf der Stelle!«

Yoolapan sah dem Mann fest in die Augen. »Ich mag nicht, wenn mich jemand mit einer Waffe bedroht«, sagte er leise. Und dann verlegte er die Konversation auf eine geistige Ebene, so dass nicht mehr zu hören war, was er mit seinem Gegenüber sprach. »Wie ist dein Name?«

»Kent Lynch.« Der Mann antwortete mit geschlossenen Lippen.

»Deine Pistole ist auf einen Abgesandten der Hölle gerichtet, Kent Lynch. Ich werde dir das nicht durchgehen lassen.«

Die Feuerwehr traf ein.

»Ich möchte, dass du dir das Leben nimmst, Kent Lynch.«

Die routinierten Feuerwehrleute bereiteten sich auf die Brandbekämpfung vor. Jeder wusste genau, was zu tun war. Die Teams arbeiteten schnell und effizient.

»Hast du mich verstanden?«

»Ja«, antwortete Lynch stumm.

Schon schossen die ersten armdicken weißen Wasserfontänen in das brennende Haus.

»Nimm den Lauf deiner Waffe in den Mund, Kent Lynch!«

Der pensionierte Sicherheitsmann, dessen Willen Yoolapan mühelos ausgeschaltet hatte, zögerte keine Sekunde. Er war nur noch eine marklose Marionette.

»Du weißt, was du zu tun hast.«

»Ja«, antwortete Lynch.

Yoolapan nickte und ging seines Weges.

 

Der Schwarzmagier hatte sehr viel Kraft in seinen Zauber gelegt.

Er schien ganz offensichtlich damit gerechnet zu haben, dass Mr. Silver alles daransetzen würde, um seinem Freund zu helfen, und er hatte es dem Ex-Dämon so schwierig wie möglich gemacht, die magische Starre, von der Tony Ballard befallen war, zu lösen.

»Vielleicht …«, begann Roxane zaghaft. Sie sah den Hünen ernst an. »Vielleicht können wir zusammen etwas bewirken. Du mit deiner Silbermagie, ich mit meiner Hexenkraft …«

Er seufzte. »Das würde nichts bringen.«

»Wieso nicht?«

»Wenn wir zu viel Energie einsetzen, würden wir Tony unweigerlich schaden.«

Vicky Bonneys Augen schwammen in Tränen. Im Moment sah es so aus, als hätte sie Tony verloren. Sie war verzweifelt. Hatte der Schwarzmagier seinen erbittertsten Feind buchstäblich im Schlaf besiegt?

»Kennst du nicht noch irgendeinen anderen Spruch, Silver?«

Ihre Stimme klang flehend.

Der Hüne mit den Silberhaaren schüttelte bedauernd den Kopf. »Mago hat seinen Zauber gegen nahezu alle Silberformeln, die ich – für Tony gefahrlos – anwenden kann, wirksam abgeschottet. Und die ganz starken Sprüche kann ich nicht einsetzen.«

»Was für ein Ziel verfolgt der Schwarzmagier?«

»Ich weiß es nicht, Vicky.«

»Reicht es ihm denn, Tony auf diese Weise unschädlich gemacht zu haben?«

»Das wäre möglich«, sagte Mr. Silver.

»Angenommen, jemand vernichtet den Schwarzmagier«, überlegte Vicky laut. »Was dann? Ich meine, bleibt Tony in diesem Fall auch weiterhin in diesem – diesem unerträglichen Zustand?«

»Magos Zauber kann weit über seine Lebenszeit hinaus wirken«, antwortete der Ex-Dämon. »Keine Ahnung, auf welche Weise er ihn gefestigt hat.«

»Mein Gott, das sind ja grauenvolle Aussichten«, stöhnte Vicky Bonney.

Roxane schüttelte ihr langes pechschwarzes Haar wütend in den Nacken. »Dieser Mistkerl taucht nach langer Zeit wieder auf und kann gleich einen so großen Erfolg für sich verbuchen. Verflucht noch mal, das darf es doch nicht geben.«

Vicky glaubte, eine Idee zu haben. »Vielleicht kann ich mit Shavenaar …«

Mr. Silver sah sie an. »Was willst du mit dem Höllenschwert?«

»Es ist eine lebende Waffe.«

Der Ex-Dämon nickte. »Geschmiedet für den Kampf gegen Feinde aus Fleisch und Blut. Wir haben es hier aber mit einer nicht greifbaren Magie zu tun. Magos Zauber ist kein Wesen, das man mit einem Schwert attackieren und in Stücke schlagen kann.«

»Grundgütiger, ich will nicht hören, was alles nicht möglich ist, Silver«, stieß Vicky aufgebracht hervor. »Sag mir, wie wir Tony helfen können.« Sie biss sich auf die Lippen, sah den Ex-Dämon durch einen dichten Tränenschleier an und flüsterte verlegen: »Bitte verzeih mir. Ich wollte dich nicht anschreien.«

Mr. Silver lächelte verständnisvoll. »Schon gut, Vicky. Ich weiß, wie dir zumute ist.«

»Mich macht die Sorge um Tony total fertig«, krächzte sie.

Roxane legte ihre Hand sanft auf Vickys Schulter. »Vielleicht gelingt es uns, Mago zu fangen und ihn zu zwingen, seinen Zauber von Tony zu nehmen.«

»Wie willst du den Schwarzmagier fangen?«, fragte Vicky.

»Er jagt abtrünnige Hexen«, gab Roxane mit finsterem Blick zur Antwort. »Ich bin eine abtrünnige Hexe. Wenn ich Glück habe, kann ich ihm eine Falle stellen.«

Vicky schluckte. »Und wenn du Pech hast?«

»Dann kostet es mich das Leben«, erwiderte die weiße Hexe nüchtern.

Während die Feuerwehrleute in mehreren Gruppen den tobenden Brand bekämpften, brüllte der Einsatzleiter einem seiner Kollegen zu: »Ich mache diesen Job nun schon seit fünfundzwanzig Jahren, aber ein solches Feuer habe ich noch nicht erlebt. In der Hölle kann es nicht schlimmer brennen. Wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können. Fordern Sie weitere Löschzüge an. Allein werden wir mit diesem Brand nicht fertig.«

Yoolapan entfernte sich, ohne dass seine geistige Verbindung mit dem pensionierten Sicherheitsmann abriss. Er erreichte das Ende der Straße.

»Kent Lynch.«

»Ja.«

»Tu es!«, befahl der Exekutor dem Mann, der gewagt hatte, seine Waffe auf ihn zu richten, ohne sich umzudrehen. »Tu es – jetzt!«

Gehorsam verstärkte Lynch den Druck auf den Abzugsbügel. Im selben Moment schrie Mick Bannister, Lynchs Freund und Nachbar, ein bulliger Bursche Anfang fünfzig: »Kent! Um Gottes willen!«

Lynch schloss die Augen.

»Neeeiiin!«, brüllte Bannister.

Ihm standen die Haare zu Berge. Er stürzte sich auf Lynch und riss ihm die Pistole aus dem Mund. Es gelang ihm glücklicherweise auch, die Waffe an sich zu bringen. Lynch schien nicht zu wissen, was er soeben hatte tun wollen. Er schien geistig überhaupt nicht da zu sein, schien durch Bannister hindurchzublicken. Als wäre dieser Luft.

Mick Bannister schüttelte Lynch beinahe aus den Klamotten. »Kent! Kent! Himmel, Arsch und Wolkenbruch …! Verdammte Scheiße …!«

Kent Lynch reagierte nicht.

Mick Bannister ohrfeigte ihn. »Grundgütiger! Kent!«

Weitere Feuerwehrfahrzeuge trafen ein.

»Kent!«

Die magischen Flammen setzten dem Dachstuhl so sehr zu, dass er die Ziegel nicht mehr zu tragen vermochte. Das Dach stürzte krachend ein, und eine rote Feuersäule schoss explosionsartig aus dem Gebäude hoch, als wollte sie den Himmel verbrennen. Millionen Funken wirbelten durch die Luft.

»Kent!« Bannister schlug seinen Freund und Nachbarn abermals auf die Wangen – und nun kam Kent Lynch endlich zu sich.

»Mick.« Lynch musterte Bannister verstört. Er blickte sich um, sah die vielen Menschen, sah die Feuerwehrleute, schien im Moment unfähig zu sein, irgendetwas auch nur einigermaßen auf die Reihe zu kriegen.

»Meine Fresse, Kent …«

Lynch senkte den Blick. »Was willst du mit meiner Pistole, Mick?«, fragte er verwundert.

»Die habe ich dir weggenommen.«

»Warum?«

»Verfluchte Scheiße, du wolltest …«

»Was?«

»Weißt du es nicht?«

»Was?«

»Du wolltest dich umbringen.«

Lynch riss die Augen auf. »Bist du verrückt?«

Bannister schüttelte den Kopf. »Ich nicht, Kent. Du.«

»Warum sollte ich mich …«

»Keine Ahnung. Sag du es mir. Erklär mir, warum du dir den Lauf deiner Kanone in den Mund gesteckt hast und abdrücken wolltest. Du hättest es getan, Kent. Verdammt, du hättest es getan, wenn ich dir die Pistole nicht entrissen hätte.«

Kent Lynch war so sehr geschockt, dass er kein Wort mehr herausbrachte. War er geistig nicht mehr zurechnungsfähig? Konnte er sich auf sich selbst nicht mehr verlassen? Ihm rieselte es eiskalt über den Rücken. Würde er es noch mal tun?