1. Kapitel
Ich drehte mich langsam um. »Hallo, Malcolm.« Ich grinste. Ich sah bestimmt Grauen erregend aus. Ich spürte, dass nicht nur mein Mund, sondern mein ganzes Gesicht blutverschmiert war. »Du kommst zu spät. Chiara und ich haben soeben eine total abgefahrene Fete gefeiert.«
»Du gottverdammtes Monster«, krächzte Malcolm angewidert. »Was hast du getan?« Er starrte fassungslos auf die Leiche.
»Das siehst du doch.«
»Chiara …«
»Sie ist tot«, sagte ich. »Du hast sie verloren.«
»Du …« Dafür, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie einem Vampir begegnet war, reagierte er überraschend mutig. Er hätte besser daran getan, aus dem Fenster zu springen und abzuhauen, doch anstatt sich in Sicherheit zu bringen, griff er mich an.
Der Typ war irre.
Er stürzte sich auf mich, als wäre ich einfach nur ein abartig veranlagter Killer, der seine Freundin abgemurkst hatte. Er war so durchgeknallt, dass er sich doch glatt mit einem Vampir anlegte. Begriff er nicht, dass das nur schiefgehen konnte? Oder war ihm egal, was mit ihm passierte, weil er ohnedies ohne Chiara nicht mehr leben wollte?
Okay, wenn er sterben wollte, war er bei mir an der richtigen Adresse. Ich warf mich ihm wild entgegen. Seine Faust landete wie eine Dampframme in meinem Gesicht.
Er hatte einen guten Punch. Mein Nasenbein brach mit einem hässlichen Knirschen. Egal. Der Bruch würde in Kürze wieder heilen. Das ist bei Vampiren so.
Ich spürte keinen Schmerz.
Malcolm prallte gegen mich. Verzweiflung, Wut und Hass machten ihn immens stark. Ich war ihm dennoch kräftemäßig überlegen. Das bekam er jetzt zu spüren.
Ich packte ihn, riss ihn herum und warf ihn auf seine tote Freundin. Das Bett brach krachend zusammen. Chiara und Malcolm fielen dumpf polternd auf den Teppichboden. Die Eltern des Mädchens hätten taub sein müssen, wenn sie davon nicht wach geworden wären. Taub oder tot.
Sie waren beides nicht. Ich hörte ihre aufgeregten Stimmen. Irgendwo unten. Was sie sagten, war nicht zu verstehen. Es interessierte mich aber auch nicht. Mir war im Moment nur Malcolm wichtig.
Er kam benommen auf die Beine. Ich stieß ihn so hart gegen die Wand, dass sein Körper den Gipskarton, aus dem sie bestand, eindrückte.
Gelbe Glasfaserwolle kam zum Vorschein. Dämmmaterial. Ich schlitzte Malcolm mit meinen Krallen die Kleidung auf. Aber nicht nur sie.
Auch seine Haut bekam einige lange, tiefe Wunden ab. Sie begannen sofort stark zu bluten. Was für ein Anblick. Er machte mich blind vor Gier – obwohl ich eigentlich satt war. Ich fauchte aggressiv.
Auf der Treppe waren dumpfe Schritte zu hören. Mr. und Ms. Nassar kamen ins Obergeschoss. Ms. Nassar rief fortwährend mit durchdringender Stimme: »Oh mein Gott! Heiliger Himmel! Um Gottes willen, was ist da los, Yussef?«
Yussef Nassar sagte nichts. Er erreichte die Tür, die in Chiaras Zimmer führte, wollte sie aufreißen, doch das ging nicht, weil seine Tochter sich sicherheitshalber eingeschlossen hatte, damit ihre Eltern sie nicht mit Malcolm in flagranti erwischen konnten.
»Chiara!«, brüllte der Vater.
»Chiara!«, rief die Mutter.
»Wieso ist die Tür abgeschlossen?«, brüllte Yussef Nassar.
»Sie hat sich eingesperrt?«, schrillte Ms. Nassar. »Warum, Yussef?«
»Das musst du deine Tochter fragen, Marga.«
Das wollte sie tun. »Chiara, wieso …«
»Mach die Tür auf, Chiara!«, überschrie der Mann seine Frau. »Auf der Stelle.« Er trommelte mit den Fäusten gegen das Holz. »Ich befehle es dir.«
Ich verletzte Malcolm abermals mit meinen Krallen. Ich hackte erbarmungslos damit zu, fetzte ihm Fleisch aus der Brust. Er schrie auf.
»Was ist da drinnen los?«, wollte Yussef Nassar wissen. »Wen hast du bei dir, Chiara?«
»Sie hat jemanden bei sich?« Eigentlich war diese Frage überflüssig, weil Chiara nie und nimmer wie ein Mann geschrien hätte. Aber Marga Nassar war ja völlig durcheinander.
»Halt den Mund, Marga!«, schnappte Yussef Nassar. Er rüttelte zornig am Türknauf. »Chiara, mach endlich die verdammte Tür auf, sonst trete ich sie ein.«
Malcolm begriff endlich, dass er mir nicht gewachsen war.
»Chiara!«, schrie Yussef Nassar. »Zum letzten Mal …!«
Malcolm torkelte zum Fenster. Ich riss ihn zurück. Er fiel auf die Knie.
»Geh zur Seite, Marga!«, verlangte Yussef Nassar von seiner Frau.
»Meine Güte, was hast du vor, Yussef?«
»Zur Seite, hab ich gesagt!«
Ich krallte meine Finger in Malcolms Haar. Yussef Nassar prallte zum ersten Mal hart gegen die Tür. Ich riss Malcolms Kopf zur Seite. Er wehrte sich verzweifelt. Nassar prallte zum zweiten Mal gegen die Tür.
»Chiara, wieso antwortest du nicht?«, rief die Mutter des Mädchens.
Ich beugte mich über Malcolm. Nassar versuchte mit einem dritten Anlauf die Tür aufzukriegen. Das Holz knackte. Im Türstock bildete sich ein dünner Riss.
Ich ließ mich nicht beirren. Malcolm musste sterben. Und wenn es Chiaras Eltern gelang, das Zimmer zu betreten, würde ich auch ihnen das Leben nehmen.
Malcolm schlug nach meinem Gesicht. Ich biss ihn in die Hand. Er stieß einen kläglichen Jammerlaut aus, wollte sich irgendwie freizappeln, doch das ließ ich nicht zu.
Rrrumms!
Wieder war Yussef Nassar gegen die Tür gedonnert, und der Riss im Türstock war breiter und länger geworden.
»Mein Kind!«, wimmerte Marga Nassar.
Ich schlug meine spitzen Hauer in Malcolms Hals.
»Mein Baby!«, schluchzte Marga Nassar.
Ich biss eine riesige Wunde in Malcolms Fleisch.
»Meine Chiara!«, krächzte Marga Nassar. Sie schien zu spüren oder irgendwie zu wissen (manche Mütter haben so etwas wie einen übernatürlichen Draht zu ihren Kindern), dass ihre Tochter nicht mehr lebte.
Malcolm starb röchelnd in meinen Händen. Ich stieß ihn von mir, als er tot war, und sprang aus dem Fenster. Einen Sekundenbruchteil später bekam Yussef Nassar endlich die Tür auf. Sie schwang zur Seite und krachte laut gegen die Wand. Ich hörte den Mann geschockt stöhnen, als das Grauen ihn ansprang wie ein reißendes Tier, und Marga Nassar kreischte sich in eine tiefe Ohnmacht.
Von der eigenen Panik vorwärtsgepeitscht, stürmte Noah Dayan atemlos durch sein Haus. Yoolapan hatte es nicht eilig, ihm zu folgen.
Es gefiel ihm, das kleine Flämmchen der Hoffnung noch kurze Zeit in seinem Opfer flackern zu lassen, ehe er es gnadenlos ausblies.
Dayan erreichte die Haustür. Er riss sie auf. Der Exekutor hob die Hand, zeigte auf sie, und sie knallte gleich wieder ins Schloss.
Dayan wollte sie noch einmal öffnen, doch das ging nicht mehr, weil Yoolapan sie magisch verriegelt hatte. In seiner heillosen Angst versuchte sich Noah Dayan in den Keller zu retten.
Der Exekutor zeigte kurz auf die Füße seines Opfers. Das hatte zur Folge, dass Dayan stolperte und die Kellertreppe hinunterkugelte.
Höchst amüsiert brach der Schlangenhäuptige in schallendes Gelächter aus. Der wilde Sturz blieb für Noah Dayan nicht ohne Folgen.
Er brach sich dabei mehrere Rippen. Von diesem Moment an war für ihn jeder Atemzug mit Höllenqualen verbunden. Er blieb aber trotzdem nicht am unteren Ende der Treppe liegen, sondern rappelte sich ächzend auf, torkelte mit schmerzverzerrtem Gesicht wie ein Betrunkener den Kellergang entlang und sperrte sich im Heizungsraum ein. Die feuerhemmende Tür war sehr stabil. Dayan hoffte, dahinter vor dem Schrecklichen (den es für einen Menschen, der bei klarem Verstand war, unmöglich geben konnte) sicher zu sein.
Schlangen!, hallte es in Noah Dayan. Ich habe Schlangen aus seinem kahlen Schädel wachsen gesehen. O mein Gott, was ist bloß los mit mir?
Yoolapan kratzte draußen an der Tür. »Wie geht es dir, Dayan?«, erkundigte er sich.
Schweiß brannte in Noah Dayans Augen.
»Du hast dich beim Treppensturz verletzt, nicht wahr?«, sagte der Exekutor.
Dayan wischte sich den Schweiß aus den Augen.
»Hast du große Schmerzen?«, erkundigte sich Yoolapan.
Dayan versuchte so flach wie möglich zu atmen.
»Ich kann dafür sorgen, dass sie aufhören«, sagte das Höllenwesen.
Ja, dachte Dayan. Indem du mich umbringst.
»Mach die Tür auf«, verlangte Yoolapan.
Die Schmerzen in Dayans Brust waren kaum auszuhalten.
»Lass mich rein«, sagte der Exekutor.
Hilfe, dachte Dayan. Ich brauche ganz dringend Hilfe.
Yoolapan kratzte wieder an der Tür. »Ich warte.«
Dayan holte sein Handy aus der Tasche und wählte mit zitternden Fingern den Polizeinotruf. Rauschen, Piepsen, Knistern, Knacken, Krachen …
»Scheint so, als würde etwas – oder jemand – den Empfang empfindlich stören«, höhnte Yoolapan.
Dayan riss sein Handy vom Ohr und starrte es entgeistert an. Konnte der Schlangenhäuptige durch die Tür sehen? Verdammt, was konnte Y. O. Olapan nicht?
Noah Dayan wich Zentimeter für Zentimeter zurück. Olapan lässt keine Verbindung zu, dachte er aufgewühlt. Herr im Himmel, bin ich wirklich verloren?
Ein neuer Vampir war geboren. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich in dieser Rolle so wohl fühlen würde, und ich konnte nicht begreifen, wieso ich die schwarze Macht früher so verbissen bekämpft hatte.
Jetzt war ich ein Teil von ihr, und ich fand das großartig. Ich hasste das Gute mit flammender Leidenschaft und erfreute mich eines abgrundtief grausamen, gemeinen, mordlüsternen Wesens. So viele sinnlos vergeudete Jahre lagen hinter mir … Doch nun hatte ich einen endgültigen Schlussstrich gezogen, und da ich ein Leben vor mir hatte, das ewig währen würde, hatte ich ausreichend Zeit, die Fehler meiner verblendeten Vergangenheit auszumerzen, zu korrigieren und vielleicht sogar – in manchen Fällen – ungeschehen zu machen.
Es zog mich mit ungeheurer Macht nach Hause. Mir war klar, dass das nicht ungefährlich war, aber ich empfand es irgendwie als besonderen Kick.
Ich wollte zu Vicky.
Und ich wollte sie töten.
Sie war meine Frau. Ich hatte sie geliebt, doch das tat ich jetzt nicht mehr. Meine innigen Gefühle für sie existierten nicht mehr.
Schnee von gestern. Vicky war für mich nur noch ein Opfer wie Chiara oder Malcolm. Ein Mensch, für den ich absolut nichts empfand, zu dem es mich nur drängte, weil ich ihm den Tod bringen wollte – während sich im Penthouse nebenan Roxane und Mr. Silver aufhielten und keinen blassen Schimmer davon hatten, dass ich die Fronten gewechselt hatte, dass ich jetzt endlich auf der richtigen Seite stand.
Die weiße Hexe und der Silberdämon würden aus allen Wolken fallen, wenn sie erfuhren, dass ich Vicky umgebracht hatte. Allerdings würde ich mich bei meiner Frau vorsehen müssen. Sie würde nicht so leicht zu killen sein wie Chiara Nassar und ihr Freund.
Immerhin war sie in New York in einem Shaolin-Kloster ausgebildet worden, und die heiligen Männer hatten sehr gute Arbeit geleistet.
Zusammen mit Shavenaar, dem Höllenschwert, war Vicky Bonney (als bekannte Schriftstellerin hatte sie ihren Mädchennamen beibehalten) zu einer Kampfmaschine geworden, vor der man sich selbst in den höchsten Höllenkreisen in Acht nehmen musste. Auch ich hatte ihr so manches beigebracht, und sie war stets eine sehr gelehrige Schülerin gewesen, hatte alles bereitwillig angenommen und sofort eins zu eins umgesetzt.
Bei Vicky würde ich mich echt vorsehen müssen. Ich durfte mir bei meiner Frau keinen Fehler erlauben, sonst drehte sie den Spieß um, und mir ging es an den Kragen. Für mich stellte das einen ganz besonders prickelnden Reiz dar. Es war zweifellos eine höchst riskante Herausforderung. Ich war aber dennoch zuversichtlich, dass es mir gelingen würde, Vicky brutal und überfallsartig aus dem Leben zu reißen. Vicky, die Frau, die ihr Leben mit mir geteilt hatte, die mit mir durch dick und dünn gegangen war, die mich verlassen und wieder zu mir zurückgekehrt war, weil sie eingesehen hatte, dass sie ohne mich nicht leben konnte, die mir einen Sohn geschenkt hatte … Andrew, der mit seiner Freundin Dealyne im schwarzen Nirwana lebte, und von dem wir schon so lange nichts mehr gehört hatten.
Ich betastete meine Nase. Malcolm hatte sie mir kaputtgedroschen, doch sie war schon wieder völlig in Ordnung. Ich betrachtete meine Hände.
Das Blut zweier Opfer klebte daran. Ich würde es abwaschen, bevor ich mich Vicky zeigte. Auch mein Gesicht wollte ich vorher säubern.
Meine Frau sollte den Braten nicht zu früh riechen. Ich wollte sie überraschen. O ja, sie würde verdammt überrascht sein, wenn sie realisierte, welche Wandlung sich mit ihrem Ehemann vollzogen hatte.
Ich stand bereits im Lift, der mich zu ihr brachte.
Noah Dayan hatte in seinem Leben immer nur Gutes getan. Dass ihm ausgerechnet das eines Tages zum Verhängnis werden würde, hätte er niemals für möglich gehalten, aber aus der Sicht der Hölle hatte er sich eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht, das nur mit seinem Tod gesühnt werden konnte.
Als gläubiger Mensch wusste er, dass es nicht nur Gott, sondern auch dessen Gegenpart, den Teufel gab, aber er hätte nicht gedacht, dass er einmal einem echten Höllenwesen begegnen würde. Und dass dieser Olapan ein solches war, darüber bestand für Noah Dayan inzwischen kein Zweifel mehr. Ich muss hier raus, dachte er und sah sich gehetzt um. Seine Lungenflügel schienen in kochendem Öl zu hängen.
Knapp unter der Kellerdecke befand sich ein kleines Drahtglasfenster. Ein alter, wackeliger Tisch stand darunter. Dayan kletterte unter unsäglichen Schmerzen auf ihn und versuchte das Fenster zu öffnen. Der Riegel klemmte. War daran ebenfalls Olapan schuld?
Dayan rüttelte verzweifelt am Fenster, bekam es aber nicht auf. Hinter ihm geschah etwas. Das spürte er. Ängstlich drehte er sich um und konnte einmal mehr nicht glauben, was er sah. Y. O. Olapan nahm magischen Einfluss auf die klobigen Türangeln. Die dicken Bolzen bewegten sich quietschend und ächzend hin und her und wanderten kontinuierlich nach oben.
In Kürze würden sie die schwere, selbst schließende Metalltür nicht mehr halten. Dann war für das Höllenwesen der Weg frei zu seinem Opfer. Dayan rüttelte sofort wieder wie verrückt am Fensterriegel. Er hatte nur diese eine Chance – wenn überhaupt. Sollte er das Drahtglasfenster nicht öffnen können, war er verloren.
Der Fahrstuhl hielt so weich und lautlos an, dass es kaum zu bemerken war. Ich trat langsam aus der Kabine. Mein hasserfüllter Blick streifte die Tür, die in Roxane und Mr. Silvers Penthouse führte.
Wir waren mal Freunde, dachte ich finster. Vor langer, langer Zeit. Vor einer Zeit, die nun keine Gültigkeit mehr hat. Auf deren hehre Werte ich heute spucke.
Ich näherte mich der Tür, die in »mein Reich« führte. Diese Wohnung konnte ich betreten, ohne dass man mich dazu erst auffordern musste.
Sie gehörte schließlich mir. Ich schloss die Tür auf und glitt hinein. Stille empfing mich. Ich ging ins Bad, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen. Kraft und Zufriedenheit durchströmten mich.
Es war ein wenig eigenartig, dass ich mich nicht mehr im Spiegel sehen konnte. Daran würde ich mich erst gewöhnen müssen. Ich drückte flüssige Seife in meine Handfläche, begann meine Finger zu säubern und anschließend mein Gesicht. Hoffentlich hört sie das Rauschen und Plätschern des Wassers nicht, ging es mir durch den Sinn.
Ich wusch mein Gesicht sehr gründlich. Ich konnte allerdings nicht kontrollieren, ob es tatsächlich völlig sauber war, musste einfach davon ausgehen, dass nirgendwo mehr ein verräterischer Blutstropfen klebte.
Wie spät ist es eigentlich?, fragte ich mich. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass der Morgen bald anbrechen würde. Wenn die Sonne aufgeht, wird Vicky nicht mehr leben, sagte ich mir, und ein grausames Lächeln umspielte dabei meine Lippen.
»Tony«, sagte meine Frau plötzlich hinter mir.
Ich drehte mich mit einer fließenden Bewegung um. Hoffentlich fällt ihr nicht auf, dass ich im Spiegel nicht zu sehen bin, dachte ich dabei.
Vicky stand mit zerzaustem Haar schlaftrunken in der Tür. Schlaftrunken ist gut, sagte ich mir hinterhältig. Das macht es mir ein bisschen leichter, sie zu überrumpeln.
Vicky hatte ein superkurzes, nahezu total durchsichtiges Nightie an. Ihre wohlgeformten Beine kamen dadurch besonders gut zur Geltung.
In einem Buch hatte ich mal gelesen: »Ihre Beine glichen den Golfschlägern eines Riesen.« Das fiel mir ein, während ich Vicky genüsslich betrachtete.
Sie sah wahnsinnig heiß und sexy aus. Aber Sex war das Letzte, was ich im Moment von ihr wollte. Mir ging es um ihr Blut und um ihr Leben. Das wollte ich haben. Alles andere interessierte mich nicht mehr.
»Wieso bist du schon auf?«, fragte sie verwundert.
Ich antwortete nicht.
»Was hast du vor?«, wollte Vicky wissen.
Mein Blick saugte sich an ihrem schlanken Hals fest. Das hatte ich vor.
Vicky strich sich mit einer anmutigen Geste eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht. »Wohin willst du, Tony?«
»Nirgendwo hin«, gab ich zurück.
Ihre veilchenblauen Augen musterten mich. »Aber …«
»Ich war weg, bin soeben heimgekommen – zu dir, mein Schatz.« Ich sagte das triefend zynisch, doch sie merkte es nicht. Sie war noch nicht ganz da.
Sie zog die hübschen Augenbrauen hoch. »Du warst weg?«
Ich nickte. »Habe ich eben gesagt.«
»Wo warst du?«
»Bei Leuten.«
»Bei welchen Leuten?«
»Du kennst sie nicht.«
»Wann bist du weggegangen?«
»Weiß ich nicht mehr so genau.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast?«
»Ich wollte deine Nachtruhe nicht stören«, log ich.
»Was wolltest du von diesen Leuten?«
Mein Blick wanderte von ihren hübschen Brüsten langsam abwärts. Ich grinste unanständig. »Ich kann dein Pelzchen sehen.«
»Wie bitte?«, fragte Vicky irritiert.
Ich wurde deutlicher. »Ich kann deine Pussy sehen.« Das war bisher nicht mein Umgangston gewesen. »Deine Muschi.« So hatte ich früher nicht mit Vicky geredet. »Deine Möse.« Ich ließ es so schmutzig wie möglich klingen. Ich war zwar – während meines anderen Lebens – zu keiner Zeit lächerlich prüde gewesen, aber unter ein bestimmtes Niveau war ich niemals abgeglitten – einfach aus Respekt vor Vicky. Doch nun hatte ich keinen Respekt mehr vor meiner Frau.
Sie bestand für mich nur noch aus Fleisch und Blut, war in meinen kalten Vampiraugen nichts weiter mehr als ein bedeutungsloser Mensch. Einer von vielen, die mir von nun an laufend zum Opfer fallen würden.
»Hast du bei diesen Leuten was getrunken?«, fragte mich Vicky befremdet.
Ich nickte. »Das habe ich.«
»Und was?«
»Ich denke, es war Blut.« Ich setzte mich langsam in Bewegung.
Vickys Augen weiteten sich. »Blut? Sag mal …«
»Ich war zu Gast bei Chiara Nassar und deren Freund Malcolm.« Meine Stimme glich einem dumpfen Knurren.
»Und ihr habt etwas getrunken, das wie Blut aussah?«, fragte Vicky.
Ich schüttelte den Kopf. »O nein, nein. Es sah nicht bloß so aus. Es war Blut. Echtes Blut. Und wir haben es nicht zusammen getrunken …«
»Sondern?«
»Ich habe es allein getrunken«, sagte ich total gefühlsroh und so, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. »Zuerst das Blut von Chiara und anschließend das ihres Freundes. Chiaras Blut hat mir um einen Tick besser geschmeckt. Vermutlich deshalb, weil sie ein Mädchen war – und blutjung.«
Vicky verzog das Gesicht, als hätte ich eine Stinkbombe angezündet. »Sag mal, was soll das, Tony?«
Ich war schon fast bei ihr.
»Ist alles in Ordnung, Tony?«, fragte mich meine Frau.
»Aber ja, Schatz«, antwortete ich scheinheilig. »Es ist seit kurzem alles in bester Ordnung.«
»Seit kurzem?«
»Seit ich nicht mehr der bin, der ich mal war.«
»Wie ist das zu verstehen?«
»Ich bin nicht mehr der Mann, den du zweimal geheiratet hast, Vicky.«
Sie wurde ärgerlich. »Herrgott noch mal, jetzt reicht es aber, Tony! Was ist denn in dich gefahren?«
»Das Böse, Baby«, antwortete ich frostig. »Das Böse.«
Und plötzlich begriff sie.
Drei Bolzen hielten die feuerhemmende Tür. Im Moment noch. Aber nicht mehr lange. Sie steckten schon fast nicht mehr in den Angeln und Yoolapans schwarze Kräfte hebelten sie mehr und mehr aus.
Noah Dayan stieg vom Tisch und holte sich einen Schürhaken. Die Schmerzen, die er dabei hatte, brachten ihn fast um. Im Heizkeller befanden sich zwei Kessel. Ein Allesbrenner und einer für Heizöl.
Der schwere eiserne Schürhaken war Teil eines »Bestecks«, das mit dem Allesbrenner mitgeliefert worden war. Dayan versuchte damit das Fenster einzuschlagen.
Es brach auch gleich beim ersten Hieb, löste sich jedoch nicht aus dem Rahmen, weil es vom eingegossenen Draht zusammengehalten wurde.
Ein verzweifelter Schluchzer entrang sich Dayans Kehle. Hinter ihm klimperte der erste Bolzen auf den Boden. Lieber Gott, steh mir bei!, flehte Dayan im Geist.
Der zweite Bolzen fiel. Dayan hielt den Schürhaken mit beiden Händen, so fest er konnte. Seine gebrochenen Rippen machten ihm schwer zu schaffen.
Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so gelitten. Dennoch wollte er diesen Gesandten der Hölle auf keinen Fall an sich heranlassen.
Ich dresche ihm die Schlangen vom Kopf, dachte er mit dem Mut der Verzweiflung. Ich schlage ihm den Schädel ein.
Der dritte Bolzen fiel, und nun wurde die schwere Tür wie von unsichtbaren Geisterhänden hochgehoben und zur Seite gestellt. Als Noah Dayan den hässlichen Exekutor wiedersah, drehte er komplett durch.
Den entsetzlichen Schmerz, der in seiner Brust tobte, ignorierend, setzte er sich in Bewegung. Yoolapan hätte ihn daran hindern können, doch er ließ es zu.
Vicky wollte herumwirbeln. Ich nahm an, dass sie die Absicht hatte, sich irgendeine Waffe zu holen, doch da spielte ich nicht mit.
Mitten in ihrer rasanten Drehung traf sie meine Faust. Hart, brutal, mit ungeheurer Wucht – und mitten im Gesicht. In diesem wunderschönen Antlitz, das mir mal so viel bedeutet, das mir so gut gefallen, das ich so sehr geliebt hatte.
Ein Schmerzlaut, der mir unbeschreiblich gut gefiel, entrang sich ihrer Kehle. Ich ergötzte mich daran. Vicky verlor das Gleichgewicht und stürzte. Obwohl sie benommen war, blieb sie nicht am Boden, sondern schnellte gleich wieder hoch. Wie ein Gummiball. Ihr war klar geworden, dass sie in mir einen gefährlichen Gegner sehen musste.
Einen gnadenlosen Todfeind, der heimgekommen war, um sich ihr Blut und ihr Leben zu holen. Und das wollte sie mit allen Mitteln verhindern.
Ich riss meinen Mund auf und stieß ein aggressives Fauchen aus.
Meine Vampirhauer blitzten.
Noch Fragen?
Es gab nach diesem unmissverständlichen »Outing« keine mehr. Vicky lief auf etwas unsicheren Beinen durch das Penthouse. Ich hatte keine Mühe, ihr zu folgen.
Sie riss eine Lade auf und wollte sich ihre Pistole, die mit geweihten Silberkugeln geladen war, greifen. Ich versetzte der Lade einen kräftigen Tritt.
Vicky schrie auf.
Vielleicht war ihre Hand gebrochen.
Ich hätte es begrüßt. »Oh, du armes Ding«, spottete ich. »Hat es sehr weh getan?«
Sie fuhr herum und griff mich an. Sie war erstklassig in etlichen fernöstlichen Kampfsportarten, deren Namen ich nicht einmal richtig aussprechen konnte, ausgebildet worden, und die setzte sie mutig gegen mich ein. Sie sprang hoch und rammte mir ihre Fersen gegen die Brust.
Tony Ballard, der Mensch, wäre daraufhin hart gegen die Wand geflogen. Tony Ballard, der Vampir, rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Ich grinste. »Was sagst du zu meiner Standfestigkeit?«
Vicky schonte ihre verletzte Hand. Es war die rechte. Aber mit der linken Handkante gab sie es mir voll. Gleich zweimal. Einmal traf sie meine Halsschlagader und einmal meinen Kehlkopf. Dieser zweite Treffer hätte mich außer Gefecht setzen müssen, und er hätte das auch getan, wenn ich nicht tot gewesen wäre. Einen Untoten kann so etwas nicht umhauen.
Ich beschloss, mit meiner »besseren Hälfte« kurzen Prozess zu machen. »Okay«, zischte ich. »Du hattest deinen Spaß. Jetzt bin ich dran.« Ich zerfetzte mit meinen messerscharfen Krallen ihr Nachthemd, riss es ihr mit erschreckender Wildheit vom Leib. Mein kalter Blick maß sie von Kopf bis Fuß. »Was für ein unübertrefflicher Anblick«, sagte ich verächtlich, denn alles Schöne, Saubere, Anmutige war mir zutiefst zuwider. »Was für ein prächtiger Körper. Was für beeindruckend frauliche Formen. Was für eine makellose Figur. Du bist so wunderschön, Vicky. So begehrenswert. So reizvoll. So attraktiv. So … Mir fehlen die Worte. Schade um dich. Wirklich schade, dass du heute schon krepieren musst.«
Krepieren! Was für ein herrliches Wort. So richtig schön fies. Kre-pie-ren! Ich ließ es mir auf der Zunge zergehen, bevor ich mich mit erhobenen Armen auf Vicky warf.
Sie schraubte sich mit einer gedankenschnellen Pirouette zur Seite.
Meine Hände griffen ins Leere. Vicky fegte wieselflink an mir vorbei, stürmte aus dem Raum, schleuderte die Tür zu und schloss mich ein.
»Denkst du, das kann dich retten?«, schrie ich. »Du selten dämliches Stück!«
Ich warf mich gegen die Tür und riss sie gleich beim ersten Ansturm mühelos aus den Angeln. Ich erwartete, Vicky gleich danach wieder zu sehen, doch das war nicht der Fall. Sie hatte unser Penthouse verlassen.
Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wohin das verdammte Luder gelaufen war, bei wem meine Frau Schutz suchen wollte, von wem sie sich Hilfe erhoffte.
Ich überlegte blitzschnell. War es ratsam, zu bleiben und Vicky zu folgen, oder war es klüger, das Feld zu räumen, bevor Roxane und Mr. Silver ins Spiel kamen?
Der Silberdämon und die Hexe aus dem Jenseits hatten schon so manchen Blutsauger im Handumdrehen fertiggemacht, deshalb wäre es zweifelsohne vernünftiger gewesen, ihnen als Nosferatu aus dem Weg zu gehen.
Anderseits …
Wenn es mir gelang, Vicky dennoch zu töten, wertete mich das – aus schwarzer Sicht betrachtet – ungemein auf. Sollte ich mir eine solche Gelegenheit entgehen lassen? Nein, dachte ich trotzig. Auf keinen Fall.
Und so blieb ich.