17 Wie kann einem missbrauchten Kind geholfen werden?
17.1 Was können Eltern für ihr Kind tun?
Gerade in einer akuten Krise sind Ruhe und Zeit zentral. Hektik und Unruhe, Streit und Ärger können dem Kind nicht das Gefühl von Geborgenheit geben. Dieses ist jedoch nun für das Kind sehr wichtig. Eine liebevolle und unterstützende Atmosphäre in der Familie ist sehr hilfreich.
Eine Bewältigung des Erlebten wird wesentlich besser gelingen, wenn sich das Kind selbst keine Mitschuld an dem Geschehenen gibt. Die Verantwortung sollte allein dem Täter zugeschrieben werden. Hat das Kind bereits Schuldgefühle, da es beispielsweise denkt, es hätte den Missbrauch verhindern müssen, so sollte dies bearbeitet werden. Hier kann professionelle Hilfe angezeigt sein. Notwendig im Umgang mit einem Kind, welches sich schuldig fühlt, ist die überzeugte Grundhaltung des Erziehenden, dass das Kind keine Schuld trägt. Zweifeln Eltern selbst, so werden sie eher zum Zweifeln des Kindes beitragen. In diesem Fall sollten Sie sich zurückhalten und anderen den Vortritt lassen. Überlegen Sie sich, was genau dazu führt, dass Sie dem Kind die Mitschuld geben. Diskutieren Sie diesen Punkt selbst mit einem professionellen Helfer. Beispiel: Was hat das Kind davon abgehalten, sich früher Hilfe zu suchen? Klären Sie diese Fragen! Sie können Ihrem Kind wesentlich besser helfen, wenn Sie es verstehen.
Ambivalente Gefühle des missbrauchten Kindes gegenüber dem Täter werden die Verarbeitung deutlich erschweren. Diese sollten respektiert werden. Sprechen Sie in diesem Fall nicht abwertend oder schlecht über den Täter – fokussieren Sie auf das, was das Kind erlebt hat. Das ist sicherlich sehr schwer. Als Erziehender, der nur das Wohl des Kindes im Sinn hat, wird der Ärger auf einen Menschen, der dem Kind solch ein Übergriff zugemutet hat, sehr, sehr groß sein. Ist Ihr Kind ambivalent gegenüber dem Täter, merkt aber, wie wütend Sie sind, so wird es in einen schweren Konflikt geraten. Dies stellt eine erneute Belastungssituation dar.
Das Kind sollte in der Lage sein selbst zu entscheiden, ob es über seine Erfahrungen sprechen möchte. Wünscht das Kind über das Geschehene zu sprechen, so ist es gut einen offenen Ansprechpartner zu haben. Die Vorstellung jedoch, dass das Kind mit Laien oder Fachleuten aus nicht therapeutischen Berufen die Traumata intensiv durchsprechen und durcharbeiten sollte, ist höchst problematisch. Dies sollte unbedingt vermieden werden, da es eher zu einer Zunahme an Belastung führen kann und sicher keine Hilfe für das Kind darstellt. Vielmehr ist fraglich, ob hierdurch nicht voyeuristische Interessen der beteiligten Erwachsenen befriedigt werden.
Das Kind hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Strategien entwickelt, mit denen es versucht, sich gegen Missbrauch oder dessen Folgen zu schützen. Beispielsweise indem es sich schnell aus Menschengruppen zurückzieht. Diese Verhaltensweisen sollten als Schutzstrategien des Kindes verstanden werden, die in dem Lebenskontext des Kindes (zumindest zu Zeiten des Missbrauchs) sinnvoll waren/sind. Von den Erziehenden wird viel Geduld gegenüber dem Kind notwendig sein.
17.2 Was können professionelle Helfer für Ihr Kind tun?
Treten professionelle Helfer nach einem offengelegten Missbrauch in Aktion, so werden sie im ersten Schritt versuchen zu verstehen, wie es zu dem Missbrauch kam und ob das Kind nun sicher ist. Folgende Fragen könnten wichtig sein: Gibt es im häuslichen Umfeld unterstützende Menschen? Gibt es vielleicht Menschen, die versuchen, das Geschehene zu vertuschen? Gibt es Konflikte oder Probleme, die die jetzige Situation ausgelöst haben könnten? Was ist tatsächlich bisher passiert? Was geschah im Rahmen des Missbrauchs? Wie ist der Missbrauch bekannt geworden?
In solch einem Gespräch geht es nicht um Schuldvorwürfe oder Vorhaltungen gegenüber den Eltern. Diese werden als nicht zielführend vermieden. Das Gespräch sollte vorrangig dem Schutz und der Sicherheit des Kindes dienen.
Zeigt ein Kind klare Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen, so kann eine stationäre Maßnahme, wie z. B. eine kinder- und jugendpsychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung sinnvoll sein. Liegen körperliche Symptome, wie z. B. Verletzungen im Genitalbereich vor, so ist eine pädiatrische, kinderchirurgische oder kindergynäkologische Behandlung angemessen.
Außerhalb des medizinischen Bereichs sind auch stationäre Angebote der Jugendhilfe in Krisensituationen möglich:
- In Krisensituationen bietet der Kindernotdienst rund um die Uhr an jedem Tag im Jahr eine telefonische und persönliche Beratung auch vor Ort in der Familie selbst an. Die Hilfe erfolgt schnell und unbürokratisch. Die Beratung kann anonym erfolgen. Kinder bis 14 Jahre können in Krisensituationen in eine Wohngruppe aufgenommen werden.
- Der Jugendnotdienst betreut Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren. Selbstverständlich können auch die Jugendlichen selbst Kontakt zu diesen Hilfestellen (z. B. per Telefon), insbesondere in Krisensituationen, aufnehmen.
- Mädchenhäuser sind keine Frauenhäuser für Mädchen. Sie bieten in der Regel keine in Obhutnahme oder Übernachtungsmöglichkeiten an. Vielmehr sind sie Anlaufstellen, in denen sich Mädchen kostenlos, anonym und/oder zusammen mit einer Freundin beraten lassen können. Eine Anmeldung ist meist nicht notwendig. In Mädchenhäusern können auch praktische Hilfen angeboten werden, z. B. Gespräche mit den Eltern, den Lehrern oder bei Behördengängen. Ein weiterer wichtiger Aspekt eines Mädchenhauses ist die Möglichkeit andere Mädchen kennenzulernen (vgl. auch www.maedchen-infos.de).
- In einer Kurzzeitpflege lebt das Kind vorübergehend in einer Pflegefamilie. Diese kann privat oder durch das Jugendamt organisiert werden.
Die bisher aufgezählten Möglichkeiten sind nur vorübergehende Maßnahmen. Sind längerfristige Maßnahmen notwendig, so sollten diese mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) abgesprochen werden.
Exkurs: Ambulante oder stationäre Behandlung?
Eine ambulante Behandlung ist sinnvoll, wenn das Kind im häuslichen Umfeld oder durch eine andere Einrichtung ausreichend geschützt wird. Auch wenn das Kind oder der Jugendliche nach einem kurzen stationären Aufenthalt zurückkehrt, sind ambulante Hilfen sinnvoll.
Im ambulanten Bereich sind verschiedene Arten von Hilfen denkbar:
- Die Sozialpädagogische Familienhilfe ist eine Hilfe zur Erziehung durch das Jugendamt. Sie berät und begleitet eine Familie intensiv über einen längeren Zeitraum (ein bis zwei Jahre). Sie unterstützt die Familie bei der Lösung von Alltagsproblemen und Konfliktbewältigung.
- Verschiedene Beratungsstellen können die Familie und das betroffene Kind unterstützen. Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien bieten ihre Hilfen in jeder Ortschaft mit mindestens 50.000 Einwohnern an (vgl. auch www.bke.de). Die Beratung ist kostenlos und auf Wunsch auch anonym. Auch Kinder und Jugendliche können sich an diese Einrichtungen, die von den Kirchen oder Kommunen betrieben werden, wenden. In einigen Fällen ist ein Therapieangebot möglich.
- Als ein weiteres Beispiel für eine Beratungsstelle kann der „Weiße Ring“ genannt werden (vgl. auch www.weisser-ring.de). Der „Weiße Ring“ ist eine bundesweite Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer und ihre Familien. Insgesamt stehen 420 Außenstellen zur Verfügung. Die ehrenamtlichen Helfer unterstützen die Opfer und deren Familie mit Rat und Tat. Sie können auch eine erste Rechtsberatung vermitteln.
- In einer ambulanten Psychotherapie erhält, je nach Problemlage, nur das Kind, das Kind zusammen mit den Erziehungsberechtigten oder die gesamte Familie Unterstützung. Die Therapiesitzungen werden über die Krankenkasse abgerechnet. Bei Ihrer Krankenkasse erhalten Sie eine Liste der in Ihrer Umgebung niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut(inn)en und Kinder- und Jugendlichenpsychiater(inne)n – das sind die Berufsgruppen, die ambulante Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit den Krankenkassen abrechnen können und anbieten.
- Für Jugendliche kann die Teilnahme an Selbsthilfegruppen eine Entlastung darstellen. Die Erfahrung missbraucht worden zu sein, kann von den Jugendlichen untereinander geteilt werden. Für manche Jugendliche ist es leichter, ihre Sorgen und Gedanken erst einmal mit anderen Gleichaltrigen zu teilen als mit Erwachsenen.
- Eine medikamentöse Behandlung sollte von den Beschwerden des Kindes abhängig gemacht werden. Liegen starke Schlafstörungen oder Ängste vor, so kann die vorübergehende Gabe von Medikamenten hilfreich sein.
Eine teilstationäre Behandlung kombiniert die Möglichkeiten der ambulanten und stationären Therapie. Tagsüber befindet sich das Kind in einer Einrichtung, abends und nachts ist es im häuslichen Umfeld. Der Vorteil einer teilstationären Betreuung ist die Möglichkeit, intensiv mit dem Kind und seinen Eltern zu arbeiten, gleichzeitig aber diese und das Kind zu entlasten, ohne es jedoch aus der gewohnten Umgebung herauszureißen.
Die stationäre Therapie ist dann sinnvoll, wenn im ambulanten Umfeld kein ausreichender Schutz besteht. Ein weiterer Grund für eine stationäre Aufnahme sind vorliegende schwere psychische Probleme.
17.3 Wie können therapeutische Gespräche stützen?
Therapeutisch geschulte Helfer werden sich bemühen herauszufinden, ob das Kind unter psychischen Symptomen oder Erkrankungen leidet. Häufig leiden die Kinder unter Schlafstörungen oder Alpträume. Diese können auch Hinweise auf eine Posttraumatische Belastungsstörung sein. Sinnvoll wird auch eine genaue Entwicklungsdiagnostik sein. Hiermit kann festgestellt werden, ob das Kind in der Lage war, sich uneingeschränkt zu entwickeln oder ob vielleicht eine Förderung des Kindes z. B. bezüglich der Sprachentwicklung ratsam sein könnte. Wesentlich ist auch die Frage, ob das Kind sozial genügend integriert ist. Hält die Familie zusammen? Gibt es dort Belastungssituationen? Hat das Kind einen Freundeskreis? Wer sind die wichtigen Bezugspersonen?
Je genauer die Diagnostik der psychischen Folgen und der eventuellen Entwicklungsrückstände ist, desto detaillierter und maßgeschneiderter kann der Therapieplan des Kindes ausfallen.
Der allererste Teil des Therapieplans betrifft immer den Beziehungsaufbau zwischen Therapeut und Kind. Dem Kind oder Jugendlichen soll Sicherheit, Schutz und Vertrauen vermittelt werden. Liegen sexualisierte Verhaltensweisen vor, so sollten diese im ersten Schritt über verhaltenstherapeutische Maßnahmen abgebaut werden. Durch sexualisiertes Verhalten erhöht sich die Gefahr erneut Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden. Ein weiterer potenzieller Täter könnte sich durch das sexualisierte Verhalten angesprochen und provoziert fühlen.
Günstig ist die Teilnahme eines nicht missbrauchenden Elternteils an der Behandlung. Der Grad, zu dem die Eltern in der Therapie involviert sind, ist abhängig von dem Alter des Kindes. Je jünger die Kinder, desto wichtiger sind die Eltern in der Therapie. Für den Therapieerfolg kann es von großer Bedeutung sein, dass die Bezugspersonen verstehen, was in der Therapie mit dem Kind geschieht und welche Hintergründe für die einzelnen Therapieschritte vorhanden sind. Durch die Teilnahme an der Therapie kann der Elternteil die therapeutischen Maßnahmen auch im Alltag weiter mittragen und unterstützen (z. B. Vermeidung bestimmter traumabezogener Themen, Umgang mit sexualisiertem Verhalten).
Die eigene erlebte Ohnmacht und Hilflosigkeit der Eltern während des Missbrauchs kann in Elterngesprächen thematisiert werden. Auch dies kann für die Therapie des Kindes von großer Bedeutung sein.
Wichtig ist folgender Leitsatz: Das Kind soll nicht um jeden Preis vergessen. Das Geschehene ist geschehen. Es ist ein Teil des Lebens. Auch wenn wir wünschen, es sei nicht so. Wir können Erfahrungen nicht aus dem Gedächtnis herausoperieren oder ausradieren. Die Erinnerung bleibt. Sie darf auch bleiben. Die Frage ist nur, wie mit dieser Erinnerung umgegangen wird. In der Therapie kann das Kind lernen die Erinnerungen zuzulassen, aber diese in seine bisherigen Erfahrungen zu integrieren. Das Kind muss dann nicht mehr mithilfe von Strategien versuchen, Erinnerungen zu verdrängen. Diese Strategien, die die Erinnerungen „wegmachen“ sollen sind nämlich die, die dauerhaft psychische Störungen hervorrufen können.