7    Welche Rolle spielt die Familiengeschichte für einen möglichen Missbrauch?

„In meiner Familie war Gewalt an der Tagesordnung. Mein Vater war aggressiv. Auch meine Mutter schlug mich. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, drängte mich mein Großvater in sein Schlafzimmer und begann mich zu befummeln. Ich war total schockiert. Ich habe meiner Mutter erzählt, was passiert ist. Schlimmer war, was sie sagte: Es sei ihr auch passiert und ich soll mich doch nicht so anstellen.“

„In meiner Familie wurden die Kinder immer geschlagen. Gründe gab es mehr oder weniger. Wir haben uns alle bemüht, unseren Vater nicht aufzuregen. Wenn wir ihn „ärgerten“, schlug er rasch zu. Meine Mutter konnte uns nicht schützen. Sie erhielt selbst Schläge. Warum sie bei ihm geblieben ist, weiß ich nicht. Sobald ich konnte, ging ich von dort weg und heiratete meinen ersten Freund. Zuerst war er nett zu mir. Zumindest schlug er mich nicht. Nachdem wir geheiratet hatten, fing er an mich zu schlagen. Als ich schwanger wurde, hatte ich die Hoffnung, er würde aufhören, aber er schlug mich weiterhin. Ich hätte nicht gewusst, wohin. Zu meinen Eltern zurück konnte ich nicht. Also blieb ich. Ein anderer Mann hätte mich wahrscheinlich auch geschlagen. Ich muss es verdient haben.“

„Mein Großvater begann, mich zu missbrauchen, als ich acht Jahre alt war. Ich wollte nicht mehr zu ihm gehen. Eigentlich hätte ich auch nicht gehen müssen. Meine Geschwister sollten aber trotzdem zu ihm. Ich hatte große Angst, dass er, wenn ich nicht käme, meine Schwester anfassen würde. Ich habe mich all die Jahre nicht getraut, mit ihr darüber zu sprechen. Letzte Woche habe ich es getan. Meine Mutter war dabei. Er hatte es trotzdem getan. Er hatte sie trotzdem angefasst. Obwohl ich doch hingegangen bin und sie nicht alleine habe gehen lassen. Meine Mutter hat sehr viel geweint. Er hat sie auch missbraucht, als sie klein war. Er hatte ihr versprochen, uns niemals anzufassen. Meine Mutter hat ihm geglaubt. Sie hat nicht mehr daran denken wollen, was passiert war.“

Was sollten Sie wissen?

Eine Möglichkeit zu lernen ist, andere Menschen zu beobachten und sie nachzuahmen. Diese Form des Lernens ist eine sehr wichtige, wenn es um den Umgang mit anderen Menschen geht. Unser Verhalten in unserer Familie ist abhängig von dem, was wir im Laufe unseres Lebens bei wichtigen Bezugspersonen gesehen und erlebt haben. Das erste Modell einer familiären Beziehung, das wir kennenlernen, ist die Beziehung unserer Eltern.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Frau L. wuchs in einer Familie mit sehr traditioneller Rollenverteilung auf. Ihre Mutter kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Der Vater brachte das Geld nach Hause und wollte nach getaner Arbeit seine Ruhe haben. Die wesentlichen Entscheidungen wurden allein von ihm getroffen. Die Mädchen der Familie wurden sehr streng erzogen. Auszugehen und Freundschaften mit Jungen waren ihnen verboten. Da sie heiraten und Kinder haben würden, wurde eine weitere Ausbildung wie eine weiterführende Schule oder gar Studium als unnötig erachtet. Eine frühe Heirat mit ihrem ersten Freund ermöglichte Frau L. die Flucht aus dem Elternhaus mit all seinen Zwängen. Frau L. lernte keine anderen Beziehungsmodelle kennen. Ohne eine weitere Ausbildung wird sie sich finanziell bald abhängig von ihrem Mann fühlen. Angenommen, der gewählte Ehemann hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Wie denken Sie, wird Frau L. vermutlich ihre eigene Beziehung gestalten?

Natürlich kann Frau L., wie jeder Mensch, sich entscheiden, ihr Leben anders zu gestalten. Im ersten Schritt muss sie sich bewusst werden, was sie bisher gelernt hat. Dann muss sie sich entscheiden, etwas anders zu machen. Das neue Verhalten muss dann mit viel Geduld geübt werden.

Ein sehr starres, traditionelles Verständnis von Geschlechtsrollen wie in der Familie von Frau L. erhöht die Wahrscheinlichkeit für einen sexuellen Missbrauch. Das Kind lernt in solch einer Umgebung nicht, die eigenen Bedürfnisse über die starren Regeln der Familie zu setzen. Vielmehr lernt es, sich, seine Gedanken, Gefühle und Wünsche unterzuordnen.

Andauernde Konflikte, Streitigkeiten, Feindseligkeit, Druck und Gewalt machen Kinder anfällig für Gewalterfahrungen. Können Konflikte nicht gelöst werden, besteht die Gefahr eines Gewaltausbruchs. Gewalt wird quasi an die nächste Generation „vererbt“. Kinder, insbesondere männliche Kinder, die Gewalt am eigenen Körper erfahren haben, setzen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Gewalt im Laufe ihres Lebens ein. Verschiedene Arten von Gewalt (körperliche und sexuelle Gewalt) treten häufig in Kombination auf. Ist ein Mensch bereit, körperliche Gewalt gegenüber einem anderen Mitmenschen einzusetzen, so ist die Hemmschwelle zur sexuellen Gewalt bereits gesunken.

Häufig, sicher aber nicht ausschließlich, wird Gewalt von den männlichen Mitgliedern der Familie eingesetzt. Immer wieder stellt sich die gleiche Frage: Warum bleiben Menschen in solch einer Beziehung? Warum verlassen sie ihre Partner nicht? Die Antworten auf solche Fragen fallen schwer. Es gibt sicher Gründe. Kein Mensch bleibt ohne Grund in einer derart belastenden Situation. Es kann aber äußerst schwer sein, die Gründe nachzuvollziehen, wenn man nicht in der entsprechenden Situation ist. Beispielsweise haben die Frauen in gewalttätigen Beziehungen keine andere Art von Beziehung kennengelernt. Sie haben vielleicht in ihrem Leben gelernt, dass dies das „Beste“ ist, was sie erwarten können. Sie könnten sich finanziell oder anderweitig abhängig von ihrem Partner fühlen. Ohne ihn, so könnten sie befürchten, wären sie einsam und würden nie wieder einen Partner finden.

Ist es möglich, solch einer Gewaltspirale zu entkommen? Ja. Es ist schwer, aber es geht und es ist das Beste, was man für seine Kinder tun kann.

Der absolut notwendige Schritt vor jeder Veränderung ist das Erkennen des Problems und die bewusste Entscheidung, etwas an diesem Problem verändern zu wollen. Dies kann mit kurzfristigen Nachteilen einhergehen. Es sollte Ihnen bewusst sein, dass dies sehr, sehr anstrengend sein wird. Neue Verhaltensmuster müssen eingeübt werden. Eventuell müssen sogar einschneidende Veränderungen, wie eine Trennung von einem Partner, vollzogen werden.

Welche Übungen können Sie einsetzen?

Zu den wichtigsten Übungen gehören unseres Erachtens nach Übung 7.1 und 7.3.

7.1    Welche Erfahrungen habe ich mit Gewalt gemacht?

Ziel dieser Übung ist eine Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Gewalt in Ihrem eigenen Leben.

Mithilfe der Lebenslinie auf Übungsblatt 7.1 (vgl. Seite 59) können Sie Ihr Leben hinsichtlich besonderer Ereignisse, negativer oder positiver Art, darstellen. Die Linie beginnt bei Ihrer Geburt und ist bis zum heutigen Zeitpunkt sichtbar. Tragen Sie besondere Ereignisse mithilfe von Stichpunkten und Jahreszahlen ein. Sie können auch bildliche Darstellungen wählen.

Nachdem Sie die Lebenslinie illustriert haben, schauen Sie sich die einzelnen Ereignisse an. Haben diese etwas mit Gewalterfahrungen zu tun? Gemeint sind körperliche (z. B. Schläge), sexuelle und psychische Gewalterfahrungen (z. B. Mobbing).

Falls es Gewalterfahrungen in Ihrem Leben gab, überprüfen Sie bitte Ihre Einstellung zu dieser Gewalterfahrung. Was denken Sie heute über Ihre Erfahrung von Gewalt?

  • Ich habe es verdient.
  • Es war unfair.
  • Er/sie hätte nicht gewaltsam werden dürfen, egal was ich gemacht habe.
  • Es hat mich vor größerem Schaden bewahrt.
  • Letztendlich habe ich etwas gelernt.
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Überprüfen Sie: Kann es sein, dass Sie die gegen Sie verübte Gewalt zu erklären versuchen, auch wenn Sie Gewalt im Allgemeinen verurteilen? Die Gründe können sehr unterschiedlich sein. Möglicherweise möchten Sie den Menschen, der Gewalt ausübte, entschuldigen. Manchmal ist auch der Wunsch, sich nicht hilflos zu fühlen, so groß, dass man sich lieber selbst die Schuld gibt, als einzugestehen, dass man keinerlei Kontrolle in dieser Situation hatte.

Nun aber die zentrale Frage: Wie möchten Sie, dass Ihr Kind über solch eine Gewalterfahrung denkt?

Möchten Sie, dass Ihr Kind über Gewalt, die es erlebt, genauso denkt wie Sie?

7.2    Was ist mein Standpunkt gegenüber Gewalt?

Sie sind eingeladen, sich mit Einstellungen zu körperlicher Gewalt auseinanderzusetzen. Schauen Sie sich folgende Sätze an und überlegen Sie, welchen Sätzen Sie zustimmen oder gar nicht zustimmen.

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Seit dem Jahr 2000 ist jegliche Form von Gewalt gegenüber Kindern verboten. Früher war Gewalt gegenüber Kindern an der Tagesordnung. In der Schule gab es Schläge. Wie die Eltern ihre Kinder erzogen, war deren Sache. Manche Einstellungen mögen auch heute noch in den Köpfen von Erwachsenen festsitzen. Wollen wir Gewalt vermeiden, so müssen wir uns auch mit solchen Einstellungen auseinandersetzen.

7.3    Was mache ich, wenn mir die „Hand ausrutscht“?

Sie haben sich mit Ihren Einstellungen zu Gewalt auseinandergesetzt und sind zu dem Schluss gekommen, dass Sie gegenüber Ihren Kindern keine Gewalt einsetzen möchten. Leider kann es jedoch geschehen, dass wir auf irgendeine Weise unter Druck geraten oder uns erschrecken und uns „die Hand ausrutscht“. Es gibt Situationen, in denen uns nicht die Zeit bleibt nachzudenken und wir einen „Klapser“ oder auch eine Ohrfeige geben. Diese Situationen gibt es. Sie sollten sich nicht wiederholen und keinesfalls zur Gewohnheit werden.

Eine einmalige Situation macht uns nicht zu schlechten Eltern – sollte uns aber hellhörig und wachsam werden lassen.

Wie können Sie vorgehen, wenn „es“ Ihnen passiert?

a)   Atmen Sie tief durch. Zählen Sie bis 10. Kommen Sie innerlich etwas zur Ruhe.

b)   Schauen Sie, dass Sie aus der aktuellen Situation (Stress oder Überraschungsmoment) herauskommen.

c)   Seien Sie gnädig mit sich selbst – was hat alles dazu beigetragen, dass Sie so reagiert haben? Denken Sie an so einfache Dinge wie Hunger, Durst, Müdigkeit …

d)   Setzen Sie sich in Ruhe mit Ihrem Kind auseinander und entschuldigen Sie sich. Sie können Ihrem Kind zu verstehen geben, dass niemand geschlagen werden darf.

e)   Überlegen Sie mit etwas Abstand zur Situation, wie Sie hätten anders reagieren können:

  • Was wäre eine günstigere Reaktion gewesen?
  • Hätten Sie sich in einen anderen Raum zurückziehen können?
  • Können Sie Ihre Tage/Nachmittage/Abende so organisieren, dass Sie weniger unter Druck geraten?
  • Wie können Sie die Risikofaktoren bei sich selbst beeinflussen (eigene Müdigkeit etc.)?
  • Gibt es jemand anderen, der kurz übernehmen kann, wenn Sie nicht mehr weiterwissen?
  • Ist Ihr Kind übermüdet gewesen und können Sie solch einer Übermüdung vorbeugen?

7.4    Welche Tradition hat Gewalt in unserer Familie?

Ziel dieser Übung ist eine Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Gewalt in der Familiengeschichte.

Wissen zur familiären Gewalt

Diese Aufgabe dient der Informationssammlung. Sie werden eingeladen, die Informationen, die Sie über Gewalt in Ihrer Familie haben, zu sammeln. Bitte bedenken Sie, dass Gewalterfahrungen häufig verschwiegen werden („Ich hatte eine ganz normale und schöne Kindheit!“). Ist dies der Fall, können Sie versuchen, Informationen aus zweiter Hand zu erhalten, also z. B. statt die Großmutter zu fragen, eine Tante über die Beziehungen der Familie zu befragen. Übungsblatt 7.2 (vgl. Seite 60 f.) unterstützt Sie bei der Informationssammlung.

Folgende Fragen können hilfreich sein:

  • Mit welchen Mitgliedern meiner Familie habe ich bis heute Kontakt?
  • Welche Menschen meiner Familie haben einen großen Einfluss auf meine Familie, auch wenn sie nicht mehr anwesend sind (z. B. mein verstorbener Großvater)?
  • Welches aktuelle Wissen habe ich über die Gewalterfahrungen (Täter und Opfer) meiner Familienangehörigen? Hierzu gehören auch z. B. Kriegserfahrungen oder Mobbing außerhalb der Familie!
  • Durch welche Familienmitglieder oder enge Freunde kann ich mehr Informationen erhalten?

Übungsblatt 7.1

Datum: _____________________

Die Linie stellt Ihre Lebenslinie dar. Sie beginnt bei Ihrer Geburt und ist bis heute sichtbar. Tragen Sie besondere Erlebnisse mit Stichpunkten ein.

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Übungsblatt 7.2

Datum: _____________________

 

Wichtige Mitglieder der Familie (mit und ohne aktuellen Kontakt):

 

Mögliche Gewalterfahrungen:

Wer hat sie erlebt?

  • als Soldat im Krieg:

 

  • Schläge als „Erziehungsmethode“:

 

  • Vergewaltigung:

 

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Wer kann mir weiterhelfen? ____________________