8    Welche Rolle spielt die Fähigkeit, Konflikte zu lösen und Gefühle wahrzunehmen?

„Ich war die Älteste von vier Kindern. Meine Eltern haben sich, glaube ich, nie wirklich geliebt. Ich habe häufig mitbekommen, dass sie sich gestritten haben. Sie stritten sich, wenn sie dachten, dass wir schliefen. Mein Vater beschäftigte sich immer wieder mal mit meinen Geschwistern. Bei mir war es anders. Mit mir schimpfte er immer. Wenn etwas schiefging, dann war ich schuld. Meine Geschwister schlug er nicht, mich schon. Vor kurzem hatte ich einen heftigen Streit mit meinem Vater. Er schrie mich an und sagte, dass ich doch sowieso ein untergeschobener Bastard sei. Meine Mutter muss schon vor der Hochzeit schwanger gewesen sein – von einem anderen. Er hat es mir und ihr wohl nie verzeihen können.“

„Meine Familie war eigentlich ganz o. k. Meine Eltern haben für uns gesorgt. Wir hatten immer zu essen und zu trinken, saubere Kleidung und was man so braucht. Was es in unserer Familie nicht gab, waren große Gefühle. Ich habe es damals ja nicht anders gekannt. Als unser Nachbar mich und meine Freundin immer wieder zu einer Limonade bei sich einlud, hatte ich so ein komisches Gefühl. Irgendwie war er mir unheimlich. Meine Mutter sagte, ich spinne – also hab ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört. Kurz danach fing er an, mich zu betatschen.“

Was sollten Sie wissen?

Streitigkeiten und unterschiedliche Meinungen sind in Familien normal. Jede Familie hat ihren Konflikt. Manche dieser Streitigkeiten sind nicht lösbar, da z. B. der Ursprung in der Vergangenheit liegt und die Beteiligten nicht bereit sind, ihre Erlebnisse hinter sich zu lassen.

Die Fähigkeit, mit Meinungsverschiedenheiten und Problemen umzugehen, wird häufig „vererbt“. Eine Familie, in der Gewalt an der Tagesordnung ist, ist typischerweise auch eine Familie voller Konflikte, Streitigkeiten, Feindseligkeit und Zwang. Allerdings können auch oberflächlich gut funktionierende Familien Schwierigkeiten haben, Konflikte zu lösen. Konflikte werden dann vermieden. Ein Grund hierfür ist, dass hilfreiche Strategien fehlen, mit denen sie gelöst werden können. Kinder lernen nicht, Meinungsverschiedenheiten sinnvoll zu lösen. Lernen sie dies nicht im Laufe ihres Lebens, werden sie vermutlich später die ihnen bekannten Strategien in ihrer selbst gegründeten Familie einsetzen.

Auch das Wahrnehmen, Benennen und Ausdrücken von Gefühlen sind Fähigkeiten, die Kindern in ihrem familiären Umfeld vermittelt werden. Lernt ein Mensch dies nicht für sich selbst, so wird er es auch nicht seinem Kind beibringen können. Nimmt ein Kind seine Gefühle nicht wahr, kann es sie nicht ernst nehmen. Damit fehlt dem Kind aber auch ein wichtiges Warnsignal für mögliche unangenehme oder gefährliche Situationen.

Nehmen Menschen ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Wünsche nicht wahr, so haben sie häufig auch kein Verständnis für die Gefühle, Gedanken und Wünsche anderer. Ihnen fällt es schwer, Mitgefühl zu empfinden. Ohne Mitgefühl für das Leiden anderer kann jedoch keine wirkliche Nähe zu einem anderen Menschen entstehen. Solch eine fehlende Nähe zu einem anderen Menschen erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines sexuellen Missbrauchs zu werden.

Kindern lernen vor allem an einem Modell. Dieses Modell sind Sie und Ihr Partner.

Welche Übungen können Sie einsetzen?

Besonders wichtig sind die Übungen 8.2 und 8.3.

8.1    Wie haben Sie gelernt, Konflikte zu lösen?

Diese Übung gibt Ihnen die Möglichkeit zu überprüfen, welche Modelle Sie in Ihrem Leben hatten. Versuchen Sie sich zu erinnern. Gab es solche oder ähnliche Situationen in Ihrer Kindheit/Jugend? Wie haben Ihre Eltern/Bezugspersonen reagiert?

Sie haben in einer Klassenarbeit schlecht abgeschnitten, weil Sie nicht genügend gelernt hatten. Wie reagierten Ihre Eltern?

Ihr bestes Kleid oder eine gute Hose wurde vollständig ruiniert. Wie reagierten Ihre Eltern?

Sie gaben Widerworte und stritten mit Ihren Eltern. Wie reagierten Ihre Eltern?

Sie waren ein Teenager und kamen verspätet nach Hause. Wie reagierten Ihre Eltern?

Sie kamen mit ihrem ersten Freund nach Hause. Wie reagierten Ihre Eltern?

Es gab Streit. Wie reagierten Ihre Eltern?

Was war die schlimmste Strafe, die Sie jemals erhielten? Was waren übliche Strafen?

Wissen Sie, wie in der Familie Ihres Partners/Ihrer Partnerin Konflikte gelöst wurden?

Wissen Sie, wie in der Familie Ihres Partners/Ihrer Partnerin gestraft wurde?

8.2    Wie lösen Sie Konflikte in der Partnerschaft/Familie?

Stellen Sie sich folgende Situationen vor:

Situation A: Sie sind schon spät dran und beeilen sich, um nach Hause zu kommen. Auf dem Weg holen Sie noch Ihr Kind vom Kindergarten ab. Während Sie sich beeilen, das Essen zu kochen, beschäftigt sich das Kind im Kinderzimmer. Nun steht das Essen auf dem Tisch. Jetzt muss rasch gegessen werden, um den Termin am Nachmittag zu schaffen. Sie gehen ins Kinderzimmer und fallen aus allen Wolken:

Ihr dreijähriges Kind hat eine gesamte Wand mit Buntstiften und Fingermalfarbe bemalt und lacht Sie fröhlich an.

Was schießt Ihnen durch den Kopf? _________________

Was würden Sie am liebsten tun? ___________________

Was tun Sie? ___________________________________

Rutscht Ihnen die Hand aus? Fluchen Sie oder beschimpfen Sie Ihr Kind? Schimpfen Sie über das, was es getan hat („Oh nein, diese Sauerei muss weggemacht werden! Wie kamst du nur auf die Idee?“)? Verletzen Sie das Kind als Person? („Dir fällt aber auch immer der letzte Mist ein! Bist wohl zu häufig auf den Kopf gefallen!“).

Ganz wichtig: Unterscheiden Sie zwischen dem Verhalten und der Person des Kindes. Das Verhalten des Kindes ist nicht korrekt! Das Kind ist aber durchaus in Ordnung!

Situation B: Sie machen sich große Sorgen um Ihre 13-jährige Tochter. Sie ist immer häufiger und länger unterwegs. Sie wissen, dass sie Tagebuch schreibt. Ihre Tochter scheint sich mehr mit ihrer besten Freundin am Telefon auszutauschen als mit Ihnen. Wenn Sie es recht überdenken, wissen Sie eigentlich gar nicht mehr, was sie macht. In letzter Zeit war bei Ihnen auf beruflicher Ebene recht viel los – und sie nabelt sich ab. Sie entschließen sich, mit ihr ein ernstes Wort zu reden.

Wie würden Sie dieses Gespräch gestalten? _____________

Wo würden Sie sich mit Ihrer Tochter unterhalten wollen? _______________

Wie würden Sie beginnen? __________________________

Es ist sinnvoll, eine ruhige Minute zu erwischen. Vielleicht wäre es sogar gut, sich regelrecht mit Ihrer Tochter zu verabreden.

Fassen Sie die Situation aus Ihrer Sicht zusammen. Nicht als Vorwurf, sondern als Beschreibung der Situation (z. B. „Ich habe festgestellt, dass wir in letzter Zeit kaum miteinander geredet haben. Ich habe so viel um die Ohren gehabt und bei dir scheint auch einiges los gewesen zu sein. Ich finde es total wichtig, dass wir wissen, was bei dem anderen im Leben los ist. Mir wäre es sehr wichtig, wenn wir uns regelmäßig austauschen könnten.“). Mit 13 Jahren wird Ihre Tochter sich mehr und mehr von Ihnen abnabeln. Das ist für die Entwicklung Ihrer Tochter gut und wichtig. Eine emotionale Stütze wird sie aber weiterhin brauchen. Statt Erzieherin werden Sie zur Ratgeberin. Entsprechend ist es wichtig, auch die Position Ihrer Tochter zu verstehen. („Wie siehst du das? Ging es dir auch so?“).

Situation C: Stellen Sie sich nun folgende Reaktion vor: Ihre Tochter eröffnet Ihnen nun strahlend, dass sie verliebt ist. Eigentlich war sie gar nicht so häufig bei Ihrer Freundin. Sie dachte aber, Sie würden es ihr verbieten. Also hat sie ihren jetzigen Freund heimlich getroffen. Erstaunt fragen Sie nach: „Wer ist er?“ Stolz berichtet ihre Tochter, ein 19-jähriger junger Mann der Abschlussklasse interessiere sich für sie.

Was geht Ihnen durch den Kopf? ___________________

Was ist Ihre erste Reaktion? _____________________

Was wollen Sie von Ihrer Tochter wissen? __________

8.3    Wie haben Sie gelernt, mit Gefühlen umzugehen?

Die Fähigkeit zum Mitgefühl ist ein wichtiger Schutzfaktor vor sexuellem Missbrauch. Voraussetzung für Mitgefühl ist jedoch die Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, zu erkennen und auszudrücken. Kinder lernen ihre Gefühle wahrzunehmen, indem diese von ihren Eltern benannt und als passend befunden werden. Wie haben Ihre Eltern Sie in der Wahrnehmung Ihrer Gefühle unterstützt?

Im Folgenden sind Beispielsituationen aufgeführt. Wenn diese in Ihrem Leben nicht so stattgefunden haben, stellen Sie sich bitte vor, wie Ihre Eltern (oder Ihre wichtigen Bezugspersonen) auf solch eine Situation reagiert hätten.

a)   Sie sind gestürzt und haben sich verletzt. Es schmerzt.

b)   Sie sind wütend. Jemand hat Ihr Spielzeug weggenommen.

c)   Sie hatten einen Alptraum, wachen auf und weinen vor Angst.

d)   Sie sind das erste Mal verliebt.

e)   Sie sind plötzlich allein, sehen Ihre Mutter nicht mehr und haben Angst.

Der Gesichtsausdruck beim Erleben einer der sogenannten Grundemotionen ist bei allen Menschen übereinstimmend. Wir können also von dem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung auf Gefühle wie Angst, Ekel, Wut, Freude schließen. Schon im Kleinkindalter beginnen Kinder Gefühle zu entdecken – und ihre Eltern mit ihnen. Erinnern Sie sich an die ersten Wutanfälle? Ihr Kind empfand in diesem Moment Wut, wusste jedoch nicht, wie es sie ausdrücken sollte. Im Kindergartenalter ergibt sich ein großer Sprung in der sozialen Entwicklung. Gefühle werden differenzierter wahrgenommen. Ihre Hilfe ist im Laufe dieser Entwicklung von unschätzbarer Bedeutung.

Idealerweise beobachten Eltern die Reaktionen ihrer Schützlinge auf ein Ereignis. Aufgrund des Gesichtsausdrucks und der Körperhaltung (und nicht zuletzt der Situation) können sie Rückschlüsse auf zumindest grundlegende Gefühle ziehen. Sie würden idealerweise nun das Gefühl des Kindes benennen und bezogen auf die Situation wertschätzen.

Beispiel: „Oh je, du hast dir weh getan. Komm her, brauchst du einen Kuss, damit es besser wird?“

Versuchen Sie es nun: Was könnte eine gute Reaktion auf die Situationen sein?

a)   Ihr Kind ist wütend. Jemand hat sein Spielzeug weggenommen.

b)   Ihr Kind hatte einen Alptraum. Es wacht auf und weint vor Angst.

c)   Ihr Kind ist das erste Mal verliebt.

d)   Ihr Kind ist plötzlich allein im Supermarkt oder auf dem Spielplatz und sieht Sie nicht mehr.

Mögliche Reaktionen: Wenn Sie Ihre Überlegungen abgeschlossen haben, finden Sie hier ein paar Vorschläge.

1.    „Bist du wütend, dass dir __________ dein Spielzeug fortgenommen hat? Das würde mich wohl auch ärgern.“ (Der nächste Teil ist abhängig von Ihrer pädagogischen Einstellung.)

2.    „Hallo Süße. Du hattest einen Alptraum. Hast du Angst? Vor was hast du Angst? Alpträume machen mir auch Angst.“

3.    „Du scheinst sehr glücklich zu sein. Bist du verliebt? Das kann ein sehr schönes Gefühl sein.“

4.    „Du warst plötzlich allein? Du wusstest nicht mehr, wo ich war. Hast du Angst bekommen? Es ist jetzt alles in Ordnung. Ich bin da.“)