Kapitel 20

„Two more days, Mr. Hillings“, sagt ein Arzt, als er in mein Zimmer kommt und meinen Zustand prüft. Noch zwei Tage muss ich hierbleiben und dann kann ich endlich nach Hause. Alva ist derweil wieder nach Schweden, nach Laholm zurückgekehrt. Sie war so lange bei mir in England, bis ich aufgewacht bin. Gerade klopft es an der Türe und eine Krankenschwester fragt, ob sie „Lea Aurelius“ durchstellen könne. Alva hat mich schon nach ihr gefragt, aber ich weiß nicht, um wen es sich handelt.

„Who is she?“, frage ich und möchte wissen, was diese Person mit mir zu tun hat.

Die Schwester kommt erneut herein und nennt mir wieder denselben Namen. Lea Aurelius. Ich kenne sie nicht und weiß auch nicht, warum ich sie jetzt in meinem Zustand sprechen sollte.

„I do not know her“, sage ich der Schwester und lehne das Telefonat ab.

So weit geht es mir gut. Ich bin wieder bei Kräften und schaffe es, nach Hause zu gehen. Sarah wird sich bestimmt freuen. Doch irgendwie habe ich ein seltsames Gefühl in mir und frage mich, warum sie mich die letzten zwei Tage nicht mehr angerufen hat. Auch ich habe sie nicht mehr angerufen, weil mir das Gespräch mit ihr sehr merkwürdig vorkam. Vielleicht hat sie in den letzten zwei Monaten einiges durchgemacht. Das muss ich verstehen. Aber jetzt wird alles wieder gut werden.

Bevor ich mich in das Taxi hineinbegebe, besorge ich noch schnell einen Strauß Blumen für Sarah. Ich bin mir sicher, sie wird sehr überrascht sein. Bei unserer Wohnung angekommen, wundere ich mich darüber, dass ich keinen Schlüssel bei mir habe. Sarah scheint nicht da zu sein, weshalb mir nichts anderes übrig bleibt, als im Flur auf sie zu warten.

Nach einer halben Ewigkeit höre ich das Schloss der unteren Eingangstüre aufgehen. Das muss Sarah sein, ich erkenne sie genau an der Art, wie sie lacht. Sie hat bestimmt eine Freundin mit dabei. Oder doch nicht? Wenn, dann hat diese Freundin eine sehr tiefe Stimme.

„Oh, Noah“, sagt Sarah erschrocken, als sie mit Katner um die Ecke kommt und ich mit einem fast verwelkten Blumenstrauß auf der Treppe zusammengekauert auf sie warte.

„Sarah?“, sage ich verdutzt und bin von diesem Anblick verwirrt – Sarah mit Katner, Arm in Arm? Ich schaue beide abwechselnd an und verstehe gerade die Welt nicht mehr. Plötzlich reißt sich Sarah von Katner los und möchte mich begrüßen.

„Komm her, Noah. Wie schön, dass du da bist“, sagt sie und nimmt mich in den Arm. Derweil schaue ich Katner prüfend an, der sich schuldbewusst abwendet.

„Was ist mit dir, Katner?“, frage ich.

„Mit mir? Ist alles gut. Dir geht es wieder besser, wie ich sehe“, sagt Katner. Ich wundere mich über seine weiche Ausdrucksweise. Normalerweise würde er jetzt im Büro sitzen und niemals mit Sarah Arm in Arm in unsere Wohnung kommen. Außerdem würde es ihn nicht wirklich interessieren, wie es mir geht. Hauptsache, ich komme wieder pünktlich und zuverlässig zur Arbeit. Immer noch habe ich Sarah im Arm und Katner wird sichtlich nervös. Irgendwas geht hier vor sich. Man könnte glatt meinen, dass die zwei etwas miteinander haben. Doch dieser Gedanke ist so absurd, dass es was anderes sein muss.

„Komm, wir gehen erst einmal in die Wohnung“, schlägt Sarah vor.

„Ja, wohin denn sonst?“, sage ich irritiert.

„Ich gehe mal lieber“, sagt Katner.

„Wieso?“, frage ich und nehme ihn misstrauisch unter die Lupe.

„Du bist doch gerade eben gekommen. Gehst du jetzt wegen mir?“

„Nein, ich …“

„Also, dann komm mit rein“, sage ich und möchte herausbekommen, was er im Schilde führt.

„Oh, sind die etwa für mich?“, fragt Sarah.

„Für Katner bestimmt nicht“, sage ich und kann ihr Verhalten einfach nicht verstehen. Ich fühle mich wie ein Fremder, der zufällig eine Freundin besucht.

„Was ist mit dir los, Sarah?“, frage ich.

„Nichts. Bei mir ist alles gut. Ich bin ein wenig überrascht, aber ich freue mich.“

„Überrascht?“, frage ich zweifelnd und bin mir nicht mehr sicher, ob ich ihr den Blumenstrauß überhaupt übergeben soll. Seit ich sie gesehen habe, hat sie mich nicht einmal geküsst. Das ist doch nicht normal, nachdem ich über zwei Monate nicht mehr hier war. Dann küsse ich sie eben.

„Noah?“, sagt Sarah erschrocken, als ich sie küsse. Irritiert trete ich zurück und Katner schaut mich wütend an.

„Darf ich meine Frau nicht mehr küssen oder was?“, frage ich und finde dieses komische Versteckspiel allmählich nicht mehr lustig.

“Was soll das, Sarah? Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen und du tust so, als wären wir Fremde. Und was macht Katner hier überhaupt? Und wieso schaust du mich so komisch an, wenn ich meine Frau küsse, Katner?“, schreie ich beide an.

„Deine Frau?“, fragt Katner sichtlich berührt.

„Du bist doch …“

„Es reicht“, wirft Sarah ein.

„Es ist jetzt besser, wenn du gehst“, sagt sie zu Katner.

„Wie bitte?“, fragt er ungläubig.

„Ja, Noah ist wieder hier und er braucht erst einmal Ruhe.“

„Und wie lange soll er hier bleiben?“, fragt er.

„Was?“, sage ich und könnte Katner an die Gurgel springen. „Du gehst jetzt“, befiehlt Sarah.

„Ich soll gehen und er bleibt? Was ist das jetzt?“, fragt er. „Sarah, was ist hier los?“, frage ich und bin allmählich verzweifelt.

„Nichts ist los. Ich erkläre dir alles. Du solltest jetzt aber gehen, Katner“, sagt sie erneut, bis Katner schließlich wutentbrannt die Wohnung verlässt.

Als wir alleine in der Wohnung sind, tritt Sarah vor mich hin, schaut mir tief in die Augen und küsst mich.

„Du hast mir so gefehlt, Noah.“

„Was sollte das gerade eben, Sarah? Was ist hier los?“

„Katner … also er …“

„Ja? Was ist mit ihm und was hat er mit dir zu tun?“, frage ich. „Er ist in letzter Zeit etwas durch den Wind.“

„Katner? Ist er nicht immer etwas durch den Wind?“

„Ja, aber dieses Mal ging es ihm nicht so gut. Wegen einer anderen Frau, weißt du.“

„Und dann kommt er zu dir?“, frage ich ungläubig und kann das nicht glauben, was ich soeben höre.

„Hat er dich angefasst, als ich nicht da war?“, frage ich, denn ich habe nach wie vor ein seltsames Gefühl in mir. Sarah ist mir so fremd. Irgendetwas muss vorgefallen sein. „Eigentlich wollte er zu dir, aber da du im Krankenhaus gelegen hast, suchte er Rat bei mir. So hat es sich ergeben, dass wir ab und zu etwas unternommen haben.“

„Das sieht Katner ganz und gar nicht ähnlich“, sage ich nachdrücklich und beschließe, fürs Erste diese Sache zu vergessen und mich ganz Sarah zu widmen. Auch zur Katner Company werde ich die nächsten Tage noch nicht gehen. Katner wird vorerst noch auf mich verzichten müssen, denn ich spüre, wie ich noch Zeit für mich selber brauche.

Die letzten zwei Tage waren sehr erholsam und Sarah hat sich extra frei genommen. Sie umsorgt mich, wie gewohnt, wenn es mir nicht so gut geht und bereitet jeden Morgen den Frühstückstisch vor. Aber es ist anders als vor dem Unfall. Sie vergisst manchmal, einen Teller für mich hinzustellen, oder kauft nur für sich Lebensmittel ein, so, als würde sie gar nicht an mich denken. Wir lieben uns zärtlich, ich habe das Gefühl, sogar zärtlicher als zuvor. Sarah ist sehr vorsichtig und fragt mich immer wieder, ob alles so ist, wie ich es mir wünsche. Ich glaube, sie hat große Angst um mich gehabt. Es ist ein schöner Nachmittag und vielleicht werden Sarah und ich einen großen Spaziergang machen. Plötzlich klingelt es an der Türe und Sarah schaut nach, wer es ist. Sie spricht ganz leise, aber sehr energisch und meint:

„Schon wieder du?“ Da sagt die Frau an der Türe, dass sie nicht eher gehen werde, bis sie nicht wisse, wo ich sei. Daraufhin trete ich selbst vor die Türe, um zu schauen, um wen es sich handelt. Ich sehe sie, diese junge Frau mit mittelblondem Haar und einer guten Figur. Sie hat sehr schöne, blaue Augen.

„Warum hast du dich nicht gemeldet?“, fragt sie und ich verstehe nicht, was sie meint. Wieso nicht gemeldet? Nach längerem Überlegen frage ich sie, ob wir uns kennen, und sie fragt daraufhin ganz erschrocken, wieso ich denn so etwas sagen würde, und meint, dass sie bei meiner Tante in Schweden war. Dann zeigt sie mir eine SMS, die ich ihr geschrieben haben soll. In gebrochenen Worten steht da geschrieben, dass ich sie liebe. Wer ist das nur und wieso kommt sie zu mir und versucht, mir so eine Lüge aufzutischen, während Sarah alles mit anschauen muss?

„Das ist doch deine Handynummer oder etwa nicht?“, fragt sie und ich merke, wie Sarah fast vor Wut platzt, denn richtig, es war meine Handynummer.

„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Also …“

„Ist schon gut“, unterbricht mich diese Frau plötzlich und gibt mir daraufhin ihre Nummer, noch einmal, wie sie sagt, und bittet mich, dass ich mich bei ihr melden soll. Diese Frau hat Nerven, denke ich mir, und weiß gar nicht, wie ich das alles Sarah erklären soll. Die Frau ist gegangen und ich halte den Zettel mit ihrer Nummer darauf in der Hand. Soll ich ihn wegschmeißen? Ich kenne sie doch überhaupt nicht. Plötzlich kommt Sarah auf mich zugerannt und verlangt den Zettel mit der Nummer darauf. Ihr Verhalten ist recht merkwürdig, denn ich hätte eher ein Eifersuchtsdrama erwartet, nachdem hier eine Frau aufgekreuzt ist und mich damit konfrontiert hat, dass ich ihr meine Liebe gestanden hätte. Stattdessen aber reißt mir Sarah den Zettel mit der Nummer aus der Hand. Sie zerreißt ihn und schmeißt ihn in den Müll, wortlos.

„Sarah, ich kenne diese Frau wirklich nicht.“

„Ja, ja, mach dir keine Sorgen“, sagt sie daraufhin, und ich habe das Gefühl, dass Sarah ein großes Rätsel geworden ist. „Macht es dir gar nichts aus, dass diese Frau so etwas behauptet hat?“, frage ich verwundert.

„Ach, diese Frauen rennen heutzutage doch allen Männern nach, die einen guten Job haben.“

„Aha“, sage ich daraufhin und spüre, dass da irgendetwas nicht stimmt. Auch macht mir Sarah einen Eindruck, als würde sie diese Frau gut kennen. Jedoch frage ich nicht mehr weiter und nachdem Sarah aus dem Haus gegangen ist, hole ich die Zettelstücke aus dem Müll und klebe sie zusammen. Ich kenne diese Frau zwar nicht und kann eigentlich nichts mit ihrer Nummer anfangen, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich sie vielleicht irgendwann brauchen werde.

Zufällig bin ich in der Stadt und möchte bei Katner vorbeischauen. Immerhin ist es schon eine Weile her, als ich zuletzt hier war. Es wundert mich, dass Katner noch nicht ausgeflippt ist, wo ich denn bleibe. In den zwei Monaten, wo ich nicht da war, haben sich die Menschen um mich herum irgendwie verändert.

„Hallo Katner“, sage ich, als ich sein Büro betrete.

„Hallo“, sagt er nach längerem Zögern und schaut sofort wieder in seinen Computer, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. „Hast du mich nicht vermisst?“, frage ich ihn.

„Dich vermisst? Ginge es nach mir, hättest du auch wegbleiben können“, sagt er wütend.

„Ich verstehe nicht“, sage ich äußerst irritiert.

„Was willst du hier, Noah? Du hast gekündigt und deine Frau verlassen. Und ja, Sarah und ich hatten ein Verhältnis. Aber da kommst du und …“

„Wie bitte?“, sage ich und falle beinahe aus allen Wolken. „Was hast du da gesagt?“, frage ich noch einmal und weiß nicht, ob ich nicht mehr atmen kann oder ob ich lachen soll. Das ist doch ein Scherz, gleich springt er bestimmt auf und heißt mich wieder herzlich willkommen. Doch so ist es nicht. Katner bleibt ernst und sieht mich an, als wäre ich ein Geistesgestörter.

„Willst du mich verarschen?“, fragt er plötzlich.

„Ich dich? Sag mal Katner, hast du dir diese Geschichte ausgedacht, als ich im Krankenhaus lag?“

„Was für eine Geschichte? Noah, wach auf. Du hast deine Ehe weggeschmissen und bist wegen dieser Frau namens Lea nach Venedig abgehauen. Läuft es nicht mehr so, wie du es wolltest? Ist es das? Und da denkst du, du tust einfach mal so, als wäre nie etwas passiert?“

„Sag mal, ich verstehe nichts mehr. Venedig?“

„Noah, hau ab. Ich lasse mich von dir nicht weiter verarschen. Du hast ja wieder, was du wolltest. Sarah hat mir schon klargemacht, dass es vorbei ist, also verschwinde hier, sonst …“

„Ist schon gut, Katner“, ist das Einzige, was ich sage, und verlasse kopfschüttelnd sein Büro. Als ich das Gebäude verlassen habe, beschließe ich, zum See hinunterzulaufen. Ich brauche Luft und muss verarbeiten, was mir Katner gerade alles aufgebunden hat.

Auf der Parkbank genieße ich das Vogelgezwitscher und das Quaken der Enten. Es geht ein leicht fröstelnder Wind und ich habe Angst. Ich spüre, dass etwas vor sich geht, wovon ich nichts weiß. Seit ich wieder hier bin, hat sich die Welt verändert. Meine Frau tritt mir, seit ich aus der Klinik entlassen bin, als Fremde gegenüber und mein Arbeitgeber soll mit Sarah ein Verhältnis gehabt haben. Katner? Niemals. Venedig? Was hätte ich denn dort wollen? Ich glaube Katner kein Wort. Und dennoch hat er Recht. Nun fällt mir diese Frau wieder ein, die vor unserer Türe stand und sagte, sie würde mich kennen. War es etwa die Frau, die mich im Krankenhaus unbedingt sprechen wollte? Ich finde keinen Zusammenhang und habe das Gefühl, den Faden in meinem Leben zu verlieren. Was ist bloß passiert? Sarah, Katner, diese Frau? All diese Menschen sind mir ein Rätsel. Was ist, wenn Sarah wirklich etwas mit Katner hatte, während ich im Krankenhaus lag? Eine Vorstellung, die mir absurd erscheint, aber dennoch, wenn das wahr sein sollte, dann muss ich hier weg. Wenn Sarah wirklich ein Verhältnis mit Katner hat, würde das auch erklären, warum sie plötzlich so merkwürdig ist. Kündigen brauche ich ja nicht mehr, denn, wie mir Katner gesagt hat, hätte ich ja bereits gekündigt. Das ist eine Frechheit, zuerst mir die Frau ausspannen und dann auch noch behaupten, dass ich gekündigt hätte. Doch wo soll ich hin? Nach Venedig bestimmt nicht, an den Ort, wohin ich, wie Katner behauptet hat, geflüchtet wäre. Nach Schweden zu meiner Tante möchte ich auch nicht, denn in letzter Zeit habe ich ihre Nerven schon genug strapaziert. Ich weiß es einfach noch nicht. Bevor ich mich festlege, möchte ich zuerst herausfinden, was an Katners Geschichte dran ist.

„Hallo Sarah“, sage ich, als ich ziemlich spät nach Hause komme.

„Noah, wo warst du denn?“

„Ein bisschen spazieren gehen und am See. Außerdem war ich bei Katner.“

„Katner?“, sagt sie ganz erschrocken. Ist es also wahr? Sie hat zu erschrocken reagiert.

„Ja, Katner“, sage ich noch einmal nachdrücklich.

„Wieso? Ich meine, was hat er gesagt?“, fragt sie sehr unsicher.

„Was denkst du denn, was er gesagt hat?“, frage ich misstrauisch.

„Ich weiß es nicht. Katner ist in letzter Zeit nicht gut drauf. Er erzählt wirres Zeug.“

„Ach ja? Wobei, du hast Recht, es war wirklich wirr.“

„Ja, man kann ihm nicht einmal mehr die Hälfte glauben.“

„Aber selbst wenn ich nur die eine Hälfte glauben würde, wäre es sehr fatal, was ich da gehört habe“, sage ich provozierend. „Wie? Was meinst du?“ Sarah wirkt sichtlich nervös und es ist mir klar, dass zwischen denen beiden etwas passiert sein muss.

„Hattest du eine Affäre mit Katner?“, frage ich sie gezielt. „Nein, niemals. Wie kommst du darauf? Sagt er das? Das ist nicht wahr. Ich …“

„Sarah, es ist wohl wahr. Wieso lügst du mich jetzt auch noch an?“

„Noah, es ist nicht so, wie du denkst.“

„Wie ist es dann?“, frage ich und wundere mich, warum ich so ruhig und gelassen reagiere. Wo sind nur die Gefühle für diese Frau hin?

„Es war nur etwas Kurzes“, sagt sie und ich sehe ihr an, dass sie nicht die Wahrheit spricht.

„Deshalb hast du mich kaum im Krankenhaus besucht? Und am liebsten wäre dir doch gewesen, dass ich gar nicht mehr nach Hause gekommen wäre. Du musst mir nichts erklären. Ich gehe“, sage ich fest entschlossen, als Sarah mir hinterherrennt. „Warte, ich kann nichts dafür. Immerhin hast du mich zuerst verlassen.“

„Was?“, frage ich erstaunt.

„Diese Frau, du weißt schon, vor ein paar Tagen. Wegen ihr bist du …“, dann spricht Sarah nicht mehr weiter.

„Was bin ich?“

„Nach Venedig.“

„Dann stimmt es also doch?“, frage ich erschrocken.

„Und diese Frau? Wer ist sie?“, möchte ich jetzt wissen und erinnere mich sogleich an den zusammengeklebten Zettel mit ihrer Nummer darauf.

„Du hast mich wegen ihr verlassen und irgendwann hatten ich und Katner ein Verhältnis. Aber das ist jetzt vorbei …“

„Warum weiß ich davon nichts? Was erzählt ihr mir alles nur?“, sage ich und bin so wütend, dass ich kaum meine Tränen zurückhalten kann.

„Was ist geschehen, Sarah? Ich weiß nichts mehr und habe das Gefühl, dass ich in ein Leben hineingeworfen worden bin, das gar nicht mehr das meine ist.“

„Deine Operation. Du hast einen Gedächtnisverlust. Ich habe bereits mit meinem Arzt darüber gesprochen und der hat gemeint, dass du dich irgendwann wieder erinnern wirst. Bis dahin bin ich für dich da und sobald du dich erinnerst, werden wir über alles reden. Noah, egal was war, wir haben unser Leben wieder.“

„Unser Leben? Es ist nicht mehr mein Leben. Ich weiß nicht, wo es gerade ist, aber ich werde es herausfinden.“

„Bitte, Noah, mach jetzt nicht alles kaputt. Du musst dich zuerst erinnern …“

„Ich muss überhaupt nichts. Ich möchte nicht. Ich kann das nicht. Du und Katner, was ist nur geschehen? Wieso habe ich mich von dir getrennt? Venedig? Ich halte das nicht aus“, sage ich und renne aus der Wohnung.

Im Dunkeln sitze ich auf einer Parkbank und verstehe nicht, wie mir das passieren konnte. Diese Frau muss der Schlüssel für alles sein, was passiert ist. Sie war bei meiner Tante, hat sie gesagt, weshalb ich gleich morgen früh mit Alva telefonieren werde.

„Noah, geht es dir besser?“, fragt mich Alva besorgt.

„Ja, ich meine, nein, es geht mir überhaupt nicht gut. Ich habe mich eigentlich von Sarah getrennt und sie hat eine Affäre mit Katner. Hast du das gewusst? Und ich soll auch schon längst gekündigt haben. Ach ja, und angeblich war ich in Venedig. Alva, es ist so schrecklich. Ist das alles wahr?“

„Noah, beruhige dich. Es ist wahr. Du warst bei mir und hast mir das alles erzählt. Konntest du dich an Lea erinnern?“, fragt sie mich wie damals im Krankenhaus, nachdem ich aus dem Koma erwacht bin.

„Lea, diese Frau, leider weiß ich nichts von ihr. Bitte erzähle mir, was es mit ihr auf sich hat. Ich weiß wirklich nichts mehr.“

„Hast du ihre Nummer?“, fragt sie mich.

„Ja, die habe ich.“

„Dann rufe sie an und sie wird dir erzählen, was mit euch beiden los war.“

Nun weiß ich, dass alles wahr ist, was mir Katner und Sarah erzählt haben. Ich habe die Nummer von Lea, der Frau, die scheinbar mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat. Doch solange ich mich nicht an sie erinnern kann, ist und bleibt sie eine fremde Person. Wenn ich sie liebe und mich jetzt nicht mehr erinnere, dann warte ich auf sie, bis ich sie wieder in meinem Geist finde, denn wenn ich ihr vorher begegnen würde, damit meine Gefühle für sie wieder erwachen, könnte das womöglich zur Folge haben, dass ich nie wieder dasselbe für sie empfinden werde wie zu Beginn, als alles mit uns angefangen hat. Lea, wer auch immer du bist und wo auch immer du sein magst, ich werde dich wieder finden, wenn du meine wahre Liebe bist.

„Warum tust du das, Noah? Du hast mich schon einmal verlassen. Bitte nicht schon wieder.“

„Sarah, es ist alles zu schwer für mich. Ich kann nicht so tun, als wäre nie etwas gewesen. Du kannst das, aber ich, obwohl ich mich nicht erinnere, kann das nicht.“

„Es wäre unsere zweite Chance gewesen.“

„Nein, Sarah, mein Gedächtnis spielt mir einen Streich, aber nicht mein Herz.“

Mit diesen Worten verlasse ich Sarah ein zweites Mal und fühle, dass ich mich auf eine Reise nach Hause begebe. Wo auch immer das sein mag. Mit der Nummer von Lea in meiner Jackentasche mache ich mich auf und steige in den Flieger. Weg von Sarah, weg von Katner und weit weg von Europa, einfach nur weg von allem, was einmal mit mir zu tun gehabt hat.

Wie komme ich auf Kanada? Ich weiß es nicht. War es die Stellenanzeige, die mich lockte und eine gute Position offerierte, oder war es mein Gefühl, das mich in dieses Land zerrt, um mich wiederzufinden? Wie auch immer, ich freue mich auf Vancouver.