Kapitel 8
Seit der Auseinandersetzung mit Sarah vor einigen Tagen, bin ich nicht mehr mit dem Zug gefahren. Es fühlte sich schlecht an, irgendeiner Frau hinterherzujagen, während meine Ehe den Bach hinuntergeht. Ich wollte es sein lassen, doch gestern Abend kam Sarah völlig aufgelöst nach Hause und erzählte voller Schadenfreude, dass sie diese Frau aus dem Theater erkannt und ihr richtig die Meinung gesagt hätte. Außerdem hätte sie ihre Bluse mit einem Drink versaut. Sie meinte, dass die Frau so getan hätte, als wüsste sie von nichts, aber sie, Sarah, sei auf kein einziges Wort von ihr hereingefallen. Ich bat sie darum, mir zu sagen, wo sie diese Frau gesehen hat. Daraufhin lachte sie schelmisch und sagte, ich solle sie doch selber fragen. Obwohl heute die Schlüsselübergabe für Frau Aurelius stattfindet und ich ihr das zugesagt habe, halte ich es nicht aus und muss heute noch einmal in den Zug. Wenn ich sie dann wieder nicht sehe, gebe ich es auf, im Zug nach ihr zu suchen, und werde einsehen müssen, dass es einfach ein Zufall war, ihr dort, an diesem Tag, zu dieser Uhrzeit, begegnet zu sein.
„Katner, ich weiß, dass ich dich um diesen Gefallen nicht bitten kann, aber ich habe einer Frau zugesagt, bei der Schlüsselübergabe für die Bahnhofswohnung dabei zu sein. Ich kann aber leider nicht, möchte jedoch die Dame nicht enttäuschen und würde daher gerne dich, in meinem Namen, schicken.“
„Was? Schick die Krause oder irgendjemand von der Buchhaltung zu ihr. Was habe ich mit diesem Zeug zu tun?“
„Bitte, Katner, irgendwie ist es mir wichtig. Sie scheint sehr nett zu sein und zufällig hat sie diese Wohnungsgeschichte mit mir abgewickelt. Ich habe ihren Fall übernommen. Nun möchte ich nicht irgendjemand schicken.“
„Noah, das ist das erste und letzte Mal, dass ich so was mache. Wer ist diese Frau, die einen Sonderbeauftragten für die Schlüsselübergabe braucht?“
„Aurelius, Lea Aurelius. Ach ja, bevor ich es vergesse, die Kopie ihres Personalausweises wird sie dir mitgeben. Die Schlüsselübergabe findet heute Mittag um 15 Uhr statt.“
„Wieso mache ich so etwas? Sehe ich so aus, als hätte ich nichts Besseres zu tun? Ist schon gut Noah, aber nur, weil du mein bester Mann bist.“
„Danke Katner, du hast einen gut bei mir.“
„Ja, ja“, ist das Einzige, was er leicht genervt sagt, und legt den Hörer auf.
Wieder ist es kurz vor 15 Uhr und ich sitze abermals im Zug. Vielleicht ist sie ja heute hier. Außerdem lässt es mir keine Ruhe, dass Sarah sie so niedergemacht hat. Sicherlich ist sie völlig ahnungslos, und auch wenn sie mich vielleicht schon längst vergessen hat, möchte ich mich wenigstens für diese Unannehmlichkeiten entschuldigen und ihr zumindest die Reinigung für die Bluse bezahlen. Als Sarah mir gestern ihren Überfall auf diese Frau gestanden hat, blieb mir zum einen fast das Herz stehen und zum anderen kam große Freude in mir auf, weil ich wusste, dass sie irgendwo ganz in der Nähe sein muss.
Nun bin ich die komplette Strecke durchgefahren, doch von dieser Frau gibt es keine Spur. Enttäuscht steige ich aus, um auf einem anderen Gleis den Zug zurück zu nehmen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen kann, um sie zu finden. Wenn sie mich genauso wieder hätte sehen wollen, dann wäre ihr doch diese Idee mit dem Zug auch gekommen. Diese Erkenntnis trifft mich tief und in diesem Moment habe ich das Gefühl, das Vertrauen in die Liebe zu verlieren. Mein Handy klingelt – es ist Katner.
„Hallo“, sage ich gleichgültig und bedrückt.
„Noah? Ich wollte dir nur mitteilen, dass die Schlüsselübergabe bei Königin Aurelius erfolgreich über die Bühne ging. Ich habe ihr den Schlüssel in Seide eingepackt überreicht und sie war einverstanden, meiner Wenigkeit die Ausweiskopie zu überreichen. Ich hoffe, es ist alles zu deiner vollsten Zufriedenheit geschehen.“
„Danke Katner“, entgegne ich ihm traurig.
„Alles in Ordnung bei dir?“
„Natürlich.“
„Übrigens Noah, welchen Termin du auch immer hattest, du hast etwas verpasst: Sie ist heiß“, sagt Katner und scheint voller Freude darüber zu sein, diesen Termin der Schlüsselübergabe doch wahrgenommen zu haben.
Jetzt denke ich mir, dass er Recht hat und ich bestimmt etwas verpasst habe. Sie war sehr nett und gerne hätte ich sie einmal kennengelernt. Stattdessen mache ich meine Ehe kaputt und sitze fast täglich, völlig sinnlos, in diesem Zug.
Im Büro wieder angekommen, sehe ich einen Umschlag mit den Personalien von Frau Aurelius darin. Katner hat mir den Umschlag feinsäuberlich hingelegt, mit dem Vermerk:
„Schau mal hinein, sie sieht heiß aus.“ Das ist Katner. Wenn es um Frauen geht, spielt er solange den Macho, bis er merkt, dass er nie eine Chance hat. Ich halte den Umschlag in meinen Händen und muss lächeln. Soll ich ihn wirklich aufmachen? Gerade, als ich dabei bin, den Umschlag zu öffnen, um an ihre Personalien heranzukommen, kommt Frau Krause aus der Buchhaltung in mein Zimmer hineingestürmt und meint: „Genau das wollte ich bei Ihnen abholen. Herr Katner hat mir gesagt, dass alles bei Ihnen sei. Ach ja, er lässt fragen, ob Sie sie auch heiß finden? Keine Ahnung, was er damit meint.“
Wieder schaue ich auf den geöffneten Umschlag. Um diese „heiße“ Frau, wie es Katner sagt, zu sehen, muss ich die Unterlagen aus dem Umschlag herausholen. Frau Krause schaut mir ganz gespannt zu und wartet, was als Nächstes passiert. Irgendwie ist mir diese Situation ganz unangenehm, weshalb ich den Umschlag wieder schließe. Ich gebe ihn ihr und sage, dass sie alles mitnehmen kann. Als Frau Krause sich mit den Unterlagen in den Händen umdreht und mein Büro verlassen möchte, schaut sie mich noch mal an und fragt:
„Finden Sie sie nun heiß?“ Für einen Moment bleibt mir die Sprache weg.
„Wie bitte?“, entgegne ich ihr überrascht.
„Na, Herr Katner erwartet eine Antwort. Ich soll ihm Bescheid geben, was Sie gesagt haben.“
„Sagen Sie ihm, dass sie sehr heiß ist, okay?“
„In Ordnung“, sagt Frau Krause und stürmt wieder zuverlässig und selbstbewusst davon. Ein Gefühl der Enttäuschung überwältigt mich gerade und ich weiß nicht, wie ich die folgenden Termine heute hinter mich bringen werde.
Es ist 20:23 Uhr. Neben schwierigen Terminen waren auch einige erfolgreiche dabei. Mein Tagesziel habe ich erreicht, wenn ich auch kaum bei der Sache war und ständig ein gekünsteltes Lächeln aufsetzen musste. Die Hauptsache ist, dass ich es geschafft habe, und ich bin nur noch froh, dass ich nach Hause gehen kann.
„Hallo, Sarah“, sage ich beiläufig, als ich die Wohnung betrete.
„Hallo, Schatz“, sagt Sarah.
Schatz? Gerade wird mir bewusst, das sie versucht, alles wieder so zu haben, wie es einmal war. Das konnte sie schon immer gut. Will sie etwas nicht, wird es überspielt, bis niemand mehr fragt, und dann ist alles wieder wie gehabt.
„Geht es dir gut?“, fragt sie und kommt auf mich zu.
Sie steht mir direkt gegenüber und wir schauen uns beide in die Augen.
„Ja, mir geht es gut“, antworte ich, als sie noch näher an mich herantritt, bis ihre Nasenspitze die meine berührt.
„Sarah, ich kann das …“ und dann küsst sie mich. Zuerst lasse ich es über mich ergehen und dann wird es mir unangenehm. Ich versuche mich von ihr zu lösen, doch sie muss darauf gefasst gewesen sein, denn in ihrer Hand hält sie die Fernbedienung für die Stereoanlage und drückt sofort die Playtaste. Ein Schmusesong beginnt zu spielen, sie schmiegt sich eng an mich und knöpft mein Hemd auf. Ich habe das Gefühl, als hätte ich keine Macht darüber, was hier geschieht. Das geht nicht, ich kann das nicht – nicht mehr.
„Sarah, wirklich, wir müssen …“
Doch dann meint sie: „Pst, sei ruhig, wir müssen jetzt nicht denken“, und als sie das sagt, öffnet sie mir die Hose. Ich bin nervös und unruhig, hin und her gerissen. Es fühlt sich einfach nicht mehr richtig an. Mein Herz ist nicht mehr bei ihr und trotzdem ist mein Körper willig. Ich darf ihr nichts vormachen. Während meine Gedanken ständig umherkreisen, verliere ich beinahe den Verstand, als sie mit ihrem Mund meine Fantasien in Wallung bringt. Sie hört nicht mehr damit auf und ich fühle einen Höhepunkt, den ich nicht mehr aufhalten kann. Unweigerlich schießen mir Gedanken an diese Frau in den Kopf und ich explodiere förmlich.
Als ich wieder zur Ruhe komme, blickt mir Sarah tief in die Augen.
„Es wird alles wieder gut, Noah.“
Ich schaue sie an und weiß genau, dass es nicht mehr gut werden kann. Es bricht mir fast das Herz zu sehen, wie sie um mich kämpft. Wie sie sogar bereit ist, eine Affäre, die es nicht einmal gibt, zu akzeptieren.
„Sarah, es tut mir so leid. Mein Herz ist nicht mehr bei dir.“
Plötzlich fängt sie an zu weinen.
„Hast du nicht soeben meine Liebe gespürt? Du hattest doch auch Gefühle oder etwa nicht?“
„Das war mein Körper, Sarah. Nicht mein Herz.“
„Jetzt bist du soeben auch dieser Frau fremdgegangen.“
„Nein, das bin ich nicht. Ich trage zwar diese Frau in meinem Herzen, aber unsere beiden Seelen haben sich noch nicht gefunden.“
Diese Worte haben Sarah sehr hart getroffen und trotzdem muss ich sie fragen, wo sie diese Frau gesehen hat.
„Wo, Sarah? Wo hast du sie gesehen?“
„Ihr habt euch also nicht mehr getroffen? Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch niemals wieder sehen werdet“, antwortet sie. Sie geht in das Schlafzimmer und knallt die Türe hinter sich zu. Meine Haare sind völlig durcheinander, meine Kleider vom Leib gerissen und der Höhepunkt von eben hat seine Spuren hinterlassen. Ich muss mich duschen, muss mich frei machen und muss herausfinden, mit wem Sarah am Dienstagabend unterwegs war und wohin sie gegangen sind.
Duschen ist wie Balsam für die Seele. Sarah ist noch immer nicht aus dem Schlafzimmer gekommen. Ihre Handtasche hängt über dem Stuhl und als ich hineinschaue, prüfe ich, ob es Hinweise gibt, wo sich Sarah am Dienstagabend aufgehalten hat. Deo, Lipgloss, Massageöl. Massageöl? Irgendwo muss doch ein Hinweis zu finden sein, eine Notiz oder so ähnlich. Hier ist ein abgerissener Zettel, mal sehen:
„Wenn der Vogel kräht und der Hahn piepst, und du diese Worte liest, dann solltest du schlafen gehen und dich nach dem Morgen sehnen.“ Was soll das denn? Ich suche weiter –ein Stift, noch mal ein Stift, viele Tampons und ein Taschentuch, auf dem sie ein lachendes und ein weinendes Auge gemalt hat. So kenne ich Sarah gar nicht. So wie es aussieht, ist ihr Terminkalender nicht hier. Leise öffne ich die Schlafzimmertüre. Sie schläft und hat das Dämmerlicht noch an. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich an ihren Nachttischschrank. Vorsichtig öffne ich die erste Schublade. Außer vielen bunt bemalten Herzen sehe ich nichts. Was macht sie bloß mit all diesen Herzen? Ich öffne die zweite Schublade. Sie enthält einen Stapel aus Büchern. Gerade, als ich den Stapel vorsichtig herausziehen möchte, so als würde es sich um eine geladene Pistole handeln, sehe ich an oberster Stelle ihren Terminkalender. Alle Bücher, außer dem Kalender, lege ich wieder behutsam in die Schublade und als ich sie schließe, wacht Sarah auf. Noch benommen von ihrem Schlaf, schaut sie mich halb wach an.
„Was willst du denn hier?“ fragt sie.
Mit dem Terminkalender hinter meinem Rücken schaue ich sie mit großen Augen an.
„Ich wollte …“ und dann bleiben mir die Worte weg.
Jetzt setzt sie sich aufrecht hin und schaut mich mit klaren Augen an.
„Noah, sag schon, was ist los?“
Als ich den Lichtschalter sehe, drücke ich sofort drauf. Alles ist dunkel.
„Noah, geht es dir gut?“
„Ja, ich sah dich schlafen und wollte das Licht ausschalten.“
„Noah?“, höre ich sie von Weitem sagen, als ich bereits die Schlafzimmertüre hinter mir geschlossen habe.