Kapitel 15
Gerade sind wir dabei, eine größere Wohnung für uns beide zu besichtigen. Es ist eine 3-Zimmer-Wohnung, die auf den ersten Blick einen geräumigen Eindruck macht.
„Meinst du, wir kommen uns in die Quere, Alfredo?“
„Wo denkst du hin, meine Liebste? Das ist doch gut, wenn wir uns in die Quere kommen …“, wirft Alfredo amüsiert in den Raum.
Nun bin ich in letzter Zeit so oft hin und her gezogen, und auf diesen Versuch kommt es auch nicht mehr an. Alfredos Handy klingelt und er muss dringend rangehen. Dabei fällt mir auf, dass er Deutsch spricht. Bestimmt ist es dieser Bekannte, dieser Heiling, wie er ihn nennt. Wenn er aus Deutschland kommt, dann ist es sicher interessant, wenn wir ihn einmal gemeinsam besuchen. Vielleicht wird er froh sein, wenn er etwas Unterhaltung hat.
„Das war Hilling. Mit der Wohnung klappt es so weit und …“
„Wie bitte?“, frage ich irritiert, als ich den Namen Hilling höre. „Was hast du gesagt? Hillings?“
„Ja … Nein, Heiling heißt er, glaube ich. Wieso denn?“
Für einen Moment ist mir beinahe das Herz stehengeblieben. Mittlerweile bilde ich mir schon ein, seinen Namen zu hören. Genauso, wie auf mysteriöse Weise dieses blaue Formular verschwunden ist. Was ist bloß los mit mir? Ich muss von diesem Mann loskommen.
„Ich dachte, du hättest einen Namen erwähnt, den ich von irgendwoher kenne“, sage ich, fast schon etwas gleichgültig. Alfredo schaut mir kurz tief in die Augen, so als wolle er ergründen, ob ich die Wahrheit sage. Zum Glück kann ich meine Gefühle gut überspielen.
Heute möchte ich Alfredo in der Universität, an der er Medizin studiert, besuchen und nehme deshalb den Bus. Dabei werde ich einige Orte in Venedig betrachten können, unter anderem den Markusdom in der Basilica di San Marco, die eine der größten Touristenattraktionen ist. Irgendwann möchte ich die Basilica von innen sehen, doch für heute muss es genügen, sie von außen zu betrachten. Es ist faszinierend, so viele Menschen auf einem Haufen zu sehen. Und die vielen Tauben, von denen es noch mehr gibt, als Menschen auf diesem Platz. Der Bus hält und muss an einer roten Ampel warten. Als er wieder langsam losfährt, kann ich mir die Menschen noch etwas näher betrachten. Dabei fällt mir ein Mann auf, der geradewegs zu mir in den Bus schaut. Ich bin völlig aus der Fassung, weil ich glaube, ich sehe ein Gespenst. Ein Gespenst, dessen Gesicht dem von Noah sehr ähnelt. Unmöglich und völlig absurd. Nun fahren wir langsam weiter. Lea, Lea, Lea … Du kannst nicht das Gesicht von Noah gesehen haben. Er ist weit weg und hat kein Interesse an dir, versuche ich mir ständig einzureden. Noch ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen, aber dann ist er endgültig aus meinem Gedächtnis verbannt. In Venedig wird mein Leben neu geboren, und zwar mit einem Mann an meiner Seite, der mich wirklich liebt. Ich werde mein Bestes geben, auch ihn irgendwann so lieben zu können, wie ich Noah liebe.
„Lea, es hat mich wirklich gefreut, als du mich heute besucht hast.“
„Das freut mich“, antworte ich Alfredo, als wir es uns auf dem Bett in meinem Appartement gemütlich machen. Gerade als ich heute Mittag die Universität betrat, sah ich ihn an einem Tisch in einem Aufenthaltsraum sitzen und fleißig lernen. Er wird bestimmt ein guter Arzt werden, denn er scheint sehr pflichtbewusst zu sein.
„Ich bin stolz auf dich, Alfredo.“
„Oh, vielen Dank. Aber worauf bist du stolz?“, fragt er.
„Darauf, was du studierst und mit welchem Ehrgeiz du das tust.“
„Das freut mich, dass dir das gefällt. Weißt du, ich möchte doch für unsere Familie sorgen können.“
„Unsere Familie?“
„Ja, für dich und unsere Kinder später einmal. Aber selbst wenn wir keine Kinder haben sollten, dann sorge ich eben für unsere ganz kleine Familie – für uns zwei.“
Er ist einfach ein Traummann. Wieso stehen die Traummänner immer bei mir Schlange? Und wieso renne ich aber den Idioten nach?
„Meinst du, ich verdiene zu wenig Geld mit meiner Kunst?“, frage ich neckisch.
„Mein Schatz, egal wie viel du verdienst, ein Mann muss für die Familie sorgen können.“
„Wenn du meinst“, sage ich und muss heimlich lächeln. „Heiling möchte die Wohnung übrigens haben. Das heißt, es steht uns nichts mehr im Wege, die 3-Zimmer-Wohnung zu nehmen.“
„Gut, wann geht es los?“ frage ich.
„Theoretisch morgen schon. Ich werde morgen zu Heiling fahren und ihm sagen, dass er sofort einziehen kann.“
„Vielleicht kann ich dir morgen bei dem Umzug helfen. Ob ich Zeit haben werde, weiß ich allerdings noch nicht, denn ich möchte mich in verschiedenen Galerien kundig machen, ob sie Interesse an meinen Gemälden haben.“
„Schön, Lea. Falls es morgen nicht klappt, wird mir Heiling sicherlich helfen.“
„Wie lautet denn sein Vorname?“
„Er hat einen komischen französischen Namen: Noir. Komisch, oder? Soviel ich weiß, heißt ‚Noir‘ Schwarz.“
„Er heißt ‚Noir‘? Wirklich seltsam“, sage ich und amüsiere mich sehr. Jetzt bemerke ich, dass der Name so ähnlich wie Noah klingt. Und auch der Nachname, Heiling, ähnelt dem von Noah sehr. Noah Hillings – Noir Heiling. Wirklich verrückt, wie das Leben manchmal spielt. „Diesen Noir Heiling muss ich wirklich mal treffen“, sage ich Alfredo, der mir zulächelt.
„Überraschung“, sagt Alfredo und verdeckt mir mit seinen Händen die Augen, als ich gerade an einem weiteren Gemälde arbeite.
„Alfredo, das ist wirklich eine Überraschung.“
„Es hat alles geklappt, mein Schatz.“
„Wie meinst du?“, frage ich.
„Mit der Wohnung. Noir nimmt sie und ist sogar schon eingezogen. Er hat mir geholfen, noch ein paar Möbel in den Bustransporter zu laden und in die neue Wohnung zu bringen.“
„Das freut mich Alfredo. Und entschuldige, dass ich heute nicht helfen konnte. Stell dir vor, ich war in der ‚Galleria d’Arte Moderna‘ und sie werden sich Zeit dafür nehmen, meine Gemälde näher in Augenschein zu nehmen. Ist das nicht toll?“
„Das ist fantastisch, Lea Ariel. Und dass du heute nicht mithelfen konntest, ist kein Problem. Lea, meine Frau muss nicht schuften.“
„Du bist süß, Alfredo.“
„Morgen können wir einziehen.“
„Was, morgen schon? Wow, das ging wirklich rasant.“
„Und wann heiraten wir?“
Als er mich das fragt, muss ich lachen und traue mich nicht darauf zu antworten.
„Du willst nicht antworten?“
In diesem Moment frage ich mich, was ich sagen soll. Auf der einen Seite ist Alfredo ein toller Mensch und ich glaube, eine Frau könnte es nicht besser bei ihm haben, und auf der anderen Seite ist mein Herz noch nicht bei Alfredo, denn es ist immer noch bei Noah und dieser Kerl soll es mir endlich wiedergeben, damit ich Alfredo heiraten kann. Aber was soll es, denke ich mir. Ich werde mein Herz wieder zurückerobern und freue mich dann, wenn wir verheiratet sind.
„Meinst du, dass es wirklich nicht viel zu schnell geht, Alfredo?“
„Die Freude ist zu groß, da kommt die Zeit eben nicht mit. Hast du Angst? Es wird dir bei mir gut gehen, Lea.“
„Ich weiß.“
„Warum zögerst du dann?“
„In Ordnung“, sage ich nach langem Zögern.
„In Ordnung? Das heißt, du möchtest mich heiraten?“, fragt Alfredo ungläubig.
„Hm, ja“, sage ich ihm.
„Warte einen Moment. Nein, gebe mir zehn Minuten, ich bin gleich wieder bei dir.“
Plötzlich rennt er aus dem Appartement und knallt die Türe hinter sich zu. Zehn Minuten, hat er gesagt. In diesen zehn Minuten kann ich mir noch einmal gut überlegen, ob es wirklich das Richtige ist, was ich gerade im Begriff bin zu tun. Möchte ich ihn heiraten? Als ich mich das frage, drängt sich wieder Noah stark in meine Gedanken und in mein Herz. Ich weiß, dass ich am liebsten Noah heiraten würde, aber er ist nicht für mich bestimmt. Vielleicht hat mir das Leben Alfredo geschickt, um glücklich zu werden. Mit einem lauten Geräusch geht die Türe wieder auf und Alfredo steht erneut vor mir. Hinter seinem Rücken hält er etwas versteckt. Dann geht er auf die Knie und holt eine rote Rose hervor.
„Lea Ariel Aurelius, möchtest du meine Frau werden?“, fragt er mich und seine Augen leuchten heller als der Mondschein. Das ist unglaublich, denn ich wurde so etwas noch nie gefragt. Sehr gerührt und mit Tränen in den Augen antworte ich ihm: „Ja. Ja, Alfredo, das möchte ich.“
Dann gibt er mir die Rose in die Hand und meint: „Diese Rose ist ein Zeichen der Liebe. Die Ringe, liebe Lea, werden folgen. Es werden die schönsten sein, nur für dich, und sie sollen funkeln, so wie dein Herz.“
„Du bist unendlich romantisch, Alfredo.“
Plötzlich steht er auf, geht vor die Türe und holt ein Flasche Champagner mit zwei Gläsern.
„Unser Glück muss gefeiert werden.“
„Das finde ich auch“, sage ich, und mein Herz freut sich einerseits und andererseits blutet es.
Die Wohnung ist toll und fast sind schon alle Möbel drin. „Mach dir Gedanken, wie du diese Wohnung gerne gestalten möchtest.“
„Ich? Alfredo ich bin wirklich knapp bei Kasse, so dass …“
„Denke daran, bald bist du meine Frau und meine Frau muss sich nie Gedanken über das Geld machen. Also gestalte die Wohnung so, wie du sie möchtest.“
Ein wenig verlegen stehe ich im Raum und muss feststellen, wie ungewohnt es ist, so behandelt zu werden. Es war einfach die richtige Entscheidung, nach Venedig zu gehen. Auf dem Rückweg entscheiden wir uns, noch bei Heiling vorbeizuschauen. Vielleicht können wir ihm beim Umzug behilflich sein und außerdem würde ich ihn somit auch einmal kennenlernen.
Vor seiner Wohnung klingeln wir, doch er ist er offensichtlich nicht zu Hause.
„Vielleicht ist er ein anderes Mal da“, sage ich zu Alfredo.
„Wir gehen rein, immerhin habe ich noch ein paar Möbel in der Wohnung.“
„Aber hast du denn noch einen Schlüssel für sie?“ frage ich verwundert.
„Nein, aber ich weiß, wie man diese Türe knackt“, sagt er und zwinkert mir dabei zu. Mit einem Knall ist plötzlich die Türe offen.
„Ich hoffe, dass Heiling nicht sauer ist, wenn er sieht, dass wir in seiner Wonnung eingebrochen haben.“
„Er wird es verstehen, ganz bestimmt“, sagt er und tätschelt mir beruhigend auf die Schulter. In der Wohnung scheint noch nicht viel getan worden zu sein, denn es steht noch alles kreuz und quer herum und selbst sein Koffer ist noch nicht ausgeräumt. Als ich mich umschaue, stockt mir der Atem, als ich ein blaues Formular erblicke, welches auf dem Boden neben dem Koffer liegt. Vorsichtig hebe ich es auf und betrachte es von allen Seiten.
„Was ist das?“, fragt Alfredo.
„Ein blauer Zettel, nichts weiter“, antworte ich.
„Ach, dieser blaue Zettel, den du mal gesucht hast?“
„Ja. Er muss mir aus der Tasche gefallen sein. Aber jetzt habe ich ihn ja wieder“, sage ich nervös und stecke ihn in meine Jacke. Im Moment kann ich meine Gedanken nicht ordnen und frage mich, wer dieser Mann wohl sein mag.
Zu Hause angekommen, wähle ich die Nummer der Katner Company.
„Katner Company, was kann ich für Sie tun?“
„Hallo, hier spricht Lea Aurelius.“
„Oh je, Sie sind es schon wieder? Was wollen Sie noch?“
„Ich habe eine Frage und es wäre schön, wenn Sie mir behilflich sein würden.“
„Ich soll Ihnen behilflich sein? Sie machen Witze. Wo sind Sie überhaupt?“
„Hören Sie, ich habe eine Frage wegen einer Person. Würden Sie prüfen, ob ein Herr Noir Heiling bei Ihnen arbeitet?“
„Ein wer? Wollen Sie mich verarschen? Er heißt Noah Hillings und, ja, wie Sie sich wohl oder übel erinnern können, hat er hier gearbeitet. Die Betonung liegt auf ‚hat‘“
„Herr Katner, ich weiß, dass sich die Namen einander ähneln, aber es geht wirklich um einen Noir Heiling und nicht um Noah Hillings.“
„Und was soll dieser Noir hier machen?“
„Bitte sehen Sie nach, ob er hier arbeitet oder ob er ein Kunde von Ihnen ist.“
„Und möchten Sie sonst noch irgendwelche Daten, die Ihnen nützlich sein könnten? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Ich soll Ihnen Kundendaten herausgeben?“, und plötzlich knallt Katner den Hörer auf. Dieser Katner ist ein unangenehmer Unhold. Es ist mir natürlich bewusst, dass er keine Kundendaten herausgeben kann, aber ich möchte nur zu gerne wissen, um wen es sich bei diesem Noir handelt. Vielleicht kennt er Noah. Schon wieder dieser Noah – muss er mich denn auf Schritt und Tritt begleiten?
Noch dieses Fenster und dann sind alle glasklar. Wenn Alfredo nachher nach Hause kommt, wird er staunen, wie hier alles blitzt und blinkt. Gerade muss ich darüber nachdenken, dass wir nun verlobt sind. Ein sehr ungewöhnliches Gefühl. Irgendwie fühlt es sich richtig an, aber kaum denke ich an Noah, dann dreht es mir den Magen um bei dem Gedanken, mit Alfredo verlobt zu sein. Alles wird gut – Noah wird aus meinen Gedanken und Gefühlen verschwinden, und mein Herz wird Alfredo immer mehr gehören.
„Hallo Schatz“, ruft Alfredo, als er mit einem Strauß Blumen die Wohnung betritt.
„Hallo Alfredo, das ist aber eine Überraschung.“
„Ich hoffe, sie gefallen dir. Lea, was hältst du davon, wenn wir ein großes Fest machen?“
„Ein Fest? Hier in unserer Wohnung?“
„Leider nicht, denn all die Leute, die wir einladen müssten, passen hier nicht rein. Ein Fest aus Anlass unserer Verlobung und unseres Einzugs in die neue Wohnung.“
„Das hört sich toll an, Alfredo. Wann wollen wir feiern?“
„Nächsten Samstag. Ich habe meiner ganzen Familie schon Bescheid gegeben, sowie auch einigen Bekannten und Freunden und, ach ja, dieser Noir, du weißt schon, Hill… äh, Heiling, den könnten wir auch einladen, was denkst du?“
„In Ordnung, lade alle ein“, sage ich und habe ohnehin das Gefühl, dass ich hier nicht mitreden kann. Anna werde ich nicht einladen – noch nicht. Erst zur Hochzeit, bis dahin muss ich ihr schonend beibringen, was in Venedig gerade mit mir passiert. Kaum habe ich diesen Gedanken gedacht, klingelt schon mein Handy und, wie verhext, es ist Anna.
„Hallo Anna, gerade habe ich an dich gedacht.“
„Das ist aber schön, dass du zwischen Meer und Sonne auch mal an mich denkst. Du weißt gar nicht, was hier zurzeit los ist. Marco von Marcos Bar möchte heiraten. Stell dir das vor! Und das, obwohl er seine Freundin erst knapp zwei Monate kennt. Marco ist verrückt. Ich versuche es ihm jeden Tag auszureden, aber du kennst doch Marco. Hat er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann …“
„Er möchte heiraten? Das ist doch schön.“
„Schön? Ja, ja das ist toll. Aber hast du mir überhaupt zugehört, er kennt sie doch gar nicht.“
„Aber vielleicht weiß er eben, dass sie die Frau seines Lebens ist.“
„Hast du irgendwelche Tabletten geschluckt? Lea?“
„Ach, man weiß doch nie so genau, wie es kommt, und was sind schon zwei Monate? Manchmal kennt man sich nach Jahren noch nicht.“
„Lea, dir tut die Sonne überhaupt nicht gut, wie ich das Gefühl habe. Du steigst am besten in den Flieger und kommst hierher. Ich glaube, ich muss dich retten.“
„Vielleicht steigst du ja demnächst in den Flieger, Anna?“
„Ich? Und wohin soll ich?“
„Nach Venedig?“
„Dich besuchen? Ist alles klar bei dir? Lea, ich kenne dich doch. Raus mit der Sprache. Was hast du dieses Mal angestellt?“
„Dieses Mal habe ich was Gutes angestellt“, sage ich stolz und bin mir noch unsicher, ob ich es ihr schon sagen soll.
„Na dann, sag es mir“, fordert sie mich auf.
„Ich … Also ich werde irgendwann, es wird bestimmt noch ein paar Wochen dauern … also …“
„Also was? Willst du es mir heute noch sagen?“
„Heiraten“, platze ich heraus und plötzlich herrscht Schweigen.
„Das mit Marco soeben fand ich nicht so witzig, also falls du mich jetzt verarschen möchtest …“
„Nein, das möchte ich nicht. Alfredo …“
„Dieser Alfredo also. Lea, was machst du schon wieder?“
„Anna, reg dich jetzt bitte nicht auf. Ich weiß, es ist viel zu früh, um zu heiraten, aber wir lieben uns und wohnen sogar schon zusammen.“
„Ihr macht was? Du hast mir nichts davon erzählt.“
„Die Zeit zum Telefonieren war nie da. Ich möchte, dass du zur Hochzeit kommst.“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt, aber zuvor werden wir mindestens hundert Mal telefonieren, und wenn du dann immer noch heiraten möchtest, dann komme ich.“
„Du bist toll, Anna.“
„Ich bin nur verrückt, denn normalerweise sollte ich jetzt wirklich in den Flieger steigen und sollte dich mitnehmen.“
„Bis dann, Anna“, verabschiede ich mich von ihr und bin froh, dass ich es hinter mir habe und Anna alles gebeichtet habe. Immerhin ist sie meine beste Freundin und es liegt mir sehr viel daran, dass sie hinter mir steht.
Seit zwei Wochen bin ich von einem Laden in den anderen unterwegs. Kerzen, Partylichter, Tausende von Servietten … Was für ein Glück, dass sich Alfredo um die Tische und Bänke sowie um einen großen Pavillon gekümmert hat. Das Schlimmste war es, bis ich endlich die passenden Schuhe zu meinem schwarzen Kleid gefunden habe. Wie sehr habe ich darauf gewartet, bis es endlich Samstag ist – und jetzt ist es so weit.
„Schatz, Ariel, wie lange brauchst du noch? Die meisten Gäste sind bestimmt schon da und wir als Gastgeber haben sie noch nicht empfangen. Was machst du denn immer noch vor dem Spiegel?“
„Ich habe es gleich. Es ist doch nicht so schlimm, wenn sie noch warten müssen …“
„Nicht so schlimm? Das ist furchtbar schlimm. Bald beginnt die Musik zu spielen, ohne uns.“
„Alfredo, bitte, mach doch nicht so einen Stress.“
„Du brauchst immer viel zu lange, Lea“, wirft mir Alfredo vor und knallt die Türe hinter sich zu. Seit wir nun zusammen wohnen, geht er mir viel mehr aus dem Weg. Manchmal frage ich mich, ob er mich immer noch heiraten möchte oder ob es doch besser gewesen wäre, wenn wir mit der Verlobung noch etwas gewartet hätten. Er gesteht mir zwar jeden Tag aufs Neue, wie sehr er mich liebt, aber sein Verhalten ändert sich zunehmend. Wenn ich daran denke, ihn zu heiraten, wird es mir mehr und mehr bange. Vielleicht ist Alfredo doch nicht der Mann für mein Leben.
Noah verfolgt mich immer noch, und wenn ich daran denke, wie sehr er mich verletzt hat, muss ich Alfredo einfach aus Trotz heiraten. Oft habe ich deshalb gegenüber Alfredo ein schlechtes Gewissen, doch er scheint glücklich zu sein, auch wenn seine Wutausbrüche zunehmen.
Das ist die eine Seite, die er anfangs vor mir versteckt hielt. Alfredo ist unberechenbar und launisch und ich bin eben, was meine Vergangenheit betrifft, nicht ganz ehrlich zu ihm. So haben wir beide unser Geheimnis voreinander, aber wichtig ist doch, dass wir uns lieben. Liebe ich ihn? Wieso kann ich nicht einfach „Ja“ sagen? Wieso weiß ich genau, dass es ein Fehler ist, ihn zu heiraten? Und warum mache ich es dennoch?
Ich glaube, die Antwort zu wissen: Wenn man einmal in seinem Leben weiß, wie sich wahrhaftige Liebe anfühlt, dann weiß man auch, wie tief man fallen kann. Ich bin gefallen und möchte einfach wieder glücklich sein. Plötzlich reißt Alfredo die Türe auf. „Lea, du strapazierst meine Nerven. Immer noch sitzt du vor dem Spiegel und …“
„Ja, ja ich bin schon fertig. Lass uns gehen“, sage ich, bevor er total ausrastet. Wütend geht Alfredo zum Auto und hält mir die Türe auf.
„Sehr nett, Alfredo“, sage ich ihm, als ich einsteige. Jetzt lächelt er mir wieder zu, ist aber wütend und muss sich wieder fangen. Ziemlich zügig fahren wir an den großen Grillplatz, der ganz in der Nähe liegt, wo seine Eltern wohnen.
„Wie viele Leute werden kommen?“, frage ich ihn, als er gerade an einer Ampel steht und warten muss.
„Fünfzig. Ich weiß es nicht so genau. Die meisten bringen wieder ihre Leute mit. Aber wir haben vorgesorgt, für bis zu hundert Leute.“
„Für hundert? Ach, da fällt mir ein, hast du Noir auch eingeladen?“
„Ja, erst gestern Abend habe ich mit ihm telefoniert.“
„Hast du öfters mit ihm Kontakt?“, frage ich.
„Ab und zu. Wieso fragst du?“
„Nur so, immerhin kennt er ja noch nicht allzu viele Leute hier. Sag mal, Alfredo, kennst du eine Katner Company?“, frage ich ihn, als mir das blaue Formular einfällt.
„Wen? Katner? Diese Firma aus Deutschland?“
„Ja genau. Du kennst sie also?“
„Mittlerweile weiß ich von ihr, da ich von jedem Deutschen gefragt werde, ob ich sie kenne.“
„Wirklich? Und Noir, ist er ein Mitarbeiter von denen?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe vergessen was er beruflich macht. Aber diese Firma muss in Deutschland sehr beliebt sein oder?“
„Ich wusste bis vor kurzem auch noch nichts von ihr.“
„Noir hat mich auch schon über dieses Unternehmen ausgefragt. Ob ich es kennen würde und so weiter. Aber, Lea, ich möchte wirklich nicht über diese Firma sprechen, in Ordnung?“
„Natürlich“, erwidere ich und frage mich, was Noir mit der Katner Company zu tun hat. Bestimmt werde ich ihn heute sehen und werde dann endlich einmal mit ihm sprechen können.
Die Bänke sind voll und die Musik spielt bereits. Alfredo wirft mir einen vorwurfsvollen Blick entgegen.
„Ja, ja, ich weiß“, entgegne ich ihm und kneife ihn in den Arm. Die Gäste erblicken uns allmählich und begrüßen uns herzlich. Über die Hälfte von ihnen kenne ich noch nicht. „Piacere di conoscerti“, begrüßt mich einer von Alfredos Leuten.
„Buona sera“, antworte ich verlegen und verstehe nicht, was mir dieser Mann im braunen Anzug und glatt zurückgekämmten Haaren damit sagen wollte.
„Er meinte, schön dich kennen zu lernen“, flüstert Alfredo mir ins Ohr. Oh je, das wird ein Abend werden. Alle sprechen italienisch und ich verstehe so gut wie kein Wort. Nur in langsamen Schritten kommen wir voran, denn bei jeder Person bleiben wir stehen und begrüßen sie. Alfredo stellt mich jedem vor und sie freuen sich alle, mich kennenzulernen. Sehr herzliche Menschen, denke ich mir. Leider ist die Sprache eine große Barriere. Das ist Grund genug, um sie endlich zu erlernen.
„Alfredo, ich glaube, ich werde mich zu einem Italienisch-Kurs anmelden.“
„Gute Idee“, flüstert er mir entgegen und muss dabei lachen.
Mittlerweile ist fast eine Stunde vergangen und wir haben immer noch nicht alle begrüßt. Da fällt mir ein, dass irgendwo Noir Heiling sein muss. Der Einzige hier wahrscheinlich, mit dem ich deutsch sprechen könnte. Abgesehen von Alfredo natürlich. Alfredo hat eine deutschstämmige Großmutter und von ihr hat er von Kindesbeinen diese Sprache gelernt. Mit ihr durfte er auch nur deutsch sprechen. Er hat gemeint, jetzt wüsste er, wozu er diese Sprache lernen musste.
„Komm, wir gehen aufs Podium und ich halte eine kurze Rede“, sagt Alfredo und zerrt mich mit.
„Aber wir haben doch noch nicht alle begrüßt“, sage ich. „Dazu bräuchten wir noch eine Stunde. Die Leute möchten jetzt tanzen.“
Auf dem Podium wird es mir ganz mulmig bei den vielen Leuten. Alle starren auf uns und Alfredo spricht zu allen auf Italienisch. Leider verstehe ich kein Wort und weiß nicht, was er gerade über uns erzählt. Manchmal höre ich von den Leuten ein „Oh“ und dann wieder ein „Ah“ und plötzlich klatschen alle. Sie schauen auf mich und nicken mir bestätigend zu. Ich nicke verlegen zurück und würde am liebsten im Erdboden versinken.
„Alfredo, was sagst du ihnen?“, frage ich ihn mit zusammengekniffenen Lippen und ziehe an seinem Hemd.
„Und damit es alle hier Anwesenden verstehen, sage ich noch einmal alles auf Deutsch“, sagt Alfredo und dreht sich zu mir um.
„Liebe Lea, ich habe all meinen Leuten von uns erzählt. Von unserer Liebe, dass wir zusammen wohnen, ein Leben zusammen planen und dass wir bald heiraten werden.“
Wieder applaudieren die Leute, obwohl sie dieses Mal nichts verstanden haben.
„Wie schön“, sage ich ihm und dann küsst er mich vor allen. „Lea, würdest du mir den ersten Tanz widmen?“, fragt mich Alfredo. Ich nicke ihm zu und sogleich eröffnen wir den Tanz. Gleich darauf kommen mehrere Gäste, die zu tanzen beginnen. Es dauert nicht lange und die Bühne ist voll. Von überall her strömt ein lautes Gelächter und zufriedene Gesichter. Die Gäste tanzen, lachen und essen. Immer wieder kommt jemand zu mir und umarmt mich.
„Benvenuto nella nostra famiglia“, sagt mir ein Großonkel von Alfredo und erklärt mir, dass er mich in seiner Familie willkommen heißt. Plötzlich werde ich von einem anderen Mann gebeten, mit ihm zu tanzen. Ich schaue Alfredo an und er übergibt mich ihm einfach. Während ich mit diesem Mann tanze, verschwindet Alfredo in der Menschenmenge.
Zwei Stunden später taucht Alfredo plötzlich wieder auf und findet mich zwischen seiner Familie in der Bank sitzend und einen Sekt trinkend.
„Schön, dich wieder mal zu sehen“, sage ich ihm ein wenig wütend.
„Lea, es tut mir leid. Hast du einen Platz neben dir frei?“, fragt er und sieht ein wenig mitgenommen aus. Ich mache ihm Platz und schaue ihn verwundert an.
„Ist alles gut bei dir?“ frage ich ihn.
„Ja, natürlich“, antwortet er mir mit verkrampfter Stimme.
„Sag schon, was los ist“, fordere ich ihn auf.
„Ich habe Noir getroffen“, sagt er und blickt mir dabei tief in die Augen.
„Ist er hier? Ich habe ihn noch nicht gesehen.“
Schweigend blickt er mich an.
„Alfredo? Was möchtest du mir sagen?“
„Möchtest du mir nicht etwas über Noir sagen?“, fragt er mich plötzlich.
„Ich verstehe dich in keiner Weise. Würdest du dich etwas deutlicher ausdrücken?“
„Du kennst Noir Heiling nicht?“
„Nein, bisher hat sich keine Gelegenheit ergeben. Wo ist er denn? Ich würde ihn gerne kennenlernen.“
Plötzlich steht Alfredo auf und geht, ohne ein Wort zu sagen. Irritiert bleibe ich sitzen und habe keine Erklärung für sein Verhalten. Warum sollte ich Noir kennen? Und selbst wenn ich ihn kennen würde, wo wäre dann das Problem?
„Scusa“, sage ich und entferne mich von den Leuten am Tisch. Ich gehe in der Menge umher und halte Ausschau nach Alfredo, doch finde ich ihn nicht.
„Wo ist Alfredo?“, frage ich die anderen.
„Nessun a idea“, kommt mir achselzuckend entgegen. Sie wissen nicht, wo er ist.
Nun suche ich ihn schon eine Ewigkeit. Die Menschenmenge ist derweil immer kleiner geworden und viele sind schon nach Hause gegangen. Alfredo ist nicht mehr da und ich bin sehr aufgebracht. Wie konnte er so etwas tun? Einfach abhauen und mich hier alleine lassen. Seine Mutter bietet mir an, mich mit nach Hause zu nehmen, und fährt mich in unsere Wohnung. Als ich die Türe aufschließe, renne ich zuerst wutentbrannt ins Schlafzimmer und mache das Licht an. Doch von Alfredo gibt es keine Spur. Auch auf der Couch liegt er nicht. Die Schranktüre im Schlafzimmer steht weit offen und seine Jacke liegt auch auf dem Bett. Das heißt, er muss hier gewesen sein. Ich versuche, ihn auf dem Handy zu erreichen, doch er hat es ausgeschaltet. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Als ich die Schranktüre schließen möchte, sehe ich, dass Alfredo seine Kleider aus dem Schrank geräumt hat. Sprachlos und völlig durcheinander schaue ich zur Decke hoch und finde keine Antwort. Was ist nur mit Alfredo los? Ist er eifersüchtig, weil ich mit diesem Mann getanzt habe? Aber er hat mich ihm doch selber übergeben. Und wieso hat er von Noir gesprochen? Er wollte wissen, ob ich ihn kenne. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und völlig verzweifelt lasse ich mich ins Bett fallen. Müdigkeit überwältigt mich so stark, dass ich meine Augen nicht mehr offenhalten kann und noch bekleidet einschlafe.