Kapitel 19
„Tillbaka till Flygplasten“, sage ich und bitte den Taxifahrer, mich zurück an den Flughafen zu bringen. Unendlich erleichtert fahre ich von Noah weg, denn ich habe mit ihm gesprochen und das ist alles, was ich wollte. Beinahe hätte es nicht geklappt. Jetzt hat er meine Nummer und wenn er mir glaubt, dann wird er sich melden, egal wie lange es dauert.
„Anna, wie schön dich zu sehen.“
„Lea, es ist auch schön, dich zu sehen. Zurzeit sehe ich dich jeden zweiten Tag. An einem Tag bist du in Venedig, am nächsten bei mir. Dann bist du in Schweden und den Tag drauf wieder hier. Wie schön“, sagt sie amüsiert und schaut mich dennoch sehr neugierig an, denn sie möchte nun wissen, was in Schweden passiert ist.
„Anna, ich habe mit ihm gesprochen“, sage ich und Freudentränen laufen an meinem Gesicht herunter. Anna nimmt mich sofort in den Arm und teilt mit mir die Freude. „Habt ihr euch ausgesprochen?“, fragt sie vorsichtig.
„Ich habe ihm alles erklärt. Warum ich abgehauen bin, warum ich verlobt war und wie ich zu ihm nach Schweden gefunden habe.“
„Hat er dir geglaubt?“, fragt sie, beinahe so, als könne man meine Geschichte nur schwer glauben.
„Ob er mir geglaubt hat? Anna, das ist die Wahrheit, es war wirklich alles so.“
„Ja, ja, das weiß ich doch. Aber wie sieht er es?“
„Noah ist sehr verletzt. Zuerst wollte er mich gar nicht sehen, aber seine Tante hat sich so sehr für mich ins Zeug gelegt, dass es dann doch geklappt hat. Er war sehr skeptisch, was meine Erklärungen betraf, aber am Schluss habe ich ihm meine Nummer gegeben und ich habe ihm angesehen, dass er sich freut. Anna, er freut sich. Ich weiß es ganz genau, denn ich spüre es.“
„Das freut mich sehr für dich, Lea. Und meinst du, dass er sich melden wird?“
„Er wird, ich weiß es. Bestimmt nicht so bald, aber da muss ich jetzt durch.“
„Lea, wenn du möchtest, dann kannst du, bis sich dieses ganze Dilemma erledigt hat, bei uns wohnen“, bietet mir Anna an und ich willige ein, denn ich weiß im Moment wirklich nicht, wohin ich soll. Am liebsten möchte ich zu Noah und wäre sofort bei ihm geblieben, aber es geht jetzt nicht anders.
Mittlerweile ist schon fast eine Woche vergangen und ich habe immer noch nichts von Noah gehört. Die ersten Tage dachte ich mir, dass er noch Zeit braucht, doch mit jedem weiteren Tag, der vergeht, habe ich mehr und mehr Angst bekommen, dass er sich doch nicht mehr meldet. Ich bete jeden Tag und sitze manchmal stundenlang vor meinem Handy. Immer wenn es klingelt oder piepst, bleibt mir fast das Herz stehen, und wenn es dann doch nicht Noah ist, bin ich unendlich enttäuscht. Gestern habe ich mir sogar eine Hühnerpfanne gemacht, ganz nach dem Rezept für eine „Kycklingpanna“ nach schwedischer Art. Irgendwie muss ich ihm doch nahe sein.
Jetzt sind bereits zwei Wochen vergangen, ohne ein Zeichen von Noah. Glaubt er mir doch nicht? Oder sind seine Gefühle schon erloschen? Es ist so schmerzhaft und jetzt weiß ich, wie sich Noah gefühlt haben muss, als ich plötzlich weg war und ich ihm nicht einmal zugehört habe. Ist das die gerechte Strafe? Ich kann und will das einfach nicht glauben. Er ist meine Liebe, auch wenn ich ein Vollidiot bin und mich fast auf einen anderen Mann eingelassen hätte. Ehe ich noch darüber länger nachdenken kann, erhalte ich eine SMS. Wie gewohnt springe ich an das Handy und wie jedes Mal erhöht sich mein Puls schlagartig. Doch ich habe es mir abgewöhnt, mit einer zu großen Erwartung die Nachrichten entgegenzunehmen, da die Enttäuschung jedes Mal größer wird, wenn sie dann doch nicht von Noah sind. Ich öffne die Nachricht, deren Absender eine mir unbekannte Nummer ist.
„Lea, ich denke an dich. Jede Sekunde. Ich … es ist ... a ... Ic liebe di.“
Mein Herz bleibt stehen. Diese Nachricht kann nur von Noah sein, aber wieso schreibt er so wirr? Und wieso hat er nicht einmal seinen Namen dazugeschrieben? Ich muss ihn anrufen, sofort. Als ich es klingeln lasse, nimmt er nicht ab. Ich schreibe ihm zurück:
„Noah, bist du es? Ich habe deine Nachricht erhalten. Ist alles gut bei dir?“
Nach fast einer Stunde hat er immer noch nicht zurückgeschrieben.
„Noah, ich bin es noch einmal, Lea. Deine SMS wirkt irgendwie verzweifelt. Ich mache mir Sorgen und dennoch freue ich mich so sehr, von dir zu hören. P.S.: Ich liebe dich auch.“
Mittlerweile sind nach meiner letzten SMS und nach etlichen erfolglosen Anrufen einige Tage vergangen. Anna tröstet mich jeden Tag und meine Verzweiflung wird größer und größer.
„Anna, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“
„Vielleicht ist irgendetwas passiert. Immerhin hat er so komisch geschrieben“, meint Anna.
„Glaubst du? Ich werde mit Frau Imset aus Schweden Kontakt aufnehmen, vielleicht weiß sie mehr“, sage ich Anna und setze mein Vorhaben gleich in die Tat um und rufe sie an. Doch auch in Schweden nimmt niemand das Telefon ab, selbst nach Stunden, auch am Abend und sogar in der Nacht nicht. Ich versuche es zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Einzige, was mir übrig bleibt, ist Sarah noch einmal zu kontaktieren, auch wenn mir das schwerfällt, aber vielleicht weiß sie mehr.
„Hallo Sarah“, sage ich, als sie die Türe öffnet und mich mit einem bedrückten Gesichtsausdruck anschaut.
„Was willst du?“, fragt sie mich.
„Ich muss Sie, ich meine, ich muss dich sprechen.“
Mit gesenktem Kopf lässt sie mich eintreten.
„Weißt du was von Noah?“, frage ich sofort, als ich in ihrer Wohnung bin.
„Wieso?“, fragt sie.
„Weil ich nichts mehr von ihm höre. Er war in Schweden bei seiner Tante. Ich habe ihn dort besucht und …“
„Du hast ihn dort besucht?“, fragt sie mich wütend.
„Ja, aber danach habe ich nichts mehr von ihm gehört, bis ich eine SMS von ihm bekam.“
„Ich weiß nicht, was mit ihm ist“, sagt sie plötzlich und macht dabei einen ganz hinterhältigen Eindruck.
„Du weißt doch mehr, Sarah, ich sehe es dir an.“
„Du siehst es mir an? Du träumst.“
„Bitte Sarah, ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist, mit mir über Noah zu sprechen und ich würde auch nie zu dir kommen, wenn es nicht so dringend wäre.“
„Hör zu, wenn du nicht benachrichtigt wirst, was mit Noah ist, dann ist das dein Problem. Ich weiß von nichts“ ist alles, was sie sagt. Sarah weiß sicher, dass irgendetwas mit Noah geschehen sein muss, sie sagt es mir aber einfach nicht. Diese Frau ist der reinste Horror, und wenn ihre Intrigen von Anfang an nicht gewesen wären, dann wäre alles nicht so weit gekommen, wie es jetzt ist. Wortlos verlasse ich ihre Wohnung und bin zutiefst von dieser Frau enttäuscht. Zwar verstehe ich, dass es ein schreckliches Gefühl sein muss, mit der Geliebten des eigenen Mannes über diesen zu reden, aber sie sieht doch, wie Noah und ich leiden. Kann sie nicht einmal über ihren eigenen Schatten springen? Oder ist das zu viel verlangt? Jetzt fällt mir Katner ein, der mir schon letztes Mal half und mir den Tipp mit Laholm, der Stadt in Schweden, wo Noahs Tante lebt, gegeben hat.
„Katner, hallo“, sage ich, als ich völlig aus der Puste in sein Büro komme. Er hat gerade noch den Hörer in der Hand und flüstert jetzt in einem energischen Ton seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung etwas zu. Wieso flüstert er? Ist es ihm unangenehm, dass ich alles mithören kann? Ich gebe ihm ein Zeichen, dass ich vor der Türe warte. Kaum bin ich draußen, wird er lauter und scheint mit der anderen Person ein heftiges Streitgespräch zu haben. Er brüllt so laut, dass ich sogar den Namen „Sarah“ verstehe. Telefoniert er etwa mit Sarah? Jetzt knallt er den Hörer hin und stützt den Kopf in seinen Händen.
„Hallo“, sage ich noch einmal, als ich erneut eintrete.
„Ja, hallo“, sagt Katner in seinem gewohnten schroffen Ton. „Ich komme wegen Noah“, sage ich und jetzt sieht er mich schuldbewusst an.
„Wissen Sie, was mit ihm los ist?“, frage ich und er spürt meine Verzweiflung. Katner versucht, seine Fassung zu bewahren, doch bei meinem Anblick fällt ihm das sichtlich schwer.
„Worum geht es?“ fragt er und ich spüre, dass er genau weiß, worum es geht.
„Was ist mit Noah?“, sage ich noch einmal, dieses Mal jedoch eindringlicher.
„Was mit Noah ist, das weiß ich nicht“, räuspert er sich und rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
„Sie wissen es sehr wohl. Und Sie sagen mir jetzt sofort, was mit ihm los ist. Ist ihm irgendwas passiert?“, frage ich, und schon bei der Frage spüre ich, wie sich ein großer Kloß in meinem Hals aufbaut.
„Er ist ... Es geht ihm gut, glaube ich.“
„Warum sagen Sie mir nicht, was los ist?“, frage ich ihn.
Er schaut mich wieder und wieder mit diesem schuldigen und verzweifelten Blick an. Ich glaube, er ist kurz davor, es mir zu sagen, aber er steht unter einem gewaltigen Druck, wohl dem von Sarah.
„Bitte“, sage ich noch einmal.
Jetzt merke ich, wie er allmählich weich wird.
„Es ist so. Ich, also Sarah, möchte nicht …“
„Ich weiß, dass Sarah das nicht möchte, aber hören Sie, warum tun Sie das? Sie sind doch mit Sarah zusammen, oder? Was möchte sie also noch von Noah? Sagen Sie mir, was mit ihm ist.“
Katner scheint über meine Worte nachzudenken und ich weiß, dass es sich nur noch um Sekunden handeln und er mit der Wahrheit herausrücken wird. Nervös schiebt er alle Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her und kaut auf seinen Fingernägeln herum. Ich sage nichts und schaue ihn lediglich erwartungsvoll an. Er weiß, dass ich keinen Meter aus seinem Büro gehen werde, ehe er mir nicht gesagt hat, was mit Noah los ist.
„Also gut, Noah ist ... Er ist in England, er hatte einen …“
Und plötzlich knallt die Türe hinter mir auf und Sarah kommt wutentbrannt ins Zimmer gestürmt.
„Was fällt dir ein?“ fragt sie und schreit mich dabei wie ein wildes Tier an. Ehe ich ihr antworten kann, schaue ich sofort wieder zu Katner und fordere ihn auf, weiterzusprechen. Katner ist hin und her gerissen, und als er fortfahren möchte, mischt sich Sarah unweigerlich ein.
„Untersteh dich, du sagst ihr kein Wort, das geht sie nichts an und das tut ihm auch nicht gut. Du weißt es, ich habe dir alles erklärt“, sagt sie Katner, und der traut sich in keiner Weise weiterzureden.
„Hör mal Sarah, was bist du nur für ein Mensch?“, frage ich und schaue wieder zu Katner, denn der ist immer noch weich und bereit, mir alles zu sagen.
„Sarah, das können wir ihr doch sagen“, meint Katner verzweifelt.
„Du hast ihr schon viel zu viel erzählt, als du das mit seiner Tante ausgeplaudert hast. Stell dir vor, sie war sogar bei ihm in Laholm.“
Jetzt schaut er mich mit großen Augen an und ich sehe, dass er merkt, wie ernst es mir ist.
„Ja, aber das ist doch nicht schlimm. Die beiden sind halt …“
„Sind was? Also gut, sage es ihr, aber dann brauchst du mir nicht mehr unter die Augen treten. Dann ist diese Beziehung beendet“, droht Sarah und steht wie ein Zinnsoldat vor uns beiden und wartet ab, wie er sich entscheiden wird. „Ich …“, sagt Katner und schaut zwischen ihr und mir hin und her. Jetzt blickt er zu mir und meint, dass es ihm sehr leid täte, aber er nicht zwischen die Fronten geraten möchte. Traurig akzeptiere ich, was er sagt, und verlasse mit gesenktem Kopf sein Büro. Katner bleibt wie ein begossener Pudel stehen und ich merke, wie es an ihm nagt. Sarah genießt ihren Sieg derweil und lächelt vor sich hin. Selbst Katner hat so einen Menschen wie Sarah nicht verdient.
„Anna, stell dir vor, er konnte es mir nicht sagen“, erkläre ich Anna unter Tränen aufgelöst.
„Das ist ja schlimm. Wieso machen die so was mit dir?“, fragt sie.
„Ich weiß es nicht. Diese Sarah, sie lässt Noah einfach nicht los und gönnt ihm kein Glück. Es muss etwas passiert sein, so, wie sie sich verhalten haben. Nun weiß ich nur, dass er in England ist. Ich kann doch jetzt nicht nach England, er könnte dort überall sein.“
„Lea, wir müssen jetzt versuchen, weitere Informationen zu bekommen. Wir wissen, dass er jetzt in England ist und zuvor in Schweden war, und zwar in Laholm. Dort werden wir versuchen herauszubekommen, was er zuletzt getan hat.“
„Das hört sich gut an, Anna“, antworte ich ihr, noch mit meinen Tränen kämpfend.
„Ich helfe dir, wo ich kann, bis wir ihn gefunden haben.“
Anna telefoniert gerade mit der Gemeindeverwaltung in Laholm und wurde zum Glück mit einem Dolmetscher verbunden. Sie erklärt ihnen, dass es sich um Noah Hillings handelt, der bei seiner Tante, Alva Imset, aufgewachsen ist. Man kennt ihn sofort und versichert uns, dass man sich mit Alva Imset in Verbindung setzen wird. Und wenn man Näheres erfahren habe, werde man uns wieder kontaktieren und uns diese Informationen zukommen lassen.
Wochen des Wartens sind vergangen und viele Tage des größten Schmerzes in mir. Noah, was machst du nur in England, und wohin soll ich dir noch folgen, bis wir uns haben? Wieso meldet sich niemand? Derweil habe ich es selber noch viele Male bei Frau Imset versucht, jedoch jedes Mal erfolglos. Auch habe ich bei Katner noch mal angerufen, aber für ihn steht auf dem Spiel, Sarah zu verlieren. Und jede Nacht habe ich es auf Noahs Handy versucht. Ich dachte mir, vielleicht geht er wie durch ein Wunder an sein Handy. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch durchhalte, auf ihn zu warten. Plötzlich kommt Anna angerannt.
„Lea, sie haben angerufen.“
„Was?“, sage ich und bin völlig außer mir.
„Was haben sie gesagt?“, frage ich, ohne Luft zu holen.
„Dass er in Edinburgh im Hospital liege. Frau Imset war seit dem Unfall nicht mehr zu Hause.“
„Unfall?“, sage ich erschrocken.
„Sie meinte, dass es zu einem Unfall auf See gekommen sei. Noah sei ins künstliche Koma versetzt worden und jetzt, nach fast zwei Monaten, sei er wieder wach. Besuchen dürften ihn aber nur enge Familienangehörige. Lea, so sehr du ihn auch sehen möchtest, rufe zuerst im Hospital in Edinburgh an, ja?“
„Anna, das halte ich nicht aus. Ich muss sofort zu ihm.“
„Rufe zuerst dort an, bevor du umsonst nach England fliegst.“
„Gut, das mache ich“, sage ich und kann noch nicht fassen, was ich gerade erfahren habe. Noah hatte einen Unfall und war fast zwei Monate im Koma. Unglaublich. Jetzt ist mir auch klar, warum ich nie von ihm gehört habe, außer durch die SMS, die er mir geschickt hat. Oder hat er die SMS während des Unfalls geschrieben? Immerhin war sie teilweise unvollständig und ich hatte ein seltsames Gefühl in mir, als ich sie las. Auf jeden Fall liebt er mich und jetzt, wo er wieder wach ist, wird alles gut werden. Sofort rufe ich im Krankenhaus an und möchte wissen, ob ich zu ihm kann.
„One moment, please. First I have to ask Mr. Hillings if you can visit him.“
Ich warte auf die Antwort und bin mir natürlich sicher, dass er mich sehen möchte.
„Hallo?“, höre ich es am anderen Ende der Leitung.
„Yes“, sage ich zur Bestätigung.
„Mr. Hillings asks who you are?“
„What?“, sage ich empört, als mir ausgerichtet wird, dass Noah fragt, wer ich sei.
„Lea Aurelius“, sage ich nachdrücklich und wieder muss ich warten. Unglaublich. Vielleicht haben sie ihm einen falschen Namen gesagt.
„Sorry, but he does not know you.“
Ich kann das nicht glauben. Er kennt mich nicht?
„Unmöglich“, sage ich.
„What, please?“
„Impossible“, sage ich noch einmal. Daraufhin sagt mir der zuständige Arzt, dass Noah in letzter Zeit viel Besuch gehabt habe und es ihm vielleicht alles zu viel geworden sei. Er würde in einer Woche entlassen werden und wieder nach Deutschland zurückkehren.
Mit großer Enttäuschung akzeptiere ich Noahs Wunsch, kann aber dennoch nicht fassen, dass er sagt, er würde mich nicht kennen. Da steckt doch sicher wieder Sarah dahinter. Ich gebe dem Arzt meine Nummer, die er Noah geben soll, und lasse Noah ausrichten, wo ich mich gerade in Deutschland aufhalte, nämlich bei Anna, und dass er dann zu mir kommen könne. Der Arzt versichert mir, ihm alles auszurichten und ihm auch die Nummer zu geben.
Wieder eine Woche, die ich kaum überstanden habe, ist vorbei. Noah müsste bald auftauchen. Warum hat er sich nicht wenigstens einmal gemeldet? Jetzt, wo er meine Nummer hat. Ich war noch nie so verzweifelt in meinem Leben. Nun weiß ich zwar, was mit ihm passiert ist und dass er alles gut überstanden hat, aber was ist mit uns? Er hat mir doch geschrieben, dass er mich liebt. Wo ist seine Liebe plötzlich hin? Ich spüre ihn immer noch ganz tief in mir, aber sein Geist hat sich irgendwie von mir entfernt. Noah, ich vermisse dich so sehr. „Geht es dir etwas besser?“, fragt mich Anna, als sie ins Wohnzimmer kommt und mich nachdenklich auf der Couch sitzen sieht.
„Es ist alles so schlimm. Eine Woche ist rum. Wann kommt er denn?“
„Wieso rufst du nicht noch einmal im Krankenhaus an? Vielleicht dauert es doch noch länger.“
Anna hat Recht, auch wenn ich mich dort nicht mehr aufdrängen wollte, aber ich halte es einfach nicht mehr aus. So rufe ich im Krankenhaus an und möchte wissen, ob Noah Hillings immer noch auf Station ist.
Mit großer Verwunderung muss ich hören, dass er bereits gestern entlassen wurde und zurück nach Deutschland gegangen sei. Das kann ich nicht verstehen. Wieso meldet er sich nicht bei mir?
Wieder entscheide ich mich, zu Sarah zu gehen. Ich drehe mich allmählich im Kreis und verstehe die Welt nicht mehr. Sarah war bisher immer diejenige, die alles vermasselt hat. Vielleicht dieses Mal auch.
„Schon wieder du?“, fragt sie mich.
„Ich werde nicht gehen, ehe ich nicht erfahren habe, wo Noah ist.“ Plötzlich tritt Noah vor mich.
„Noah?“, sage ich erschrocken und sogleich laufen Freudentränen an meinem Gesicht herunter.
„Warum hast du dich nicht gemeldet?“, frage ich ihn und bin zugleich verdutzt, warum er bei Sarah ist. Er schaut mich an, als wäre ich eine fremde Person, und scheint nachzudenken. Was ist nur mit ihm los? Sarah blickt mich derweil siegessicher an und ich habe das Gefühl, vor einem großen Rätsel zu stehen.
„Entschuldige, kennen wir uns?“, fragt er mich.
Das ist der größte Schock für mich und ich kann das nicht glauben.
„Noah, wieso sagst du so was? Ich war bei deiner Tante in Schweden und ein paar Tage später hast du mir eine SMS geschrieben. Warte …“, sage ich und hole mein Handy, auf dem die SMS gespeichert ist, heraus.
„Hier, siehst du? Das hast du mir geschrieben.“
Als ich ihm seine SMS zeige, wo er mir seine Liebe gesteht, sucht er ungläubig nach Antworten.
„Das ist doch deine Handynummer oder etwa nicht?“, frage ich und sehe, wie Sarah mir vor Wut am liebsten an die Gurgel möchte.
„Das ist meine Handynummer, ja. Ich …“ ist alles, was er sagt, und er schaut sofort zu Sarah, die neben ihm, an seiner Seite steht. Irgendwie hat er jetzt ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen.
„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Also …“
„Ist schon gut“, unterbreche ich ihn.
„Hier ist meine Nummer, noch einmal, melde dich, hörst du?“ Achselzuckend nimmt er meine Nummer entgegen und weiß nicht, wie er sich Sarah gegenüber verhalten soll. Ich bin mir sicher, dass sie ihm nichts gesagt hat. Das ist nicht der Noah, wie ich ihn kenne, sein Zustand muss irgendwas mit seinem Unfall zu tun haben. Ich werde mich deshalb an Alva, Noahs Tante, wenden. Bestimmt weiß sie mehr über seinen Unfall.
„Hallo, Alva, hier spricht Lea. Sie kennen mich doch noch, oder?“
„Oh ja, aber natürlich. Wie geht es Ihnen?“
„Es ist alles furchtbar schlimm. Noah erkennt mich nicht mehr. Wissen Sie, ob das etwas mit seinem Unfall zu tun haben könnte?“
„Noah hat sich sehr gut erholt nach all den Verletzungen, die er erlitten hat. Es scheint allerdings, als wäre das Kapitel mit Ihnen und auch die Trennung von Sarah völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden. Ich habe mit den Ärzten darüber gesprochen und sie meinten, dass es vorübergehende Störungen im Kurzzeitgedächtnis geben kann. Noah weiß nicht, dass ich mit den Ärzten darüber gesprochen habe.“
„Vorübergehend? Das heißt, dass er sich irgendwann wieder erinnern wird?“
„Ja, irgendwann. Aber wie lange das dauert, kann niemand sagen.“
„Und weiß Sarah, dass er sich wieder erinnern wird?“
„Das weiß sie, aber mit ihr kann man darüber nicht sprechen. Sie tut so, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen.“
„Sollten wir ihn nicht daran erinnern?“
„Da es sich um kein Trauma handelt, steht es diesbezüglich nicht schlimm um ihn. Aber was soll das bringen, wenn er von nichts weiß. Stellen Sie sich vor, es würde einen Ihnen völlig fremden Mann gegenüberstehen und Ihnen sagen, dass er sie liebt. Würden Sie ihm dann sofort um den Hals fallen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber Sarah kann jetzt doch nicht so tun, als wären sie ein Paar. Das waren sie nicht mehr.“
„Ich glaube, Sarah hat sich aber genau das noch immer gewünscht, doch wenn sich Noah erinnert, wird sie einen Rückschlag erleiden.“
„Was meinen Sie, wie lange muss ich warten, bis er sich erinnert?“
„Das weiß ich nicht. Es kann morgen schon sein oder noch viele Monate dauern.“
„Vielen Dank, Alva.“
„Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit und vielleicht klappt es doch noch irgendwann mit Noah. Dann kommen sie beide mich besuchen, ja?“
„Nichts lieber als das“, sage ich und verabschiede mich von ihr.
„Was machst du jetzt? Dabei zusehen, wie die beiden ein angeblich glückliches Paar abgeben?“, fragt mich Anna.
„Es kann Monate dauern, hat Alva gesagt. Außerdem frage ich mich, wenn die beiden jetzt miteinander glücklich sind und er sich wieder an mich erinnert, er aber durch die Zeit, die die beiden seit seinem Unfall miteinander verbracht haben, sich wieder in Sarah verliebt hat, was ist dann mit mir?“
„Du solltest von der ganzen Geschichte Abstand nehmen, Lea.“
„Ich weiß. Er hat meine Nummer und kann sich jederzeit melden, falls er das überhaupt noch machen wird. Ich muss weg von hier.“
„Wo willst du dieses Mal hin?“, fragt Anna.
„Weit weg. Und ich werde erst wiederkommen, wenn Noah mir ein Zeichen gegeben hat. Sonst kann ich mir das nicht mit anschauen. Dann wird das letzte Stück Herz, das ich noch habe, völlig brechen. Ich habe eine Cousine, Deborah, die in Edmonton in Kanada lebt. Dort ist es zwar nicht so warm wie in Venedig, aber Hauptsache, ich bin weit weg.“