ACHTER TAG
Seit drei Uhr lese ich. Aus Band 10 der Frankfurter Anthologie, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. In »10. Jänner 1834« schreibt der Dichter Clemens von Brentano: »… Ach wo ist meiner Sehnsucht Braut …« Das ist so beruhigend an uns Männern, wir haben die immer gleichen Sehnsüchte, wir sind so überschaubar.
Heute sind um 4.30 Uhr erst vier Leute anwesend. Wie vier Grabsteine auf weiter Flur sehen wir aus. Was nichts an der Einzigartigkeit der Stunde ändert. Wie eine sanfte Droge entführt die Stille in einen anderen Bewusstseinszustand.
Meditieren kann wie Schreiben funktionieren. Zuerst lebt man etwas, und dann kehrt man an den Tatort – da, wo das Leben stattfand – zurück. Meditierend oder schreibend. Und während dieses Vorgangs sieht und erkennt man Details, Gefühle, Zustände, die man in der damaligen Wirklichkeit nicht wahrnahm. Weil es zu schnell ging. Oder man emotional zu geladen war.
Auffallend wieder, wie bizarr durcheinander das Bewusstsein funktioniert. Als mich vor drei Tagen die Erinnerung an jene Frau überfiel, die mit meinem Geld davonging, kam mir mit keinem Gedankensplitter eine ganz ähnliche und doch ganz andere Geschichte zu Bewusstsein. Jetzt aber, ruhig und gesammelt in der Dhamma Hall, kommt sie.
Sie ist schnell erzählt. Vor Jahren überwies ich einem Freund einen monatlichen Betrag, um sein Medizinstudium mitzufinanzieren. Wieder ohne Zinsen, nur mit der losen Vereinbarung, dass er ratenweise zurückzahlt, sobald er als niedergelassener Arzt verdient. Bernhard V., so soll er heißen, hatte über den zweiten Bildungsweg das Abitur gemacht. Mir gefiel seine Kraft, sein resoluter Entschluss, den Beruf auszuüben, den er liebte.
Alles ging seinen Weg: Staatsexamen, Arbeit in einer Klinik, Bankkredit für die Übernahme einer Großstadt-Praxis. Und irgendwann, vier Jahre später, meldete ich mich, erinnerte an unseren Deal. Vergeblich. Keine Antwort, kein Rückruf, kein Fax, keine Mail, nichts. Ich forschte nach und fand heraus, dass B. V. inzwischen zum Alkoholiker mutiert war, zuletzt nur noch voll gelaufen zur Arbeit ging, ganz zuletzt gleich blau im Sprechzimmer liegen blieb. Alles war in Promille ersoffen, der Mann, die Arbeit, die Ehe.
Vor Gericht verlor jeder. Die Banker, die anderen Freunde, die Frau, ich. Das Wrack Bernhard V. erkannte jede Schuld an und beantragte ein Insolvenzverfahren. Stattgegeben. Damit war die Sache erledigt. Mein (von mir bezahlter) Anwalt zeigte mir noch die Gläubiger-Liste, ich stand mit 11.173,96 Euro netto an letzter Stelle, ich Glückspilz.
Das Überraschendste an dem Fall war, dass ich damals keinen Groll empfand. Zumindest keinen dramatischen. Auch jetzt nicht. Goenka sprach einmal davon, dass Geduld und Vergebung leichter fallen, wenn die Tat, die Untat, aus einem Motiv heraus geschieht, das frei von Niedertracht ist. Er bestätigt damit nur, was wir alle wissen. Bernhard V. flüsterte nie »Ich liebe dich« in mein Ohr, erfand nie hinterfotzige Geschichten, denunzierte mich nie vor Gericht als einen Gewaltlüsternen. Mein Herz reagierte also »logisch«, es brandete nicht, tobte nicht. B. V. war nur ein Loser, ein Schwächling, überfordert von den Ansprüchen des Lebens. Das schon. Aber er war kein Schwein.
Ich sitze in der Dhamma Hall und keinen Schlag schneller geht mein Herz. Ja, ich wachse über mich hinaus und denke mit einem nachsichtigen Grinsen an die vermüllte Schnapsdrossel, den Ex-Doktor und Abgewirtschafteten. Zur reinen Liebe ihm gegenüber schaffe ich es immer noch nicht, aber ich würde mir wünschen, jemand erzählte ihm von Vipassana. Ich habe keine Ahnung, ob es die Lehre von Konzentration und Disziplin mit Säufern aufnimmt. Aber einen Versuch ist es wert, denn viel windiger kann B. V.s Existenz nicht werden.
Noch ein heiterer Nachsatz. Der heute Bankrotte war immer als Gutmensch unterwegs. Er konnte sich stundenlang über die Unmoral der Welt auslassen. Und über die eigene Anständigkeit. Täglich überkam ihm mehrmals »ein Gefühl von Wut und Trauer«, wenn er etwas über die Haltlosigkeit der Menschheit erfuhr. (Und da gab es einiges zu hören.) Jetzt, in der Dhamma Hall, muss ich lachen, kann es nicht mehr unterdrücken, ja: Ich genieße die Schadenfreude. Ich bin eben ein Schlechtmensch. Denn ich schaue mit Wohlwollen hin, wenn die »Anständigen« bauchlanden. Jene, die Anstand mit der Maskerade des Anstands verwechseln.
Frühstückspause, Nichtdenken und Denken machen hungrig. Heute brennt im Garten ein offenes Feuer unter einem Riesentopf, wie in einem afrikanischen Kraal. Hier kann sich jeder einen Eimer warmes Wasser holen. Zum Duschen, zum Waschen. Das Bild macht Freude, es ist archaisch einfach.
Beim Spaziergang fällt mir ein Zeitungsartikel ein, der von Verhaltensforschern berichtete, die herausfanden, wie Leute das Alter eines Fremden – im Verkehr, auf der Straße – schätzen. Erstaunlicherweise war es nicht sogleich der forschende Blick ins Gesicht, auf die Haut, nein, es war die Art, wie einer sich bewegte. Beschwingt, schlurfend, ausladend, vertippelt, behände, stur. Wie auch immer.
Das mache ich jetzt auch und denke mir bei jedem eine Zahl. Wäre das Leben jetzt nicht wunderbar, wenn ich sie alle unter diesem Vorwand ausfragen dürfte? Endlich. Nicht nach so faden Dingen wie ihrem Geburtsdatum, nein, nach ihrem Lieblingsmenschen würde ich forschen, nach ihren letzten zehn Gedanken, nach dem Traum, der nicht in Erfüllung ging. Und nach den Sehnsüchten, die noch werden sollen.
Während der Vormittagsstunden kommt es zu einem Zwischenfall. Mitten in der Meditation steigt Guruji, Mister Singh, von seinem kleinen Podest. Und fällt um. Wie ich später erfahre, plagte den 80-Jährigen ein Schwächeanfall. Da ich sofort die Augen öffne, sehe ich, wie die zwei Helfer, die gerade noch versunken wie zwei Ölgötzen meditierten, hochspringen und auf ihn zulaufen. Kein Reiben der Knie, kein Ächzen, kein Humpeln auf den ersten Metern, nein, aus dem Lotussitz in den Sprint. Ein formidables Bild von Achtsamkeit, von der Kunst, im Augenblick zu sein.
Sekunden darauf blitzt die Erinnerung an ein Interview mit John Travolta auf, das er nach dem Tod seines Sohnes Jeff gab und in dem er sich bei allen bedankte, die seiner Familie ihr Mitgefühl ausgedrückt hatten. Der Schauspieler sagte, diese Anteilnahme sei ein Hinweis auf die »inherent goodness of man«, auf die dem Menschen innewohnende Güte. Das ist ein steiler Satz, zu dessen Beweis man Millionen Beispiele vorlegen könnte. Und Millionen, in dem alles bewiesen wird, nur keine goodness.
Während ich mitverfolge, wie die beiden dem Alten auf die Beine helfen und ihn aus der Dhamma Hall zu dem nahegelegenen Häuschen führen, in dem er wohnt, rinnen mir die Tränen über das Gesicht. Ich bin eine unverbesserliche Heulsuse, ich hätte gern einen Inkontinenzbeutel für meine Augen. Um heimlich loslassen zu können. Oft ist mir die Duselei nur peinlich. Aber die einfachsten Gesten der Hilfsbereitschaft bringen mich aus der Fassung. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum. Heule ich, weil es dem Guruji schlecht geht, oder heule ich, weil andere sich rühren lassen von fremdem Leid? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass Vipassana die Bereitschaft zu fühlen erhöht. Das weiß ich.
Und weil die Ruh’ dahin ist, drängt sich noch eine Frage herein. Die gewichtigste zum Thema Buddhismus, jene, die jeden »Unerleuchteten« in den Wahnsinn treibt: Wie kann einer Mitgefühl empfinden, wenn er kein Ich hat? Wie würde jemand, dem alle Ichbezogenheit fremd ist, hier reagieren? Wie soll er den anderen spüren, wenn jede Identität, alles Seine, ihn verlassen hat? Ja, angeblich noch inniger spüren als vorher, als er noch sein Ich mit sich herumschleppte? Aller Identifikation beraubt, kann doch einer nur »gleich-gültig« bleiben. Vor jedem Elend, vor jeder Freude. Hat nicht schon Dante die »Lauen« in den siebten Kreis der Hölle verbannt? Fürs Lausein, für ihre Weigerung zu leben, zu spüren, Partei zu ergreifen?
Die Assoziationsketten hören nicht auf. Auch das hat Meditieren mit dem Vorgang des Schreibens gemeinsam: Ein Gedanke führt zum nächsten. Zu einem, der mir Augenblicke zuvor noch nicht bewusst war. Konkret: Die zwei aufspringenden Helfer und das Phänomen des Ichs, das der Buddhismus verschwinden machen will, sie katapultieren mich in eine Szene, die ich jetzt eher mit Scheu veröffentliche. Weil ich mit dem Vorwurf rechnen muss, ein Protz zu sein. Der Leser sei mit dem Hinweis beruhigt, dass ich das Soll an Feigheiten in meinem Leben bereits erfüllt habe, ich aber jetzt von einem Moment erzählen will, in dem ich nicht feig war. Und weil er, das ist entscheidend, fugenlos zu dem bisher Geschriebenen passt.
Tatort Paris, ein Café in der Nähe meiner Wohnung, abends gegen halb elf. Ich habe meinen Mac dabei und schreibe. Leute reden und lachen, ein Radio dudelt, alles normal und wie immer. Plötzlich hitzige Rufe, an der Theke schlagen der Kaffeehaus-Patron und ein Angestellter auf einen Mann ein, packen ihn links und rechts und stürmen mit dem Betrunkenen auf den fünf Meter entfernten Ausgang zu, schleudern, ja, schleudern ihn auf das Trottoir, kicken noch mit den Füßen nach, bis ihr Opfer über die Bordsteinkante rollt und dort liegen bleibt. Dann lassen sie ab und kehren zurück.
Ein Bild von ausgesuchter Brutalität. Wie die meisten hier habe ich keine Ahnung, wie es zu dem Zwischenfall kam. Alles ging blitzschnell, ohne Vorspann, ohne Entwicklung, nur Schreie, Prügel, Rauswurf, Nachtreten, der gesamte Auftritt in weniger als zehn, fünfzehn Sekunden. Ich stehe sofort auf, lasse alles zurück, auch den Computer, gehe auf den vielleicht 40-Jährigen zu, beuge mich über ihn, frage ihn, ob er aufstehen kann, er nickt, ich fasse ihn unter den Achseln und ziehe ihn hoch. Inzwischen hat sich ein Kreis von Schaulustigen gebildet. Sie schauen und sind lustig. Der Mann ist korpulent, alkoholisiert und benommen. Das Manöver des Hochhievens dauert. Und kaum steht der Dicke wieder gerade, beginnt der zweite Teil der Fehde. Der Mensch bedankt sich noch bei mir, sagt »regarde« und zieht ein Messer aus seiner rechten Jackentasche. Und stürmt zurück Richtung Café. Sicher nicht, um einen Pastis mit Erdnüssen zu bestellen, sondern um seinen Rachefeldzug anzutreten. Der mit gezückter Klinge an der Schwingtür endet, blitzschnell von seinen beiden Kontrahenten – hinter dem Glas – blockiert. Er endet endgültig, als der Kopf des Entschlossenen so heftig gegen die Scheibe knallt, dass der schwere Krieger ohnmächtig zu Boden sinkt. Minuten später fahren die Polizei und ein Krankenwagen vor.
Ich gehe zu meinem Platz, mein Mac ist noch immer da. Erst jetzt holt mich der Schreck über meinen Leichtsinn ein. Unbewacht ein solches Gerät zurücklassen ist wie 1000 Euro Cash neben der Kaffeetasse vergessen. Es wäre nicht mein erster Rechner, den einer illegal davontrug. Aber meine Freude meldet sich viel inniger, eine kleine Glückswelle durchströmt mich. Kein kleinbürgerliches Hadern hielt mich zurück, ich war nur Zen, nur Augenblick, nur Gedanke (Unrecht!), Wort (Tu was!), Aktion (Losgehen!). Ich war wie die beiden Helfer, die Momente zuvor nichts anderes taten als zu handeln. Ich wage es kaum hinzuschreiben, aber an diesem Tag in Paris hatte ich, so steht es in meinem Tagebuch, meditiert. Vorher.
Mittagspause, an den Mauern entlanggehen, die uns vor Indien schützen. Hier drin ist niemand arm, die Blumen blühen, kein Abfall verdreckt, keine Überbevölkerung wuchert, kein Verkehrschaos droht, alle beißenden Zumutungen fehlen. Man muss sich nicht wehren. Wie schön es hier ist. Und später, ich weiß es schon jetzt, werde ich noch intensiver begreifen, wie schön es hier war.
Manche von uns sitzen nun wie Gartenzwerge entlang des Wegs. In Denkerpose, in Kaputt-Pose, in Ergebenheits-Pose. Die Tage zehren. Gestern habe ich zum ersten Mal bemerkt, dass manche weder in der Zelle noch in der Dhamma Hall meditieren, sondern sich ein diskretes Plätzchen im Garten suchen und dort ihr Kissen hinlegen. Die Idee ist gut. Sich seine Freiräume genehmigen scheint ein positives Zeichen. Regeln überlisten auch. Vipassana lässt sich überall praktizieren, auch in der Sonne, auch im Schatten, überall da, wo einer bereit ist, sich und seinen Schmerz auszuhalten.
Inzwischen habe ich meinen neuen Helden entdeckt. Den Japaner. Er muss der Schmerzlose sein. Den zehrt nichts. Er verzichtet sogar auf die Pausen, wie in den Boden gemeißelt bleibt er sitzen. Länger als alle anderen. Ein Monument. Jedes Mal, wenn ich meine Gliedmaßen in andere Richtungen auslagere, blinzle ich in seine Richtung, links hinter mir. Und der Fujiyama sitzt da, wo er schon immer saß. Unverrückt, majestätisch wie ein Weltwunder. Welche Kraft lodert in dem Kerl. Schon ihn anschauen macht Mut. Oder lässt zweifeln, verzweifeln.
Um 13 Uhr wieder in der Dhamma Hall sitzen, mit Genugtuung feststellen, dass unser Guruji zurück ist. Und drei Minuten nach der Freude verfalle ich in einen Zustand, für den ein amerikanischer Psychologe vor fünfunddreißig Jahren einen genialen Namen fand: The flow, eine von Glückshormonen überbordende seelisch-körperliche Befindlichkeit. Der gebürtige Ungar mit dem grausam eckigen Namen Mihaly Csikszentmihalyi (sprich: Tschik-sent-mihaji) hat ganze Bücher darüber geschrieben. Wen dieses Glück bei einer Tätigkeit packt – sei der Mensch nun Tischler, Dichterin, Bergsteiger, Revolutionärin, Hebamme oder Vipassana-Schüler –, wird sofort wissen, dass es berauschender auf Erden nicht werden kann. Denn der Mensch hat das erreicht, was die alten Inder ein paar Tausend Jahre vor dem Universitäts-Professor eben »onepointedness« nannten, jene Einpunkt-Konzentration, dieses hemmungslose Fließen, diese schöpferische Leidenschaft, diese tausendprozentige Fokussierung der Aufmerksamkeit. Dieser Rausch hat nie mit »Erfolg« zu tun, mit Ruhm, mit Ansehen, mit tosendem Applaus. Alles geschieht im Inneren desjenigen, den dieser Taumel erwischt.
Nach siebeneinhalb Tagen, in dieser Stunde, zieht es mich in die Tiefe. Ich bin nur einverstanden, nur da, nur Hingabe, nur einer im Gleichklang von Leib und Seele. »Atmung, Herzschlag und Blutdruck sind optimal synchronisiert«, schrieb Csikszentmihalyi, »Harmonie herrscht zwischen dem limbischen System, das die Emotionen steuert, und dem kortikalen System, zuständig für Bewusstsein und Verstand.«
Es ist kein rasendes Glück, eher eine beispiellose Zufriedenheit in mir. Keiner mault, keiner kritisiert, nicht die kleinste (innere) Stimme nörgelt. Weil die Achtsamkeit so ausschließlich ist, dass kein Platz für Gegenstimmen bleibt. Ich meditiere, ich bin Meditation. Kein Widerhaken reißt an mir, nicht am Körper, nicht am Herz, nirgends im Kopf.
Wenn ich es jetzt noch schaffe, diesen Gral der Unbedingtheit mit Hilfe von Vipassana immer wieder in mein Leben jenseits des Kissens zu retten – da, wo ich schreibe, liebe, reise und mit dem vulgären Joch des Alltags konfrontiert bin –, dann fließe ich, dann habe ich die Hälfte meiner Lebensmiete schon bezahlt.
Natürlich gelingt das jedem Interessierten leichter, wenn er mit sinnlichen Tätigkeiten beschäftigt ist. Wenn seine fünf, sechs Sinne gefordert werden, und selbstverständlich kommt der Flow eher selten, wenn man mit dem Aberwitz der Existenz konfrontiert wird. Aber die Lehre Csikszentmihalyis ist ja auch keine Heilslehre, sie ist, ähnlich Vipassana, eine durch und durch gottlose Anregung, um den Quotienten an Freude und Erfüllung zu heben. Wer den Swing und den Flow besitzt, hat etwas, das – nehmen wir nur ein Beispiel – eine Couch-Potato-Niete nie haben wird. Die verzappt ihr Leben, die steht zur Verfügung, eine Niete verfügt über nichts. Sie hört keine Glückshormone, bei ihr rauscht nur der träge Abgesang eines verlorenengegebenen Lebens durch den Kartoffelleib. To flow heißt, wörtlich: fließen, strömen, fluten. To zap heißt, wörtlich: zappen, abknallen, auslöschen.
Irgendwann tauche ich wieder auf, an der Erdoberfläche, der Tiefenrausch lässt nach. Und Gedanken kommen wieder, Erinnerungen. Gut so, sie helfen, um (nochmals) etwas klarzustellen: Soll keiner auf die abseitige Idee kommen, hier einen Reiseführer ins Glück zu lesen. Dämlichere Bücher als jene, die den Leser mit »Tips for happiness« schikanieren, sind schwer zu finden. Die Schreiberlinge leben davon, dass die Tipps nicht funktionieren. Und dass noch immer die verstiegene Idee umgeht, dass des Menschen einziges Ziel das Glück sei. Vipassana (oder Csikszentmihalyis Vorschläge) soll mir die Herzmuskeln stärken. Auf dass ich das Glück und seine Schatten, die Einsamkeit, die Kälte, den Irrwitz ertrage, in vollen Zügen. Beides eben: das Glück und das Malheur. Die Aussicht auf pausenlose Seligkeit ist nicht weniger furchteinflößend als der Blick auf den trägen Sack, der glücklos sein Leben verglotzt.
Alles, was ich will, ist alles. So einfach ist es.
Vor dem Eingang der Buddha Hall, in der Bhagwan einst seine morgendlichen Reden hielt, stand ein Schild: »Leave your mind and shoes behind.« Die Schuhe ließ ich zurück, ohne Widerrede. Aber meinen Verstand nahm ich mit. Immer. Was für ein Ansinnen, mir das Denken, das Mitdenken, abspenstig zu machen. Einer spricht zu mir und ich soll hirnlos mit dem Kopf wackeln. Soll nur »fühlen«. Als ob Denken das Böse sei und Spüren das immer Wahre und Gute. Das klingt ergreifend schwachsinnig. Auch Gefühle täuschen, verführen in die Irre, haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
Ein schnelles Blättern im Geschichtsbuch könnte zum Nachdenken einladen: Die abgründigsten Schurken wurden von ihren Völkern geliebt (wenn das kein Gefühl ist) und angebetet (funktioniert auch mit einem IQ von minus 300). Und »die Liebenden« wachten hinterher aus ihren »echten und wahren« Gefühlen wieder auf. Umgeben von Leichenbergen und Trümmerhaufen. Wäre doch nicht verkehrt gewesen, wenn sie ein bisschen Hirn aktiviert hätten: bevor sie für ihre geliebten Führer schlachteten und/oder sich schlachten ließen.
Noch eine Randbemerkung zu Bhagwan (für den so mancher vor Vergötterung in Ohnmacht fiel): Auch sein Liebesmeer vertrocknete. Die Bewegung zog nach Amerika und verkam im Neoliberalismus. Bald standen dreiundneunzig Rolls Royce auf dem Parkplatz des Ashrams im Bundesstaat Oregon. Zuletzt hing der »Erleuchtete« am Lachgas, zwischen galoppierendem und unheilbarem Größenwahn schwankend, während ein Teil des »inneren Zirkels« per Mordversuch und Hetzkampagnen um seine Nachfolge kämpfte.
Da lobe ich mir den Goenka. Der hat es inzwischen auf 85 Jahre gebracht und nicht einmal, nicht ein einziges Mal, kam eine Nachricht über ihn in die Welt, die etwas anderes betraf als seine Absicht, eine Meditationstechnik namens Vipassana zu verbreiten. Gratis, beharrend, ohne Leibwächter und Chauffeure, ohne Schein und Scheinheiligkeit.
Der Rest des Nachmittags vergeht mit »Arbeit«, den gelingenden und wieder scheiternden Versuchen, mich auf den Augenblick zu konzentrieren. Ich verstehe, warum so viele vor dem Meditieren zurückschrecken. Wer es einmal probiert hat, wird noch am selben Tag begreifen, dass eine Willenskraft gefordert wird, für deren Investition so schnell keine Belohnung wartet. Sofort kommt nur die Mühsal, Gewinne werden eher später eingefahren. Aber wenn, dann sind sie nicht zu bezahlen, dann hat jeder Schmerz sich amortisiert. Für wenige Dinge in der Welt gäbe ich heute die Dividenden her, die ich dem unbeweglichen Sitzen verdanke. Und jedem, der wieder einmal nicht zufrieden mit mir ist, weil ich nicht konzentriert bin, nicht im Augenblick lebe, nicht zuhöre, weil ich eben nur rede und nicht tue, was ich rede, dem rufe ich hoch und heilig zu: »Könnte doch schlimmer sein!« Und die meisten stutzen dann, lächeln anschließend und geben mir recht. Vipassana ist keine Heldenschmiede, aber es schmiedet Werkzeuge, die das Leben »frisieren«, seine Spannweite tunen, sie ausdehnen. Damit einer abhebt und sich traut.
Irgendwann ist es wüstenstill in der Dhamma Hall. Leise wie Luft. Und irgendwo auf der Erde wird ein Kind Mund-zu-Mundbeatmet, fliegen Schwalben in den Süden, warten Millionen in den Highway-Staus, eröffnet ein Wohltäter ein Hospiz in Lesotho, lieben sich Männer und Frauen in Hotelzimmern, hassen sich Männer und Frauen in Hotelzimmern, sterben die einen an Hunger und sterben die anderen an Übergewicht, spaziert eine Schulklasse durch einen Bach in Tirol, werden in dieser Minute 35 Chinesen geboren, wollen Tausende nicht mehr leben, ringen Tausende um ihr Leben, gewinnen Wenige im Lotto und verlieren Hunderttausende alles, schleckt ein afghanischer Hund seine Ekzeme, schreibt ein Afrikaner einen Thriller und bindet sich ein Selbstmordattentäter den Dynamitgürtel um die Hüften. Und sitzen achtzehn Männer und fünf Frauen in einem halbdunklen Raum und meditieren. Lautlos wie ein Gedanke. Weite, unfassbare Welt.
19 Uhr, day eight discourse. Zuerst hebt Goenka wieder zur Bergpredigt an, wiederholt mit der Geduld eines Unerschöpflichen, dass das Training von Vipassana die innere »Balance« schaffen soll. Keine Gier, keine Wut und keine Sehnsucht sollen uns davontragen, in keine Richtung soll das Herz ausschlagen.
Das fängt mich auch heute nicht ein. Ich bin kein Unerschöpflicher, bin auch am achten Tag nur Mensch, nur weißer Mann, nur einer, der nicht gut werden kann, nur besser. Wenn ich Glück habe und meine letzten Reserven mobilisiere. So wie ich »Gebrauchslyrik« lese, die ich im konkreten Leben gebrauchen kann, so will ich Reden hören, die mich nicht niederschmettern mit ihren Ansprüchen, sondern alltagstauglich machen.
Aber dann kommt ein Satz, der wieder nach Wirklichkeit klingt: »Manchmal ist es notwendig, entschieden zu handeln«, so Goenka, »denn man hat das Problem erklärt, beharrlich, höflich, mit einem Lächeln. Doch der andere reagiert nicht.« Und der Friedsame wächst über sich hinaus, fügt tatsächlich an: »So wird klar, dass der andere nur harte Worte, nur hartes Handeln versteht. Deshalb ist hartes verbales und physisches Vorgehen notwendig.« Natürlich geht es nicht in erster Linie um verbale und körperliche Gewalt, sondern um eindeutige Zurechtweisung, um eindeutige Maßnahmen. Und Goenka besteht darauf, dass man nicht aus Rache reagiert, nicht, um jemanden zu zerstören, sondern aus Gegenwehr, aus Notwehr.
Ich mag solche Aussagen, denn der »Du-bist-Liebe-Ich-bin-Liebe«-Gargel ist nicht auszuhalten. Dieser Wortschwall aus dem Operetten-Vokabular des Gutmenschen, der sich – konfliktfeig – weigert, einen Blick auf die Realität zu riskieren. Ich mag die Sanften, die bei Gelegenheit die Sanft-Mut abstreifen und Mut an den Tag legen. Gandhi berichtete von einer Szene, in der ein Junge die Straße entlangging und weinte. Ein Erwachsener kam vorbei und fragte, was passiert sei. Und der Kleine erzählte, dass er von einem Klassenkameraden eine Backpfeife bekommen habe. Worauf der Mann wissen wollte, ob er sich verteidigt habe. Als der Junge verneinte, verabreichte ihm der Fremde noch eine Ohrfeige. Das ist eine rüde Geschichte, aber sie hat was. Sie hat den vorzüglichen Hinweis, dass wir nicht als Schlachtvieh geboren wurden, sondern als empfindende Wesen, die empfinden, sprich, kontern sollen, wenn andere sich an uns vergreifen.
Am Schluss von Goenkas Diskurs darf wieder gelächelt werden. Aus Dankbarkeit für den poetischen Ausdruck. Denn er bittet uns, die letzten zwei Tage noch alles zu versuchen, um ein »master of the present« zu werden. Auf deutsch hört sich das noch schöner an: Ein Meister der Gegenwart. Eben kein »master of the universe«, sondern nur einer, der es geschafft hat zu leben. Weil er sich nicht fortlaufend, fort-laufend, in die Vergangenheit oder die Zukunft verkrümelt, sondern mitten im Leben bleibt, im Augenblick.
Schon erstaunlich der Optimismus, der den Guru die ganzen 85 Jahre begleitete, sein pädagogischer Eros, der ihn nie verließ, der ihm immer weismachte, dass Meditation Berge versetzen kann. Vielleicht haben sie im Orient noch nichts davon gehört, dass inzwischen alle Ideologien und Religionen abgewirtschaftet haben. Zerbrochen an ihrer großen Klappe, die alles versprach und nichts einlöste, ja, die Mord-und Totschlagrate nur noch erhöhte. Eben das Geleier vom irdischen oder himmlischen Paradies an der Wirklichkeit zerschellte, am tatsächlichen Leben.
Doch hier im Fernen Osten sind ihnen die strahlenden Begriffe noch nicht ausgegangen. Hier versprechen sie noch Erleuchtung, die uferlose Menschenliebe, ja, den komplett runderneuerten Menschen. Wirbt ein Heidelberger Bordell mit »All you can fuck«, so machen sie hier Werbung mit »All you can dream of«. Um konkret zu bleiben: Goenka rechnet noch mit allem Guten und Schönen, das er uns vermitteln kann, seine Erwartungen an unsere (innere) Wandlungsfähigkeit scheinen ungeheuer. Meister sollen aus uns werden. Im Westen priese man unsere zehn Tage mit »Stressfrei durch den Alltag« an. Würde ein Veranstalter »Komplette Buddhaschaft« aufs Plakat schreiben, die Leute gingen kopfschüttelnd weiter.
Ich meditiere noch in der Zelle. Aber die »soft version«, den Rücken an die Wand gelehnt. Ok, ich meditiere nicht, ich kontempliere wieder. Ich will das Glück auskosten. Es gibt eine freudige Unruhe, die genausowenig zum Schlafen einlädt wie Freudlosigkeit. Und ich habe Grund zur Heiterkeit. Weil der Tag voller Erfahrungen war, weil ich bei Goenka noch immer keine Winkelzüge entdeckt habe, noch immer überzeugt bin, dass ihn nichts anderes anstiftet als Wärme für seine Mitmenschen. All unsere Mühe hier wäre umsonst, wenn nur ein Schatten von Verdacht auf ihn fiele. Von Korruption, von Raffen, von bösartiger Indoktrination. Wie ich mich nach Leuten sehne, die keinen Lockruf ausstoßen, um abzuzocken. Bei Goenka kann man nichts shoppen. Er verkauft nichts und ist – unverkäuflich.
Zuletzt liege ich im Dunkeln, noch immer euphorisch. Denn mir fällt die Mail eines Lesers ein, die ich vor ein paar Wochen bekam. Er berichtete darin von dem Ergebnis einer Umfrage in mehreren europäischen Ländern. Eine deutliche Mehrheit gab zu, dass sie lieber im Mittelalter gelebt hätte. Trotz Raubrittertums, Pest und Glaubensterror. Weil – so der Grund – die Befragten vermuteten, dass sie damals ein intensiveres Dasein geführt hätten, eines mit mehr Dramatik, Gefühlen und Hochspannung.
Ich will nicht ins Mittelalter zurück, Herr bewahre. (Obwohl die Zelle und ihre Einrichtung irgendwann um diese Zeit entstanden sein müssen.) Das Wort »modern« klingt noch immer viel versprechend. Aber Vipassana – nochmals 1500 Jahre älter – wäre nicht das schlechteste Rezept, um dem Seichtgebiet gehypter Banalität souverän auszuweichen.