ABSCHIEDSTAG
Zum elften Mal schlägt einer die Glocke um vier Uhr, kommt anschließend mit seinem Glöcklein an unseren Türen vorbei. Wie froh ich bin, dass ich da war. Und wie froh, dass ich jetzt davondarf. Ob einer hier unter uns ist, der anders empfindet?
Diesmal versammeln wir, die Ausländer, uns in der Mini Dhamma Hall. Und Goenka quetscht nochmals seine Stimmbänder, singt nochmals schaurig gräulich in die Nacht. Um anschließend – als Redner – zu famoser Form aufzulaufen. Denn er spricht ganz irdisch. Einmal mehr ist ihm bewusst geworden, dass uns mit Predigten aus dem Meditationshimmel hier auf Erden nicht geholfen ist. Er sagt lauter schöne, verständliche Sätze: dass wir erst am Anfang stünden. Dass wir nichts erhoffen sollten, nichts erwarten. Erst recht nicht Erleuchtung. Dass wir unwiderruflich jeden Tag Achtsamkeit trainieren sollten. Dass es sich hier um einen »lifetime job« handle. Dass wir darüber nicht diskutieren sollten. Einfach sitzen, einfach tun. Nicht immer neu verhandeln, ob richtig oder falsch. Nein, Mund halten und das Flehen des faulen Fleisches eiskalt überhören. Und das ist der Höhepunkt dieses pep talks (siehe aufpeppen): Vipassana ist der nutzloseste Zeitvertreib, wenn sich der Freundlichkeits-Quotient nicht erhöht. Wenn die Achtsamkeitsspanne nicht wächst. Wenn der Grad an Lässigkeit im Umgang mit der Welt nicht zunimmt. Wenn die Lebenstemperatur nicht steigt, nicht dieses verheerend schöne Gefühl, sich lebendig zu fühlen.
Noch einmal meditieren wir alle zusammen in der Dhamma Hall. Noch einmal Metta üben, Liebeswellen an die Menschheit verschicken. Mir ist alles recht, ich segne jeden, nur schnell muss es gehen. Denn jetzt brenne ich nach Action, nach Tun, nach Welt, jetzt will ich hinaus. Und es geht schnell. Packen, die Zelle säubern, ein letztes Frühstück, ein letztes Umarmen. Und um 7.57 Uhr durch das Tor schreiten und noch nicht wissen, dass eine triumphale Stunde bevorsteht. Wobei alle anderen Akteure triumphieren, nur ich nicht. Was diesem warmen Wintermorgen nichts von seinem Zauber nimmt.
Mulalal wartet schon, der kleine, drahtdünne Rikscha-Fahrer, der mit seinen Irrfahrten dazu beigetragen hat, dass ich vor elf Nächten hier eintraf. Zuverlässig wie ein Freund ist er zum verabredeten Zeitpunkt zur Stelle. Ich drücke ihn voller Freude an mich und der Kleinunternehmer ringt nach Luft, ruft leicht verzweifelt: »Thank you, Andrew, thank you, thank you.«
Wir fahren los und ich muss an mich halten, sonst bricht das Heulsusen-Syndrom aus. Aber Indien sieht wieder einmal zum Weinen gut aus. Die Nebelschwaden lichten sich langsam und erste Sonnenstrahlen treffen auf unsere Gesichter. Aus dem Dunst und der Sonne treten die Inder, die Kühe, die Hunde, die Schulmädchen, die Ziegen, ein Verirrter mit Unterhose. Und wie in einer Theaterlandschaft ziehen wir an dem schmalen Kanal entlang, der links der Straße verläuft, ziehen vorbei an Bäumen, an Feldern, den Bauern, die zur Arbeit gehen. Noch ist die Welt still, morgenstill, noch braucht sie eine Weile, um indienlaut aufzudrehen.
Ich spüre meinen Körper, spüre seine Sehnsucht, sich zu bewegen. Zu lange saß er in den Boden geschweißt, ohne Auslauf. Ich frage Malulal, ob er mich die Rikscha fahren lässt. Die Antwort ist zögerlich. Er ahnt schon, wie linkisch ich damit umgehen werde. Immerhin sein einziges Produktionsmittel. Aber ich bettle. Und sitze auf und lege los. Und jetzt wird die Welt schon lärmiger, denn alle lachen, an denen wir vorbeikommen. Der reiche Westler als Kuli und der indische Habenichts als Pascha. Die Situation ist umso absurder, als nicht zu verheimlichen ist, wie unbeholfen ich das Schwermetall mit starrer Nabe und störrischem Linksdrall bearbeite. Ich trete rein, als müsste ich einen Panzer chauffieren. Bei Malulal – er fleht inzwischen inständig, wieder ans Steuer zu dürfen – sah das spielerisch aus, ja elegant.
Und es kommt, wie es kommen muss, wenn Talentlose das Ruder übernehmen. Zudem haben die Zuschauer Gelegenheit, den Abgesang bis zum Ende mitzuverfolgen. Sekundenlang ist er voraussehbar und nicht mehr aufzuhalten: Mitten im Dorf kommt uns auf der schmalen Straße ein Laster entgegen, drängt uns links auf die zwei Meter breite Wiesennarbe ab. Ich versuche wie von Sinnen, gegen die Schlagseite des Vehikels anzusteuern. Was noch weniger gelingt als zuvor, da wir uns gerade auf sacht abschüssigem Gebiet befinden. Jetzt fangen die Dorfbewohner Feuer, denn sie sehen, dass hier ein schuldloser Inder Opfer eines Verrückten wird, der die Herrschaft über sein Vehikel verloren hat und unwiderruflich auf den Kanal zudriftet. Hundert Gedanken schießen mir durch den Kopf, zwei davon: Kann Malulal schwimmen? Und was wird aus meinem Macintosh? Wobei ich nicht genau weiß, welche Not mich mehr bedrängt. Wahrscheinlich die des Computers, denn einen untergehenden 35-Jährigen kann ich retten, einen nassen Laptop jedoch nicht. Und noch eine dritte Frage kommt hoch, eher philosophischer Natur: War ich dafür zehn Tage im Kloster? Um jetzt mit Sack und Pack ins Wasser zu gehen? Nein, das darf nicht sein. Ich drehe mich um und fordere mit überschlagender Stimme den dreifachen Familienvater auf, abzuspringen. Und was sehe ich? Malulal hat den kleinen Rucksack, den wertvollen, bereits an sich genommen und umarmt ihn wie ein Baby. Könnte ich gerade, wie ich wollte, ich würde die Hände falten und ihn anbeten. Aber das geht nicht. Ich blicke wieder nach vorn, begreife, dass der Linksdrall mächtiger ist als alle meine Muskeln, sehe die letzten fünf, sechs Meter, die uns noch vom Untergang trennen, sehe plötzlich einen Baum, der schon immer da stand, und den ich bisher blindwütig übersehen hatte, sehe unsere einzige Chance und halte auf ihn zu, verbissen gegen die Urkräfte eines indischen Fahrrads kämpfend. Lieber auf Holz landen als im Kanal, einen Schritt daneben. Und wir landen. Nein, ich lande.
Ein fulminantes Ende. Zwei Atemzüge zuvor war Malulal tatsächlich abgesprungen, Beinbrüche und lädierte Kniescheiben riskierend. Um mein Notebook zu retten. Und sich. Jetzt liegt er im Gras, den Rucksack hochgestreckt, schüchtern grinsend. Die Kinder kommen gelaufen und umringen uns. Zwei Kühe schlendern in unsere Nähe. Der Baum war gnädig, denn zuletzt entdeckte ich noch eine Handbremse. Ich knote ein Taschentuch um meine rechten Fingerknöchel, knie mich hin und verneige mich vor Malulal, dem Helden. Das muss sein. Alle lachen über uns Bruchpiloten. Dann vollführe ich eine Bewegung, die ich seit meiner Jugend nicht mehr gemacht habe: Ich stelle das Vorderrad zwischen meine Beine und richte den Lenker wieder gerade. Kein Land hat mich je so verwöhnt. Ich zittere. Wohl vor Glück.