ERSTER TAG
Um vier Uhr früh läutet die große Glocke. Vier Uhr und keine Minute später. Damit keiner wieder einschläft, geht jemand anschließend mit einer kleinen Klingel an jeder Zellentür vorbei und mahnt schonungslos zum Aufstehen. Wir schlurfen zur Dhamma Hall, nur dunkle Gestalten, kein Wort fällt. Jeder nimmt den ihm gestern zugeteilten Platz ein. Über zehn Stunden Meditation stehen an. Ich frage mich, ob sich jemand in diesem Raum befindet, der – ähnlich spirituell talentlos wie ich – von dem aberwitzigen Wunsch nach Klarheit getrieben wird.
Die Mühsal des Lebens beginnt. Denn in Indien haben sie keine Taschentücher, wohl auch kein Wort dafür. Ich weiß es sofort wieder, als sie anfangen, ihre morgendlich verstopften Nasenhöhlen frei zu pusten. Gibt es keine mondäneren Möglichkeiten, sich einzustimmen? Ich merke von der ersten Sekunde an, dass der Wille zur Menschenliebe – auch die steht auf dem Programm von Vipassana – schon bei der Begegnung mit verrotzten Nasen ins Stocken gerät.
Ich reiße mich zusammen, atme, beobachte das Einatmen, das Ausatmen, registriere nach einer knappen halben Stunde die wutentbrannten Knie, atme weiter, erinnere mich an den Satz, dass der Geist stärker ist als jede Materie. Wäre der Geist nur stark genug, dann würde er sich wie ein Laserstrahl konzentrieren, hätte nie Zeit, sich um lamentierende Knie zu kümmern.
Und doch, das ist kein Merkspruch aus dem Lexikon des Ergriffenen. Als ich vor ein paar Jahren von Paris nach Berlin wanderte, kam wieder ein Tag, an dem meine Fußsohlen in Blut schwammen und ich mich alle zehn Minuten fragte, wie sie in diesem Zustand – nur versorgt mit blutroten Notverbänden – die restlichen neunhundert Kilometer schaffen sollten. Wie ein feuriger Glutstrahl zuckte ihr Schmerz durch meinen Körper. Bis ich plötzlich von einer beschämenden Erinnerung heimgesucht wurde, die so überwältigend war, dass ich erst nach zwei, drei Kilometern wieder aus ihr »auftauchte«, so gefangen war ich von ihr. Und nun wieder die satanischen Wundmale wahrnahm. Die gerade vollständig verschwunden waren.
Diese Erfahrung war der Beweis dafür, dass es den Schmerz in den Füßen nicht gibt, auch nicht in den Hüften, im Rücken, wo auch immer. Er hat nur einen Platz, dort, wo sich das Glück und das Unglück eines Lebens entscheiden: im Kopf, im Hirn. Klar, damals lenkte mich ein Zufall ab, heute kommt mir nichts zu Hilfe. Und natürlich verfüge ich nicht über die geistige Stärke, um diesen Vorgang willentlich herbeizuführen. Von indischen Yogis werden derlei Taten berichtet. Aber ich bin nur Weißer, Europäer, immer aufgewachsen in der Nähe potenter Schmerzmittel.
Zurück zum Atem. Ein Westler sitzt vor mir. Wie eine Statue ruht er, wie ein Gott. Wie gut, wie elegant das aussieht. Und ich sitze hinter ihm, nein, ich turne hinter ihm, verrenke den Körper von einer Position in die nächste, will ihn erlösen von seinen Krämpfen. Und Gott sitzt vor mir und zeigt – immer unbeweglich und geräuschlos –, dass man ganz anders mit dem Leben umgehen kann. Ein Gott und ein Verwirrter befinden sich im selben Raum und haben dieselben Sehnsüchte: Klärung, Tiefe, die Nähe zu anderen. Unergründliches Menschenherz.
Um 6.30 Uhr sind die ersten beiden Stunden vorbei, wieder die Glocke, diesmal ruft sie zum Frühstück. Und jetzt steht dort ein Tonband, damit Goenka nun in der Küche krächzen kann. Aber ich bin inzwischen gewappnet, nur noch als fernes Rauschen dringt das Geträller an meine Trommelfelle. Und das Essen ist gut. Warmer Brei, Reis, eine Mangoschnitte, Kaffee. Die zwei jungen Inder, die unsere Teller füllen, nehmen auch an den Meditationen teil. Man spürt sogleich, dass sie seit langem praktizieren. Sichtbar nicht nur an ihrer Haltung in der Dhamma Hall, die sich während hundertzwanzig Minuten nicht änderte. Unübersehbar auch an der Fürsorge, ja Wärme, die sie ausstrahlen. Ohne jede Attitüde, dafür hilfsbereit, zuvorkommend, achtsam. Das spricht für Vipassana.
Eineinhalb Stunden lang ist »rest time«, man kann auf dem Kiesweg die kleinen Gemüsefelder umkreisen oder sich in sein Zimmer zurückziehen. Immer mit vollkommenem Stillschweigen. Ich lege mich auf die Pritsche und sündige wieder. Schreiben als Erste Hilfe, als Hilferuf, wenn die Welt bedrängt. Logischerweise fällt mir ein Film von Robert Bresson ein, den ich als Kind gesehen habe: »Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen«, mit François Letterier, der ein (gefangenes) Mitglied der Résistance spielt. Und ich sehe ihn, wie er in der Zelle heimlich Notizen macht und blitzschnell – jemand pocht an die Tür – den Bleistiftstummel in einem Loch der Wand versteckt. Das ist die einzige Handlung, die mir im Gedächtnis geblieben ist. Sie hat mich überwältigt. Noch unter Todesgefahr, noch unter der drohenden Hinrichtung, flüchtet einer in die Sprache, die letzte Verbündete.
Die Analogie ist lächerlich, denn mich bedroht kein Floh, ich bin vollkommen freiwillig in diese Zelle gekommen, ich werde hier kostenlos versorgt: mit einem Dach über dem Kopf, mit sauberer Verpflegung, mit einem Wissen, das ich grundsätzlich für grandios halte. Ja, keiner würde mich aufhalten, nicht einmal nach dem Grund fragen, sollte ich das Zentrum verlassen wollen. Und wenn ich mir genau zuhöre, dann bin ich nicht unzufrieden. Ich bin nur gefangen, aber nicht physisch, sondern in meinem Denken. Ich kann, wie so viele, den Wert des Augenblicks nicht erkennen. Ich bin – und das scheint mir ein typischer Defekt der »weißen Rasse« – nicht glücksfähig. Zumindest nicht oft genug. Die Gründe? Viele, einer davon hat wohl mit der jüdisch-christlichen Elendsideologie zu tun, die zweitausend Jahre lang über das Abendland kam. Leben als Jammertal, Lust als Teufelswerk, Glück als Aufstand gegen Gott. Nur der Elende, der Gott sein Elend eingesteht, ist gottgefällig. Weiß jemand in der Bibel von einem Glücklichen, der nicht heimgesucht wurde?
Um acht Uhr zurück in die Dhamma Hall. Der schmale Inder, der neben mir sitzt und bisher mit unverbrüchlicher Ausdauer den Rotz von seinen Nasenlöchern – weit wie Himalaya-Grotten – nach oben beförderte, hat sich inzwischen einen Husten zugelegt. Nach einer halben Stunde wird das ein Keuchhusten. Großzügig bellt er mir eine Millionenladung Bazillen nach der anderen herüber. Nie käme er auf die Idee, sich die Hand vorzuhalten. Zwischenbilanz: Vor mir sitzt ein Meditations-Held, neben mir ein Barbar. Der sich auch nicht bewegt, auch er begabt, trotz der Malaise. Wie in den Boden gegossen sitzt und rotzt und bellt er. Und meditiert. Wie hieß es, was Vipassana nicht ist? »Es ist kein Fluchtweg, um den Zumutungen und Wirrungen des Lebens zu entkommen.«
Ich konzentriere mich, fange bei eins an und versuche, das unglaublich weite Ziel – ZEHN – zu erreichen. Zehn bewusste Atemzüge, zehn Mal zählen, zehn Mal den leichten Hauch an der Nasenspitze bemerken. Ohne Ablenkung. Bewusst atmen heißt ja nichts anderes, als »jetzt« sein, »hier« sein. Nichts ist unmittelbarer, nichts assoziiert man direkter mit »am Leben sein« als den Atem. Im bürgerkriegs-verwüsteten Liberia fragte ich einst Moses, einen 18-Jährigen, ob er glücklich sei. Und der Kleinkriminelle: »Ja natürlich, ich atme.«
Jeder, der diesen Versuch unternimmt, zur »Zehn« zu gelangen, sei gewarnt. Er wird fast nie ohne (Gedanken-)Umwege dort eintreffen. Die können ans andere Ende der Welt führen oder das Räuspern des Hintermannes betreffen. Meditieren anfangen ist wie über ein Seil gehen und beim dritten Schritt runterfallen. Und wieder aufsteigen und von vorn anfangen. Und bei Schritt sieben abstürzen und wieder bei eins beginnen. Und keinem Wutanfall erliegen über die Misserfolge, die im Sekundentakt das Training begleiten, auch keinen Selbstvorwürfen. Nur wieder geduldig die Herausforderung annehmen, wieder aufs Seil, wieder los.
Beharrlichkeit ist ein magisches Wort. Und selbstverständlich bleiben die Zumutungen und Wirrungen auch im Leben eines Beharrlichen bestehen. Aber er wird anders mit ihnen umgehen. Cooler, distanzierter, souveräner, weniger Energie verschleudernd. Ich bemerkte es bei Leuten, deren Geduldsfaden lang genug war. Und bemerke es bei mir, an den (wenigen) Tagen, an denen die Meditation gelang und die Welt und ich anders miteinander umgingen. Ich beneide Frauen und Männer, die so ein virtuelles Passepartout besitzen, das auf elegante, nicht neurotische Weise ihr Leben regelt.
Sehe ich heute die Vorschau eines Bruce-Willis-Films, würde ich gern kotzen. Mitten auf die Leinwand. So ein Typ kann hundert Jahre werden und noch immer nicht begreifen, dass seine Gewaltarien in die Analphase eines Vierjährigen gehören. Wie wahr, ich spüre selbst Gewalt in mir. Aber ich will anders mit ihr umgehen, sie kreativer umsetzen, als mit der Knarre in der Hand die Welt leerschießen.
Ich habe nicht mitbekommen, natürlich nicht, in welcher Sekunde ich an Willis und seine Blutlachen zu denken anfing, die Nasenspitze und den Atem vergaß, und in welcher Sekunde ich wieder »zu mir kam«, weil ich mein Herz schneller schlagen spürte. Meditation ist grausam, sie konfrontiert mit jedem einzelnen Abgrund. Vorzugsweise dem eigenen. Weil Zeit ist, Stille, weil nichts ablenkt, kein Buch, keine Nachrichten, kein Liebesspiel. Man ist sich skrupellos ausgeliefert. Gerade zu Beginn, wenn die täglichen zehn Stunden wie der Boxkampf mit einem Schwergewichts-Weltmeister anmuten. Aussichtslos. Man hat den Bademantel noch nicht ausgezogen und schon fliegt der erste Kinnhaken.
Und wie von selbst folgen die Augenblicke abstruser Lächerlichkeit, in denen ich mich frage, ob ich so weit reisen musste, um mir den Heiligenschein »spirituell« aufzustecken. Ob ich hier den Sucher vorführe, der sich einbildet, in seinem Alter noch etwas zu finden. So eine Ergriffenheits-Maskerade ausprobiere, die nichts als einen Jojo-Effekt produziert. Wer kennt nicht jene Zeitgenossen, die über den Jakobsweg nach Compostela latschten und hinterher – schwer mitgenommen von ihren Räuschen als wundersam erschütterte Pilger – der Welt verkündeten, »dass ihr Leben ganz anders wurde«. Zwei Wochen anders, sicher, dann ist der Wallfahrer-Lack wieder ab, dann kommt wieder der alte Affe Mensch zum Vorschein.
Deshalb ist Vipassana ein Minderheiten-Programm. Denn hier walten keine heiligen Schutzpatrone, die irgendjemanden beschützen. Hier muss einer lernen, für sich selbst zu sorgen. Das hat mit Würde zu tun, mit dem weniger dramatischen Wort »Eigensinn«, mit der Sehnsucht, kein Schaf zu werden, das blökend anderen Schafen hinterher trottet. (Es gab vor Jahren die Zeitungsmeldung über ein griechisches Schaf, das in eine Felsspalte sprang. Und tot liegen blieb. Und alle anderen Schafe der Herde sprangen hinterher. Sinnbildlicher geht es nicht.) Vipassana ist aufsässig, es ist in seinem Anspruch an den einzelnen nicht zu toppen. Es ist uralt und ultramodern.
Ich habe ebenfalls meine Illusionen mitgebracht. Ich knechte mich die zehn Tage, weil ich denke, dass mir die Exerzitien auch als Schreiber gut tun werden. Vielleicht komme ich näher an mein Unbewusstes. Durch die Stille, die radikale Konzentration. Vielleicht habe ich hinterher Zugang zu Quellen, die bisher nicht sprudelten. Wie jeder Mensch bin ich von der Furcht getrieben, dass ich nur einen Teil, schlimmer, nur einen Bruchteil meiner Gaben ausbeute. Das Sitzen soll mich schärfen, meine Augen, die Ohren, das Talent, genau hinzuschauen. Und das Talent, das Gesehene in Sprache zu übersetzen.
Ich Kindskopf. Ich sollte mich disziplinieren und meditieren. Statt meine Wunschliste durchzugehen, die ich dem Weihnachtsmann Vipassana mitgebracht habe. Das bringt mich zum Lachen, laut in der Dhamma Hall. Das entspannt, und ich vergebe mir. Und beginne wieder bei eins, zwinge mich wieder zurück auf das Seil. Wieder vergeblich, denn ein Sperrfeuer zieht gerade durch meinen Schädel. Von der Dhamma Hall blitze ich nach Paris, eine nächste Erinnerung jagt mich in ein Café. Und ich sitze zwei Tische von einem »Liebespaar« entfernt. Sie schmusen. Plötzlich klingelt ein Handy und sie holt es aus ihrer Tasche, stoppt das Schmusen und redet. Das Männchen neben ihr nimmt das klaglos hin. (Ich würde die Frau im Weinglas ertränken.) Was für jämmerliche Küsser müssen wir sein, dass Frauen jede Ablenkung genügt, um die Intimität zu unterbrechen. Aber ich liege falsch, gehörig falsch. Kurz darauf wird er telefonieren und sie warten lassen, nein, noch dreister, er verlässt den Tisch, um draußen weiter zu plaudern. Und wieder ersäuft keiner den anderen. Was für einen Abstieg die Liebe hinter sich hat. Früher stürzten sich die einen vor Schmerz aus dem Turmfenster, während die anderen zum Duell ritten, um die Schöne dem Nebenbuhler zu entreißen. Bei Gott keine besseren Zeiten damals, aber inniger, lebendiger allemal.
So deprimierend solche Bilder sind, so erhellend sind sie. Diese Blasiertheit! Immerhin Lippen und Zungen berühren, sie genießen! Nein, nur zwei talking heads sitzen hier, en vogue, von der Stange. Wäre ich König von Frankreich, ich würde ihnen eine Stunde Meditation verordnen. Als Fluchtweg aus so viel Leere.
Die 11-Uhr-Glocke befreit. Ich war nicht schlecht, ich vermute, dass ich in den drei letzten Stunden drei Minuten lang voll innerer Achtsamkeit im Raum saß. Den Rest vertrödelte ich in der Welt. In Los Angeles, in Schlächter-Filmen, in der französischen Hauptstadt, in Galizien, in einem afrikanischen Bürgerkrieg, in einer Schlucht in Griechenland, in anderer Leute Nasen, beim Boxen, in einer Todeszelle der deutschen Wehrmacht, bei einem Liebespaar, das ein Liebespaar spielt. Erstaunlich, wie ich meine eigene Zeit ruiniere. Statt entschlossen näher an jene »onepointedness«, jene Einpunkt-Konzentration, ranzukommen, tat ich genau das, was alle tun, wenn sie den eigenen Anforderungen nicht standhalten: Ich kritisierte. Damit ich löblicher dastehe, prächtiger. Folglich nicht den Schmerz aushalten muss, augenblicklich als Niete unterwegs zu sein.
Nach dem Essen umrunde ich die Gemüsefelder. Nur der bedeckte Winterhimmel über uns. Wie passend. Andere wandern auch. Kein Blick füreinander, kein Wort. Beim Gehen soll es sein wie beim Sitzen. Sich ganz hingeben, bei sich bleiben. Nicht darüber nachdenken, was für ein Mann – der vor mir und der da drüben – das wohl sein könnte. (Die Frauen schlendern woanders.) Wäre nur nutzloser, sinnloser Zeitvertreib. Der nie zu einem Ergebnis führt. Erheiternd jedoch der Anblick der meisten Inder. Sie sind das einzige Volk, das den Schal vertikal um den Kopf bindet, wenn es kalt wird. Sie sehen aus wie eine Witzfigur in einem Cartoon, die Zahnweh hat.
Aber natürlich nimmt man die Schatten wahr, die Umrisse, die Profile. Ganz alte krumme Männchen, ganz junge biegsame Burschen darunter. Und natürlich kann ich es nicht lassen. Ich träume davon, dass wir uns jetzt auf die Wiese neben die Mauer setzen, da wo die Bougainvillea blühen – nicht umsonst gehören sie zur Gruppe der Wunderblumen-Gewächse –, und einer nach dem anderen erzählt mir seine Geschichte. Warum er in Not ist und warum er hierher kam. Zu Vipassana. Und jemand bringt Chai und Harisingh rückt meinen Laptop heraus. Damit kein Gedanke verloren geht.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Um 13 Uhr wieder in der Dhamma Hall antreten. Vier Stunden Meditation stehen bevor. Das Herz will einem stocken bei dem Gedanken. Als ich endlich sitze, fällt mir eine Radiomeldung ein, die ich vor Tagen gehört habe. Sie betraf die apokalyptischen Waldbrände in Australien. Und wie jemand lichterloh verbrannte, weil er den Autoschlüssel nicht fand, um der Feuerwalze zu entkommen. Den Schlüssel wohl vor zwei Stunden oder am Vortag irgendwo »unbewusst« hinlegt hatte, irgendwo im Haus. Während er ihn losließ, war er im Kopf bereits woanders. Vielleicht beim Hören der Nachrichten über die Feuersbrunst. Jeder von uns, absolut jeder, kennt das, hat es bereits erlebt. Die Unachtsamkeit mit Folgen. Nur hatten wir alle Glück, keine Naturkatastrophe kam anschließend über uns. Der (australische) Glücklose wird nie wissen, dass Vipassana Leben retten kann.
Seltsam, sofort geht es mir besser. Das klingt taktlos, aber so ist es. Die Story spornt an, sie ist sinnstiftend. Denn das dramatische Beispiel beweist: Ob Schlüssel deponieren, ob Ski springen, ob einen Tisch zimmern, ob jemandem in die Augen blicken. Ausschließlichkeit klingt ungemein sexy. Wer dazu fähig ist, wird sogleich erkannt. Er ist anders. Er führt das intensivste Leben, denn er hat dessen Einmaligkeit begriffen, dessen rabiate Vergänglichkeit. Er verschenkt keine Sekunde, er ist in jeder vorhanden. Wir nicht, wir führen uns auf, als lebten wir ewig.
Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel. Wir bitten jemanden um ein Gespräch. Weil uns etwas betrübt, beschäftigt. Und wir spüren von Anfang an, wie der andere für uns »da« ist. Nicht auf seine SMS lugt, nicht vorbeigehenden Frauen nachschaut, nicht verstohlen auf die Uhr blickt, kein Handy auf den Tisch legt, nicht mit den Fingern trommelt, nicht den Wichtigen vorführt, nur sitzt und zuhört. Und das Wertvollste verschenkt, das er besitzt, seine Lebenszeit, seine unbestrittene Anwesenheit. Ich erinnere mich an einen solchen Moment, in dem mir die Tränen kamen. So gerührt war ich vor Dankbarkeit, so gerührt von einem, der sich von keiner Versuchung korrumpieren ließ. Wie ich ihn beneidete. Weil ich den Unterschied bemerkte.
Wer zu Vipassana kommt, der leidet. Das hat er mit einem Künstler gemein. Der malt oder komponiert, weil ihm etwas fehlt. Lebensfreude oder Sex oder Leichtigkeit. Wer liebt, der schreibt keine Liebesgedichte. Er liebt ja. Wer ein erfülltes Leben führt, Liebe gibt, Liebe bekommt, die vielen Jahre bravourös aushält, von keinem Wahn verfolgt wird, warum sollte so einer sich schinden? Schreiben? Nach Gott suchen? Einen Psychiater kontaktieren?
Wir anderen, die nicht so reichlich von den Göttern Beschenkten, haben beschlossen, uns hier niederzusetzen, um bis spätabends das Joch in unseren Knien zu erdulden. Warum? Weil jeder damit rechnet, dass die schmerzhafte Hingabe sich auszahlt. Dass irgendwann das Blatt sich wendet und Kräfte ihm zuwachsen, von denen er bisher nichts wusste. Oder sie bereits in sich spürte, aber ihrer nicht habhaft wurde, nicht über sie verfügte. Noch vertrackter: sie gegen sich richtete, sich selbst bekämpfte.
Ich will keinen Gott finden, keinen (weiteren) Therapeuten bezahlen, niemanden mehr beauftragen, sich um meinen Seelenmüll zu kümmern. Ich will mich finden, jene Ressourcen, die noch immer brachliegen. Vielleicht finde ich nichts, vielleicht habe ich meine Ressourcen schon verspielt. Auch möglich. Das Risiko einer nächsten Niederlage soll mich nicht einschüchtern.
Als ich vor zwei Wochen dem alten Harisingh zum ersten Mal begegnete, erzählte er mir von einem jungen Italiener, der vor Monaten an einem Retreat hier teilgenommen hatte. Und nach drei Tagen Anzeichen einer schweren Depression zeigte. Und am vierten Tag das Gelände verließ, um nach Hause zu fliegen. Als ich vor knapp dreißig Jahren in einem japanischen Zenkloster lebte, eher aus Abenteuerlust als aus Einsicht, fand man einen Amerikaner tot in seiner Zelle. Er hatte sich erhängt. Der Mann war 41 und schon vorher in psychiatrischer Behandlung gewesen. Harisingh warnte mich, ähnlich äußerte sich der Roshi, der Zenmeister in Kyoto: »Ein Retreat ist keine Psychotherapie.« Wer teilnehmen will, sollte eine grundsätzliche innere Stärke mitbringen. Psychosen werden hier nicht geheilt.
Das lange Sitzen befördert den Seelenschlamm nach oben. Der Meditierende muss sitzen und sich jeden bestürzenden Gedanken zumuten. Von der körperlichen Pein nicht zu reden. Deshalb der Warnschuss, deshalb auch die Fragen im Aufnahmebogen. Wer labil ist, klopft hier an die falsche Tür. Die ganz großen Desaster, die schwersten Ringkämpfe sollten schon hinter einem liegen.
Zurück in die Dhamma Hall, zum Atmen, zum Beobachten der Nasenspitze. Mit Willenskraft schaffe ich es ein paar Mal bis zehn. Dann gehe ich wieder auf Wanderschaft, im Kopf. So kurz war die Konzentrationsspanne schon vor zwanzig Jahren. Und zwischendurch schon ausdauernder, weniger störrisch, weniger irritierbar. Das ist normal, heißt es, am ersten Tag geht man k.o. Nach dem Highlife in der freien Welt, nach dem Reisen durch das Bilderbuch Indien landet man in einem abgedunkelten Raum, wo man die Augen schließen und »leer« werden soll. Mit einem Schlag ist alles vorbei. Die Welt als Kino, die Gerüche, die Gesichter, die Sprache, die Storys, die Freiheit. An solche Kontraste muss sich das Nervenkostüm erst gewöhnen.
Die nächste Erholung – sich in der Vergangenheit herumzutreiben kann wunderbar beschaulich sein – betrifft Janwillem van de Wetering. Einen Niederländer, der ein Buch über seine Zeit als junger Kerl in einem Kloster geschrieben hatte, Ende der fünfziger Jahre: Der leere Spiegel. Die Lektüre brachte mich zum Zen-Buddhismus, sie war mitverantwortlich, dass ich ebenfalls nach Kyoto ging.
Der Bericht war geistreich geschrieben. Weil es diesen elenden Eso-Singsang vermied, diese Pose des von sich schwer erschütterten Pilgrims, der auf langer Fahrt über die sieben Meere für uns unterwegs ist. Coelho ist das unübertreffliche Beispiel für diesen bigotten Schmonzes, diese Predigten über den »Durst nach höchster Wahrheit«. Wetering jedoch, damals 26, war ganz von dieser Welt, frech, dreist, intelligent, voller disparater Ansprüche. Er liebte Reisen, Mädchen, Alkohol. Und sein Motorrad. Und Stille, Klarheit, er »wollte Antworten«. So naiv war er. Und natürlich traf ihn dasselbe Los wie uns alle, die zu meditieren anfangen. Er wollte nicht »hier« sein, sondern woanders. Sein Fluchtauto war seine Honda. Er vergaß ein paar hundert Mal das Zählen des Atmens, weil er sich – im Geiste – auf die schwere Maschine schwang, den Sound genoss, das Zittern beim Gasgeben und Durchstarten.
Ich habe kein Motorrad (mehr), nur ein Fahrrad, das ich liebe, das mich aber augenblicklich zu keinen Höhenflügen inspiriert. Ich tue das, was viele Männer hier gerade tun (am 10. Tag werden sie es mir erzählen): Ich denke an Sex, an Frauenhaut, an Körperpositionen, bei denen keine Knie um Hilfe schreien, denke an das warme Flüstern und Atmen, genieße den Trost, den die Schönheit einer Frau in ein Männerleben bringen kann.
Ist das jetzt ein »sexueller Fehlgriff«, habe ich jetzt gegen Grundregel Nummer 3 verstoßen? Und wäre es nur in Gedanken? Ich weiß es nicht, auch bedeutungslos. Ich weiß nur, dass das Denken an Eros ohne jede Anstrengung gelingt. Nichts existiert mehr in der Welt, nur dieser Drang nach Wonne und Wärme. Er überschwemmt den Träumer, er geht unter in ihm.
Bis das Wort »Andreas« zu mir durchdringt. Ich aber nicht reagiere, weil ich glaube, mich verhört zu haben, nicht wüsste, wer hier nach mir rufen sollte. Aber dann doch die Augen öffne, weil jemand meine rechte Schulter berührt, ein Helfer, der nach vorne weist, zum Kursleiter. Ich gehe benommen ein paar Schritte, setze mich. Und der rührige Mister Singh mit der wunderlich brüchigen Stimme eines 80-Jährigen fragt mich, was er jeden fragt: Ob ich mich auf meine Nase konzentrieren kann und ob es Schwierigkeiten bei der Meditation gebe. Und natürlich sage ich (hier ist das Silentium aufgehoben): »No problem, everything’s fine.« Nie brächte ich es übers Herz, dem Guruji jetzt eiskalt die Wahrheit zu beichten. Dass ich die Nase schon längere Zeit aus den Augen, aus dem Sinn verloren hatte und gerade im Bett war mit jemandem, der mich Lichtjahre mehr faszinierte als dieser unsinnliche Körperteil in meinem Gesicht. Ok, jetzt habe ich Vorsatz Nummer 2 gebrochen: Du sollst nicht lügen!
Singh tut, als glaubte er alles, sagt: »Good, let’s meditate together.« Und wir beide richten unsere Rücken gerade und meditieren. Bis ich nach ein paar Minuten entlassen bin und auf meinen Platz zurückkehre. Der nächste kommt an die Reihe. Was hier geschieht, ist eher typisch. So ähnlich verliefen die Begegnungen zwischen Meister und Schüler auch in Japan. Ob Zen oder Vipassana – beide ähneln sich in vielen Aspekten –, grundsätzlich gilt: Nicht schwätzen, nicht zu Erklärungstiraden ausholen, nicht sich beschweren, nicht referieren. So fragte Singh nach meiner Nase eher aus Höflichkeit. Im Grunde ist sie ihm egal. Sie ist so aufregend und ohne Belang wie jede andere Nase hier. Wir sollen zurück zu dem, wovor wir alle davonrennen wollen: sitzen und lernen, »da« zu bleiben.
Bereits heute Mittag hatte ich um ein Gespräch mit Singh gebeten und ihn nach dem Sinn der »chantings« von Mister Goenka gefragt. Diesem unheiligen Krächzen. Und die Antwort? »Höre die Vibrationen und tu deine Arbeit.« Ganz mitleidlos, eher unwirsch. »Höre die Vibrationen …«, so kann nur ein Inder reden, der vor keiner Lärmquelle Halt macht. Aber ich war nicht verstimmt, eher froh. Mein Ego muss nicht immer recht haben. Es ist, wie es ist, basta. Mein Roshi in Japan hat auf meine Fragen nicht einmal geantwortet, er lachte nur, lachte mich aus.
Es kam noch drastischer. Als ich damals krank wurde, Schüttelfrost und Fieber, wollte niemand so genau wissen, was mir fehlte. Offensichtlich nichts Lebensbedrohliches. Mir wurde ein Zimmer, eine Zimmerzelle, zugewiesen, weit hinten, weit weg von allen anderen. Hier lag die »Krankenstation«. Und keiner kam mich besuchen. Keine Messe wurde für mich gelesen, keine Kerze angezündet, kein Shinto-Priester gerufen, kein Bild einer himmlischen Jungfrau aufgestellt, kein Notruf an den heiligen Bonifatius verschickt, nicht einer im Kloster hatte fünf Minuten Zeit für Mitleid. Nichts. Und doch fand eine Art Wunderheilung statt, in knapp drei Tagen war ich zurück im Dojo, der Meditationshalle. Im Topform. Erst später hatte ich verstanden: Die Rosskur sollte an meine Selbstheilungskräfte appellieren. Zen und Vipassana kümmern sich nicht um übernatürliche Kräfte, sie wollen nur jeden dazu antreiben, sein eigenes (ungeahntes) Vermögen zu finden, jenes gewaltige Reservoir. Damit er es ausbeutet.
Um 17 Uhr läutet die Glocke, auch vier Stunden hören irgendwann auf. Aufruf zum »Teabreak«, dem Abendessen. Manche erheben sich, als hätten sie in Ketten gelegen. So anstrengend scheint es, sich wieder aufzustellen. Erst gebückt, erst wankend und krumm, erst dann wieder mit funktionsfähigen Beinen. Rüber zur Dining Hall. Das abendliche »Menü« wird sich bis zum Ende nicht ändern: Tee und gebackene Reiskörner. Ich schließe die Augen vor Dankbarkeit. Auf einer Bank sitzen und drei Tassen indischen Chai trinken dürfen, ist das Glück. Ich bin, so chaotisch der Nachmittag war, »vorhanden«, auf zufriedene Weise erschöpft.
Blick auf Harisingh, der auf einer Bank vor mir sitzt. Er meditiert mit uns. Er darf, er muss reden. Damit der Betrieb läuft. Er verwaltet auch die Gegenstände, die wir abgegeben haben. Wieder wärmt mir seine Nähe das Herz. Ich schaue ihn mir an wie einen, der als Vorbild dienen könnte. Für meine eigenen alten Tage. Harisingh hadert nicht mehr, seine Anwesenheit strahlt Umsicht aus. Alte indische Männer sind ein Geschenk an die Welt.
Um 18 Uhr tönt erneut die Glocke, zurück zur Dhamma Hall. Wieder steht nichts anderes an, als sich auf ein Kissen zu setzen und den Atem zu beobachten. Und wir schlurfen darauf zu, als würden wir nach Sibirien verladen. Aber überraschenderweise beschwingt mich die Stunde. Ich mag Disziplin, sie hilft beim Aufräumen eines zerrissenen Lebens. Sie dient als roter Faden, um aus Widersprüchen herauszufinden. Oder zumindest, um den Kopf über Wasser zu halten und nicht unterzugehen. Sie ist ein Werkzeug, das jedem, der es beherrscht, Vertrauen einflößt. Dank ihr scheint gewiss, dass man über etwas verfügt, das von außen ganz unabhängig ist: eine Kraft, die einen nicht loslässt. Disziplin ist ein gräuliches Wort, wenn andere es einem einbläuen. Sie endet im Kadavergehorsam. Disziplin strahlt, wenn man sich aus freien Stücken für sie entscheidet. Wie hier. Vipassana fordert heraus, und wer die Herausforderung nicht annehmen will, darf verschwinden. Sobald es ihm beliebt.
Ja, es geht noch einen Schritt weiter. Vipassana fördert gleichzeitig einen rebellischen Geist. Nichts soll geglaubt, alles soll hinterfragt werden. Es macht taub gegen den Sirenengesang der Religionen. Es pocht auf kein Glaubensbekenntnis, im Gegenteil, es will zur Suche nach Wissen verführen, ja noch revolutionärer: Wer keine Antworten findet auf »letzte« Fragen, soll auszuhalten lernen, dass er keine findet.
Um 19 Uhr werden wir Ausländer aufgefordert, uns in die Mini Dhamma Hall zu begeben. (Die Inder bleiben in der großen Halle.) Um den day one discourse von S. N. Goenka via DVD zu hören. Auf Englisch. (Die anderen hören ihn auf Hindi.) Auch diese »Reden« werden täglicher Bestandteil des Kurses sein, immer zur selben Zeit. Wir sitzen in einem nüchternen Raum, vielleicht fünf mal acht Meter, am Boden liegen Decken und Kissen. Man darf sich lümmeln und den Rücken an die Wand lehnen. Eine schwache Birne brennt, Harisingh schaltet das Gerät ein und das friedliche Gesicht eines heute 85-jährigen Mannes erscheint.
Goenka wurde 1924 als Sohn einer indischen, konservativen Hindufamilie geboren, in Myanmar, dem früheren Birma. Er machte Karriere als Geschäftsmann, sein Leben boomte, allerdings veranlassten ihn wüste Migräneattacken, sich auf die Suche nach Heilung zu begeben. Er begegnete Sayagyi U Ba Khin, einem (hohen) burmesischen Beamten, der nebenbei als Vipassana-Lehrer unterrichtete. Der Birmane galt – so will es die Legende – als Bewahrer der »reinen« Meditationstechnik, jener Form, die Buddha praktiziert hatte. Wie dem auch sei, Sayagyi war auch deshalb bekannt, weil er im Staatssumpf der Korruption nicht versank, sondern unbestechlich blieb.
Die Begegnung änderte Goenkas Leben, durch die Meditation verschwanden auch seine Kopfschmerzen. Er distanzierte sich vom Hinduismus, wurde selbst Lehrer und zog nach knapp fünfzehn Jahren steter Praxis nach Indien, um hier in einem Land, in dem mehr Götter und Göttinnen als irgendwo sonst ihren himmlisch-kindischen Simsalabim treiben, die Lehre vom rigoros götter- und göttinnenlosen Vipassana zu verbreiten. Mit Erfolg, mit imposanter Erfolglosigkeit. Die Zahl der Meditationszentren stieg, sie vergrößerten sich, Goenka bildete Hunderte von Lehrern aus, die Kurse waren voll, die Wartelisten lang, der Enthusiasmus ungebrochen. Aber alles betrifft – im Vergleich zur gigantischen Einwohnerzahl – immer nur die »ungeheure Minderheit«. Ein paar Tausend im Meer von elftausend Millionen.
So sollten wir es gefasst aussprechen: Auch die Herren Buddha, Sayagyi und Goenka werden an den Grundfesten im Universum nicht rütteln: Die »breite Masse« – feiner ausgedrückt: die Mehrheit – ist an eigenständigem Denken und Handeln nicht interessiert. Sie lässt denken und sie wird behandelt. Das ist die nackte, seit Jahrtausenden unzumutbare Wahrheit. Ganz und gar unfreundlich. Aber sie ist es. Ich bin somit nicht hierher gekommen, weil mich der Wahn verfolgt, der Buddhismus oder Vipassana trügen zur Verschönerung der Welt bei, der Weltbewohner. Mitnichten. Ich bin da, um »erwachsen« zu werden. Um das eine, das einzige Leben so zu leben, dass ich auf dem Totenbett nicht in Tränen ausbreche über die vielen blassen Tage, die hinter mir liegen. Stärke ich hier zudem meine Bereitschaft zur Freundlichkeit, zum Mitgefühl mit allem, was Schmerz empfindet, dann will ich zweifach dankbar sein.
Goenka sitzt auf einem Stuhl und redet. Er überwältigt vom ersten Wort an mit seiner Bescheidenheit und seiner Güte. Er spricht ruhig und fehlerlos Englisch. Und er verfügt über Humor, über Witz. Die Angst, dass wir nun zehn Abende lang einem vom eigenen Sermon überwältigten Heilsprediger ausgesetzt sind, ist gänzlich unberechtigt. Man sieht nur ihn, den Kopf, den Oberkörper, das frisch gebügelte Hemd. Nichts im Hintergrund, keine um den Meister schwirrenden Elfen, niemand schwenkt einen Palmenwedel, kein Halleluja-Chor. Es handelt sich bei den Reden um Mitschnitte einer Tour durch die USA. Aus dem Off dringen bisweilen ein paar ironische, dreckige Lacher des Publikums, Antworten eben auf Goenkas Fähigkeit, jede Art von Hochheiligkeit zu vermeiden. Ich entspanne.
Die (freie) Rede dauert über eine Stunde. Ein wichtiger Punkt: »Know thyself«, (er)kenne dich selbst. Meditation ist ein fulminantes Mittel, um sich auf die Schliche zu kommen. »Wer bin ich?« ist eine Frage, von der die meisten glauben, sie hätten eine Antwort darauf. Und sie ahnen nicht einmal, wie weit diese Antwort von der Realität entfernt liegt.
Und der zweite Punkt, das Lieblingsthema aller, die den Segen der Meditation entdeckt haben: Unser (fast) totales Unvermögen, im Augenblick zu verharren. Natürlich, so Goenka, entstehen Situationen, in denen man an die Zukunft oder die Vergangenheit denken muss. Aber doch nur in dem Maße, in dem sie helfen, die Gegenwart zu meistern. Kann man sich eine dünnere Existenz vorstellen als jene, die alles unternimmt, um vor dem Leben – und die Gegenwart ist der einzige »Ort«, wo das menschliche Leben stattfindet – davonzurennen?
Zuletzt singt Goenka, aber erträglich kurz, dann der immer gleiche Schlusssatz: »May all beings be happy.« Wir gehen ins Freie, spazieren durch den Nebel. Ein paar Lichter brennen. Keiner spricht, jeder vermummt unter seiner Decke über den Schultern. Winternacht in Nordindien. Ein Bild wie aus einem Film, so fern der Welt scheint es.
Dann nochmals in die Dhamma Hall, in der nun der Vortrag in Hindi zu Ende ist. Die letzte halbe Stunde Sitzen wartet. Was Goenka sagt, ist längst gesagt worden. Auch von Leuten, die nie in Asien waren, sich nie dem Buddhismus nahe fühlten. Nehmen wir die Weisheit des französischen Philosophen Blaise Pascal, 364 Jahre vor Goenka wusste er bereits: »… Die Gegenwart ist nie unser Ziel (…) Die Zukunft allein ist unser Ziel. Also leben wir nie, aber wir hoffen zu leben. Und da wir uns immerzu vorbereiten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, dass wir es niemals sind.« Erstaunlich für einen Christen, dass er »leben« und »glücklich sein« in einem Atemzug ausspricht. Am Leben sein ist Glück. Wie wahr.
Um 21 Uhr kommt das erlösende »Take rest«, der offizielle Tag ist vorbei. Zurück in die kühle Zelle. Kein Strom, ich zünde eine Kerze an (von Harisingh gespendet), ungewaschen und angezogen mit zwei Hosen, zwei T-Shirts und einem Pullover lege ich mich auf die Pritsche. Die Anti-Moskito-Spirale glimmt. Ich lese, ich kann nicht anders. Zuletzt eine kurze Geschichte, die ich vor ein paar Tagen in einer Zeitung fand. Jetzt lese ich sie zum dritten Mal. Zufall oder nicht, jedenfalls erzählt sie eine herzbewegende Parabel über das Leben und die Notwendigkeit, sich das nötige Werkzeug zu schmieden. »A Vipassana Story« könnte der Titel lauten, hätte ich sie nicht in einer Sonntagsbeilage unter der Rubrik »Just think about it!« entdeckt.
Hier steht sie: Ein Biologielehrer unterrichtete seine Schüler über den Prozess, wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird. Eine Kokon lag vor ihm auf dem Tisch und er informierte die Klasse darüber, dass in den nächsten Stunden der Schmetterling mit allen Kräften versuchen würde, den harten Flor zu öffnen. Dann verließ der Dozent den Raum. Die Schüler warteten und es passierte. Der Schmetterling kämpfte und kämpfte, um die Wände des Gespinsts zu durchbrechen. Plötzlich überkam einen der Schüler Mitleid mit dem Tier und er beschloss, dem Insekt zu helfen. Gegen den ausdrücklichen Rat des Pädagogen brach er den Kokon entzwei und der Schmetterling kam frei. Um kurz darauf zu sterben. Als der Lehrer zurückkehrte, erfuhr er, was passiert war. Er erklärte den Jugendlichen, dass der Kampf des Schmetterlings unabdingbar sei, um seine Flügel zu stärken. Wer ihm dabei behilflich sei, entziehe dem Falter seine lebensnotwendige Bewährung.