VIERTER TAG

Von Anfang an bin ich in Form. Der energische Abschied gestern vom voll gereinigten Supermenschen, der alles versteht, alles verzeiht, alles wegsteckt, brachte den Durchbruch. Ich bin wieder bei Normalgröße angekommen, bin wieder nur Mensch, nur einer, der lernen muss, mit seinen Gaben und Defiziten auszukommen. So ist mein Kopf einverstanden, er hält still, er richtet mich nicht mehr. Auch der Körper ist versöhnlich gestimmt, kein Knie jault, kein Knochen meldet sich. Minutenlang kann ich während der ersten zwei Stunden versinken. Mehrmals.

Jetzt passieren jene Zustände, die diese Sehnsucht nach Meditation auslösen, jenen Wunsch, immer wieder dorthin zurückzukehren. Weil sie einen Spalt freigeben, durch den der Meditierende erkennt, was für ein unglaubliches Potential Vipassana bereithält. Man ist mitten in der Welt, aber sie bedrängt nicht. Man betritt einen Raum in sich, der unabhängig vom »Draußen« ist. Ein virtueller Ort, in dem man sich vom täglichen Irrsinn erholt. Dank der unauslotbaren Stille erfährt man Energiezellen in sich, an die man erst jetzt, beim Meditieren, herankommt. Wer das erlebt hat, will in sein altes Leben nicht mehr zurück. Oder, weniger pathetisch formuliert, er will zurück, aber auf die Entdeckung nicht mehr verzichten. Das alte Leben ist noch immer das alte, aber etwas Entscheidendes ist nun anders. Im Zen sagen sie: »Vor der Erleuchtung Wasser holen und Holz hacken. Nach der Erleuchtung Wasser holen und Holz hacken.« Lassen wir das Wort Erleuchtung weg, ersetzen wir es einfach durch »Meditation«. Ich muss noch immer Wasser holen und Holz hacken, aber mein »Geist«, meine innere Haltung, haben sich geändert. Das einzige Problem: Kein Buch und kein Wort können dieses »Erleben« vermitteln. Auch kein Handauflegen und kein Sprüchemurmeln. Es gehört nur dem, der hineingeht und die Zumutungen von Vipassana so lange aushält, bis die Erntezeit beginnt.

Ich muss noch oft hineingehen, denn nach dem Frühstück ist die Eudaimonia vorbei, jetzt kommen die bösen Dämonen zurück. Die bösesten. Ich frage mich natürlich, ob der Bericht der nächsten Stunde dem Leser zumutbar ist, den die Sturzflüge eines Fremden ja nicht ohne weiteres interessieren. Die Antwort ist Ja, ohne Wenn und Aber. Denn es geht nicht um das private Debakel eines Autors, sondern um das Erzählen eines Vorfalls, den jeder schon erlebt hat. Vielleicht nicht in dieser Form, aber auf jeden Fall etwas, das einen Schock und ähnlich massive Emotionen provozierte. Was mich als Schreiber (und Leser) bewegt: Sprache soll uns an die Welt und ihre Bewohner heranführen. Auf dass unsere Einsamkeit erträglicher wird und wir einer vom anderen etwas begreifen. Und von uns selbst. Wenig genug.

Von null ins Fegefeuer. Mich wundert, dass der Überfall nicht schon eher kam, erst jetzt am vierten Tag. Wie eine linke Gerade landet die Erinnerung an diese Frau in meinem Kopf. Sie soll »GH« heißen, die Abkürzung für Geldhure. Wie Faustschläge prasseln die Bilder jetzt auf mich nieder.

Die Vorgeschichte ist durchaus banal. Ich leihe jemandem Geld, zinslos und ohne festes Rückzahldatum. Nur mit der Auflage, dass ich es wiederbekomme, wenn die Beziehung endet. Viel Geld, für mich zumindest. Wie ich es bei Freunden immer tue, vertraue ich auf das Wort des anderen. Ohne schriftliche Vereinbarung überweise ich die vereinbarte Summe.

Die Liebschaft hört nach zwei Jahren auf. GH beendet sie. Ich sei nicht seriös genug, zu oft auf Reisen etc. Das ist bitter, aber ich bin nicht Michel, mein Lieblingsclochard in Paris, der wegen einer gescheiterten Ehe nun neben der Seine campiert. Er hat die Trennung nicht verkraftet. Ich schon, biete GH sogar an, als »gute Freunde« zu verbleiben, und schaue bisweilen auf mein Konto. Vergeblich. Endlich spreche ich die Schuldnerin darauf an, wir treffen uns, sie sagt alles zu, sie ist kooperativ, verführt mich sogar noch ins Bett, will mich zurückholen in ihr Leben. Und schreibt tags darauf eine Mail, in der sie ausdrücklich die Rückgabe des Kredits bestätigt.

Erst Wochen später kapiere ich, dass eine Geldhure vom Geld nicht lassen kann. Die Mail mit der Zusage hat sie offensichtlich vergessen, verdrängt. GH schreibt wieder eine Mail – sie wohnt weit weg in einem anderen Land –, schreibt viele Mails, behauptet einmal, dass es sich um ein Geschenk gehandelt habe, einmal, dass sie es als Beitrag zu ihrer (zweiten) Eigentumswohnung verstanden habe, zuletzt, dass es ihr zustehe, immerhin hätte ich sie »betrogen«. Jede Behauptung scheint ihr recht, um die Untat zu rechtfertigen. Ich bin naiv und versuche, sie gütlich zum Einlenken zu bewegen. Alles per Mail, per Telefon. Vergeblich. Irgendwann wache ich auf und verklage die Diebin.

Was für eine erbärmliche Situation. Ich sitze in einer Dhamma Hall, an einem Platz, wo man »equanimity« lernen soll, Gleichmut, eines der Lieblingswörter von Goenka. Ins Praktische übersetzt: ruhig atmen, bewusst atmen, sich nicht überwältigen lassen von seinen Instinkten. Aber ich fauche inzwischen wie ein Stier, merke, wie mir jetzt das Gesums von Verständnis und Nachsicht und Verzeihen hochkantig am Arsch vorbeigeht. Fuck Buddha, fuck Vipassana, fuck die Sprüche. Ich setze mir jetzt nicht die Pappnase »Holy Andrew« auf, ich lasse mich jetzt überwältigen. Keine Bremse wirkt mehr.

In dem Prozess werden bei GH Niederungen sichtbar, die wir ihr wohl beide nicht zugetraut haben. Als mein Anwalt die Mail vorliest, in der sie in unmissverständlichen Worten die Erstattung der Leihgabe ankündigt (»… zuerst einmal gebe ich dir die Kohle zurück, die du mir geliehen hast …«), genüsslich weiterliest und Wort für Wort wiederholt, was da steht (»… und weil ich dich sehr lieb habe, weil ich dich brauche, weil ich ohne dich nicht sein kann, weil ich ohne dich unglücklich bleibe …«), da entkommt der Beklagten eine Bemerkung, so wüst und unberechenbar wie ein Kugelblitz: »Herr Altmann ist gewaltbereit, nur aus Angst vor ihm habe ich das geschrieben.«

Ich werde den Moment nicht vergessen. Statt mit einem dankbaren Lächeln von ihr mein (kostenloses) Geld zurückzubekommen, sitze ich 1500 Kilometer von meinem Wohnort entfernt in einem Gerichtssaal und höre eine Frau, die mir einst »Ich liebe dich« ins Ohr wisperte, sagen, dass ich ein potentieller Schläger bin.

Martin Walser notierte einmal: »Wenn du kein Virtuose im Vergessen bist, verblutest du auf der Intensivstation Erinnerung.« Ich verblute gerade. Und es sprudelt noch heftiger, als ich das Messer weitertreibe und mich erinnere, mich erinnern muss, dass ich den Prozess verloren habe. Und die Berufung. Obwohl der Bruder der Geldhure, der mit uns – wenn ich auf Besuch kam – in derselben Wohnung lebte, vor Gericht der Behauptung der eigenen Schwester widersprochen hatte. Obwohl ich das schriftliche Eingeständnis der Schulden vorlegte. Alles für den Wind.

In einem meiner Bücher hatte ich über GH geschrieben. Damals nannte ich sie noch anders, zarter, hatte erwähnt, wie jeder Gedanke an sie mein Herz beschleunigte, schrieb: »Das Erste, was ich von dir hören werde, wenn wir uns wiedersehen, wird mein Herzklopfen sein.« Das tut es noch immer, nur kommt die Erregung jetzt aus einer anderen Richtung, jetzt klopft es aus Zorn, aus dem Gefühl der Ohnmacht. Schon erstaunlich, zu welchen Niederträchtigkeiten Geld führen kann. Unforgivable.

Wie ausgeliefert ich mich fühle. Zur Bitternis über diesen Menschen, der meine Hilfsbereitschaft missbrauchte, kommt die Bitternis über mich. Weil ich schon wieder das arme, derangierte Würstchen bin, das es nicht schafft, die Hinterhältigkeit zu vergessen und mit einem mitleidigem Grinsen ad acta zu legen. So kann man in der Hölle im Kreis laufen. »Nichts ist gefährlicher als deine unbewachten Gedanken«, sagen die Buddhisten. Wie wahr. Über 25 Monate liegt der Fall nun zurück und noch immer schwärt diese Frau wie eine Wunde in meinem Kopf. Noch immer bin ich nur Schrei, nur Fassungslosigkeit.

Vipassana strengt an, konfrontiert. Draußen in der Welt kann man – und ich tat es, wie es jeder tut – den Schmerzen davonlaufen. Ein Stück zumindest. Kann ein Beschallungsgerät anwerfen, einen Reefer inhalieren, sich an eine Liebhaberin (oder einen Liebhaber) schmiegen, in einem Kino verschwinden und Helden zuschauen, kann ein Bad nehmen und einen Liebesroman lesen. Oder sein Tagebuch öffnen und die Drangsal in Buchstaben übersetzen, kann schreiben, wenn alle anderen Fallschirme nicht aufgehen.

Hier in der Dhamma Hall kann man gar nichts. Nur lernen, dass man sein Leben annimmt, so wie es war. Auch die schäbigen Teile. Und weitergeht. Vielleicht noch plant, in Zukunftgeschult durch Sitzen und Atmen – klüger mit seiner Lebenszeit zu wirtschaften. Hätte ich damals, in den Jahren mit GH, schon intensiv meditiert, ich hätte sogleich die vielen Signale der Profitgier an dieser Frau bemerkt. Im Nachhinein erscheinen sie mir überwältigend deutlich. Aber ich sah nur, was ich sehen wollte. Derjenige, der sich noch nie in seine Trugbilder verirrte, der werfe den ersten Stein.

Nach einer guten Stunde lässt der Albtraum nach. Plötzlich fällt mir ein Amerikaner ein, den ich vor Jahren in Florida interviewt habe. Er war Wochen davor aus dem Zuchthaus entlassen worden. Als Unschuldiger. Aufgrund eines DNA-Tests, der eindeutig bewies, dass er nicht der Unhold war, der eine Frau vergewaltigt hatte. Die Erinnerung an den Mann erleichtert. Weil ich plötzlich wieder realisiere, dass es andere Dramen gibt, so dramatisch, dass das eigene Pech eher lächerlich und nicht der Rede wert scheint. Owen C. hatte über zwanzig Jahre seines Leben verloren, ich nur über 20 000 Euro. Und das Überraschende: Der Typ war cool, brannte nicht vor Hass auf jene, die ihn hinter Gitter gebracht hatten. Ein ganz einfacher Mensch, aber ein Riesenherz. Als jetzt sein Gesicht vor mir auftaucht, spüre ich wieder die Bewunderung für einen, der es klüger anstellte, der ganz andere Zumutungen hinter sich hatte als ich.

Während der Reise durch Indien habe ich ein Buch gelesen, Letters from the Dhamma Brothers. Herausgegeben und kommentiert von Jenny Phillips, einer Psychologin. Wer die 224 Seiten zur Hand nimmt, soll wissen, auf was er sich einlässt. Gemeinsam mit Freunden organisierte die Therapeutin ein zehntägiges Vipassana-Retreat in einer amerikanischen Haftanstalt, in der Donaldson Correctional Facility, einem Hochsicherheitstrakt in Alabama. Eine moderne Festung für 1500 Schwerstverbrecher, inklusive jener, die auf der »death row« auf ihre Exekution warten. Die Gesamtzahl der Jahre, zu denen sie hier verdammt wurden, reicht wohl für eine kleine Ewigkeit.

Die Idee, dass eine Meditationstechnik aus Buddhas Zeiten den Insassen helfen könnte, nicht an ihrem Schicksal zu zerbrechen, war geradezu revolutionär. Phillips erwähnt zuerst die Schwierigkeiten, die überwunden werden mussten, um die zuständigen Autoritäten vom Sinn und Zweck der Übung zu überzeugen. Denn in Zuchthäusern wird gezüchtigt: die Wächter die Bewachten und die brutalsten Bewachten die weniger brutalen. Mit Knüppeln, Fäusten, Messern. Bis hin zum Totschlag. Spricht hier einer von Nachsicht und Verzeihen, dann spucken sie auf den Boden und fluchen. Züchtigen züchtet Männer mit kalten Herzen. Wie sinnig: Hinter den tödlich geladenen Stacheldrahtzäunen fließt der Black Warrior River.

Doch Vipassana geht von der Prämisse aus, dass kein menschliches Wesen auf immer verloren ist. Dass in jedem etwas verborgen ist, das sich nach Hingabe, nach Lieben und Geliebtwerden sehnt. Nach drei Jahren kommt die Zusage, im Januar 2002 findet der erste Kurs statt, der erste dieser Art in einem amerikanischen Gefängnis. Auch aus der Einsicht heraus, dass das Maß an Gewalt und Hoffnungslosigkeit erreicht war.

Die Turnhalle wird zur Dhamma Hall unfunktioniert, jeder bringt seine eigene Matratze mit, Schlafkojen werden improvisiert, die Kissen in Reih und Glied platziert, drei »free-worldmen«, drei Meditationslehrer, werden eingelassen, alle Zugänge verschlossen, keiner kann raus oder rein. Und die ersten zwanzig Freiwilligen nehmen an einem Experiment teil, das sie auf spektakuläre und unspektakuläre Weise zugleich verändern wird.

Das Buch veröffentlicht auch die Briefe der Dhamma-Brüder, jener Teilnehmer, die nach den zehn Tagen nicht aufgegeben haben und mit namenloser Selbstkontrolle in dem Chaos, dem Geschrei, den Wutausbrüchen, dem vollkommenen Mangel an Rückzugsmöglichkeiten – entweder in riesigen Schlafsälen oder winzigen Dreimann-Zellen – weitermeditierten, sogar noch zweimal die Gelegenheit bekamen, das zehntägige Experiment zu wiederholen.

Vipassana ist ein altes Paliwort und heißt »Einsicht«, heißt »auf seine Wirklichkeit schauen«. Es ist ein technischer Ausdruck, ohne jede Anspielung auf Gott, eine Gottheit, eine Ideologie. Schauen. So wie du bist. Auch nicht wegsehen von »Duk-kha«, dem Leid. Und sie schauten hin.

Kann ein Außenstehender je den Schmerz eines Menschen ahnen, der für seine Tat – als Mehrfachmörder oder Einbrecher mit Waffengewalt – »life without parole« bekam? Lebenslänglich ohne die Möglichkeit, je als Lebendiger wieder in die »freie Welt« zurückzukehren.

Was Letters from the Dhamma Brothers so bewegend macht, sind nicht die schriftlichen Nachrichten von sechsunddreißig erleuchteten Briefschreibern. Es sind die oft herzzerreißend innig beschriebenen Kämpfe jedes einzelnen, um in diesem Bunker aus Düsterkeit und geistiger Öde zu überleben. Eben als Mensch, nicht als zynismus-verhornter Zyklop. Und die Briefe erzählen vom Wandel, von der Fähigkeit, die Instinkte der Rachsucht und der Vergeltung zu deprogrammieren. Immerhin soweit, dass selbst den anderen die Veränderung auffällt. Und hinter dem Rambo der Mensch zum Vorschein kommt, der sich nicht mehr automatisch zu einer Gewaltreaktion provozieren lässt, nicht mehr reflexartig dem Provokateur die Kinnlade zermalmt. Eben ein Mann geworden ist, der begriffen hat, dass jeder Gegenschlag die Spirale der Vergeltung nur noch in elendere Höhen treibt. Somit einen Grundpfeiler des Buddhismus verstand: DU musst dich ändern, du bist verantwortlich. »The only way out is within«, schrieb einer. So wahr, so poetisch.

Die Briefe protokollieren natürlich auch die Zeiten der Not der Dhamma-Brüder, die Stunden, in denen kein Buddha und kein konzentriertes Atmen und kein Versprechen sich als ausreichend resistenter Damm erweisen, um nicht von einer Sintflut schwarzen Kummers hinweggeschwemmt zu werden. Wie bei Grady B., der bereits über zwanzig Jahre einsitzt, die ersten acht als Kandidat für den Elektrischen Stuhl, dann nochmals vor Gericht musste, dann ewig lebenslänglich bekam und eines Abends via TV-Nachrichten erfuhr, dass seine Tochter ermordet wurde. Freundlicherweise hat der Sender nicht auf die unsäglichsten Details des Verbrechens verzichtet. Was geht da vor? In einem Vater, einem Mann, einem Zuchthäusler? Und was, wenn er erfährt, dass der Verlust eines Kindes an der Donaldson-Hausordnung nichts ändert, sprich, keinen Kontakt zur Familie erlaubt? Was kann ein Mensch tragen, ohne zugrunde zu gehen? An Qual, die er verursacht hat, und die andere ihm verursachen? Grady ist nicht verschwunden, hat sich nicht am Eisenrohr seines Hochbetts erhängt. Er meditiert weiter, sagt, dass die anderen Dhamma-Brüder ihn mit Nähe und Zuspruch versorgen.

Noch ein Wandel fällt auf. Die harten Jungs werden wieder sentimental, wenn ein Sonnenstrahl ihr Gesicht streift, wenn ein Hase über den Gefängnishof hoppelt, wenn einer am späten Nachmittag nach oben blickt und, nach Jahren, die verschiedenen Farben bemerkt, mit denen der Himmel und seine Wolken über ihn hinwegziehen.

Um neun Uhr eine kurze Pause. Wir schlendern still durch den sonnigen Garten. Man kann den Vögeln zuhören und die drei Gärtner beobachten, die gelassen das Unkraut jäten. Unglaublich ihre dünnen Waden. Und das nach so vielen Jahren körperlicher Arbeit. Rätselhaft, wie solche Beine einen Männerkörper durch ein ganzes Leben tragen.

Als ich mich wieder in die Dhamma Hall setze, stelle ich fest, dass ich den Schlüssel zu meiner Zelle nicht bei mir habe. Ich stehe auf und hetze zurück, nichts, ich suche den Weg ab, nichts. Bis ich kapiere, dass ich ihn nicht in die dafür vorgesehene Tasche gesteckt habe. Das ist ein schlagendes Beispiel für die drängende Notwendigkeit von Vipassana. Ich sitze wieder und lasse die Situation Revue passieren. Die Zeit und die Energie, die ich gerade verschleudert habe. Weil ich eine Sekunde »abwesend« war, den Schlüssel irgendwo verstaute und gleichzeitig an etwas anderes dachte. Reichen fünf Monate meines Lebens, die ich insgesamt damit verbrachte, nach Gegenständen zu suchen, die ich gerade irgendwo unachtsam deponiert hatte? Und muss ich nochmals drei Monate abschreiben, die ich bei Freunden und Freundinnen aufrecht, auf Knien oder bäuchlings investierte, um bei der Suche nach Brillen, Hausschlüsseln, Handys und Make -up-Spiegeln behilflich zu sein?

Ich besitze eine lange To-do-Liste für den Fall, dass ich doch noch als Diktator eingreifen darf. Heute würde ich die Lektüre von Paulo Coelho als Vergehen gegen das menschliche Hirn deklarieren (sorry, er fiel mir heute Morgen ein) und in jedem Kindergarten eine Stunde Meditation als Pflichtfach einführen. Trillionen von Stunden kostbarer Lebenszeit und ganze Urwälder – siehe den brasilianischen Eso-Salbader – könnten damit gerettet werden.

Jeder Leser, der bis zu dieser Stelle hier im Buch gekommen ist, darf von Glück reden. Denn er hat alle seine geistigen Abwesenheiten im Laufe seines Lebens heil überstanden. Hier ein Fehlgriff ohne Wiederkehr, hier eine Szene, die ich vor Jahren in Bangkok beobachtete. Ich weiß nicht, ob eine Woche vergeht, in der ich nicht an sie denke.

Ich will die Ratchadamri Road überqueren, warte auf einen günstigen Augenblick. Ich schaue auf den Verkehr, und rein zufällig geraten ein Motorradfahrer mit Kind auf dem Rücksitz, vielleicht Vater und Tochter, in meinen Blickwinkel. Sie kommen von links auf der anderen Straßenseite näher. Beide ohne Helm. Möglicherweise fallen sie mir auf, weil sie lachend miteinander reden, sehr fröhlich scheinen. Sie sind es noch drei, vier Sekunden. So lange dauert es, bis der Mann sich wieder nach hinten zu dem Kind dreht, die Maschine zu nahe an den Bordstein kommt, die Honda sich überschlägt und die beiden aus knapp drei Meter Höhe auf den heißen Asphalt stürzen. Senkrecht nach unten. Augenblicklicher Tod. Hirnmasse liegt herum, oberhalb des Mundes hat es den Rest des Mädchenkopfes weggerissen. Ein Augenblick der Unachtsamkeit, zwei Tote.

Ab 14 Uhr wird die Technik der Meditation erweitert. Ging es bisher darum, die Atmung ausschließlich auf die beiden Nasenlöcher zu konzentrieren, so erklärt nun Goenka den nächsten Schritt, den zweiten. Wie immer per Tonband. Die Erfahrung zeigt, dass die Schüler nach drei Tagen eine Spur ruhiger geworden sind, bereiter für anstrengendere Übungen. Ab jetzt soll jeder den ganzen Körper »scannen«, soll mit Atem und Konzentration oben bei der Schädeldecke beginnen, dort »hineinatmen«, soll registrieren, welche Empfindungen das auslöst, und soll so lange bei dieser Körperstelle bleiben, bis er etwas registriert. Denn jeder Teil fühlt, und wenn nicht, dann liegt es an der mangelnden Sensibilität des Meditierenden.

Dann weitergehen, zum Gesicht, dem Hinterkopf, den Armen, den Händen, dem Hals, der Brust, dem Bauch, den Schultern, dem Rücken, den »lower parts« (sittsam für Geschlechtsteile und Gesäß), dann das linke und rechte Bein entlang bis zu den Zehenspitzen. Dann wieder von vorn, wieder oben anfangen.

Beides ist bei Vipassana gleich wichtig: Die geforderte Konzentration und der Vorsatz, jede Empfindung wahrzunehmen, aber nicht zu reagieren. Was immer man an Gefühl in seinem Körper vorfindet, es soll mit Gleichmut zur Kenntnis genommen werden. Kein »Sankhara« soll entstehen, keine Reaktion, keine Wut und keine Ablehnung, kein Jubel und keine Freude. Nur neutrales Beobachten soll stattfinden, nur die Wirklichkeit soll einer zur Kenntnis nehmen und sich zu nichts »hinreißen« lassen. Zu nichts.

Ich weiß sofort, dass ich das nicht schaffe. Ich habe die Gründe bereits beschrieben. Ich bin Mensch unter Menschen und kein gefühllos kasteiter Yogi in einer luftigen Himalaya-Klause. Ich soll einem Mann und einer Siebenjährigen beim Sterben zuschauen, ohne dass mein Herzmuskel an Geschwindigkeit zulegt? Wie das? Klar, meine Verstörung wird am Tod der beiden nichts ändern. Trotzdem, ich reagiere, alles andere scheint mir utopisch.

Doch dieser zweite Part des schroffen Curriculums, eben jener, der einmal mehr mithelfen soll, konzentrierter und »gesammelter« mit seinem Leben umzugehen, der hat natürlich einen Sinn. Weil mit der Konzentration – jetzt von Kopf bis Fuß – die Vertiefung der Feinfühligkeit einhergeht. Wir damit die Welt und uns subtiler wahrnehmen. Was wiederum den Alltag bereichert. Wer kennt eine Freundschaft, eine Liebe, die inniger verläuft als mit einem Menschen, der »versteht«, der über einen inneren Reichtum verfügt, der es mit unserer eigenen Kompliziertheit aufnimmt?

Um die Daumenschrauben anzuziehen, fordert Goenka nun »strong determination«, den unbeirrbaren Willen, die einmal eingenommene Körperstellung bis zur nächsten Pause zu halten, »bewegungslos mit geschlossenen Augen« (um nicht zu schauen, wie es den anderen geht). Man glaubt nicht, wie bescheiden man in seinen Ansprüchen auf Ablenkung wird. Schon sehen, wie jemand sein Kissen zurechtrückt, wird zur Aufregung.

Ich bin ein schwacher Mensch, zudem geschlagen mit einer Narbe am linken Knie, Erinnerung an eine Meniskusoperation. Allein das reicht, um sich bei angewinkelten Beinen das Leid der Menschheit zu vergegenwärtigen. So gelingt die angemahnte »starke Entschlossenheit« nur zeitweise. Solange eben, bis der Drillbohrer in der (operierten) Kniescheibe herrisch nach einem Positionswechsel ruft. Und ich ihn ausführe und dann für Minuten ein Meister meines Fachs bin, mich unkorrumpierbar von allen Versuchungen durch die Regionen meines Körpers atme, ja wie ein Vipassana-Champion die Gegenwart nicht verlasse.

Irgendwann, bald, hört die Meisterschaft auf und ich bin wieder versuchbar. Immerhin kommen die Bilder des Vormittags nicht mehr zurück, der Furor auf die Geldhure bedrängt mich nicht mehr, im Gegenteil, ich tagträume von meiner Freundin, die zu einer anderen Klasse Frauen gehört. Den weitherzigen, den splendiden. Ok, Vipassana ist das auch nicht, aber es ist das Leben. Statt keusch zu sitzen, liege ich neben der sonnenfarbenen Haut der Schönen. Seit ich sie kenne, gibt sie. So selbstverständlich, dass ich sie irgendeines Kalküls verdächtige. So kläglich reagieren jene, die weniger geben. Kein Wunder, dass sie mich beschäftigt.

Bin ich wieder bei klaren, enthaltsamen Sinnen, dann reiße ich mich weg vom warmen Fleisch und kehre zurück ins indische Hinterland. Bin anstellig und folgsam. Für Minuten. Heute nach dem Mittagessen habe ich ein paar Wespen gesehen. Die kamen auch nicht weit in der Kunst der Meditation. Würde ich an Reinkarnation glauben, dann wäre ich sicher in einem früheren Leben eine Wespe gewesen. So wepsig ist meine Motorik, so fahrig und unkontrollierbar. Und jetzt, wenn ich heimlich die Augen öffne, sitzt dieser Ausländer, dieser Zen-Gott, noch immer da. Und zwei Reihen weiter meditiert dieser Inder, der nebenbei als Helfer arbeitet, verharrt wie ein Buddha-Denkmal, das vor Jahren hier vergessen wurde. Die beiden waren nie Wespen, sie waren Bäume mit gigantischen Wurzeln, tief in Mutter Erde verankert. Neid ist keine böse Eigenschaft, er ist nur hilfloses Stammeln angesichts einer Übermacht.

19 Uhr, day four discourse. Goenka erklärt nochmals die (für uns) neue Technik. Natürlich fällt dabei öfters sein Lieblingswort »equanimity«, nein, »perfect equanimity«. Was immer wir an Empfindungen in unseren Körper vorfinden, was immer wir via »viññana« (Bewusstsein), »sañña« (Wahrnehmung) und »vedana« (Gefühl) erfahren, es darf nie in ein »Sankhara« münden, nie in: Das ist toll und das ist Quatsch! Das ist schön und das ist grottenhässlich! Das ist hinreißend und das ist zum Weinen blöd! Immer soll der Meditierende mit Gleichmut antworten, nie reagieren.

Der Mann spricht von Höhen zu mir, in die ich mich nie versteigen werde. Vielleicht andere, ich nicht. Mein Ego soll verpuffen, das ist ein Witz. Aber trotzdem glaube ich dem Alten jedes Wort. Was ihn selbst betrifft. Er scheint sich im Himmel des absoluten Stoizismus auszukennen, er wirkt so milde, so desinteressiert an Gefallsucht, an Ichsucht. Lucky you, uns andere treiben noch viele Süchte. Möglicherweise hat mein Widerstand auch damit zu tun, dass ein solch wertfreier Zustand überhaupt nicht vorstellbar ist. Ich fühle Schmerz, also bin ich. Ich verliere, also bin ich, ich platze vor Freude, also bin ich, ich empfinde Todesangst, also bin ich. Wie soll ein Mensch sein, dasein in der Welt, wenn ihm die »Beweise« seiner Existenz abhandengekommen sind? Wie soll einer von seiner Existenz wissen, wenn er nicht liebt und nicht geliebt wird? Ja, nicht einmal hasst und von anderen gehasst wird?

Hinterher gehe ich noch ein paar Mal im Garten im Kreis. Schwer eingehüllt, schwarz wie eine Schleiereule. Ich versuche alles und scheitere. Ich sollte gleichmütig bleiben und bin übermütig. Der Augenblick ist ein Vergnügen, eine stille indische Nacht ist ein Traum, Sternlein blinken, wie einem Kind fährt mir das Glück durch den Leib.

Goenka erwähnte noch, natürlich, dass wir beim Scannen unserer Körperräume einmal mehr begreifen sollen, dass die wahrgenommenen »Sensationen« vergänglich sind. Juckt es einmal in der linken Wade, so juckt es beim zweiten Scannen nicht mehr, der Reiz ist verschwunden. Eben der Beleg, dass nichts bleibt, dass alles vergeht. Warum sich also seelisch verzehren? Warum anhaften oder abwenden, warum sich verausgaben mit psychischer Energie, mit einem Wort: Warum ein Verlangen kreieren, sprich Abhängigkeiten schaffen, die endlich sind, die verlöschen?

Gestern sprach Goenka ja zum selben Thema. Er erwähnte folgende Analogie: Sehen wir eine Frau mit schönem Haar, dann sollen wir uns vorstellen, dass es vergeht, der Glanz verschwindet. Wie die Zähne, die gleich mitausfallen. Ist das die Lehre vom Leben im Augenblick? Ist das nicht ein seltsam bizarrer Widerspruch? Warum nicht das Schöne im Hier und Jetzt genießen? Auch dann, wenn man weiß, dass es verwittern und vergehen wird. Denn alle Reue ist ja noch peinsamer, wenn man begreift, dass man den Moment der Begeisterung vorbeiziehen ließ. Warum die haarlose und zahnlose Zukunft visualisieren? Nur um der Freude über das Schöne aus dem Weg zu gehen? Hätte ich heute Morgen, als ich die Nase in den Tau des Hibiskus steckte, »Pfui Teufel« ausrufen sollen? Statt einzuatmen und auf Fußspitzen (vor Sinnenlust) davonzutippeln? Soll ich hier auf ein »Nibbana« (Sanskrit: Nirwana) trainieren, wo alle unheilbar happy vor sich hindösen? Ist ein Leben ohne Herausforderungen nicht eine furchtbare Veranstaltung? Ist es so miserabel, unser Dasein, dass alles erstrebenswerter scheint, als auf der Welt zu sein?

Ich bin ein Kind meiner (europäischen) Zeit, meiner Jahrhunderte. Ich kann nicht Inder sein, der ganz andere Jahrhunderte hinter sich hat. Es gibt einen eleganten Satz von Salman Rush die dazu, er stellt wunderbar klar: »Das vielleicht größte Geschenk, das die Renaissance unserer heutigen Zeit gemacht hat, ist die Entdeckung des Individuums und die Idee von einem souveränen und einzigartigen Selbst.«

Die Kerzen in meiner Zelle knistern noch lange. Ich liege und bin wohltuend erschöpft. Hocken und nur immer nichts tun – geraden Rückens, das schon – kann gewaltig anstrengen. Während des Tagebuchschreibens fällt mir ein, dass Goenka die Praxis von Vipassana noch als Vorbereitung aufs rechte Sterben anpries. Weil man damit auch den Verlust des Einmaligsten – des eigenen Lebens – gelassener hinnehme. Das klingt logisch, triftig. Wie gern man es glauben will. Wie Beruhigungstabletten schlucken wir Sätze, die den endgültigen Abschied erleichtern sollen. (Monotheisten schlucken seit zweitausend Jahren die Paradies-Pille. Jeder braucht sein Placebo.)

Zufälligerweise habe ich eine Geschichte in petto, die nicht logisch klingt, dafür ergreifend echt: Der japanische Zen-Meister Shunryu Suzuki kam 1959 nach Amerika und gründete in Kalifornien das Zen Mountain Center, das erste buddhistische Kloster außerhalb Asiens. Der Roshi war entschieden, tapfer, beliebt, hoch verehrt. Sein Buch Zen-Geist /Anfänger-Geist wurde ein Bestseller.

Dann kam der Krebs. Der Roshi wurde noch tapferer, mit einem meisterlichen Zen-Lächeln sah er den Tod näherrücken. Nah bis ans Totenbett, so nah, dass sich der Kranke endlich inne wurde, was es bedeutete, die Welt, die Frau und alle anderen Freunde zu verlassen. Und er die Hand eines Schülers ergriff und leise sagte: »Ich will nicht sterben.« Ein halbes Jahrhundert hat er sich auf diesen Moment vorbereitet und bei der Premiere fällt er durch. Wie menschlich.

Beim Sterben ist jeder der Erste und auch Vipassana (oder Zen) wird uns die scheußliche Angst davor nicht nehmen. Doch sie eindämmen, den Level der Bedrohung runterfahren, das scheint durchaus möglich. Ist es doch ein Unterschied, ob ich gefasst und trocken meinen Unwillen kundtue, weil nun mein Leben aufhören muss, oder ob ich unversöhnt und höllisch verängstigt abkratze.

Ich lese noch. Selbst auf einem Surfbrett ist das ein wundersamer Zeitvertreib. Ich lese, dass die Tibeter »rangwang« für Glück sagen und »shenwang« für Unglück. Die gemeinsame Endsilbe »wang« bedeutet u.a. Kraft, Recht, Anspruch. Und »rang« steht für selbst und »shen« für anderer, sprich: Es geht dir gut, wenn du über dich selbst bestimmst, frei bist, entscheiden und auswählen kannst. Und lausig, wenn ein »Fremder« über dich bestimmt. Das kann ein anderer Mensch sein oder ein »anderer Gedanke«, einer, der deinem Innersten widerstrebt, aber dir einst wie ein Gifttrank eingeträufelt wurde. Durch Erziehung, durch Religion, durch jede andere Indoktrination.