Meiner Erfahrung überließ ich nur eine Entscheidung: dass der Weg zum Pazifik über den Süden führen muss. Denn das ist der abenteuerlichste Teil der Vereinigten Staaten. Die Hitze, die Rednecks, die Gastfreundschaft, die Poesie, die Musik, viele bärenstarke Spinner hat dieser Erdteil schon beherbergt. Die schöne Gefahr, ihnen über den Weg zu laufen, die besteht täglich. Hier kämpfen sie noch, das Land ist noch nicht fertig. Es blutet noch immer als Schlachtfeld zwischen Gut und Böse. Wer im rechten Augenblick vorbeikommt, der hat die Chance, in die Schluchten heiligen Schwachsinns abzustürzen, so wunderlich bizarr und erheiternd, dass er von diesen Erinnerungen bis ans Ende seiner Tage nicht mehr lassen will.

Williamsburg wird mich nicht enttäuschen. Am späten Abend finde ich eine Unterkunft bei Missis Lewis, die sich rüstig und einsam ein paar Dollar als Zimmerwirtin verdient. Fließendes Wasser, Seife, Handtuch und acht Stück schlaflose Kakerlaken sind im Preis inbegriffen. Das habe ich bis heute nicht verstanden: Die so technisch hochbegabten Amerikaner erfanden Waffen, um zehnmal pro Tag die Menschheit zu nuklearem Restmüll einzuäschern. Aber Bomben gegen ihre paar hundert Millionen Küchenschaben fallen ihnen nicht ein.

Es wird trotzdem ein bemerkenswerter Abend. Weil ich »Doctor Judy and Jagger« treffe, auf 96.10 FM. Eine Ärztin und ein sarkastischer Kommentator, die als nächtliche Diskjockeys für einen Radiosender arbeiten, der für das Beste steht, was dieses Land zu bieten hat: Widersprüche, das andere Extrem, ein Bollwerk gegen die Kreuzzüge der Lusttöter und bigotten Dunkelbirnen. Man will zappeln vor Genuss. Die Ansage – »Nur für reife Hörer! Aber möglicherweise hörst du sowieso zu« – stimmt genau.

Anrufer aus allen Ecken des Landes rufen an und packen ihre verstecktesten Geheimnisse aus. Vielleicht ist das der einzige Platz zwischen Himmel und Hölle in Amerika, wo einer oder eine im Schutz der Anonymität aussprechen darf, was jeden von ihnen heimsucht. Ohne dafür bestraft oder hingerichtet zu werden von denen, die festlegen, was normal und gesund ist. Und was nicht.

Es beginnt harmlos. Jerry meldet sich und berichtet, dass er seine neunundsechzigjährige Großmutter beim keuchenden Liebesspiel mit ihrem Boyfriend beobachtet habe. Versehentlich, da er zu früh nach Hause gekommen sei und die Schlafzimmertür offen gestanden habe. Er stehe unter Schock, könne einfach nicht fassen, dass auch Greisinnen noch Geschlechtsteile hätten und sie benutzten.

Jagger – er soll für Entspannung sorgen, entdramatisieren, provozieren – fragt Jerry, ob er gesehen habe, in welcher Position die Omi ins Keuchen schlitterte. Dr. Judy – die Medizinerin übernimmt den seriöseren Teil, fragt nach anderen Details, gibt Ratschläge – sieht nicht das geringste Problem, im Gegenteil, sie gratuliert Jerry zum genetischen Erbe seiner Familie, es sei stark und bejahend, und außerdem: Großmutters Lustseufzer seien ihr simples Menschenrecht. Wäre sie Opfer penetranter Männergewalt geworden, läge der Fall ganz anders. Aber offensichtlich seien beide ganz einverstanden. Bingo: Sex ist sexy und tut jedem Gutes, der ihn bejaht.

Joey aus Iowa – weites Land, einsam gelegene Höfe! – ruft an. Ihn drückt es schwerer. Er habe bemerkt (Joey braucht Zeit, um sich zu sammeln), dass ihn das Quieken seiner Schweine stimuliere. Ob sie wüssten, was er sagen wolle? Judy und Jagger tun, als wüssten sie es nicht. Ob er denn ihren sirenengleichen Lockrufen nachgeben und sie – »sorry, sorry« – begatten dürfe. Er habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, finde sich säuisch und könne selber nicht fassen, dass derlei Verirrungen über ihn hereingebrochen seien.

Seine Beichte löst zuerst eine Lachsalve im Studio aus. Nicht wegen seiner wilden Lust im Schweinegatter, eher wegen seines sozial korrekten Auftritts, seines Zerknittertseins, das anschaulich demonstriert, wie sehr ihn die Gesellschaft bereits mit ihren Ansichten von Bravsein und Todsünde im Griff hat. Natürlich gebe es kein Problem, solange die Ferkel es genössen und solange es in seine Seele Frieden brächte. »Go ahead.« Erlöst legt Joey auf.

Ted berichtet von seinem seltsamen Begehr, das nur dann funktioniere, wenn er das Brausen eines Feuerwehrautos höre. Auf die Hupe könne er im Notfall verzichten, nicht aber auf die blauen Lichter. Sie erinnerten ihn an große, strahlende Brüste. Er müsse also seine Freundin immer zuerst in die Nähe einer Feuerwache schleppen, um erotisch voll einsatzfähig zu sein.

Dr. Judy schlägt Ted einen Desensibilisierungskurs vor, wäre doch der Weg zum Feuerwehrhaus auf Dauer zu aufwändig und zu kostspielig. Er solle sich rote Spielzeugautos kaufen und nachschauen, ob er es schaffe, sich in ihrer Nähe zu betören. Er solle immer weniger dramatische Autos wählen, bis er bei einem ganz normalen angekommen sei. Dann wäre Liebe auch auf dem Rücksitz seines Buick möglich. Aber: »Vögle, solange du lebst. Es gibt kein ewiges Vögeln.« Ergriffen bedankt sich Ted für den Therapievorschlag und den Hinweis auf die Flüchtigkeit menschlicher Wollust.

Bis weit nach Mitternacht kommen die Anrufe. Damit kein Missverständnis ausbricht: Nicht die stickigen Nachrichten von Jerry, Joey und Ted begeistern, sondern die aufsehenerregende Tatsache, dass eine solche Radiostation existiert. Als Flammenwerfer gegen den Perlmuttdunst alter Gedanken. Als Schleudersitz aus einer Welt von Verheimlichern und wimmernden Wiedergeborenen. Als Heilkur gegen die Lusthasser, die ihre sinnliche Impotenz zum Maß aller Dinge erheben.

Williamsburg ist an vielen Ecken revolutionär. Mitte der zwanziger Jahre rettete John D. Rockefeller die versiechende Ex-Hauptstadt und spendierte ein paar seiner Ölmillionen, um den historischen Teil renovieren zu lassen. So erwarten den Besucher heute alte Kutschen und frische Pferdeäpfel auf den Wegen. In den Geschäften drängen sich die Besucher und kaufen von Herren mit Vorbürgerkriegs-Perücken einen »Revolutionstee«.

Ein paar Straßen weiter steht das William & Mary College: eine alte, berühmte und ungemein geschmackvoll gelegene Universität, untergebracht in Gebäuden, die zu den Formen und Farben der sie umgebenden Bäume und Rasenflächen passen. Vom Besuch der campuseigenen Buchhandlung wäre allerdings abzuraten. Oder man betritt sie erst nach einer gewissen Gewöhnungsphase. Denn gerade für Liebhaber schmucker Bücherrücken ist das dazwischen mehrmalige Auftauchen von zellophanverpackter Unterwäsche »100% pure Cotton« eine starke Herausforderung.

In dieser Kleinstadt denken sie tatsächlich neu. Zumindest die Jungen. Vor der Uni-Kantine sitzen ein Dutzend Studenten, Frauen und Männer, und bieten Informationen und Broschüren an. Denn heute ist der »National Coming Out Day«: einmal im Jahr alle Angst überwinden und den Mut haben, sich nicht mehr vor einer anmaßenden Welt zu verstecken.

Frank spricht mich an, bittet um eine Unterschrift zur ausliegenden Erklärung. Der Dreiundzwanzigjährige besticht, ein gewiefter Bursche, ein Schnelldenker, der Anwalt werden will. Er hat sich heute nicht als Homo offenbart, er sei schon immer out gewesen. Er ist hier, um den Heimlichen Mut einzureden. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Europa komme, legt er los. Wahrscheinlich hält er uns alle für glutvolle Katholiken. Und der Junge kann reden: »Wann wird der Papst sich hei den Homosexuellen entschuldigen? In fünfzig Jahren? In fünfhundert Jahren?« Er zieht einen Time-Artikel hervor, der von der besserwisserischen Renitenz der Kirche spricht, von den ungeheuren Zeiträumen, die sie benötigt, um ihre Irrtümer (Kopernikus, Bruno, Galilei u. v. a.) und Verbrechen einzusehen. »Wann wird ein Konzil einberufen, um Abbitte zu tun für all die kriminelle Anmaßung, die da behauptet, dass männerliebende Männer nicht im Plan Gottes vorgesehen seien? Dass Analverkehr keinen Platz im Universum habe?«

Franks harsche Reden katapultieren mich für einen Augenblick nach Guatemala City. Ein paar Wochen verbrachte ich dort als Untermieter in einem Haus, das einem homosexuellen Pärchen gehörte. An jedem Sonntagmorgen gab es einen absurden Grund zum Lachen: Die beiden machten sich auf den Weg zur 10-Uhr-Messe. Ich bettelte: »Antonio, Miguel, bitte liefert mir einen Grund, warum ihr eine Institution aufsucht, die nichts anderes unternimmt, als euch zu beleidigen?« Sie wussten ihn nicht. Claro: Die teuflische Maschinerie hatte bereits gegriffen. Schwulsein war schlimm genug. Aber die »Perversion« nicht beichten und bereuen, das schien noch verheerender.

Bis zuletzt hat mich Williamsburg überrascht. Als ich am Sonntagvormittag vorbeikomme, ist die Stadtbücherei offen. Das ist ein fairer Pluralismus, alles ist zugänglich: das Wort Gottes, das aus der nahen Sonntagsschule schallt, und die vielen Worte der Menschen. In einem Land mit 33 Millionen Analphabeten und über 120 Millionen Para-Analphabeten – also all diejenigen, die lesen können, aber nicht wollen – ist das Finanzieren einer täglich zugänglichen und reichlich ausgestatteten Bibliothek ein Akt des Widerstands.

In der New York Times stoße ich auf eine merkwürdige Nachricht. Vertreter afroamerikanischer Organisationen haben vehement dagegen protestiert, dass der Begriff »Nigger« auch in der neuen Ausgabe des Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary erwähnt wird. Sie wollen ihn nie wieder auftreten sehen. Das ist ein kurzsichtiges Begehren: Wir streichen das Wort »Auschwitz« und Auschwitz ist weg. Wir streichen die sechs Buchstaben »Nigger« und alles, was mit diesem kurzen Wort assoziiert wird – Rassenwahn, Lynchjustiz, Menschenhass –, hat nie stattgefunden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Geschichte als Puzzle, die freien Stellen bitte selber nachtragen.

Witzige Parallele: Vor Jahren ließ das bayerische Kultusministerium die menschlichen »Zeugungsglieder« in den Biologiebüchern wegretuschieren. »Schamgegenden« – was für ein wunderbar christliches Wort – hätten in Schulbüchern nichts zu suchen. Den Sex übermalen, wie rührend, wie hilflos.

Als Reisender, als Mensch allein, ist man mehr als andere auf das Wohlwollen von Fremden, die kindness of strangers, angewiesen. Für jedes warme Wort fühlt man sich doppelt dankbar. Es erleichtert so ungemein das Ankommen und Fortgehen. Und in den Staaten bin ich öfter dankbar als im blasierten Mitteleuropa. Kaufe ich dort etwas ein, werde ich das Gefühl nicht los, mich dafür zuerst entschuldigen zu müssen. Der Kunde als lästige Wanze, derer man sich zügig und mit steinernem Gesichtsausdruck entledigt.

Hier läuft es so oft anders, denn hier in Amerika haben sie diese angenehme Oberflächlichkeit erfunden. Beispiel Williamsburg: Ich betrete die Fleischabteilung des K-Mart, die schinkenrunde Dorothy, wir haben uns nie zuvor gesehen, kümmert sich sofort um mich und fragt: »How are you doing today, young man?«, verweist auf das tolle Wetter, ist fix, packt ein, zwitschert: »Enjoy

Aber ja doch, ich bin noch nicht draußen und mein Gesicht ist schon verschwunden hinter den anderen 120 Kundengesichtern, denen sie heute bereits »Have a nice day« hinterhergerufen hat.

Doch das ist der springende Punkt. Es geht mir entschieden besser, wenn sie mir lächelnd die Wurstwaren aushändigt. Viel besser als in Ländern, in denen sie nicht lächeln und mir die Würste missmutig herüberreichen. Ich aber hinterher in einem Reiseführer nachlesen kann – während ich die Wurst verzehre –, dass die Menschen hier seriös seien, kaum zu Oberflächlichkeiten neigten und immer auf den Grund der Dinge gingen. Man müsse nur Geduld haben, länger bohren. Zum Teufel, die Zeit habe ich nicht. Für lebenslange Freundschaften braucht man ein Leben. Jetzt will ich die Wurst und ein Lächeln. Für das eine zahle ich und für das zweite lächle ich zurück. Hoch lebe die oberflächliche Dorothy.