MEMPHIS
Beschwingt davon. Im Greyhound-Terminal komme ich mit Levi Mast ins Gespräch. Mit Frau, Schwester und seinen vier Kindern wartet er auf einen Bus Richtung Norden. Sie sehen anders aus als die anderen Anwesenden. Die Frauen mit Häubchen und langer Kutte. Und sie benehmen sich, als wären sie nicht von dieser Welt. »GAMES – SNACKS – GIFTS« leuchtet es, und sie sehen nicht einmal hin. Den neben jedem Sitz installierten Fernseher schalten sie nicht ein. Die Frauen lesen still, konzentriert, von keinem äußeren Geräusch abgelenkt. Ein friedliches, keusches Bild, nichts schreit, verwundet, verletzt die Ohren.
Levis Familie gehört zu den Amish, den amischen Mennoniten, einst eingewandert aus der Schweiz. Ihr seligster Wunsch ist, sich von den Verwüstungen des Fortschritts fernzuhalten. »Wenn irgendwie möglich«, fügt der Einundvierzigjährige hinzu. Denn ein Bus ist ein Fortschritt, den sie benutzen, wenn es nicht anders geht. In ihrem Dorf in Illinois haben sie keinen Strom, kein fließendes Wasser, kein Telefon, nicht ein einziges motorisiertes Vehikel, eisern vereint im Widerstand gegen den Terror des pausenlosen Konsums. Levi lässt den wilden Satz raus: »Beim Erntedankfest müssten in Amerika die Feuerwehrsirenen heulen. Damit jeder erfährt, wie schamlos sie hier die Gaben Gottes plündern.«
Der Mennonit erinnert mich an die Anekdote zweier Zen-Schüler, die darüber streiten, wer von ihnen den souveräneren Meister habe. Der eine sagt: »Schau, da drüben am Ufer des Sees gehen Leute. Mein Meister könnte sie selbst aus der Ferne so beeinflussen, dass sie genau das täten, wozu er sie auffordert.« Der andere Schüler schweigt beeindruckt und sagt dann: »Nicht schlecht. Alles das kann mein Meister nicht. Aber er redet, wenn er redet. Und er schläft, wenn er schläft. Und er isst, wenn er isst.«
Levi hat diese leise, baumstarke Konzentration. Er muss sich nicht mehr um sie bemühen, sie ist da, immer, nichts scheint ihn von unserem Gespräch abzulenken. Das wirkt beinahe surreal, denn um uns herum ist einmal mehr der rasende Stillstand tätig: zappende Dreizehnjährige auf der Suche nach dem schnellen Thrill, dröhnende Walkmen, die Lautsprecherdurchsagen, ein kaputter Alter, der seinen Körper nach Ungeziefer absucht, drei hysterische Mütter, die versuchen, ihre plärrenden Kinder zur Ruhe zu überreden.
Jeden Tag kniet Levi sich nieder und betet. Wenn »Versuchungen« kommen, mehrmals am Tag. »Und sie kommen.« Er redet wie ein moderner Mensch, er hofft auf Erlösung, aber er hat keine Sicherheit. Seine Armut ist kein Thema für ihn, sie scheint ihm normal und richtig. Er versteckt nichts, nicht die verschnürten Kartons, die als Koffer dienen, nicht sein mehrmals geflicktes Gilet, das er über seinem geflickten Hemd trägt. Er bittet um nichts, auf unangestrengte Weise ist er mit allem, was er besitzt, zufrieden.
Der Bus wird voll, diesmal mit mexikanischen Saisonarbeitern auf dem Heimweg. Die meisten von ihnen sprechen noch immer keine zehn Worte Englisch. Das passt den Arbeitgebern. So kann sich niemand beschweren: über die Zumutungen, die Hitze, die Blechhütten zum Schlafen, das Fehlen jeglicher sozialer Leistungen. Jorge und ich sitzen nebeneinander. Für sieben Dollar die Stunde buckelte er auf den Tabakfeldern von Kentucky. Nun muss er zurück in die mexikanische Arbeitslosigkeit. Bevor er sie antreten darf, gilt es die Grenze nach Mexiko zu passieren. Das kostet, weil dort seine Landsleute als Zöllner arbeiten.
Wer als armer – sprich: wehrloser – Mexikaner zurück in sein Land will, der hat zuerst einmal Zahltag. Denn hier bezahlen sie an die diensttuenden Gangster eine Art Privatmaut: den Eintrittspreis, um die Demarkationslinie von der Ersten in die Dritte Welt überschreiten zu dürfen. Natürlich ist auch der Zöllner hundsgemein arm, aber weniger arm, da im Besitz von Macht. Jorge erzählt mir von den Manövern, die er und seine Kollegen veranstalten, um den Großteil ihres geringen Barvermögens sicher nach Hause zu schmuggeln: wie sie es in den verschiedenen Versenkungen des Körpers zwischenlagern. Was dort nicht Platz findet, kommt in die akribisch angelegten Ritzen ihres Gepäcks.
Aber Jorge und ein paar seiner Amigos jagen noch andere Probleme. Jorges heißt Maria, seine zum vierten Mal schwangere Ehefrau, und Pedro, Alvaro und Federico, seine drei Söhne. Jorge, der Zweiunddreißigjährige und zukünftige vierfache Vater, muss mir versprechen, nie mehr Maria zu schwängern. Denn mit vier chicos werden sie es in diesem Leben bei einem Sieben-Dollar-Stundenlohn für vier Monate im Jahr schon anstrengend genug haben. Jorge sieht den Ernst der Lage, trocken kommentiert er: »Claro que sí, si no trabajas, no comes«, aber ja doch, wer nicht arbeitet, hat nichts zu essen. Da Jorge mehrmals das Wort esposa, Ehefrau, erwähnt, fällt mir wieder ein, dass der Plural dieses Wortes, also esposas, neben »Ehefrauen« auch »Handschellen« bedeutet. Und esposar: Handschellen anlegen. Wie gern würde ich Jorge noch einen meiner Lieblingssätze mitgeben: »Du sollst nicht ehe-erbrechen!« Aber ich kann nicht, das so grausam wahre Wortspiel funktioniert nicht im Spanischen.
Abends um Viertel nach zehn betrete ich eine Stadt, von der ein amerikanischer Autor behauptete, sie sähe aus wie Sarajevo um sechs Uhr morgens. Ungenau beobachtet, denn Memphis sieht aus wie Sarajevo um sechs Uhr morgens, nachdem es die Amerikaner wieder aufgebaut haben. Riesig, gräulich, ein echter Totmacher. In New York lebt ein Filmkritiker, der schlechte Filme verschieden hoch »on the vomit scale«, auf der Kotzlatte, platziert. Wäre Memphis ein Film, man würde kotzend hinauslaufen. Als ich von der Busstation auf die 4. Straße hinaustrete, lallt mir ein weiblicher Crackhead entgegen, ein von Drogen und Hurerei erledigter Mensch: »Soll ich dir einen blasen?« Gleich ums Eck könnte sie mir eine Express-Fellatio verpassen. »Wieviel?«, will ich wissen. Und die Erledigte: »Just five.« Das könne hinkommen. Für denselben Betrag bekommt sie einen »Hit«, ein Pfeifchen voll Crack. So verbringt Debbie ihr Leben zwischen Blasen und tief Einsaugen. Einmal blasen finanziert einmal einsaugen. Wie ich sie verstehe. Wer hier leben muss, der braucht sich nicht mehr zu rechtfertigen.
In meinem Motelzimmer finde ich noch zwei andere Glaspfeifen in der Klopapierrolle versteckt. Ein Nachlass meines Vormieters. Mein Badezimmer befindet sich ungefähr sieben Meilen von Downtown Memphis entfernt, aber die Gründe, um nach dem Trost der Droge zu greifen, sind hier nicht weniger grausam. Im Gegenteil, draußen liegt der U. S. Highway 51 South. Als ich den Rezeptionisten frage, wo ich etwas zu essen kaufen könne, meint er: »You better stay hungry.« Das hier sei eine schäbige Gegend. Ich mache mich trotzdem auf den Weg: flackernde Straßenlampen, die eingezäunten Autohalden der Gebrauchtwagenhändler, vorbei an verlassenen Häusern, einem vergitterten Waffengeschäft, querliegendem Müll, Flaschen, Tüten, Bierdosen, hingeschleudert vom durchbrausenden Verkehr, in weiter Ferne leuchtet eine Tankstelle, der Tiger Mart. Ich will Milch und drei Riegel Schokolade kaufen.
Als ich ankomme, darf ich nicht rein: »I can’t let you in«, erklärt mir der Boss über Lautsprecher hinterm Panzerglas. »Warum nicht?«, frage ich blöd. Keine Antwort, nur die Wiederholung der Durchsage, dass ich draußen bleiben muss. Das überrascht, glaube ich doch noch Anzeichen von Zivilisation an mir zu entdecken. Was machen die erst mit einem, der weniger adrett daherkommt? Hungrig und umsichtiger denn je – vielleicht war der Laden dicht, weil gerade ein verdächtiges Subjekt unterwegs ist – kehre ich in mein Zimmer zurück, das jetzt nach frisch versprühtem Gift riecht. Ich erfahre, dass gerade der Kammerjäger vorbeischaute. Ob der immer um Mitternacht kommt? Der Tüchtige benutze ein Produkt, so erläutert mir Jim, der hier nachts als schwerbewaffneter Aufpasser unterwegs ist, das 300 Kakerlaken in zehn Sekunden tötet. Jims imperiale Sprache beruhigt, ich weiß jetzt, dass nun mindestens neuntausend Kakerlaken – mindestens fünf Minuten lang wurde gesprüht – in meiner nächsten Umgebung tot sind.
Ich will mich nicht beschweren. Auch nicht über Memphis, nicht über seine hurenden Kokainsüchtigen, seine düsteren Highways und fruchtbaren Küchenschaben. Weil ein Schreiber nichts zu schreiben wüsste über die unheilbar Gesunden, über den Durchschnittstypen, das Mädchen von nebenan und das brave Leben der lebenslang Braven und Stillen. Gut, dass es sie gibt. Und wie gut, dass ein paar andere, die Lauten, die Schrillen, die Auflehner, die Kaputten und Krummen, auch da sind. Sie erinnern die Unverletzbaren an die einzige Todsünde, derer sie sich ununterbrochen schuldig machen: dass sie nicht leben. Dass sie tatsächlich glauben, es gäbe noch ein anderes, ein späteres Dasein. Sie sich weigern zu begreifen, dass sie froh sein müssen, wenn sie immerhin ein Leben vor dem Tod gehabt haben. Jack Kerouac schrieb es ebenso imponierend wie pathetisch nieder: »Das Leben ist heilig und jeder Augenblick kostbar.«
Alle bisherigen Städte lagen am Weg, eher zufällig legte ich bei ihnen eine Zwischenstation ein. Anders Memphis. Hierher trieb mich die reinste Liebe, ein Gelübde, das dringende Bedürfnis, mich zu revanchieren. Dem Mann, der hier vor zwanzig Jahren starb, verdanke ich mindestens tausend Stunden Glück. Immer wenn ich ihn hörte, wurde ich sentimental, sinnlich oder einfach happy. Er war einer der ersten, die mir beibrachten, dass Schreiber gegen Musiker nichts ausrichten. Dass Musik radikaler verführt als Sprache.
In manchen Augenblicken fragte ich mich, ob ich ihm nicht Tantiemen schulde. Es waren jene Momente, in denen ich mich anschickte, eine Frau für mich zu begeistern. Und um dieses Unternehmen so elegant wie nur denkbar dem einen Ziel näherzubringen, legte ich seine Platten auf. Noch heute könnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, was den Ausschlag gab: meine Bemühungen oder sein shmaltz (sprich: schmolz), sein seliges Wimmern und Heulen.
Vorgeschichte: Vor mehr als 150 Jahren flohen die Chickasaw-Indianer ostwärts, um den vordringenden mordenden Siedlern zu entkommen. Der Große Geist riet ihnen, jeden Abend in der Mitte des Camps den magic pole zu errichten. Und der magische Pfahl neigte sich immer östlich. Also flohen sie stets in diese Richtung. Eines Morgens fanden sie den Pfosten unverändert. So blieben sie und nannten den Ort »Topola«, Rastplatz. Sie überlebten. Ein langes Jahrhundert später – das zwei Autostunden östlich von Memphis gelegene Kuhdorf hieß inzwischen Tupelo – wurden hier einer armen Frau Zwillingssöhne geboren. Der erste hieß Jesse Garon und war tot, als er zur Welt kam. Der Zweitgeborene hieß Elvis Aaron und brüllte unverzüglich nach den Brüsten seiner Mutter. The King was born. Wie logisch, dass er allein überlebte. Neben ihm war kein Platz für einen zweiten. Da gibt es Statistiken, die sagen, dass die vielen unter diesen oder jenen Umständen keine Chance haben. Und dann gibt es das Wunder, den Helden, das Einzelstück, einen, der seinen Weg geht, einen, der alles widerruft.
Der U. S. Highway 51 South heißt auch Elvis Presley Boulevard. Am nächsten Morgen wandere ich die Straße nochmals entlang, um endlich an dem Ort anzukommen, an dem ich längst hätte ankommen sollen: »Graceland – House of Elvis A. Presley. 3717 Elvis Presley Boulevard, Memphis TN 38 116.« Als ich davorstehe, bin ich zu feige, um nachzugeben. Fünfzig andere stehen auch davor, die Mutigeren heulen ergriffen drauflos.
Das muss zügellose Anbetung sein: eine gute Stunde vor Mitternacht Memphis betreten, hungernd einschlafen, zweimal an einem der hässlichsten Highways des modernen Straßenbaus entlanggehen und nicht davor zurückschrecken, an der Kasse der Elvis Presley Enterprises ein »Platinum Tour Package«-Ticket zu erstehen. Aber ich fühle mich beschützt, bin unauffällig im Kreis anderer – 2049 heute, 750 000 im Jahr – Leidenschaftlicher, die nun die in Fünf-Minuten-Intervallen abfahrenden Busse besteigen, um die andere Straßenseite zu erreichen.
Typisch Elvis: Eine Straße gehend zu überqueren – selbst wenn eine eigene Ampel den Verkehr abstoppt – kommt nicht in Frage. Einen König besucht man nicht zu Fuß, man fährt vor. Auf den achtzig Metern vom Gartentor bis zur Haustür fällt mir noch auf, dass ich mich doch geringfügig von den anderen 2048 unterscheide. Durch mein eher biederes Auftreten. Sehen doch die anderen – ganz im Einklang mit der Kleiderordnung des Meisters – aus wie lebende Leuchtraketen: pinkgrüne T-Shirts, hellrosa fluoreszierende Turnhosen, Sneakers und spiegelglitzernde Sonnenbrillen.
So sei noch ein ganz persönlicher Rat erlaubt: Wer immer als Nicht-Yankee hier vorbeikommt, um dem Giganten die letzte Ehre zu erweisen, der sollte sich geistig gründlich darauf vorbereiten. Denn Elvis war unter anderem auch Weltmeister aller zwischen Himmel und Erde vorstellbaren Geschmacklosigkeiten. Die Inneneinrichtung von Graceland – schon der Anblick von Fotos lässt in Ohnmacht sinken – verspricht härteste Anforderungen an feinnervige Zeitgenossen.
Vier Jahre bevor er 1957 hier einzog, entstand eine der aufregendsten Legenden seines Lebens. Der völlig unbekannte Achtzehnjährige machte sich auf den Weg zu den Sun Studios, um auf eigene Kosten eine Platte für den Geburtstag seiner Mutter aufzunehmen. Als er eintrat, fragte ihn der Mann am Mischpult (in anderen Versionen fragten ihn die Sekretärin oder der Besitzer): »How do you sound like?« Und der Halbwüchsige wusste es längst: »I don’t sound like nobody.« Und ist die Geschichte hundertmal erfunden, so ist sie doch auf ewig und immer wahr.
Die Platinum Tour beginnt erfreulich. Zehn Sekunden lange Fahrt durch einen Park mit Bäumen aus dem Paradies, gedacht wohl als hilfloser Puffer gegen den sechsspurig vorbeikeuchenden Verkehr. Dann Ankunft, die Fassade von Graceland sieht gut aus, klare Linien, vier weiße, hohe Säulen stützen das im Greek-Revival-Stil erbaute Vordach. Erst hinter der Tür hat Elvis architektonisch eingegriffen. Hemmungslos eingegriffen. Gleich rechts im Erdgeschoss das Esszimmer, spanische Fenstergläser aus dem 17. Jahrhundert neben einem hellorangefarbenen Teppichboden. In der Mitte ein langer Tisch, Platz für vierzehn Personen, die vor Ort die Memphis Mafia genannt wurden, jeder Stuhl ein Beweis für Elvis’ notorische Großzügigkeit. Geld kam tonnenweise herein und flog tonnenweise hinaus. Zufällig gab es auch vierzehn Fernseher im Haus, hier im Esszimmer stand die Zwei-Zentner-Ikone links neben dem Sitzplatz des Hausherrn. Somit schien die Gefahr gebannt, dass jemals ein Augenblick der Stille den betriebsamen Lärm durchbrach.
Daneben die Küche. Drei Köche hantierten hier, Presley war Südstaatler, folglich ein guter Esser, später ein Vielfraß, immer wieder besessen von fixen kulinarischen Ideen, von denen er sich nur befreien konnte, indem er sie auslebte. Am hartnäckigsten scheint ihn die Meatloaf-Phase verfolgt zu haben. Sechs Monate lang jagte er von einem Fleischberg zum nächsten. Der King weigerte sich erfolgreich, erwachsen zu werden. Durchs Leben rannte er als Kind, besessen von Sehnsüchten, die er sich erfüllte. Sein Logo waren drei Buchstaben – TCB: »Taking care of business in a flash.« Kein Vielschwätzer, kein Nachdenklicher, eher ein Mover und Shaker, immer erdbebengefährdet, immer auf der Suche nach dem Thrill.
Und immer begleitet von schamlos ausgelebter Eitelkeit. Überall Spiegel, hier in Graceland gleich quadratmetergroß. War er unterwegs, dann puderte er sich mit Hilfe einer maßgeschneiderten vanity box, die er sich in jedes seiner Autos einbauen ließ. Die sündteuerste von allen, rundum vergoldet, fand ich in seinem Golden Cadillac, Baujahr 1960, ausgestellt in der Hall of Fame in Nashville. Elvis, der Gutausseher, lief schon als Teenager mit aufgeklebten Wimpern herum. Mit kindlicher Freude sah er sich an.
Der erste Stock ist gesperrt. Gemeine Menschen behaupten, die dort versteckten Schlafzimmer seien so unansehnlich wie blaue Wildlederschuhe, sodass sie nicht einmal der amerikanischen Öffentlichkeit zugemutet werden könnten. Also hinunter in den voll ausgebauten Keller. Zwei Räumlichkeiten bleiben unvergessen, zuerst das Fernsehzimmer mit drei Fernsehgeräten in einer Reihe. Die Idee kam dem TV-Freak, als er erfuhr, dass Präsident Johnson immer gleichzeitig die Nachrichten aller drei Sender – NBC, ABC und CBS – einschaltete. Politik langweilte den King. Dafür sah er drei Sportsendungen, zumeist Football-Übertragungen, nebeneinander.
Wer sich jetzt weiterwagt, sollte eine Gedenkminute einlegen. Um noch mal Kraft zu sammeln. Denn nun heißt es, einen Gipfel Elvis’scher Verirrungen zu stürmen: das Dschungelzimmer, The Jungle Room. Möbel – made in Memphis – wie aus dem Busch, mit Tigerfellen überzogen und mit dunkelbraun lackierten Holzschnitzereien bestückt, schmücken den Raum. Nein, nicht Schnitzereien, eher naturgetreue Wurzelgeflechte, die, begnadet hässlich, als Armstützen und Rückenlehnen in den Raum ragen. Und das alles auf einem hellgrünen – der Dschungel ist grün – Teppich. Aus einer Wand des Raums plätschert ein Wasserfall.
Hätte man diese Örtlichkeit im Nachlass von Mobutu entdeckt, es hätte nur um eine Nuance weniger überrascht. Dass Elvis Presley hier, inmitten seines geliebten Sperrmülls, ein paar Dutzend seiner besten Songs aufnahm, ist kein Widerspruch, sondern schlichter Hinweis, dass er – von einigen Ausnahmen einmal abgesehen – als genialer Musiker unfehlbar war. Und dass er nebenbei als lausiger, von den Niederungen des Massengeschmacks infizierter Innenarchitekt dilettierte.
Wieder nach oben, hinter der Villa sieht man auf echtgrüne Wiesen und weiße Zäune, der King war ein begabter Reiter. Als diese Leidenschaft ausbrach, kaufte er schnell mal vierzehn Pferde. Er hatte die bravouröse Eigenschaft, seine Freude zu teilen. Wohnte ein zweites Genie in ihm, dann das einer tornadoähnlichen Generosität. Neben einer Koppel steht »Vernon’s Office«, hier beaufsichtigte sein Vater die Beantwortung der Fanpost. Auch hier stehen mehrere Fernseher. Das legt die Vermutung nahe, dass der Wille, einen Teil seines weltlichen Daseins in der Nähe von Football-Übertragungen zu verbringen, erblich ist.
The rich madness of life: Im »Trophäenraum« wird auf sensationelle Weise deutlich, wie die Verrücktheit seines Lebens aussah. Die Stationen, die Filmplakate, die Filmküsse (u. a. mit der überirdischen Ann-Margret!), seine Garderobe, Ausschnitte aus seinen Shows. In der Time-Ausgabe vom 14. Mai 1956 schreibt ein Kritiker: »… and his entire body takes a frantic quiver, as if he had swallowed a jackhammer.« Das ist fulminant beobachtet: »… als hätte er einen Presslufthammer verschluckt.« Treffsicherer kann man die sinnlichen Rotationen von Elvis the pelvis nicht beschreiben. Er war, zumindest die ersten Jahre, ein Rebell. Und das rebellischste waren im puritanismusverseuchten Amerika diese vom Teufel eigenhändig auf die Welt gezauberten Hüften. Vorgeführt und begleitet von einer Stimme, die nichts ausließ, um die flammendsten und niedergezüchtetsten Körperteile – die ansonsten von allen Seiten gegeißelten private parts – seiner Zuhörerinnen in helle, hellste Aufregung zu versetzen.
In der Trophäenhalle sieht man TV-Nachrichten mit christlichen Predigern, die geifernd gegen seine Musik als unverzüglichen Aufruf zur Sünde wüteten. Sieht moralisch krebsrot entrüstete Besitzer von Radiostationen, die seine Schallplatten öffentlich zerschmettern. Sieht die ersten Auftritte des King in der »Ed Sullivan Show«, erfährt, dass er bald nur noch bauchnabelaufwärts gezeigt werden durfte. Sein wild tobender Unterleib wurde zensiert. Auch die Geschlechtsteilhasser hatten begriffen, dass immer zwei Shows stattfanden: die Bühnenshow und diejenige, die Presley beim Publikum auslöste. Und die war so weit weg von den eisigen Szenarien eines ununterbrochen anschaffenden Kapitalismus.
Auch wahr: Erst die Dollarkisten versorgten Elvis mit dem Lebensstil, der – noch zwanzig Jahre nach seinem Tod – zu fassungslosem Staunen verführt. Rüber ins Auto Museum. Alles, was zwei, drei oder vier Räder besaß, musste her, auch ein Go-Kart, ein Golf-Kart, eine Schneefräse (in Memphis!), mehrere dreirädrige Supercycles, Hondas und Harley Davidsons, ein Mercedes 280 SL, ein Rolls-Royce, ein Ferrari Dino 308 GT 4 und – ich erwähne nur Höhepunkte – ein violetter Cadillac Convertible, der ursprünglich weiß war und der erst dann violett wurde, nachdem Elvis aus dem Geschäft gerannt war, um ein Pfund Trauben zu kaufen, zurückrannte, die Trauben auf der weißen Kühlerhaube zerquetschte und den Verkäufer befriedigt wissen ließ: »This is my color.«
Irgendwann waren alle Vehikel zu langsam und der King besorgte sich zwei Flugzeuge. Das war drei Jahre vor seinem Tod und heute weiß man, dass es jene Jahre waren, in denen er anfing, die Übersicht über sein Leben zu verlieren. Hundertfünfzig Meter neben dem Automobil-Museum stehen The Lisa Marie Jet, benannt nach seinem einzigen Kind, und Hound Dog II, das leichtere Reserveflugzeug. Elvis blieb sich treu, ein Gang durch sein Flying Graceland beweist einmal mehr sein riesiges, verschwenderisches Kinderherz.
Das vergoldete Waschbecken, das skyphone (wie die meisten Amerikaner litt er an einer genetisch bedingten Telefoniersucht), die Fernseher, der Tisch mit genug Platz für alle 14 Freunde und das Himmelbett mit Sicherheitsgurt. Beim Verlassen der Maschine darf jeder Besucher noch einmal herzlich lachen, denn eine Tonbandstimme erzählt uns, dass das Schubfach neben dem Bett als Ablage für Bücher diente, denn Elvis sei ein fleißiger Leser gewesen. Höchst merkwürdig, denn auf dem gesamten Gelände habe ich nicht zwei Buchdeckel entdeckt. Abgesehen von den Eisenbahnladungen, die über ihn geschrieben wurden.
Nein, nicht als still versunkener Bücherfreund wird uns Elvis A. Presley in Erinnerung bleiben. Auch nicht als bedachtsamer Umweltfreund. Dafür als Riesenbaby, denn über Video hört man seinen ehemaligen Piloten die aberwitzige Geschichte von den peanut butter sandwiches erzählen: Eines Nachts – es war eine jener Nächte, in denen die Erdnussbuttersandwich-Manie grassierte – rief ihn sein Arbeitgeber an und bat, die Motoren anzuwerfen. Es ginge nach Denver, jetzt gleich. »Why Denver?« Und Elvis kichernd: »To get some peanut butter sandwiches.« Denn nur in Denver wären sie üppig und kalorienstark genug. Und so rasten sie von Tennessee nach Colorado, verheizten 2100 Gallonen (7948 Liter) Sprit und brachten eine halbe Tüte des geliebten Nahrungsmittels zurück nach Memphis. Die andere Hälfte verschwand bereits als Reiseproviant.
Nicht so viele Nächte später war auch diese Leidenschaft überstanden. Am 16. Juli 1977 treibt der King am Nachmittag noch einmal Sport, legt sich ins Bett und stirbt. An einem Herzinfarkt, so die offizielle Presseerklärung. Seine letzte Freundin, Ginger Alden, ruft den Arzt. Der kommt um Jahre zu spät. Zuviel Weltruhm, zu viele Fleischberge und Erdnussbutter, zu viele uppers und downers, um aufzuwachen und einzuschlafen, zu viele Reize für ein schwaches Herz, zu viele erfüllte Träume für den Sohn eines Zuchthäuslers, zuviel Leben für nur 42 Jahre. Im Meditation Garden, dem Familiengrab neben den Paradiesbäumen, neben seinem Zwillingsbruder und seinen Eltern ist er begraben.
»Are you constipated tonight?«, so könnte die inoffizielle Presseerklärung anfangen. Seit Jahren litt der Dicke an Verstopfung. Laut Dan Warlick, Chief Medical Investigator von Tennessee und bei der Autopsie anwesend, fiel der King um neun Uhr vormittags vom Thron: gescheitert bei dem – diesmal letzten – Versuch, sich zu erleichtern. So heftig, so energisch musste er pressen, dass seine Aorta quetschte und kein Blut mehr zum Herzen gelangte. Erst sechs Stunden, nachdem Elvis das Badezimmer betreten hatte, fing jemand an, nach ihm zu fragen. Man hatte sich an die legendär-zeitintensiven Aufenthalte des Königs in der Nähe einer Kloschüssel gewöhnt.
Es ist bereits dunkel geworden. Freundlich wirft mich der Mann am Gartentor hinaus. Sentimentale Idioten wie ich sind an diesem Ort der Erde keine Seltenheit. Nur mühsam kommen sie weg. Außer Sichtweite heule ich los, endlich. Meine letzten Tantiemen, die ich dem King schulde, fallen mir ein. Das war vor einem Jahr in Paris, als ich in der Metro einen Straßensänger fand, ihn als Troubadour einkleidete und – fürstlich entlohnt – bat, unter dem Fenster meiner damaligen Flamme »You are my reason for living« zu seufzen, schön ölig und alle Strophen lang unterstützt vom Samt seiner Gitarre.
Vor der Mauer treffe ich Terence, ihn hat es noch schlimmer erwischt als mich. Seit Jahren springt er jede Woche in seinen jumpsuit, der Elvis’ berühmtem Kostüm nachgeschneidert ist, und fetzt vom fünfzig Meilen entfernten Holly Springs nach Graceland. Und jedesmal kritzelt er Namen und Ankunftsdatum in die Mauer entlang des Parks und unterschreibt stets mit: »Yours, very truly.« Wir wandern zum Tiger Mart. Und diesmal darf ich hinein. Nichts sieht harmloser aus als zwei trauernde Narren.