BIG SUR

Um sieben Uhr früh sitze ich in einem Leihwagen. Er ist so hässlich neu und eckig, dass ich mich weigere, mir Modell und Hersteller zu merken. Aber kein öffentliches Fahrzeug bringt mich auf dem Highway One an mein Ziel, 155 Meilen von San Francisco entfernt. Jene Gegend an der kalifornischen Küste, die noch immer den englisch-spanischen Namen trägt: »Big Sur«, weiter Süden.

Nach dem siebzehnten Bremsen und Losfahren an einer Ampel weiß ich wieder, dass das Lenken eines Automobils zu den schwachsinnigsten Tätigkeiten des 20. Jahrhunderts gehört. Jenseits der Stadtgrenzen wird es weniger schwachsinnig. Ich bekomme intelligente Gesellschaft. Ein junger Kerl steht am Straßenrand und streckt den Daumen raus. Nachdem er mir versprochen hat, weder spitz geschliffene Gegenstände noch Feuerwaffen gegen mich einzusetzen, steigt Caelus, der Zwanzigjährige, zu. Mit Rucksack und schweren anarchistischen Gedanken. Nicht zu überhören: Caelus steht auf Kriegsfuß mit seinem Vaterland. Er trampt seit Jahren, verrichtet einfache Arbeiten, will sich nicht einkochen lassen von der »lauwarmen Pisse« einer bürgerlichen Existenz.

Der Blechkäfig hat ein Gutes, in der halben Meter dicken Knautschzone des Armaturenbretts befindet sich ein Radio. Ich finde Making Contact, ein Programm des National Radio Project, das scharfsichtig feinsten Journalismus anbietet. Thema heute: »Banking on the Drug Trade«.

Das Vertrauen in den Drogenhandel geht so: Raucht jemand Crack und trinkt gleichzeitig Bier, so produziert der Körper die Substanz Kokaäthylen, was das High intensiviert, die Euphorie steigert. Die Crackheads wissen das längst. Neu dagegen ist der Tatbestand, dass sich diese Erkenntnis inzwischen bei führenden Brauereibesitzern herumgesprochen hat, und die Bier-Bosse beschlossen, den Junkies auszuhelfen: Biersorten kamen auf den Markt, die diesen chemischen Prozess – die Entstehung von Kokaäthylen – noch verstärken, genauer, zwei Prozesse verstärken: die raschere physische Vernichtung der Kunden und das erfreulich rasche Ansteigen der Profite.

Damit das so blieb, arbeiteten die zuständigen Werbeabteilungen auf Hochtouren. Mit Rap, Gangsta Rap und direkten Anspielungen auf Ausdrücke aus der Crack-Terminologie wurde die anvisierte Klientel über die neuen Produkte informiert. Das funktionierte. Mit halber Lichtgeschwindigkeit kam die Message an.

Die Bilanz kann sich sehen lassen: Die Brauereien boomen, die Opfer kaufen, verblöden oder krepieren, die Banken sprechen von einem Rekordjahr. Dass sich auch eine Firma wie Nike skrupelfern der Musik der Jungen in den Ghettos bedient, um sie zum Kauf ihrer 200-Dollar-Gummischuhe zu überreden, auch das kommt in der Sendung zur Sprache: perfide kalkulierend, dass ein gehöriger Prozentsatz der Gummischuhfans über keine fünf rechtmäßig verdienten Dollar, wohl aber über ein paar Tausend Dollar drug money verfügt. »There is no business like the neoliberalism business«.

Aber den besseren Satz liefert Caelus, als er in Monterey aussteigt und mir als Unkostenbeitrag ein Bonmot von Martin Luther King aufschreibt: »Natürlich gibt es in unserem Land Sozialismus. Für die Reichen. Und Kapitalismus für die Armen.«

Hinter der Stadt führt die Straße in den Himmel. Himmel als Metapher für Ohnmachtsanfälle beim Anblick von so viel irdischem Schönsein: auf der Küstenstraße Big Sur entlang, unten der Pazifik und das heisere Bellen der Seehunde, oben die blau beleuchteten Felsenhügel der Santa Lucia Range. In einer schwungvollen Kurve, versteckt hinter dicken Bäumen, liegt die Adresse, nach der ich suche. Auf einem schlichten Schild steht: »The Henry Miller Memorial Library«.

Vor knapp fünfzehn Jahren war ich schon einmal hier. Per Anhalter und zu Fuß, mehr aus Neugier denn aus drängendem Bedürfnis. Emil White – über ihn hatte Miller geschrieben: »He was a friend long ago before I met him and he will be one long after my death« – leitete damals noch das Museum. Will man mit dem Schriftsteller nichts gemein haben, seine Fähigkeit, Freunde zu gewinnen und sie nicht zu verlieren, die will man ihm neiden.

Miller täuschte sich nicht. Bald nach seinem Tod im Juni 1980 ließ White – nur zehn Jahre jünger – das nach japanischen Richtlinien errichtete Holzhaus erbauen und stopfte es voll mit Aquarellen und Büchern seines Freundes. Jeder, der Miller verehrte, war willkommen.

White war clever, er dechiffrierte behände die Vorlieben eines jeden Besuchers. Für mich zog er hinterm Sofa eine Hutschachtel voller Fotos hervor. Die Fotos waren als Kunst belanglos, einfache Schwarzweißbilder, geknipst mit dem Blick des Liebhabers, nicht des Profis. Was erregte, waren die Objekte des Liebhabers: Bronzefarbene Göttinnen breitete White vor mir aus, Millers Geliebte, seine Geliebten, beider gemeinsame Geliebte, splitterfasernackt hingestreckt zwischen den Felsklippen von Big Sur. »Look at the big tits«, raunte White. Nach dem Satz mussten wir laut lachen. Als ob er einen Mann im Universum auf die großen, wahrlich runden, festen Brüste hinweisen müsste. Zuletzt folgte eine ganze Serie über »the woman with the ass«. Das Bild mit Whites Kopf daneben gilt heute als Liebhaberstück. Und Emil, der bereits Fünfundachtzigjährige und von der Parkinsonschen Krankheit Geschüttelte, deutete mit dem Finger auf die apfelrunden Backen: »Schau, so muss er aussehen, der Eingang ins Paradies.«

Berührender noch als die Hintern und Oberleiber der Schönen waren ihre Köpfe. Zusammen mit den Köpfen ihrer Freunde, die bisweilen ebenfalls auf den Fotos erschienen. So eine lodernde Lust am Leben strahlten sie aus, sowas verrückt Besessenes, so ein inbrünstiges Verlangen, keinen Augenblick zu versäumen. »Stell dir vor, noch mit sechsundsiebzig hat Henry eingefädelt«, kommentierte Emil meine Hintergedanken. Sie hatten sich versprochen, sich gegenseitig über »das letzte Mal« auf dem Laufenden zu halten.

Die zwei Männer stimmten zusammen. White wächst Anfang des Jahrhunderts in Wien auf, steht als Sechzehnjähriger und gescheiterter Revolutionär vor einem Erschießungskommando in Budapest, kann sich mit ein paar Schilling freikaufen, flieht Austrofaschismus und Militärdienst, kommt nach Amerika, nimmt jeden Job, auch in Alaska, wird zwanzig Jahre später Millers lebenslanger Freund. »Friendship is something beyond love«, hatte der Berühmtere einmal geschrieben. Die Lust auf Schönheit, sei es die Schönheit der Sprache, der Welt oder ihrer Bewohnerinnen, die trieb die beiden zueinander.

Bei unserem Abschied war mir klar, dass ich den Alten nicht wiedertreffen würde. Zu stark musste ich seinen rechten Arm umklammern: damit er mir, heftig bebend, eine Widmung in ein Buch kritzeln konnte. Drei Jahre später starb er. Inzwischen hatte ich noch eine andere Definition einer Männerfreundschaft gelesen. Sie stammt aus einem Drehbuch des französischen Szenaristen Michel Audiard und sie hätte den beiden gepasst: »… Spätnachts ruft A seinen Freund B an, außer Atem spricht er in die Muschel: ›Ich habe jemanden umgebracht.‹ Und B, ruhig, gefasst: ›Wo ist die Leiche?‹ …«

Die Anmut dieses Ortes in einer schattigen Kurve des Highway One hat keiner vertrieben. Mächtige Redwoods beschützen die Memorial Library wie eh vor den modernen Zeiten. Das Grün der Wiese stimmt auch noch. Das japanische Holzhaus überlebt noch immer ohne Garagenanbau. Und eine Stiftung sorgt nun für den leichten Gang der Dinge. Neben dem Verkauf von Millers Büchern, den Büchern über ihn und dem Drucken eines Newsletters werden hier Lesungen und Ausstellungen veranstaltet. Augenblicklich steht eine Harley Davidson mit zwei Kloschüsseln als Sitze im Gras. Die Idee des Künstlers scheint begnadet: Nach banking, shopping, eating, petting, fornicating, watching TV und going to the movies braucht sich der Durchschnitts-Johnny auch zur Verrichtung seiner Notdurft nicht mehr vom Lederpolster zu erheben. Er defäkiert vor Ort.

Im Internet hat die Stiftung unter »www.henrymiller.org« – org wie orgasm, wie ein Witzbold vermutete – einen chatroom eingerichtet. Damit übererhitzte Fans wissen, wo sie unzensiert den schwersten Druck ablassen können.

Ruhige Geschäfte, zwei schmale Peruaner fingern durch die Bücher, Bienen summen, Pinien wanken sacht, das schonende Geräusch eines Mobiles weht herüber. Wer einen quarter in ein Sparschwein wirft, darf sich aus einer Thermosflasche mit Kaffee bedienen und nur dasein. Ich sitze draußen auf der Holzveranda und heule. Ein banaler physischer Vorgang, auf den ich nicht stolz bin und dessen ich mich nicht schäme. Er hat wohl mit der seit Jahren eintreffenden Erkenntnis zu tun, dass ich dem 1891 in Manhattan geborenen Schriftsteller, dessen Großmutter noch Müller hieß, einiges verdanke.

Wandern die einen ins Irrenhaus, werfen die nächsten sich vor einem Guru auf die Knie, schmeißen die Unheilbareren sich in den Aufzugsschacht des Empire State Building und schleudern die Haltlosesten durch die Abgründe ihrer Herointrips, so hatte ich mehr Glück. Und fand in einem Bücherhaufen am Rand der Mahatma Gandhi Road im indischen Poona eine eselsohrverstümmelte Ausgabe des Tropic of Cancer von Henry Miller.

Es war ein böser Nachmittag. Es ging mir nicht gut, eine Woche Dengue-Schüttelfrost lag hinter mir, mein Kopf strudelte, Indien deprimierte mich. Irgendwas, so flehte ich seit Monaten, musste doch existieren, um mich zu erlösen. Erlösen vom Gewicht der eigenen Schwerkraft. Ein Gebet, eine Musik, eine Droge, eine Gnade, eine Meditation, eine Frau, ein Licht, irgendetwas, was mich weichspülte. So trottete ich, in Selbstmitleid vergraben, die M. G. Road entlang. Bis ich mich zur Seite hechten sah, weil ein Autofahrer, so schien es, mich von diesen Überlegungen erlösen wollte. So landete ich neben dem Bücherhaufen, direkt neben Henry Miller. Erst Jahre später begriff ich, dass Henry mich nicht vor meinen Abstürzen bewahrte. Dass er mir aber beim Nachlesen seines Lebens beibrachte, dass es ein Mittel gab, um nach den Abstürzen nicht liegenzubleiben, sondern bereit zu sein für die nächsten Bauchlandungen: Schreiben eben.

Wendekreis des Krebses, das Buch fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Schon der Titel riecht verführerisch nach Unheil und Erlösung. Der Krebs, welch ein Symbol. Ein Wesen, das sich in alle Richtungen bewegen kann, zu Wasser und zu Lande, vorwärts, rückwärts, links, rechts. Und zugleich trägt es den Namen einer mörderischen Krankheit. Und diese Krankheit ist wiederum Ausdruck einer in ihrer Sehnsucht verkrüppelten Zivilisation, Sehnsucht nach Delirium und Fieber, nach Schwindel und Gelächter, nach Vögeln und Umarmen, nach Taumel und der Weisheit des Leibes.

Dass der Exilamerikaner, der 1930 für ein knappes Jahrzehnt nach Paris zog, die Hälfte aller Einwohnerinnen von Clichy anpimperte, war unter Lachkrämpfen zu lesen und zu genießen. Und schnell vergessen. Was blieb von der Lektüre des Buches – unübersehbar mit dem Hirn und dem Schwanz geschrieben –, war die Sprache. Sätze, die wie Lavabrocken auf den Leser hagelten. Da stand es: dass einer mit Hilfe von virtuos hintereinander aufgestellten Buchstaben davonkommen konnte. Dass Sprache für alle Gottlosen als Religion taugte, als Urschrei-Therapie, als Schleudersitz und Flammenwerfer.

Ein zweites blieb, nach der Entdeckung der Sprache als Heilkraut gegen die Hungerödeme der Seele: Millers halsbrecherische Lust am Leben, seine penetranten Aufrufe, sich den Masturbanten des Profits zu verweigern, nicht zuzuhören den jugendgefährdenden Predigern der Frührente, nicht zu vertrauen den Verrätern des Diesseits, die boshaft auf alle Leichtigkeit spucken.

Millers Bücher besaßen so vieles, wonach wir damals so notwendig, so notwendend verlangten. Mit dem Presslufthammer hatte es Henry – Henry, der Elektrisierer und Einreißer – aufgeschrieben: Hingabe an dieses eine Leben, Mut zur Angst, Neugier auf alles. Und das Forderndste: Bereitschaft für die Wunden, die dunklen Tage und Nächte, die das Einklagen persönlicher Freiheit forderte.

Er, der sich erst mit neunundachtzig zum Sterben bereit erklärt hatte, hinterließ ein unschätzbares, gefährliches Erbe. Eben den Wert des schieren, Tabus verlachenden Lebens, eben eine Moral des Starkseins und Gefährlichlebens, die Moral einer Existenz auf Teufel komm raus.

Ich kenne alle Wohnorte Millers. Natürlich die Nummer 4, Avenue Anatole France in Clichy, einem Vorort von Paris. Ein Nachbar, der rührige Monsieur Jouffroy Renault, zeigte mir die Stelle, wo das Häuschen stand, in dem der Amerikaner mit seinem Freund, dem österreichischen Journalisten Alfred Perlès, lebte. Und waren die Tage still in Clichy, dann nur, weil die beiden nachts umso heftiger um die Wette vögelten. Am Tag der klanglosen Veröffentlichung seines Tropic of Cancer zog der weiterhin bankrotte Schriftsteller in den Süden von Paris, in die Privatstraße »Villa Seurat«. Die Bewohner des Anwesens hätte ich standrechtlich auspeitschen können, so fad und ohne Eifer erinnerten sie sich an die Tatsache, dass hier einmal ein schreibender Hüne zu Hause war.

Als ich in New York lebte, lief ich durch die Straßen Brooklyns, um letzte Spuren zu sichern. In der Driggs Avenue 662 – der Adresse, wo Henry fast die ganzen ersten neun Jahre über mit seinen Eltern lebte – wurde ich für alle Ignoranten entschädigt. Die Besitzer Denny T. und Nancy W. – beide Maler – zogen mich hinein, vier Stunden reichten uns nicht, um uns alles über die Vormieter zu erzählen. Ich musste jeden Winkel inspizieren, die Holzstiegen hinauf, mich an den berühmtesten Fensterplatz New Yorks setzen: da, wo der Sechsjährige auf den Fillmore Place blickte und von den Geheimnissen der Straße zu träumen begann.

Zwangsernährt mit polnischen Wurst-Sandwiches, dunkelblau vom Glück und einer halben Flasche Campari, taumelte ich spätnachts hinaus. Breitbeinig ging ich durch zertrümmerte Viertel zurück nach Manhattan. Keiner konnte mir beikommen, ich hatte gerade geweihte Erde verlassen, ich leuchtete.

Dieser Abend diente als Vorschuss. Die restlichen Aufenthaltsorte Millers waren rasiert, auch der Lampenpfahl, an den er sich lehnte, um in der Devoe Street auf die gegenüberliegende Hauswand zu starren. Dahinter wohnte Cora Seward, seine erste Liebe. Hundsgemein platonisch, denn Henry strahlte erst als late bloomer, als einer, der spät blüht: mit seinen Talenten, bestaussehende Frauen zu versuchen und ein paar Tausend Seiten Papier mit Feuer und Schwert zu bedecken. Wie folgerichtig, keine seiner ehemaligen Behausungen steht unter Denkmalschutz. Schon verständlich, wenn das redliche Bürgervolk nicht an einen erinnert werden will, der ihre Tugenden abschaffen wollte.

Am Occampo Drive 444 in Pacific Palisades, nahe Los Angeles, kam ich auch einmal vorbei. Hier lebte er zuletzt. Seit sechs Jahren war er tot. Und wären es sechzig gewesen, es hätte nicht weniger überrascht. »Henry Miller? Who’s this guy? A musician?« Zwei Straßen weiter wusste niemand von seiner Adresse. Da könnte Goethe im Erdgeschoss wohnen, sie würden ihn souverän übersehen. Ich musste den Chefredakteur der Lokalzeitung anrufen, um ans Archiv verwiesen zu werden und Millers Adresse zu erfahren.

Tumbe Spießer hatten das Haus inzwischen in Besitz genommen. Ein einstöckiges Anwesen, an dessen Frontfenster der Vorbesitzer einmal »Nirvana Needed« gepinselt hatte und in dessen Wohnzimmer er mit den schönen Nackten der Umgebung Pingpong spielte. Und nicht Henrys Rennrad – lange zuvor von einem deutschen Sechstagefahrer erworben – stand vor der Tür, sondern anderthalb Tonnen Blech, die drei heiligsten Kühe der jetzigen Bewohner. Nirgends der Geruch von Papier, von Büchern, von Wissen, von berstenden Lachkrämpfen. Nicht hundert Dollar für eine handtellergroße Plakette hatte die Gemeinde investiert, um eines Mannes zu gedenken, den Schreiber wie T. S. Elliot, George Orwell, Ernst Jünger, Raymond Queneau und Samuel Beckett als literarischen Leuchtturm feierten.

Dieser Nachmittag war nicht verloren. Gegenüber von 444 wohnte eine gewisse Mrs Gibbons, eine herzenswarme, leidenschaftliche Nicht-Leserin, die mich zum Tee einlud und nichts verschwieg: »I hated his books, but he was a lovely man.« Eines Tages backte sie für den »Pornographen« einen Kuchen. Und Henry, unermüdlich bereit für eine seiner haltlosen Übertreibungen, bedankte sich, all smiles: »You know, nobody in my life ever made a cake for me

Ich sitze noch immer auf der Holzveranda der Memorial Library. Die wichtigste Adresse steht noch aus. Sie anzuschauen befriedigt zwei Sehnsüchte: einmal mehr von der Schönheit dieses Erdteils zu erfahren. Und ein letztes Mal da entlangzuschleichen, wo der Meister ein paar seiner Meilensteine – wie ›The Rosy Crucifixion: ›Sexus‹, ›Nexus‹, ›Plexus‹ – niedergelegt hat.

Ich fahre mit dem Wagen noch einige Meilen weiter nach Süden. Bis zu einer Stelle, wo rechts neben der Straße das Meer und 22 Briefkästen stehen, mit aufgemalten Sonnen und so verwegenen Namen wie »Laughing Willows«, Freudenweiden. Links vom Highway führt die Partington Ridge, eine steile enge Bergstraße, hinauf. »Private Drive« und »No Trespassing« warnen den ungebetenen Besucher. Als ich ankomme, wartet gerade ein Vater in einem seltsam dreirädrigen Vehikel auf seinen Sohn, der jeden Augenblick mit dem Schulbus ankommen muss. Als ich frage, warum er sich hierher verzogen hat, sagt der freundliche Mensch den furchtbaren Satz: »Why? Because it’s not yet polluted by humanity.« Eine halbe Stunde später werde ich wissen, dass das nur die eine Hälfte der Wahrheit ist. Als für unheilbar erklärter Millerfan darf ich passieren.

Ich kenne den Weg. Als ich zum ersten Mal hier ankam, wanderte ich zu Fuß hinauf. Zu oft hatte ich ein Foto vom Haus des Schriftstellers gesehen, um es zu verfehlen: aus Holz, beschattet von Bäumen, hoch oben und mit einem one million dollar view auf den Pazifik und das Ende der Welt. Er kaufte die geräumige Blockhütte mit Garten im Februar 1947, als er – sechsundfünfzigjährig – anfing, von seinen Büchern zu leben. Nicht ohne vorher in einer aufgelassenen Sträflingsbaracke, ebenfalls in Big Sur, gehaust zu haben. Sechzehn Jahre verbrachte er hier. Und erst als Zweiundsiebzigjähriger zog er nach Pacific Palisades, zurück auf die Erde, er war der herausfordernden Mühsal dieses Ortes nicht mehr gewachsen.

Bugger – »Nasenpopel« –, ein schwarzer, dicker, wütender Hund empfing mich damals. Erst zwei Minuten später kam Valentine, Millers Tochter, an die Tür. »Nur wen der Hund nicht abschreckt«, sagte sie, »darf rein.« Ich verstehe, eine Mutprobe als Liebesbeweis für den Vater.

Natürlich war ich nicht der erste Idiot, der sie heimsuchte. Zehn Minuten gab sie mir, um beim Hinsetzen auf das Sofa, das in Millers Arbeitszimmer stand, nicht in Ohnmacht zu fallen. Das war noch original, der Rest bestand schon aus der Einrichtung von Valentines Bruder Tony, mit dem sie das Haus teilte. Ich durfte auch kurz an der Stelle im Garten verweilen, wo der Meister gewöhnlich auf die Knie fiel, um den Göttern zu danken: für das so unverdiente Glück, nicht in einer amerikanischen Stadt leben zu müssen. Mit einem Apfel von einem Miller-Apfelbaum schickte Valentine mich weg.

Als ich heute wiederkomme, ist alles anders. Das Haus gehört jetzt einem Physik-Professor, der in Princeton unterrichtet. Ein stiller, respektabler Herr, wie ich erfahre. Ich läute, obwohl ich weiß, dass er nicht da ist. Bugger ist tot, und die Millerkinder – zu nichts Sensationellem begabt und schon zu lange von den Tantiemen ihres Vaters verwöhnt – sind ins nahe Carmel ausgewandert. Henry, sonst bis zum Selbstruin großzügig, hier war er geizig: Alle Feuer, alle Lust am Rausch hat er mitgenommen. Das Leben von Tony und Valentine, beide über fünfzig, hat Platz auf dem Millimeterpapier. Barbara, eine Tochter aus erster Ehe, heute achtzig, schlug ebenfalls den Weg allen bürgerlichen Fleisches ein.

Ich gehe hundert Meter weiter, bis ans Ende der schmalen Straße. Die Gegend zählt noch immer zu den schönsten im Universum. Bis ich einen Mann näher kommen sehe. Gleich werde ich wissen, dass er Joe heißt und dass ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet. Joe hat das gutgeschnittene Gesicht eines Erwachsenen, der seit einem Vierteljahrhundert in Big Sur lebt und sich jeden Sommermorgen um vier Uhr früh ins Gras setzt, um hinauszuschauen. Er arbeitet als Allround-Handwerker, repariert alles in den weit verstreuten, märchenstill versteckten Häusern von Big Sur. Und Joe kennt eine grausame Geschichte mit dem Titel »Zoning«.

Das ist ein englisches Wort, das sich komplikationslos ins Deutsche übersetzen lässt: in Zonen einteilen. Das heißt konkret: Der Gemeinderat von Monterey, wo die lokalen Rädelsführer aus Politik und Wirtschaft versammelt sind, hat sich vor kurzem wieder einmal getroffen, um das noch verfügbare Land in residential areas und – am allerwichtigsten – in commercial areas aufzuteilen. Die Folge: Kommt Joes Antrag auf Revision – der Memorial Library Trust unterstützt ihn dabei – nicht durch, werden hier in Bälde die ersten cottages stehen, Ferienhäuser, später Hotels, zuletzt wird ein Mickey Mouse Park grell und schrill einen hochmotorigen paradise ride anbieten. Platz soll gemacht werden für diejenigen, die Miller mit Miller Light Beer verwechseln.

Das Umwerfendste: Die Anwohner sind mehrheitlich dafür. Massentourismus muss her, zu lange hat das Paradies zu wenig Geld abgeworfen. »Money overrules everything«, sagt Joe. »Könnten sie beim Ausheben ihres eigenen Friedhofs Geld machen, sie würden zupacken.« Silicon Valley liegt nahe. Es dem largest cash exportation place on the planet nachzumachen, eine solche Lust scheint drängender als alles andere. Diese Zielstrebigkeit, die Schönheit der Welt in den Abgrund reißen zu wollen, das muss ein hartnäckiges, unverwüstliches Gen sein.

Miller wusste es von Anfang an: So viele taugen nicht zur Freiheit, zur Einsicht. Die Freiheit, zwischen fünfundzwanzig Hamburger-Sorten zu wählen und sich die Haare lila färben zu dürfen, interessierte ihn nicht. Wie sein deutscher Lieblingsschriftsteller Hermann Hesse notierte er oft das Wort »Eigensinn«, Eigen-Sinn. Selbst die vielen, die ihn – jung und hungrig – einmal besaßen, besaßen ihn nur kurzzeitig, um später als umso trägere und komfortsüchtigere couch potatoes wiedergeboren zu werden.

Der Mainstream kocht alle ein. Von ein paar hunderttausend Idioten – wie dem Handwerker Joe und dem Maler Bob Nash, einst Freund und noch immer Nachbar von Millers ehemaligem Zuhause – einmal abgesehen.

Schon vor langer Zeit hatten Millers geistige Vorfahren – wie Emerson und Thoreau – es drucken lassen: Die überwältigende Mehrheit der Amerikaner ist friedlich. Schon in frühen Jahren hingestreckt vom Sirenengeheul des Dollars, vom Big Easy, tief beruhigt von der Aussicht, dass überall riesige Bauwerke voller Nahrungsmittel und King-size-Betten herumstehen, dass nie ein Tag droht, an dem einer fasten muss oder nicht fernsehen darf: sich zügig von der Sehnsucht nach einem billigen Leben erledigen lässt.

»Weißt du«, notierte Miller in einem Brief an einen Freund, »wofür die Arbeiter in ihren Fabriken bezahlt werden? Für ihre Arbeit, wirst du antworten. Aber nein, für ihr Schweigen.«

Nie verstand ich seine Bücher anders als einen Aufschrei gegen das so mühelose Verraten unserer Träume. Fühlte sie als Herzmassage, als Gegengift gegen die Verdummungsseuche der geschmeidigen Einluller, als Einstiegsdroge in andere Gedankenwelten, als Schutzimpfung gegen die lauwarme Pisse (thanks, Caelus!) der Lebensmüden. »Stay hungry«, das war eines der zehn Millerschen Gebote. Und ihn hungerte. Nach allem, was zwischen Gott und dem Vögeln Platz hatte. Seine ozeanische Wissensgier verlangte nach keiner Pause. Seine Anziehungskraft wuchs, je borstiger und frecher er sich von den Entwürfen eines dösigen Daseins losschrieb.

Herzlicher Abschied von Joe. Ich finde einen Platz, wo ich beide im Auge habe, Millers schweigsames Haus und den unbeweglich hingestreckten Pazifik. Es musste so kommen, immerhin eines darf ich mit dem Meister teilen – das Talent zum pleurnicheur, zum Flenner. Dabei habe ich den Eindruck, ein harmloser Verehrer zu sein. Einmal erwähnte Miller einen Briefschreiber, der ihn bat, ihm testamentarisch seinen Zebedäus zu überlassen. Zum Anschauen und Anbeten. So fordernd, so verzweifelt war ich nie. Aber bei dieser Außentemperatur, bei diesem Licht, bei so viel Nähe zu einem Aufsässigen und den Wundern der Welt würden ganz andere einknicken. Wie kein zweiter Schriftsteller verbreitete der Amerikaner bei seinen skrupellosesten Lesern das verheerend schöne Gefühl, am Leben zu sein. Seine Bücher funktionierten als Aphrodisiakum: zum Anheben der Freude, zur zeitweiligen Aufhebung der Erdanziehung, zum Gehen über Wasser. Und als Lügendetektor: beim Auffinden der Schleichwege, auf denen wir uns von unseren Kinderträumen verabschiedet haben.

Sein schmalstes Buch habe ich hierhin, zweihundert Meter über den Meeresspiegel, mitgenommen: Das Lächeln am Fuße der Leiter. Ich kenne es seit vierundzwanzig Jahren und habe es noch immer nicht verstanden. Eine Passage in der Mitte der kaum siebzig Seiten scheint mir am herausforderndsten. Längst kenne ich sie auswendig. »… Du selbst zu sein, nur du selbst, ist eine große Sache. Aber wie macht man das, wie bringt man das fertig? Das ist der schwerste Trick von allen. Das Schwerste, weil es keinerlei Anstrengung von dir verlangt. Du versuchst weder dies zu sein noch das, weder groß noch klein, nicht tüchtig und nicht ungeschickt. Kannst du mir folgen? Du tust, was dir gerade einfällt. Aber mit Anstand, bien entendu! Denn nichts ist unwichtig. Nichts!«