IN DEN SÜDEN

Mit meinem Verleger hatte ich vereinbart, ein Buch über eine Reise durch die Vereinigten Staaten zu schreiben. Seinen Vorschlag, mich mittels Amtrak, der staatlichen Zuglinie, fortzubewegen, konnte ich ihm erfolgreich ausreden. Das ist ein Fortbewegungsmittel für ordentliche Bürger, Besserverdienende und notorisch verängstigte Nicht-Flieger. Ein Schlafwagen, kein Ort für den schnelleren Herzschlag. Seine Liste der besonderen Vorkommnisse ist geradezu deprimierend anständig.

Bei den Greyhound Lines liegt der Fall anders. Ordentliche Bürger treten – ordentlich im Sinne von besessen von Ordnung – in geringerer Zahl auf. Die Schlechterverdienenden sind die Mehrheit und Angst vor dem Fliegen haben sie auch nicht. Nur nicht die passenden Kreditkarten. Die meisten der Greyhound-Kunden gehören so der heimatlosen Minderheit amerikanischer Mitbürger an, die als Versager leben müssen, da sie noch immer nicht im Besitz eines Wagens sind. Sie, die Unmotorisierten, sind die wahrhaften Fußgänger dieses Landes. Ansonsten wird hier ein Mensch zu Fuß als derjenige definiert, der auf dem Weg zu seinem Auto ist.

An der Innenseite der Bustür klebt ein Verkehrsschild, man sieht die Zeichnung eines von einem roten Balken durchgestrichenen Revolvers. Text darunter: »No guns«. So sind sie hier, fürsorglich und eindeutig.

Fünf vor zwölf steigt ein letzter Fahrgast zu, leicht verdreckt, ohne Gepäck, nur in der linken Hand eine stabile, scharfglänzende Sichel. Wahrscheinlich ein argloser Tagelöhner auf der Suche nach Arbeit weiter südlich. Der Fahrer entwaffnet ihn freundlich, das besorgniserregende Utensil kommt zur Sicherheitsverwahrung in den Kofferraum. Um zwölf Uhr verlässt der Americruiser – mit sechzehn weiten Fensterscheiben für den Blick hinaus – das Port Authority Bus Terminal und biegt ab in Richtung Westen, Richtung Amerika.

Wir erfahren sogleich über Lautsprecher, dass Herumspucken, Gotteslästerung, Sich-Berauschen, ja Rauchen, auch heimlich auf der Toilette, gesetzlich verboten sind. Würde der Fahrer einen von uns dabei erwischen, würde er ihn eigenhändig und auf der Stelle hinausexpedieren. Der Ton ist lässig, nicht ätzend: »Any questions?« Einer ruft witzig nach vorne: »Liegen die Gasmasken bereit?« – »Für was?« – »Na, für das Klo. Wenn schon das Rauchen dort verboten ist?«

Helle Lacher, sogar dem Fahrer scheint der Witz neu. Dass der ganz hinten in den Bussen eingebaute restroom eine unriechbare Schikane darstellt, die nur mit einer stark qualmenden Zigarette zu überstehen ist, gehört zu den weiteren Unterschieden zwischen Zugfahren und In-einem-Greyhound-Sitzen. Doch das soll nicht zählen, auch das nicht. Als wir in New Jersey ankommen und uns zügig auf die Interstate nach Philadelphia einfädeln, weiß ich wieder, warum ich Autofahren hasse und mich ein starkes physisches Wohlbefinden überkommt, wenn ich – wie augenblicklich – auf zwei Sitzen lümmeln darf und nichts zu tun brauche als zu schauen und zu fühlen. Ich kann in Ruhe mein Hirn sortieren, vorausplanen, nachdenken, lauschen. Ich bin sorglos, ein anderer entscheidet für die nächsten Stunden, ich fühle mich behütet, ich gehöre zum fahrenden Volk. Den Ausdruck mag ich. Das andere Volk ist wohl stehengeblieben.

Ich vermute, das ist ein archaisches Urgefühl. Ich habe ein paar hunderttausend Kilometer meines Lebens in Bussen verbracht und dabei mit großer Regelmäßigkeit die gleichen Freuden erfahren. Am unverzichtbarsten scheint mir dabei das sanfte Schaukeln, es verführt zum Regredieren. Ich werde ganz leichtsinnig, oft jäh und ohne die geringste Provokation von außen lüstern. Das ist mein Kind in mir. Auch Fünfjährige in einer sacht schwingenden Wiege erregen sich. Weil sie sich im Einklang fühlen, weil die Körpersäfte Zeit und Ruhe haben, dorthin zu fließen, wohin sie wollen. Der Bus als Riesenvibrator.

Und er dient als Beichtstuhl. Mit mir als Beichtvater und den seltsamen Vögeln, die der Zufall neben mich verschlägt: Wir lassen uns für eine bestimmte Weile gehen, haben Muße füreinander, ich darf zuhören, sie teilen. Gerade nachts, wenn die Dunkelheit das Gesicht der Beichtenden verschluckt.

So soll eine Hymne folgen auf einen gewissen Carl Eric Wickman. Der umtriebige Mensch wurde berühmt als Gründer des Busunternehmens, das heute mit 2 400 Stationen und 18 000 Anfahrten und Abreisen pro Tag als das größte der Welt gilt. Als neugieriger Sechzehnjähriger verließ er Schweden und kam über Umwege nach Hibbling, ein Kaff in Minnesota, nicht weit von der kanadischen Grenze entfernt. Hier war es eisig und vertraut, hier gefiel es Carl. Hibbling blühte, Eisenerz war entdeckt worden, alle rannten herbei, die Schatzgräber, die Nutten, die Alkoholspediteure. Schon 1901 übervölkerten 3000 Einwohner das kleine Nest. In siebzig Saloons wurde gesoffen und gehurt. Auf Holztrottoirs wankte die Kundschaft hinterher nach Hause. Wickman erkannte das dringlichste Problem: keine öffentlichen Fortbewegungsmittel.

Er traf einen anderen Schweden, Andrew Anderson, der mit einem Koffer Heringe ins Land kam. Die beiden montierten ein hupmobile – einer motorisierten Postkutsche nicht unähnlich – zu einem Siebensitzer um, zwängten bis zu achtzehn Bergleute hinein und kassierten 15 Cents pro Trip: vom Männerheim zur größten Kneipe. Und wieder zurück: wieder 18 mal 15 Cents.

Damals war Spucken noch erlaubt, die Fenster standen weit offen, die meisten Passagiere – ausschließlich Männer – waren beharrliche Schnupftabak-Liebhaber. Das Unternehmen wurde bald als »Snoose-Line« – schwedisch für Schnupftabak – bekannt. Fröhliches In-den-Wind-Spucken und hurtiges Ausweichen all derer, die sich gerade nicht an Bord befanden, gehörten zum Alltag.

Im Laufe der Jahre zivilisierten sich die Zustände, die beiden Einwanderer kauften andere Fuhrunternehmen auf, die Vehikel wurden länger, zwischendurch hießen sie »The Dachshund«. Irgendwann sah ein Fahrgast den Bus sich im Schaufenster eines Ladens spiegeln, wobei ihn das verzerrte, schnelle Bild an das elegante Sprinten eines Windhunds erinnerte. Ihm fiel das beste Wort ein, bald hieß die Firma »Greyhound«: ein catch word, ein Ausdruck, der zieht.

Zu einem der Vergnügen beim Reisen durch die USA gehört Radiohören. Es gibt zwei Sorten von Stationen. Zuerst die privaten, sie fungieren als Anstalten zur sanften Vernichtung menschlicher Hirnzellen. Was um nichts das Vergnügen schmälert, sie bisweilen einzuschalten. Weil immer wieder das Unbegreifliche stattfindet: man nicht fassen will, was sie sich einfallen lassen, um uns mit Informationen von bestialischer Schlichtheit totzuwalzen.

Und es gibt das Public Radio: Hier arbeiten sie ohne Werbespots, leisten brisanten Journalismus und müssen nebenbei und ununterbrochen einen Pump anlegen, um die Hörer anzubetteln, ganze 66 Dollar im Jahr zu überweisen, damit sie als Sender überleben können. Der Staat leistet einen finanziellen Beitrag, der nicht mehr als ein dünnes Feigenblatt und eine Schande ist.

Hinter Baltimore bekomme ich den Christian Money Channel herein. Privat und christlich. Auch für Ex-Christen wie mich scheint Jack, gerade am Mikrofon, die drängendsten Fragen anzugehen. Thema des heutigen Nachmittags: »Wie kann ich mein Kapital gemäß den Worten des Herrn gewinnbringend anlegen?« Erfreulich, wie fündig Jack beim Durchstöbern der Bibel wurde, um zu beweisen, dass christliches Nutznießen und Abräumen eine lange und reiche Tradition haben. Aber das ist alles nur Vorspiel, Jack hat sein neuestes Buch mitgebracht, er will es uns zum Verkauf anbieten: »Money before Marriage«. Prall mit Leitfäden zur vorehelichen Maximierung aller denkbaren Profite. Damit finanzielle Probleme die christliche Ehe nicht bedrängen.

In Washington habe ich nochmals Glück. Wieder Christen, wieder im Besitz von ein paar letzten Wahrheiten. Die Promise Keepers sind einmarschiert. Aber wie. Vielleicht eine Million von ihnen liegt gerade bäuchlings auf der Mall, dem drei Kilometer langen Rasenstreifen mitten durch die Hauptstadt. Über achtzig Prozent von ihnen sind weiß, nie unterernährt und den Statistiken zufolge besser ausgebildet als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie wollen Buße tun und in Zukunft sieben Versprechen einhalten, unter anderem: keine Ehefrauen mehr verprügeln und »sexuelle Reinheit« üben. Matt, der zweiunddreißigjährige Programmierer aus Savannah und ebenfalls bäuchlings, gibt mir ein einleuchtendes Beispiel: »Nie wieder Pornos in Hotelzimmern auf Geschäftsreisen anschauen.«

Sensationell, denn der heutige Aufmarsch versammelt mehr Menschen, sprich Männer, als der schwarze »One Million March« 1995. Der Chef der Promise Keepers begann seinen Feldzug für ein prügelfreies Eheleben in Colorado, wo er 1990 als Held gefeiert wurde, als er eine Universitätscrew zur Meisterschaft führte. Während seiner 32 Jahre als Trainer in nächster Nähe von Footballspielern – über sechzig Prozent von ihnen sind außerstande, fehlerfrei einen einfachen Brief zu schreiben – reifte in Bill McCartney der Wunsch, das Land moralisch aufzurüsten.

Dass seit langem Frauenorganisationen und Feministinnen – also der Menschheitsanteil, den er beschützen will – am heftigsten gegen seine »Soldaten Jesu« aufjaulen, die sich vorgenommen haben, nicht mehr mit dem Faustrecht ihre Rechte durchzusetzen, ist ein wunderbar ironischer Aspekt des Spektakels. Sie halten Bill für einen erzreaktionären Biedermann, der im Schutz uralter Sprüche den Status quo für eine weitere Ewigkeit festschreiben will: Die Ehemänner geben den Ton an, die Ehefrauen stimmen ein.

Bill muss kämpfen. Vor allem gegen seine eigenen Infamien. Viele Jahre lang hat er sich einen Namen gemacht als rabiater Abtreibungsgegner, sein Hass auf Homosexuelle ist sprichwörtlich, seine Fernsehauftritte als strammrechter Christ sind unvergessen.

Dennoch, nur ein einziger Höhepunkt der Hohen Schule der Buße der Dicken wäre ein Ticket nach Washington wert gewesen. Ich bin zum Hinfassen nahe, somit ganz sicher, den ergreifenden Wahnsinn der guten Tat nicht als Schimäre zu erleben. Ajit, der Gemüseverkäufer aus Brooklyn, fällt mir ein: »Amerika ist ein Monstrositätenkabinett.« Und hier sind sie wieder einmal kostenlos angetreten: rundliche Herren in Bermudashorts, »P. K.«-bestickten T-Shirts und Baseballkappen über dem rosigen Gesicht, neben muskeldicken, vollbartzugewachsenen und nackentätowierten Motorradfahrern (»Bikers for GOD«), die sich schluchzend und gemeinsam mitten in der Welthauptstadt, zwischen der Folger Shakespeare Library und dem George Washington Memorial, ins Gras werfen und nun kniend, liegend oder prosternierend ihre Todsünden – Sauflust, Ehebruch, Vielfresserei, Tobsucht, Hurerei und zügelloses Onanieren – in den blauen, geduldigen Himmel schleudern, angefeuert von Mammutlautsprechern und grellen Leinwänden, die das reuige Männervolk in noch feurigere Tiraden des Heulens und Zähneknirschens peitschen.

Erschöpft wanke ich nach den sechs Stunden Gottesnähe zu meiner Pension. Allein Hinschauen zehrt. Kein sehnlicher Blick auf eine Frau wird mir heute noch gelingen. Lustfrei und voll reinlichster Nebengedanken liege ich bald im Bett. Ich horche, nichts, absolut nichts betört meinen Körper. Schwer beunruhigt über Bills Kriegszug gegen die Freuden des Lebens und heftig verängstigt von Bills leidenschaftlicher Fürsprache für die so schrecklichen Aussichten auf amerikanische Familienwerte, schlafe ich ein: »Herr, mach, dass ich gesund aufwache.«

Nachts träume ich vom Reflecting Pool, dem klassisch schönen Wasserbecken, das am westlichen Ende der Mall liegt. Und im Traum sehe ich die vielen Dicken, die sich noch dicker im Wasser spiegeln. Und ich erinnere mich, dass der Pool nach dem Vorbild von Versailles angelegt wurde. Und plötzlich taucht Bill McCartney aus dem Wasser auf und hält ein Schild in die Höhe, auf dem »le Siècle des Lumières« steht. So nennen die Franzosen das Jahrhundert der Aufklärung. Lachend renne ich davon, als ob ich sie suchen wollte, jene Zeit, wo Lichter brannten in der Finsternis unaufhörlicher Gewissheiten.

Der Herr ist gut zu mir, am nächsten Morgen finde ich die Kraft, die Stadt zu verlassen. Seit ich Washington kenne, stinkt es vor Langeweile. Dass sie hier die meisten Morde des Landes erledigen, es wundert mich nicht. Irgendwo muss die Wut über so viel Leere und Protz raus. Als ich zum letzten Mal hier war, schien es am harmonischsten auf der Bahnhofstoilette der Union Station. Dort war es ergreifend still, nur das beruhigende Fließen von Wasser, weit weg vom Gedröhn des Blödsinns.

Ich mache noch einen Umweg und gehe zum Arlington Cemetery, auf der anderen Seite des Potomac River. Die 160 Hektar sehen gut aus. Dicke Bäume, hügelige Wiesen, geschmackvolle Gräber. Ich komme am Grab des Unbekannten Soldaten vorbei, im rechten Augenblick, um eine Wachablösung zu beobachten. Nach jeder Stunde wird ein Roboter mit Klobürstenhaarschnitt durch einen anderen Roboter ersetzt.

Das geht so: Der neue Mann taucht auf, hinter ihm der diensthabende Offizier. Als alle drei stillstehen, brüllt der augenblickliche Oberbefehlshaber in Kasernenhoflautstärke eine Rede ins Publikum (siehe Friedhof, siehe friedlich). Wir sind neun Zuschauer und weichen unwillkürlich einen Schritt zurück, so beeindruckt sind wir vom Gebrüll über Ehre und Größe des Vaterlands.

Anschließend die Zeremonie: marschieren, stillstehen, brüllen, jeden Brüller mit einem gequetschten »Hua« als angekommen signalisieren. Höhepunkt: Der Chef tritt vor und inspiziert mit Akribie die neuralgischen Punkte – Haarkürze, Bügelfalte, Schuhglanz und Hosenstall – seiner Untergebenen. Dann in Marschformation zurück, die frische Klobürste ist installiert.

Eine Frechheit, noch im Tod wird den armen Schweinen aufs Grab geschissen. Zu Lebzeiten als Kanonenfutter verheizt und nun eine »Ehrenwache« für die verfeuerten Leichen. Höhnisch.