9
DAS TEMPO DES UNHEILS

März bis Oktober 1935

»Es kann nur noch aufwärtsgehen«, weissagte Erwin mit verstellter Stimme. Er stand auf, gab dem Schaukelstuhl einen leichten Stoß, stellte sich in den Türrahmen und hob seine Rechte zum Hitlergruß. Mit der Linken zog er eine Haarsträhne in die Stirn und zupfte schniefend an seinem imaginären Schnurrbart. Snipper, der Hund mit der unverwüstlich guten Foxterrierlaune, machte Männchen. Er ruderte aufgeregt mit seinen Vorderpfoten und bellte heiser. »Halt’s Maul«, befahl Erwin, »jüdische Hunde dürfen nicht mehr bellen. Hast du das immer noch nicht kapiert, du verfressener kleiner mosaischer Mistköter? Wegen dir mussten die braven Feuereisens aus der Wohnung. Ein deutscher Schäferhund hätte sich niemals so verhalten.«

Die kichernde Claudette rutschte vom Fensterbrett herunter. Sie klatschte in Kindermanier und rief mit hoher Stimme: »Bravo, Meister Snipper!« Für einen Moment, der das Herz ihrer Mutter zuschnürte, sah Claudette wie das kleine Zopfmädchen aus, das einst mit erhitzten Wangen und glänzenden Augen dem tapferen Polizistenbezwinger Kasperle zugejubelt hatte. Clara drückte ein Sofakissen auf ihr Gesicht; sie gab vor, sie würde auch lachen. Auch in Zeiten, da Tränen wahrhaftig nicht mehr als Schwäche gewertet wurden, scheute sie sich, Gefühl zu zeigen.

»Wie recht ihr doch habt«, verbeugte sich Erwin. »Mein Volk ist mein Schild und meine Stärke. Es zeigt mir, dass ich auf dem rechten Weg bin. Heil mich!«

Der Meisterkabarettist vom vierten Stock merkte, dass er erschöpft war. Er streichelte den schwanzwedelnden Hund und setzte sich zurück in den Schaukelstuhl. Weil seine Schultern bebten und er, genau wie seine Zwillingsschwester, nicht wollte, dass Alice und Claudette seine Verzweiflung bemerkten, suchte er Deckung hinter der »Frankfurter Zeitung«.

»Vorsicht«, warnte Clara, »du sitzt auf dem ›Prager Tagblatt‹. Das gehört nicht uns. Das habe ich mir nur ausgeliehen. Frau Neuländer aus der Vogelsbergstraße hat es von einer Cousine aus dem Badischen bekommen. Die wiederum wurde von einem Freund beliefert, der ursprünglich an der Heidelberger Uni Religionsphilosophie gelehrt hat und der nun in Prag mit preiswerten Seifenartikeln von Haus zu Haus zieht und tschechische Hausfrauen zu becircen versucht. Weiter konnte ich den Weg der eingeschmuggelten Meinungsfreiheit nicht zurückverfolgen.«

Es war ein Märzsonntag mit nebligem Himmelsgrau und einem Aprilregen, der die letzten Hoffnungsschimmer aus den Herzen der Bedrückten und Verzweifelten spülte. Weder die Krokusse noch die Osterglocken zeigten ihre Köpfe. In voller Blüte stand allein der deutsche Chauvinismus. Das Saarland war zurück ins Deutsche Reich gekommen. Adolf Hitler hatte die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland angekündigt. Dieser Bruch mit dem Versailler Vertrag erzürnte das Ausland. Deutschland jubelte. Es gab auch wieder eine Luftwaffe. Und seit vierundzwanzig Stunden gab es in Berlin die Ausstellung »Das Wunder des Lebens« mit dem durchsichtigen Menschen, einer Glasfigur, die das gesamte Innenleben eines Menschen sichtbar machte, als Prunkstück und mit der Forderung nach »Rassehygiene und Erbgesundheit«.

Um einem Lehrverbot zuvorzukommen, hatte der berühmte jüdische Religionsphilosoph Martin Buber bereits 1933 seine Professur an der Frankfurter Universität niedergelegt. Seit Februar hatte er nun totales Redeverbot. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht hatte soeben eine neue Habilitationsordnung erlassen. Wer habilitieren wollte, musste für sich und seine Ehefrau den Nachweis der arischen Abstammung erbringen.

Die »Filmwelt«, eigens für Claudette gekauft, die immer sagte, im Kino fühle sie sich am wohlsten, weil im Dunkeln Juden die Nichtjuden nicht erzürnten, lag auf einem ledernen Hocker. Auf der Titelseite brachte das viel gelesene Magazin ein Foto von dem gefeierten Schauspieler Gustaf Gründgens. In dem Film »Das Mädchen Johanna«, der im April anlaufen sollte und der die Geschichte der Jungfrau von Orleans aus nationalsozialistischer Sicht deutete, spielte Gründgens König Karl VII. Clara griff nach der Zeitschrift und begann, sie gelangweilt durchzublättern.

»War der nicht mal mit der ältesten Tochter von Thomas Mann verheiratet?«

»Wer, Karl VII.?«, fragte Erwin scheinheilig.

»Quatschkopf. Gründgens!«

»Er war. Doch er soll sehr flexibel sein, unser Gustel. Hat immer seinen Wendemantel an. Außerdem, wer will ihm verdenken, dass ihm heute die Nazis näherstehen als seine ehemalige, jüdisch versippte Verwandtschaft.«

»Das hast du schön gesagt.«

»Ich kann alles schönreden. Das war doch schon als Kind meine große Nummer«, erinnerte sich Erwin. »Lachst du, Clara, oder weinst du?«

»Wie soll ich das wissen?«

Die Schriftstellerelite, die nach der Bücherverbrennung ihre Heimat fluchtartig verlassen hatte, quälte sich, um im Ausland Fuß zu fassen – die meisten von ihnen vergebens. Bert Brecht lebte in der Schweiz, Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Joseph Roth waren in Frankreich. Kurt Tucholsky, der die Leser der »Weltbühne« mit seinen Kritiken, Essays und Gedichten begeistert hatte, litt in Schweden. Denjenigen, die ihn noch auf Umwegen lesen konnten, teilte er mit, er wäre »ein aufgehörter Deutscher«. Angesagt in Deutschland war nun die linientreue, völkisch-nationale Dichtung, die deutsches Blut in Wallung brachte und deutsche Erde ehrte.

»Kennst du Hans Baumann, Heinrich Anacker oder Kurt Eggers?«, fragte Erwin.

»Was für eine Frage! Wetten, dass noch nicht mal Gott sie kennt.«

»Gott kennt man ja auch nicht mehr.«

Clara und Erwin hatten den Sonntag zum »Tag der Redefreiheit für Juden, Radfahrer und Mischlinge« erklärt. Aktiv teilnehmen durften allerdings nur Mitglieder der Familien Sternberg und Feuereisen. Selbstverständlich auch Josepha. Die aber brauchte den Sonntagvormittag, um das Mittagessen zu kochen und jede Woche aufs Neue zu verkünden, sie wolle sich eher kreuzigen lassen, als in die Kirche zu gehen. Den freien Nachmittag nutzte Josepha, um ihre Wäsche und Strümpfe zu stopfen – und Erwins zerschlissenen Hemden neue Kragen zu verpassen.

In einer Bäckerei im Sandweg, in der die Besitzerin sie so freundlich begrüßte wie vor 1933 und jedes Mal nach Claudette und manchmal auch nach Fanny und Salo fragte, holte Clara Hefestückchen und Bienenstich. Aus dem väterlichen Vorrat bezog sie trotz mütterlichen Protestes Südtiroler Gewürztraminer, den Erwin feierlich zum »Saft des großen Vergessens« ernannt hatte. Alle vier Monate siedelte außerdem eine Flasche Armagnac vom Keller in den vierten Stock um. Der Armagnac war noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als der Handelsmann Sternberg solvente Geschäftspartner beim Abschluss eines guten Geschäfts unter dem flämischen Leuchter in seinem Arbeitszimmer bewirtete. Zum Armagnac aus den dickbäuchigen Gläsern ihres Pforzheimer Großvaters servierte Clara ihrem Bruder sämtliche Zeitungen, die er an den Wochentagen nicht mehr so gründlich wie in der Zeit unmittelbar nach seiner Entlassung von der Städelschule studieren konnte.

Für einen geringen, eher symbolischen Lohn, aber mit sehr viel dankbarer Anerkennung bedacht, die seinem Stolz und seinem Selbstbewusstsein immens wohltaten, hatte sich Erwin schon seit einem Jahr ein neues Tätigkeitsfeld erschlossen. In einem zionistischen Jugendklub mit stetig wachsendem Zulauf bemühte er sich, Jugendlichen, die ursprünglich hatten studieren wollen, handwerkliche Berufe als neue Lebensperspektive schmackhaft zu machen.

»Ich kann jetzt auch selbst einen Nagel in die Wand schlagen«, pflegte er zu sagen, »und in der Theorie kann ich auch schon recht gut einen Pflug reparieren und einen Bewässerungsschlauch flicken. Und den palästinensischen Hühnern könnte ich bestimmt schöne deutsche Märchen erzählen, damit sie mehr Eier legen.«

Auf diesen Satz pflegte Claudette zu lauern, als wäre sie noch zehn Jahre alt. Zu Geburtstagen und anderen fröhlichen Gelegenheiten war der unermüdliche Onkel Erwin mit einem dreieckigen Hut aus Zeitungspapier auf dem Kopf hinter der Wohnzimmergardine hervorgesprungen, und meistens hatte er das Lied von den frech gewordenen Römern vorgetragen.

Erwin schob die Holzschale mit den Äpfeln zur Seite und breitete die »Frankfurter Zeitung« auf dem niedrigen Couchtisch aus. »Von zwei bemerkenswerten Entwicklungen ist zu berichten«, kündigte er an. »Welche Meldung möchtet ihr zuerst hören, eine selbst für die Nazis unglaublich dumme oder ein Stück aus dem neuen Rattenfängerlied?«

»Die dumme klingt lustiger«, meinte Alice.

»Ist sie auch. Unser verehrter Oberbürgermeister Friedrich Krebs hat alle städtischen Verwaltungsämter angewiesen, bestimmte Fremdworte durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen.«

»Und das bedeutet was?«, fragte Alice.

»Ein Risiko«, dozierte Erwin und nahm noch einmal seinen Bühnenplatz im Türrahmen ein, »ist künftig als eine Gefahrenwahrscheinlichkeit zu bezeichnen. Und statt Omnibus hast du Großkraftwagen zu sagen. Auch das Wort Finanzierung ist unserem verehrten Führer zu fremd. Er will lieber das urdeutsche Wort Mittelbeschaffung hören.«

»Und ich will jetzt lieber das neue Rattenfängerlied hören«, sagte Clara.

»Gut. Ich muss nur noch mein Auto in die Kraftwagenhalle stellen. Die Nazis«, berichtete Erwin, »haben soeben die staatlichen Ehestandsdarlehen erhöht. Graf Schwerin von Krosigk heißt der Menschenfreund, der auf diese nicht alltägliche Art die Arbeitslosigkeit bekämpfen will. Falls du noch nie von ihm gehört hast: Es handelt sich um unseren verehrten Reichsfinanzminister.«

»Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Die Frauen müssen sich verpflichten, nach der Heirat nicht mehr berufstätig zu sein. Sie sollen den fleißigen deutschen Männern nicht mehr die Arbeit wegnehmen.«

»Dann sollten wir umgehend Claudette und Alice auf die Liste setzen lassen. Ohne Schulabschluss ist ja für sie nicht mehr an einen halbwegs vernünftigen Beruf zu denken.«

»Fehlanzeige. Das ist genau wie bei der Habilitation. Das Darlehen wird nur Frauen gewährt, die nachweislich arischer Abstammung sind.«

»Sind ganz schön eigenbrötlerisch, die Herrschaften. Gut, melden wir ersatzweise Anna an. Die hat zwar einen jüdischen Vater, aber soviel ich weiß, ist das auf keinem Amt je publik gemacht worden. Das war ungeheuer vorausschauend von unserem Erzeuger.«

»So rücksichtsvoll ist Vater immer«, erklärte Alice mit überraschender Leidenschaftlichkeit. »Zu all seinen Kindern.«

»Zu seinen Töchtern«, schränkte Erwin ein.

Der Einsturz ihrer Welt hatte Alice noch auffallender verändert als ihre Geschwister und Claudette. Die vielen Schulfreundinnen, die begeistert Frau Betsys Gastfreundschaft und Großzügigkeit genossen und nur im Verborgenen ihren Neid genährt hatten, gab es nicht mehr und schon gar nicht die von Alice vergötterte Deutschlehrerin. Ihre Kolleginnen und Kollegen hatten sie mit Schimpf und Schande von der Schule gejagt. Fräulein Kranichstein mit dem flammend roten Haar war aus Alice’ Leben verschwunden, als wäre sie nie gewesen. Eine weitere Wunde, die in Alice’ Seele nie verheilen würde, war die Erinnerung an die beherzten Sportkameradinnen vom Turnverein. Jene, die Alice als Zehnjährige ewige Treue und »Freundschaft bis zum Tod« geschworen hatten, hatten »das Juddemädche« noch schneller aus ihrem Verein geekelt als der neue Deutschlehrer sie aus der Schule. Die schmucken Tanzstundenkavaliere und die wohlerzogenen Abiturienten, die sich um Fräulein Sternbergs Gunst gerissen und ihr zu Walzerklängen Zärtlichkeiten und Treuebekundungen ins Ohr geflüstert hatten, wechselten nun die Straßenseite, wenn sie sie sahen.

Alice, die schwarzhaarige Rose mit den azurblauen Augen, die sich ihr Leben lang in Bewunderung gesonnt hatte, grämte sich sehr, dass das Schicksal ausgerechnet sie dazu bestimmt hatte, eine Jüdin in Deutschland zu sein. Sie haderte mit ihren Wurzeln und schämte sich, kaum dass der Gedanke ihr kam, ihrer Illoyalität gegenüber dem Glauben ihrer Väter. Sie träumte von einem Leben an der Seite eines Mannes, den ihre Familie nie kennenlernen würde, schalt sich eine Verräterin und wusste nicht, wie sie Buße tun sollte. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Afrikas Sonne aufgehen, wenn sie zum Fenster hinausschaute, wehten auf der gegenüberliegenden Seite Hakenkreuzfahnen. Anfang des Jahres versuchte Alice, mit Clara über den Widerstreit ihrer Gefühle zu reden, doch schließlich war es, wie sonst auch, Erwin, mit dem sie darüber sprach.

»Das kannst du gerade gebrauchen«, sagte er, »dir selbst Schuldgefühle anzuhexen und dich aufzugeben, weil du niemanden mehr hast, mit dem du dein Leben teilen kannst. Überlass das Hassen denen, für die der Hass Lebenselixier ist. Du machst es schon ganz richtig, wenn du dich an meine Lieblingsnichte hältst. Claudette hat einen guten Kopf. Und ein gutes Herz.«

Durch das gemeinsame Erlebnis von Ausgrenzung, Schock, Scham und Einsamkeit waren sich Alice und Claudette sehr nahe gekommen. »Die drei Jahre Altersunterschied spielen überhaupt keine Rolle«, versicherte Alice ihrer Mutter, die die in der Not entstandene Freundschaft mit ihrer üblichen Skepsis abzuwerten versuchte. »Claudette und ich sitzen im selben Boot. Wenigstens das wird dir doch einleuchten. Übrigens ist Claudette wesentlich reifer als andere Mädchen in ihrem Alter. Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, was ich mit meinen sogenannten Mitschülerinnen gemeinsam hatte. Worüber haben wir um Himmels willen geredet?«

»Über den Weihnachtsmann«, sagte Erwin lakonisch.

»Und bedenke, dass ein besonders inniges Verhältnis zwischen Tante und Nichte in unserer Familie Tradition hat«, steuerte Clara bei. »Wenn ich mich recht erinnere, kennt sich unser Vickylein da am besten aus.«

Frau Betsy wusste, wann es an der Zeit war, auf einen Scherz einzugehen. »Ich hätte meiner ersten Regung nachgeben und Clara und dich zur Adoption freigeben sollen«, sagte sie.

»Dann hättest du nicht erlebt, wie Clara, die Selbstlose, ihre mörderische Eifersucht doch noch bezwungen hat. Wenn du dich erinnerst, fand es meine kluge Schwester zutiefst unmoralisch, dass du im Alter von dreiundvierzig Jahren noch ein Kind gekriegt hast. Wie lange hat das eigentlich gedauert, Clara, ehe du Mutter verziehen hast?«, konterte Erwin.

»So etwa zwanzig Jahre würde ich sagen. Ich war wirklich ein unleidliches Geschöpf.«

»Es gibt Schlimmere«, fand Betsy.

Den dritten Sonntag im März verbrachte Alice nicht nur deshalb im vierten Stock, um mit Claudette Kaffee, Bienenstich und die Hefestückchen vom Sandweg zu teilen oder um die übliche sonntägliche Langeweile und den Kummer, dass sie nicht mehr jung und fröhlich sein durften, zu vertreiben. Im Frühjahr 1935 war es bei Alice nicht mehr allein mit Rat und Lebenshilfe getan. Sie war in Herzensnot.

Wie kleine Mädchen, die von den Eltern zu Stubenarrest verurteilt werden und die sich nicht zu beschäftigen wissen, hatten sie und Claudette über eine Stunde auf der Fensterbank gesessen. Sehnsüchtigen Blickes hatten beide in die Pfützen der Rothschildallee gestarrt, auf nassen Dächern die Tauben gezählt und wie alte Menschen geseufzt, die nicht mehr leben, sondern das Leben geschehen lassen. Verzweifelt hatte sie sich in die Welt zurückgewünscht, die die Nazis ihnen genommen hatten – zunächst eine jede für sich und sich mit den üblichen Andeutungen begnügend, danach im Flüsterton, doch nicht mehr mit der sonstigen Scheu, von ihren Ängsten und Enttäuschungen und der großen Hoffnung zu sprechen, dem Leben zu entkommen, das sie seit zwei Jahren führten.

Erst durch die heitere Stimmung nach Erwins Hitlerparodie fand Alice jedoch den Mut, nicht nur Claudette Einblick in ihre Gefühlswelt zu gewähren. Zwar wurde sie bereits beim ersten Wort so mädchenhaft rot wie ein Backfisch, aber dann fragte sie doch mit sehr fester Stimme »Wo ist eigentlich Mafeking? Oder wie immer man das verdammte Wort ausspricht.«

»Keine Ahnung«, erwiderte ihr Bruder, »wahrscheinlich im Hottentottenland. Wozu musst du das denn wissen? Ich dachte immer, Mädchen sammeln keine Briefmarken.«

»Gar nicht so übel für einen, der das Schulgeld nicht wert war, das er seinen Vater gekostet hat«, konterte Clara. »Mafeking liegt an der Grenze zur Provinz Transvaal, am Zufluss des Molopo. In Südafrika. Das weiß doch jedes Kind. Jedenfalls war das zu meiner Zeit so.«

»Um Himmels willen! Was ist in dich gefahren, Madame Blaustrumpf? Wer kennt sich denn noch in Südafrika aus? Ich nehme an, unser verehrter Kaiser war der Letzte. Der war ja ganz heiß auf den Burenkrieg.«

»Deine Schwester auch«, erklärte Clara.

Erwin salutierte mit zwei Fingern und sah wie der vierzehnjährige Lauser aus, der sich in Baden-Baden an alte Damen herangeschlichen und ihre Hüte mit Kletten beworfen hatte. Erwin knuffte seine Schwester. »Ich bin der berüchtigte Klettenmax«, brummte er mit heiserer Großvaterstimme. Sie kicherte wie damals und schlug sich auf den Mund. Einen Moment genossen sie beide den Gedanken, dass die Geschwisterliebe ihr Leben zu einem besonderen gemacht hatte, doch dann verlosch das Strahlen in Erwins Augen so plötzlich, wie es sichtbar geworden war.

»Und jetzt«, sagte er und rückte von Clara ab, »fragen wir mal Fräulein Alice, was in aller Welt Mafeking mit ihr zu tun hat. Sag nur, du willst dorthin auswandern, kleine Schwester, und einem Missionar den Haushalt führen? Soviel ich weiß, laufen die Löwen dort noch frei über die Straße. Kein Mensch spricht anständiges Deutsch, und bestimmt wird auch auf dem Tafelberg nicht getafelt.«

»Lass doch mal den Quatsch. Ja, du hast es erfasst. Ich würde lieber heute als morgen nach Südafrika auswandern. Wenn ich nur wüsste, wie das geht und woher man das Geld für die Schiffspassagen nehmen soll. Leon Zuckermann ist seit einem halben Jahr in Mafeking. Sein Bruder Jakob ist schon Ende 1933 durch einen Cousin dorthin gelangt. Als Erstes haben die beiden Leon eine Stelle in der Nähe von Mafeking verschafft. In einer Goldmine. Das Ganze ist schrecklich plötzlich gekommen. Für uns beide.«

Zunächst konnte sich weder Clara mit dem guten Gedächtnis an den Namen erinnern noch Erwin mit der Gabe, sich nach nur wenigen Andeutungen ein Bild zu machen. »Du meinst doch nicht etwa den jungen Mann, um dessentwillen du jeden Schabbes in die Synagoge gerannt bist?«, sagte Clara schließlich. »Wie lange ging das eigentlich?«

»Ja, wen denn sonst? Mein Vorrat an jüdischen Jungen ist ja nicht riesig. Und es ging bis vor sechs Monaten.«

»Mein Gott! Ich dachte, der Bursche wollte Kinderarzt werden. Das hast du uns jedenfalls erzählt.«

»Wollte er auch. Aber vielleicht habt selbst ihr erfahren, dass Deutschlands Universitäten die Juden davongejagt haben. Sowohl die Studenten als auch die Professoren. Mit Leons Studium ist es natürlich nichts geworden.«

»Mein Gott, Mafeking«, sagte Erwin. »Vor zehn Minuten wusste ich nicht, wo das liegt, und jetzt will meine kleine Schwester dorthin auswandern.«

Er stand auf und ging zum Fenster, bohrte seine rechte Hand in die Hosentasche und schüttelte den Kopf. Clara überlegte, ob ihr Bruder schon immer so schmale Schultern gehabt hatte. Und Wangenknochen, die den Eindruck machten, als würden sie bald durch die Haut stoßen. Sie fröstelte, doch sie rieb energisch die Gänsehaut auf ihren Armen fort, und ohne dass es die anderen merkten, schluckte sie den Schmerz hinunter.

»Wie haben wir es doch weit gebracht«, resümierte Erwin. Er holte einen Bleistift aus seiner Tasche und einen Papierblock, der auf dem Couchtisch lag, und zeichnete mit kräftigen, wütenden Strichen eine beängstigende Höllenfratze. »Werden als stramme deutsche Patrioten erzogen, die selbst nachts ihre Hände an die Hosennaht zu legen haben, und bei Tag brennen wir darauf, für das Vaterland zu sterben. Und dann betritt so ein Psychopath aus Österreich die Bühne und befiehlt seinen irren Jüngern: ›Jagt die Juden aus dem Land‹‚ und schon reden wir vom Auswandern. Liebst du ihn, Alice? Noch wichtiger: Liebt er dich?«

»Wie soll sie denn das wissen?«, fuhr Clara ihren Bruder an. »Alice ist gerade erst zwanzig. Da weiß man kaum, ob man Mädchen oder Junge ist, geschweige denn etwas von der Liebe.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, warst du in ihrem Alter schon ein Fräulein Mutter und bei allen anständigen Bürgersfrauen ziemlich untendurch.«

»Danke«, sagte Clara zerknirscht. »Das habe ich verdient. Du brauchst dich nicht taub zu stellen, Claudette, und auch nicht rot zu werden. Deine Mami hat wenigstens einen guten Charakterzug. Sie gibt ihre Fehler zu. Manchmal verwechsle ich die Zeiten und die Ereignisse in meinem Leben. Und das meiste andere auch. Für einen Moment erschien mir zwanzig so verdammt jung.«

»Ich würde«, riet Erwin, »mal mit Vater sprechen, Alice. Am Ende ist er gar nicht so, wie wir alle denken. Ich hab das mal vor Jahren erlebt. Heute werden Ehen aus ganz anderen Gründen geschlossen als aus Liebe oder weil der Bräutigam aus einer guten Familie stammt und ein Bankkonto hat, das den Schwiegervater berauscht. Ein Mann, der im Ausland lebt, ist heute mehr wert als ein Sack voll Gold. Das kannst du mir glauben. Ich hab ja täglich mit dem Thema zu tun. Immerhin bringe ich nicht aus purem Jux junge Männer, die es auf eine akademische Laufbahn abgesehen hatten, zu dem Entschluss, sich für ein Land zu interessieren, in dem früher Milch und Honig flossen und heute die Disteln wuchern. ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹ ist nicht mehr nur der fromme Wunsch der Juden zu Pessach. Das Wort hat eine reale Bedeutung.«

Alice stöhnte – nicht mehr theatralisch wie als junges Mädchen, sondern als eine Mutlose, die es aufgegeben hat, nach einem Ausweg zu suchen.

»Ich hab ja versucht mit Vater zu sprechen«, berichtete sie, »ohne allerdings Mafeking oder Leon zu erwähnen. Ich hab ihn nur ganz allgemein gefragt, ob er es nicht gescheiter für mich findet, aus Deutschland wegzugehen, weil das Leben hier ja für uns immer enger und hoffnungsloser wird. Doch er hat abgewinkt. Mit beiden Händen und so stur wie in alten Zeiten. Ich hab richtig darauf gewartet, ihn sagen zu hören: ›Ein junges Mädchen gehört ab zehn Uhr abends nicht mehr auf die Gasse.‹«

»Das war Mutters Spruch. Vater hat immer gesagt: ›Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, wird gemacht, was ich will.‹ Heute bin ich wieder in dem Stadium, dass ich mein tägliches Brot nicht verdiene und kuschen muss. Alle sind wir es. Außer Anna natürlich, und die hat nie auf dem Recht bestanden, ihre Meinung zu äußern. Versuch es mal mit konkreten Angaben, Alice«, schlug Erwin vor. Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht, doch seine Augen und auch seine Stimme bezeugten Anteilnahme. »Vater hat zum Glück ja immer den Drang gehabt, sich so genau wie möglich zu informieren, und Scheuklappen hat er nie getragen. Na, sagen wir, wenigstens nicht mehr, nachdem unser tapferer Kaiser mit der Holzhackeraxt in sein Exil nach Doorn gereist ist. Ich wette, Johann Isidor Sternberg, der Handelsherr mit der guten Nase und dem glücklichen Händchen, ist besser im Bilde über das, was in Deutschland geschieht, als viele andere, die sich im Irrglauben befinden, sie wüssten alles. Zähl nur mal die Zeitungen, die im Herrenzimmer herumliegen, und schau dir sein Gesicht an, wenn er sich unbeobachtet glaubt.«

Erwins Mutmaßungen trafen ins Schwarze. Sein fünfundsiebzigjähriger Vater war nicht zu alt und schon gar nicht zu müde, um zu sehen und zu hören, was geschah – und um das Gesehene und Gehörte zu deuten. Er spürte Tag für Tag, dass im Jahr 1935 mehr von ihm verlangt wurde, als den Tod seiner Illusionen zu beklagen und auf Wunder zu hoffen.

»Ich kann mich nicht länger weigern, mich der Zukunft zu stellen«, sagte er zu Doktor Meyerbeer. Die beiden machten ihren wöchentlichen Spaziergang um den Vierwaldstätter See im Frankfurter Stadtwald, wo sie sich unbeobachtet und vor allem frei fühlten, zu sagen, was sie litten.

»Sag nur, auch du willst Gift von mir, mein Guter. Du glaubst gar nicht, wie oft ich danach gefragt werde. Manchmal komme ich mir vor wie ein öffentlich bestellter Todesengel. Zyankali statt Zucker und Zimt.«

»Das glaube ich dir aufs Wort. Gott schütze mich davor, dass ich eines Tages auch so weit bin und vergesse, was ich meiner seligen Mutter versprochen habe. Mit Zukunft meinte ich, dass ich wenigstens den Versuch machen muss, meinen Kindern zu einer solchen zu verhelfen. Die Einschläge kommen immer näher. Stück für Stück.«

Seit einem Jahr konnten Auswanderer nur noch zweitausend Reichsmark in ausländische Devisen umtauschen. Zeitungsverleger mussten ihre »arische Abstammung« bis ins Jahr 1800 nachweisen. Juden wurden nicht mehr zu den Apothekerprüfungen zugelassen. Immer beklemmender wurde die Situation der Kinder, die von sadistischen Lehrern und brutalen Mitschülern drangsaliert wurden. Die Beratungsstellen, bei denen Juden wirtschaftliche Hilfe ersuchten, waren überfüllt. In den Jahren 1933 und 1934 hatte bereits sieben Prozent der Mitglieder der Israelitischen Gemeinde Frankfurt Deutschland verlassen. Im Mai 1935 wurde Juden der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und Kurorten verboten.

»Wir haben Claudette und Alice buchstäblich mit Hausarrest und Gott weiß was mehr drohen müssen«, berichtete Johann Isidor seinem alten Freund. »Die beiden waren fest entschlossen, weiter in die Schwimmbäder zu gehen. ›Als ob einer merkt, dass ich jüdisch bin, wenn ich einen Badeanzug anhabe‹, hat Claudette geweint. Schwimmen ist von Kindheit an ihre große Leidenschaft gewesen. Es hat mir das Herz gebrochen. Hoffentlich kommen meine verehrten Töchter nicht auf die Idee, nun dauernd ins Kino zu rennen, nur weil es dort dunkel ist. So dunkel kann es nirgends sein, als dass Juden geschützt wären.«

Große Warenhäuser und kleine Läden wechselten ihre Besitzer. Bereits 1933 waren mehr als fünfhundert jüdische Geschäfte abgemeldet worden. In der Hoffnung, wenigstens einen Teil ihres Vermögens zu retten, verkauften die jüdischen Bürger ihre Geschäfte und Häuser weit unter Preis. Die ehemaligen Konkurrenten verstanden es, die Gunst der Stunde optimal zu nutzen, sie hielten allzeit Ausschau nach Beute und klopften sich nach erfolgreicher Jagd selbst auf die Schulter. Sie kannten weder Skrupel noch Mitleid. Von den Kumpeln ließen sie sich als Helden feiern, ihren Frauen kauften sie Biberpelzmäntel und für den Sommer Schuhe aus Kalbsleder. Die Töchter meldeten sie im Tennisklub an, und die Söhne bekamen chromblitzende Fahrräder und vom Vater das Sprichwort »Das Glück bietet seine Hand dem Kühnen« mit auf den Lebensweg.

Auch Johann Isidor Sternberg, ein Leben lang der viel beneidete und allseits bewunderte Handelsmann, musste sich beugen. Er gab zwei von seinen drei Geschäften auf, bis ins Mark seines Selbstbewusstseins getroffen, gedemütigt, verzweifelt und in Existenzangst. Er schluckte Brom und Baldrian, um seine Nerven zu beruhigen. Mittags aß er Haferbrei, weil sein Magen rebellierte, abends trank er Magenbitter und Artischockenschnaps, im Bett drückte er die Wärmflasche auf den Leib und ein angewärmtes Kräuterkissen auf die Stirn. Wenn er nachts aufwachte, flehte er zu Gott, der Allmächtige möge ihn seinen Weg bis ans Ende gehen lassen. Von seiner Frau ließ er sich mit Johanniskraut und Kümmeltee traktieren, von Josepha mit Selleriesaft.

»Sellerie ist für die Potenz, Josepha, die braucht ein alter Jude nicht mehr. Ich bin nicht Abraham.«

Gegen die Scham, die in ihm loderte, weil das Land, das er immer noch Vaterland nannte, ihm den Stolz, die Ehre und die Heimat genommen hatte, war Johann Isidor wehrlos. Er schrie im Schlaf wie ein verstörtes Kind, morgens musste er sich zwingen aufzustehen, und in seinem Kontor in der Posamenterie berechnete er dreimal in der Woche, was ihm noch geblieben war und wie lange das für die Familie reichen würde. Niemandem außer Doktor Meyerbeer vermochte er zu sagen, was ihn vernichtete. Es war das Wissen, dass Deutschlands Juden dem Hass und der Willkür ausgeliefert waren, ohne dass sich nur eine Stimme für sie erhob, eine Hand sich ihnen entgegenstreckte. Und lähmend war die Erkenntnis, dass man niemandem mehr trauen konnte, selbst den engsten Freunden nicht.

»Ich bin schon so weit, dass ich noch nicht mal mehr mit meiner Frau sprechen kann.«

»Dazu brauchte ich nicht erst die Nazis«, erwiderte Doktor Meyerbeer. »Du musst die Dinge auch mal von der positiven Seite sehen und auch dankbar sein für das, was du gehabt hast.«

Kein Mitglied der Familie erfuhr, dass Johann Isidor sein Haus in der Wittelsbacher Allee verkauft hatte. Nur durch einen Zufall, den sein Vater beklagte, als hätte sich das Höllentor vor ihm aufgetan, kam Erwin dahinter, dass der Textilladen in der Berger Straße verkauft worden war. Mit Tränen in den Augen erflehte der Vater das Schweigen seines Sohns, und der traute sich danach nicht mehr, mit seiner Mutter allein in einem Raum zu sein. Erwin hatte sich schon als Schuljunge nicht aufs Verschleiern, auf törichte Ausflüchte und Lügen verstanden. In beiden Fällen war, was der aufrichtige Sohn nicht wusste, Pius Ehrlich der Käufer des sternbergschen Besitzes.

»Im Gedenken an die alten Zeiten hab ich Ihnen einen guten Preis gemacht, Herr Sternberg«, hatte der ehemalige Partner den Schneid gehabt zu sagen. Er war auch frivol genug gewesen, nach Ende der Verhandlung, die für beide Geschäfte genau acht Minuten gedauert hatte, seine Rechte auszustrecken. In einer Anwandlung von lebensbedrohendem Stolz hatte Johann Isidor die Hand seines Peinigers ausgeschlagen. Zu Hause hatte er sich drei Stunden bei geschlossenem Rollo in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, und in die Kladde, in die er Verabredungen, Überlegungen, die das Geschäftliche betrafen, und tatsächliche und fällige Ausgaben eintrug, hatte er geschrieben: »Ich kann nicht mehr.« Unterschrift und Datum hatte er daruntergesetzt. Noch vor dem Abendessen war er zu Bett gegangen und um Mitternacht mit einer Gallenkolik aufgewacht – die erste in seinem Leben.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du an diesen verdammten Leichenfledderer verkauft hast?«, fragte Betsy an einem Mittwochabend im Mai. Sie war bleich, ihre Lippen zitterten, und sie klammerte sich am Besenstiel fest. »Herrgott noch mal, eine Ehefrau ist doch nicht nur für Bauchschmerzen und Gallenkoliken zuständig. Und für Kinder, die keine warmen Socken anziehen wollen, wenn sie klein sind, und als Erwachsene keine Ratschläge annehmen.«

»Also hat der gute Erwin doch gequatscht.«

»Nein, das hat er nicht, und das würde er nie tun. Aber deine Frau hat Augen im Kopf. Sie war auf der Berger Straße. Das ist nämlich noch erlaubt. Hast du wirklich geglaubt, ich würde das nicht erfahren, Johann Isidor? Übrigens, Josepha und die Kinder können auch lesen. Bald auch die kleine Fanny. Ein jeder von denen hätte mir erzählt, was geschehen ist. Zufällig war ich die Erste, die das Schild über der Tür vom Geschäft gelesen hat. Pius Ehrlich in Großbuchstaben und an der Schaufensterscheibe das Schild ›Juden werden hier nicht bedient‹. Auch in Großbuchstaben.«

»Es tut mir leid, Betsy. Noch mehr als das. Ich hab’s nur gut gemeint. Ich wollte dich schonen. Du hast genug um die Ohren mit Victorias vielen Besuchen und Alice, die ständig mit verweinten Augen rumläuft, und Claudette, die nichts sagt und alles in sich hineinfrisst, was noch viel schlimmer ist. Meinst du, ich bin aus Stein und krieg’ das alles nicht mit?«

»Mein Gott, wann wirst du endlich lernen, dass du in unserer Ehe kein Glück mit Lügen hast? Ich dachte, das hätten wir schon im Jahr 1917 geklärt. ›Dies ist die kleine Anna, meine liebe gute Betsy. Ich habe sie ganz zufällig auf der Straße gefunden, und ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum sie mir so ähnlich sieht und weshalb sie genau die gleiche Puppe und das gleiche Kleid hat wie unsere Victoria.‹«

»Also, ganz so unverfroren war ich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt etwas gesagt zu haben.«

»Das ist es ja. Du sagst nie etwas.«

Mitte Juni hatte Claudette Geburtstag. Weil ihr keine von ihren Schulfreundinnen geblieben und sie zu gehemmt geworden war, um die jungen Leute aus dem Zionistischen Klub zu sich nach Hause einzuladen, beschloss sie, ihren Siebzehnten mit der ganzen Familie in der Wohnung der Großeltern zu feiern. »Ganz wie in alter Zeit«, hatte sie sich selbst ermuntert. »Zum Schluss spielen wir Topfschlagen und die Reise nach Jerusalem, und es gibt Negerküsse und Himbeersaft, der bitzelt.«

»Ich hab den Eindruck, du spielst jeden Tag die Reise nach Jerusalem«, sagte Johann Isidor.

Mit einem Mal mochte er auf ein offenes Gespräch mit den Kindern und seinem Schwiegersohn nicht länger warten. Seit Wochen drängte es ihn nach der Aussprache, die er als längst fällig empfand, und es schien ihm schäbig und feige, sie noch länger hinauszuzögern. »Ich hab’s mir sogar ganz genau überlegt«, wehrte er Betsys Einwände ab. »Wort für Wort. Ich war nie einer, der den Kopf in den Sand stecken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen kann. Ich hab es satt, morgens in den Spiegel zu schauen und mich vor mir selbst zu genieren. Pius Ehrlich hat mir meine Geschäfte abkaufen können, aber nicht meinen Stolz.«

Sie saßen, wie am Sabbatabend, aber ohne Wein und Challa, die der Hausherr zu segnen hatte, um den Tisch im Esszimmer, und sie schwiegen alle und fragten nicht nach dem Grund. Nach einer Weile stand Johann Isidor auf. Er schien ruhig und beherrscht, auch ein wenig steif und, was indes nur seine Frau bemerkte, noch grauer im Gesicht als sonst. Seine Stimme aber war unaufgeregt, obwohl es seine wirtschaftliche Lage und die Zukunft waren, über die er zu sprechen hatte.

Bei Sternbergs war es für den Patriarchen nicht Brauch, seiner Frau und den Kindern Rede und Antwort zu stehen. Man merkte es an der Art, wie er seine Stirn trocken rieb– längst nicht mehr so resolut wie vor dem abrupten Ende seiner Sicherheit, nun ein Mann der neuen Verlegenheit und Beschämung. Er fürchtete das unbedachte Wort, und er fürchtete die Sentimentalität. Zweimal nahm er Zuflucht zur Rolle des Großvaters. Er ermahnte Fanny, die unzufrieden auf dem Schoß ihres Vaters schmollte, mit erhobenem Finger zur Ruhe. Salo, dem stillen, nachdenklichen Kind, strich er über den Kopf.

»Du hast ganz rote Augen«, bemerkte Fanny, »wie der Wolf.«

»Psst«, sagte ihr Vater. »So etwas sagt ein artiges kleines Mädchen nicht.«

»Ich bin kein artiges kleines Mädchen, ich bin ein großes jüdisches Mädchen. Aber ich darf nicht in den Kindergarten.«

»Die Umsätze von der Posamenterie sind um mehr als die Hälfte zurückgegangen«, begann Johann Isidor, »und ich kann abschätzen, dass es weiter bergab gehen wird. Immer schneller. Nicht nur den Bach runter, wie man so schön sagt, sondern im Wasserfalltempo.«

Einen kurzen Augenblick suchte er Schutz hinter seinem Taschentuch. Dann fing er sich wieder. Ein jeder außer den beiden Kleinen senkte den Kopf, war in seiner Angst gefangen und stumm, nur ein Schatten, der nicht mehr auf Sonne hoffte. Das Schweigen war quälend, und doch schien diese unheimliche Stille eine Stimme zu haben. Sie war fordernd und mächtig, so kraftvoll wie die Trompeten von Jericho, aber das letzte Wort behielt Johann Isidor Sternberg. Der Mann ohne Zukunft und ohne Zuversicht war es, der für den Epilog sorgte, den keiner der Anwesenden je vergessen würde.

Johann Isidor setzte sich nicht zurück auf seinen Stuhl. Er schaute sich befriedigt um wie einer, der lange nach der Lösung für ein schwieriges Problem gesucht hat und der sich endlich auf der richtigen Fährte weiß. Für einen kurzen Moment, der sich jedem offenbarte, der Zeuge dieser Verwandlung sein durfte, wurde er wieder der, der er gewesen war, der starke Mann, für den das Gesetz des Handelns ein Göttergebot war und der sich von keinem die Zügel seines Lebenswagens entreißen ließ. Nur die Stimme war nicht mehr die vertraute; sie war tief und heiser und zerrissen; sobald Johann Isidor Atem holte, hörten ihn die Seinen schluchzen.

»Der Opa weint ja«, stellte Fanny fest, »darf ein alter Mann denn weinen?«

»Bist du sofort still!«, ermahnte sie ihr Vater. »Sonst kommst du zu Josepha in die Küche.«

»Aber Josepha ist ja gar nicht in der Küche. Sie hat sich hinter der Tür versteckelt. Schon die ganze Zeit hat sie sich da versteckelt.«

»Ich verspreche«, fuhr Johann Isidor unbeirrt fort, »jedem von euch, der dieses Land verlassen will, so gut zu helfen, wie ich nur kann. Und so lange ich kann. Gott gebe mir Kraft. Ich habe endlich begriffen, was ich zu lange nicht wahrhaben wollte. Ich war taub und blind und verantwortungslos.«

»Aber warum heute, Vater? Was ist geschehen, dass du plötzlich von Auswanderung sprichst. Ich hab immer gedacht, das Wort existiert für dich überhaupt nicht.«

»Das ist das Gute an den Nazis, mein Sohn. Sie sorgen dafür, dass man jeden Tag Neues lernt. Es ist nichts Besonderes geschehen, absolut nichts. Dein Vater hat nur ein großes Bedürfnis, wieder mehr Würde und Offenheit in unser Familienleben zu bringen. Die Zeit, die ich noch habe, möchte ich nicht mit Rätselraten und Versteckspielen zubringen. Ich spreche auch in Betsys Namen. Beispiel Nummer eins: Ich finde es absolut kränkend für deine Eltern, Alice, dass du die Post von deinem Galan ins Haus seiner Eltern kommen lässt. Ich hätte an deiner Stelle wenigstens dafür gesorgt, dass Frau Zuckermann das nicht der Witwe Wormser erzählt und die nicht umgehend Nelly Grünberg informiert, mit der deine Mutter dreimal in der Woche telefoniert. Meine Gattin ist mit einem Mal besser über Goldminen in Mafeking informiert als über das Warenangebot vom Gemüsehändler in der Wiesenstraße. Und da wir schon dabei sind, heute den Tisch wieder rein zu scheuern, ich nehme an, dass es kein Zufall ist, dass Clara und Claudette so häufig im Zionistischen Klub anzutreffen sind wie früher im Kaufhaus Wronker. Hat mir jedenfalls der Vetter von Herrn Tannenbaum erzählt. Das haben wir alles schon mal gehabt. Damals war es Erwin, der seine Hand nach dem Gelobten Land ausstreckte.«

»Er streckt immer noch, Vater«, sagte Erwin, »und wie! Doch ich bekenne mich nicht schuldig im Sinne der Anklage. Ich habe meine Schwester und meine Nichte zu nichts verleitet, das nicht schon in ihnen gewesen ist. Sie lassen sich das Denken nicht ausreden. Und auch nicht das Hoffen.«

»Beruhige dich doch«, beschwor Betsy, »das ist nicht gut für dich, diese ganze Aufregung. Du hast schon ganz rote Flecken im Gesicht.«

»Mein Gott, Betsy, du siehst ja nur mein Gesicht. Wo soll ich denn sonst rote Flecken haben?«

Den nächsten Brief aus Mafeking – er traf zwei Tage nach der großen Aussprache ein – durften Clara und Claudette lesen. Claudette seufzte und sagte mit jungmädchenhaftem Neid: »Ich glaube, der liebt dich wirklich.« Unter seinen Namen hatte Leon in winzigen Buchstaben geschrieben: »Die Sonne hier macht mutig, frei und gesprächig. Und deswegen verrate ich dir, dass ich es kaum erwarten kann, dich wiederzusehen. Wir sollten die Zeit nicht mit den üblichen gesellschaftlichen Formalitäten verplempern. Keiner weiß, wie sich die Dinge entwickeln.«

Clara war so besorgt, als wäre es ihre Tochter, die einen Mann von einem anderen Kontinent angeschleppt hätte. »Lass dir ja nicht den Kopf verdrehen, Kleine«, warnte sie. »Mafeking ist für eine verwöhnte junge Prinzessin aus dem Hause Sternberg bestimmt kein geeigneter Ort, um ein Nest zu bauen. Du würdest ganz schnell nach Mutters starken Armen jammern und Vaters Geld.«

»Und nach Josephas gefülltem Kalbsbraten«, sekundierte Claudette, »und Frankfurter Grüner Soße.«

Leons Brief, geschrieben im September und mit einer detaillierten Beschreibung der Hohen Feiertage versehen, zu denen er von einem Lehrerehepaar in Johannesburg eingeladen worden war, lag bereits im Hausbriefkasten der Rothschildallee 9. Betsy brachte ihn mit der üblichen Post an, legte ihn auf den Mittagstisch zwischen Suppenteller und Brotgedeck und sagte nicht ohne Wehmut in der Stimme: »Ich habe schon als Kind davon geträumt, Postillon d’amour zu spielen. Leider verliebte sich keiner in meine humorlosen Schwestern mit den dicken Beinen und der langen Nase.«

»Und ich bin von Grund auf froh, dass die leidige Schwindelei ein Ende hat«, gestand Alice. »Das ganze alberne Jungmädchengetue mit den unwürdigen Heimlichkeiten und Verschwörungen passt nicht mehr in unsere Zeit.«

»Mütter, die ihren Töchtern raten, sich gründlich zu prüfen und sich nicht zu schnell zu binden, passen erst recht nicht mehr in unsere Zeit. Du solltest den Brief Vater zeigen. Das ist nicht das Geschwätz von einem grünen Jungen.«

Leon schrieb, er hätte eine Anstellung als Krankenpfleger in Johannesburg in Aussicht, wo es sich leichter für Europäer leben ließe als im unwirtlichen Mafeking. »Es gibt dort eine große, alteingesessene jüdische Gemeinde«, berichtete er, »und ich habe gehört, dass die sich viel Mühe mit uns Jungen gibt, die plötzlich vor der Tür stehen. Man hat sogar Verständnis, dass Söhne aus gutem Haus weder Geld noch einen Beruf haben und stattdessen einen Packen Sorgen, von denen sich Afrika bisher nicht träumen ließ. Wärst du, meine geliebte Alice, eventuell bereit, bei einer reichen englischen Familie eine Stelle als Kindermädchen anzunehmen? Ich weiß, das muss dir sehr komisch erscheinen, aber Kindermädchen bieten im Augenblick die besten Aussichten für Frauen aus Deutschland, an ein Einreisevisum zu kommen. Unverheiratete Frauen sieht man hier nämlich gar nicht gern. Die Engländer haben Angst, sie könnten dem Staat zur Last fallen. Ich wiederum weiß nicht, wie wir heiraten sollen, wenn uns Kontinente trennen! Ich hab mich erkundigt. Selbst wenn ich dazu nach Frankfurt zurückkäme, würde man mich nicht noch einmal rauslassen, ohne ein Vielfaches von dem zu fordern, was ich bereits zahlen musste. Beziehungsweise mein Vater und meine beiden Onkel.«

»Meine Tochter als Kindermädchen in einem fremden Land und bei wildfremden Leuten, das war schon immer mein Traum für meine Kinder«, seufzte Johann Isidor. Er faltete den Brief so sorgsam zusammen, als wäre er ein amtliches Dokument, und steckte ihn zurück ins Kuvert. »Briefmarken aus einer Welt, in der die wilden Tiere friedlicher sind als bei uns die Menschen«, murmelte er. »Ach, Alice, du weißt ja noch nicht einmal, wie man ein Kind wickelt. Wozu habe ich dich bloß jahrelang aufs Gymnasium geschickt?«

»Damit sie mich vor dem Abitur rausekeln«, erwiderte Alice, »und meine sogenannten ehemaligen Freundinnen abends beten: ›Ich danke dir, Gott, dass du mich nicht eine Jüdin hast werden lassen.‹«

Sie hatte kaum Hoffnung, dass ihr Vater sich mit ihrer Zukunft an der Seite eines Mannes beschäftigen würde, den er nur ein einziges Mal gesehen hatte, und sie verwünschte sich und ihre Naivität, dass sie dem Drängen ihrer Mutter nachgegeben hatte, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Bereits zwei Tage später aber begleitete Johann Isidor Sternberg seine jüngste Tochter zu der von der Israelitischen Gemeinde eingerichteten Beratungsstelle für Auswanderer. Bis er nach zweieinhalb Stunden Wartezeit aufgerufen wurde, erfuhr er von mehr Familientragödien und Katastrophen als je zuvor in seinem Leben.

Nach diesem ersten Besuch auf der Beratungsstelle, der noch viele folgen sollten, waren dem ehemaligen deutschen Patrioten Sternberg keine Hoffnung zu vage und kein Plan zu abwegig, um der deutschen Heimat zu entkommen. »Alice«, sagte er am Abend, und er rieb sich die Hände, als hätte er ein gutes Geschäft abgeschlossen, »hat den Anfang gemacht.«

»Nein«, widersprach Betsy, »den haben Victoria und Fritz gemacht. Fritz bemüht sich schon seit Wochen um eine Stellung in Amsterdam. In einer Export-Import-Firma, die ein Jude aus Mannheim vor zwei Jahren gegründet hat. Die alte Frau Feuereisen hat es mir bei ihrem letzten Besuch unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt.«

»Ich habe immer gefunden, dass das Siegel der Verschwiegenheit bei dir in besten Händen ist, meine Liebe. Ach, Betsy, schon das erste Kind, das von uns geht, wird mir das Herz brechen. Ich hab immer gedacht, in jüdischen Familien zerschneidet nur der Tod die Wurzeln. Ich bin zu alt, um dazuzulernen, und nicht mehr gesund genug, um das durchzustehen.«

»Gott hat die Juden doch nicht jahrtausendelang zu leiden gelehrt, sie auf Wanderschaft geschickt und durch die Wüste marschieren lassen, damit ihr Herz schon bei der ersten Prüfung bricht. Wir haben, obwohl wir Otto hergeben mussten, sehr lange eine gute Zeit gehabt. Wahrscheinlich zu lange. Mein Vater hat immer gesagt: ›Wer dem Glück traut, hat auf Sand gebaut.‹ Und meine Mutter hat gesagt: ›Unglück kommt geritten und weicht mit Schritten.‹ Lass uns auf die Schritte setzen. Vielleicht fällt uns an den jüdischen Feiertagen ein, wie diese Schritte zu sein haben. Komisch, früher haben mir die Feiertage längst nicht so viel bedeutet wie heute.«

»Früher waren wir ja Menschen, nicht Aussätzige. Aussätzige müssen sich viel mehr Mühe geben, um nicht unterzugehen. Wahrscheinlich kommt es noch so weit, dass wir Hitler dafür danken, dass er uns zum Glauben unserer Väter zurückführt.«

Von Trost und neuer Glaubensfestigkeit war an den jüdischen Feiertagen nicht mehr die Rede. Am 10. September begann in Nürnberg der siebte Reichsparteitag. Offiziell wurde er als »Parteitag der Freiheit« deklariert. Adolf Hitler, Führer und Reichskanzler, verkündete die Nürnberger Rassegesetze, und die leiteten für die Juden im Dritten Reich eine neue Phase von Diskriminierung und Leid ein.

Das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« verbot Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen ihnen. Verstöße gegen dieses Gesetz wurden fortan als »Rassenschande« definiert und mit Zuchthaus geahndet. Es wurde offiziell festgelegt, wer »Halbjude« und wer »Vierteljude« war. »Halbjuden« durften nur dann »Deutschblütige« oder »Vierteljuden« heiraten, wenn eine Genehmigung erteilt wurde. Stammbaum und Ahnentafeln bekamen den gleichen Stellenwert wie polizeiliche Führungszeugnisse. Juden durften keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Das bedeutete, auch die ehemaligen jüdischen Frontkämpfer, die bis dahin vor der Entlassung verschont worden waren, mussten den Dienst als Beamte aufgeben. Juden verloren das Wahlrecht.

»Na, wenigstens können wir aufhören, unseren jüdischen Kopf zu zermartern, ob Juden die Hakenkreuzfahne hissen müssen oder dies nicht dürfen«, stellte Erwin fest. »Wir dürfen nicht. Schluss, aus. Das Vaterland verbietet sich unsere Loyalitätsbekundungen.«

Erwin war es, der es nach tagelangem, erstickendem Schweigen wagte, die neueste Schikane anzusprechen. Nichtjüdisches Personal durfte ab dem 1. Januar 1936 nicht mehr in jüdischen Haushalten arbeiten. »Das könnt ihr Josepha nicht antun, dass ihr sie weiter eure Suppe kochen lässt und dabei so tut, als sei alles in Butter. Glaubt ihr denn, sie ist verblödet und merkt nicht, was los ist?«

Am Abend saßen sie zu viert am Küchentisch. Der weiße Handtuchschoner mit der Aufschrift »Schöne Worte geben keine fette Suppe« in blauem Kreuzstich war frisch gewaschen und brettsteif gestärkt. Auf dem Küchentisch stand ein brauner Bauernkrug mit roten und violetten Astern. Auf dem Fensterbrett standen zwei kleine Töpfchen; in dem einen wuchs Kresse, in dem daneben Petersilie. »Petersilie Suppenkraut«, pfiff Erwin das alte Kinderlied, »wächst in unserem Garten. Hast du uns immer vorgesungen, Josepha.«

»Ach, du«, sagte Josepha und wurde rot, »das ist lange her.«

Betsy machte die Deckenlampe mit den drei Birnen und den weißen Porzellanschirmen aus und knipste die kleine über dem Herd an. »Gibt ein viel angenehmeres Licht«, sagte sie und setzte sich wieder. »Nicht so grell.« Sie war bleich, atmete schwer und knetete fortwährend ihr Taschentuch zusammen, Johann Isidor rieb mit einem Staubtuch, das er auf seinem Stuhl gefunden hatte, auf der goldenen Taschenuhr seines Vaters herum. Auch er vermochte seiner Köchin nicht in die Augen zu schauen. Erwin bohrte mit einem Küchenmesser zwischen den Rillen vom Holztisch herum. Er schaute nicht nach rechts und nicht nach links. Kopfschüttelnd nahm ihm Josepha das Messer aus der Hand. »Nicht in meiner Küche«, tadelte sie, »damit wollen wir gar nicht erst anfangen.«

Sie seufzte erleichtert, als Johann Isidor endlich zu sprechen begann, doch die neuen Restriktionen gegen nichtjüdisches Personal in jüdischen Häusern nahm sie mit einer Gleichgültigkeit zur Kenntnis, als würde ihr Chef über eine Dürre in Indien referieren. »So«, sagte sie und stand auf, um Teewasser aufzusetzen. »Wer mich aus diesem Haus bekommen will, muss mich schon hinaustragen. Die Füße zuerst. Das habe ich schon damals dem wichtigtuerischen Kerl auf dem Amt gesagt, als der versucht hat, mich so blöd auszufragen. Mit mir nicht, habe ich dem Herrn gesagt.«

»Was sollen wir tun, Josepha? Wir können uns doch nicht gegen das Gesetz stellen.«

»Von was für einem Gesetz reden Sie denn da, Herr Sternberg, oder wollen Sie eine alte Frau veräppeln? Das ganze Gequatsche von den nichtjüdischen Hausangestellten in jüdischen Häusern gilt doch nur für Frauen unter fünfundvierzig. Das weiß doch jedes Kind in Frankfurt. Oder wissen Sie nicht mehr, wie alt ich bin?«

»Um Himmels willen, Josepha, wer hat Sie denn bloß auf die Idee gebracht?«

»Maria.«

»Und Josef«, sagte Erwin. »Eins zu null für unsere Josepha.«

»Du bist wirklich ein garstiger Bub. Du kannst es einfach nicht lassen, eine alte Frau auf den Arm zu nehmen. Ich rede von der Maria von den Goldschmidts. Die vom Mauerweg. Ich kenn sie von dem netten Bäcker in der Berger Straße, wo die Frau immer so tat, als wüsste sie nicht, für wen ich die Challa kaufe. Sie ist vierundsechzig und arbeitet seit fünfundvierzig Jahren bei den Goldschmidts. Das zweite Dienstmädchen wollen sie zum Ende des Jahres entlassen. Die Goldschmidts reden wenigstens mit ihren Leuten und schleichen nicht um sie herum, bis jeder einen dicken Hals kriegt.«

»Gott gebe, dass Sie recht haben, Josepha. Sie glauben gar nicht, wie uns das zugesetzt hat. Ich werde mich gleich morgen genau erkundigen.«

»Das brauchen Sie nicht, Herr Sternberg. Herr Goldschmidt hat’s mir schriftlich gezeigt. Schwarz auf weiß. So schnell werden Sie mich nicht los. Aber wenn Sie sich gern erkundigen, dann erkundigen Sie sich doch, bitte, ob das allerneueste Gerücht stimmt.«

»Und das wäre?«, fragte Erwin.

»Ob die am 13. Oktober wirklich mit dem Eintopfsonntag anfangen. Zugunsten des Winterhilfswerks. Erbsensuppe mit Wurstresten statt Kalbsbraten. Nur über meine Leiche. Ich würde mich ja zu Tode schämen, so etwas bei uns auf den Tisch zu bringen.«

»Ich glaube, man darf auf die Wurstreste verzichten«, sagte Erwin. Er bückte sich, doch nicht schnell genug, denn eine im Raum sah doch, dass er feuchte Augen hatte.