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OLYMPISCHE SEGNUNGEN

Februar bis August 1936

Die Welt war sich einig, dass das Olympiajahr 1936 die optimale Gelegenheit war, um Frieden und Freundschaft unter den Völkern zu fördern. Zum ersten Mal waren Athleten aus der Türkei, Bulgarien, Spanien und Australien vertreten. Lediglich einer Rede von Propagandaminister Joseph Goebbels war zu entnehmen, dass Deutschland auf längere Sicht wohl doch keine friedlichen Absichten hatte. Am 17.Januar erklärte er die im Deutschen Reich herrschende Lebensmittelknappheit für belanglos, »weil man zur Not auch einmal ohne Butter, nie aber ohne Waffen« auskommen könne. Weitsichtige Gegner des Regimes machten sich noch andere Sorgen. Es wurde befürchtet, England könnte sich enger an Nazideutschland anschließen, als dies bisher der Fall gewesen war. Im Januar war König Eduard VIII. seinem Vater Georg V., dem König der Weltkriegsjahre, auf den Thron gefolgt – der elegante junge Beau, Idol der Jugend und Hoffnung der englischen Arbeiterschaft, machte aus seiner Sympathie für Hitler keinen Hehl.

»Was kann man schon von einem Lutherischen erwarten, der mit einer Geschiedenen durchs Leben zieht!«, erklärte Josepha die Lage.

Am 4. Februar, zwei Tage vor dem Beginn der Olympischen Winterspiele, gewitterte es kräftig – zwar in den verschneiten Graubündner Bergen in der Schweiz, doch Donner und Blitz wirkten sich umgehend auf die Lage in Deutschland aus. In Davos wurde der Leiter der NSDAP-Landesgruppe Schweiz, Wilhelm Gustloff, von Gegnern des Naziregimes erschossen. »Die Schweizer tun wenigstens was«, kommentierte Betsy, und Fanny, die zu Besuch war und der nie etwas entging, was nicht für kleine jüdische Mädchen mit durchdringender Stimme bestimmt war, fragte: »Darf man alle Leute erschießen oder nur schlechte?«

Erst am Tag nach den Schüssen von Davos wurde bekannt, dass der sechsundzwanzigjährige Attentäter, der sich freiwillig gestellt hatte, David Frankfurter hieß. Er studierte Medizin und war Sohn eines Rabbiners. Bei seiner Vernehmung gab er an, er habe mit der Ermordung von Gustloff das Regime in Deutschland treffen wollen. Goebbels reagierte darauf, indem er sämtliche Veranstaltungen der jüdischen Kulturbünde im Deutschen Reich verbot, um »etwaigen Zwischenfällen vorzubeugen«. Reichskanzler Adolf Hitler sagte der »hasserfüllten Macht des jüdischen Feindes den Kampf« an.

Zwei Tage später eröffnete er die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen. Beschworen wurden Zucht, Ehre, Kameradschaft und Ritterlichkeit. Besonderer Gesprächsstoff in Bayern war noch immer die Zwangsvereinigung der beiden Nachbargemeinden Garmisch und Partenkirchen. Außergewöhnlich gut informierte Beobachter wussten zu berichten, dass man den widerspenstigen Gemeinderäten, die sich der erzwungenen Ehe zu widersetzen versucht hatten, mit Einweisung in das nahe gelegene Konzentrationslager Dachau gedroht hatte.

Der politische Himmel über dem Gastland, das bereits 1931 und folglich noch während der demokratischen Weimarer Republik zum Austragungsort der Olympischen Spiele bestimmt worden war, war also keineswegs ungetrübt. Die Kunde vom Konzentrationslager Dachau sowie die Berichte von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden hatten das Ausland erreicht. Bis New York und Washington hatte sich herumgesprochen, welche Bedrohung sich hinter dem zynischen deutschen Wort »Schutzhaft« verbarg.

Sowohl der aufgeklärte Teil der amerikanischen Öffentlichkeit als auch das Internationale Olympische Komitee hatten auf einen Boykott der Spiele gedrängt. Die Nationalsozialisten waren ausnahmsweise erschrocken und reagierten prompt, indes mit der üblichen menschenverachtenden Scheinheiligkeit. Von offizieller Stelle wurde verfügt, dass für die Dauer der sportlichen Festesfreude in Deutschland die Verfolgung und Verleumdung der Juden nicht mehr unter den Augen der Öffentlichkeit zu betreiben sei. Die ausländischen Gäste seien freundlich, rücksichtsvoll und herzlich zu behandeln. Schlagartig verwandelte sich das Dritte Reich zurück in einen friedliebenden, von Menschlichkeit geprägten Staat – zumindest der sichtbare Teil.

Die Schilder, die Juden das Sitzen auf öffentlichen Bänken untersagten, und die Plakate mit dem Text »Juden werden hier nicht bedient«, die an den Schaufensterscheiben zahlreicher Geschäfte klebten, wurden für die Dauer der völkerverbindenden Spiele entfernt. Restaurants und Cafés gaben sich so weltoffen, wie sie vor den Nazis gewesen waren – kein Wort mehr davon, dass Juden als Gäste unerwünscht waren. Johann Isidor trank seinen Mittagskaffee zwei Mal außer Haus; einmal wiegte ihn zwei Herzschläge lang ein feuriger Geiger in den alten deutsch-jüdischen Traum, im Land der Dichter und Denker könne nichts wirklich Böses geschehen.

Betsy ließ ihre Röcke kürzen, interessierte sich für die Programme der Kinos und schnitt sämtliche Bilder des amerikanischen Kinderstars Shirley Temple aus den Zeitungen und Illustrierten aus. In der Straßenbahn, die von der Bockenheimer Landstraße zur Berger Straße fuhr, bekamen Victoria und Fritz Feuereisen mit, dass sich zwei ältere, sehr soigniert wirkende Herren in der in Berlin üblichen Lautstärke über Kurt Tucholsky unterhielten. Deutschlands berühmtester Satiriker, dem die Nazis seine Leser, die Heimat, die Hoffnung und den Lebensmut genommen hatten, hatte Ende 1935 in seinem schwedischen Exil Selbstmord begangen.

»Vielleicht kommt es wieder, dass man auf der Straße reden kann, ohne sich umzudrehen, wer hinter einem läuft«, sagte Fritz später zu seinem Schwager.

»Wahrscheinlich«, malte sich Erwin aus, »schreibt in diesem Moment ein gut informierter amerikanischer Jude an seine Mutter in Miami: ›Es ist alles eine dumme Lüge, was man sich bei uns über die Deutschen erzählt, Mamme. Sie sind ganz reizend, sehr zuvorkommend, kultiviert und rührend altmodisch. Ihr Sauerkraut ist wirklich ein Erlebnis.‹«

»So wird’s sein«, pflichtete ihm Clara bei. »Auch ich fühl mich ja wie ein Mensch. Wer weiß, was noch kommt. Vielleicht erklärt mich unser Führer zur Nichtjüdin. Darf ich dann Heil Hitler sagen?«

Die Geschwister kamen aus dem Kino. Sie hatten Willi Forsts »Mazurka« mit Pola Negri in der Hauptrolle einer alternden Kabarettkünstlerin gesehen. Pola Negri hatte zehn Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt. Bei ihrer Rückkehr war sie als Jüdin stark angefeindet worden, hatte Hitler persönlich um Hilfe ersucht und wurde von ihm tatsächlich zur Nichtjüdin erklärt. Wer von der abstrusen Geschichte erfuhr, wertete sie als den Silberstreifen, von dem man »immer gewusst hatte, dass er eines Tages kommen« würde.

Es ließen sich nicht nur die Gäste aus dem Ausland blenden. Auch jene Juden, die immer noch auf Deutschlands Einsicht aus Gründen der politischen Klugheit setzten, obwohl sie ihr Vaterland offiziell zu Bürgern zweiter Klasse deklariert hatte, atmeten im Winter 1936 auf. Jeden Scheinbeweis, dass Deutschland ein Staat mit ausgeprägtem Bewusstsein für Recht und Unrecht war, werteten sie als einen persönlichen Pluspunkt, und mit staunenswerter Hartnäckigkeit verdrängten sie, was bereits geschehen war.

Johann Isidor hingegen, der ein Leben lang nicht von seinen vaterländischen Illusionen hatte lassen wollen, hatte ein Gedächtnis entwickelt, das nichts mehr beschönigte. Dieses Gedächtnis tilgte weder Angst noch Enttäuschung und schon gar nicht die Demütigung vom Boykotttag. Am 1.April 1933 war Johann Isidor Sternbergs Zuversicht gestorben, seine Frau wäre bei seinem Tod für ihr Leben versorgt und seine Kinder und Enkel dürften das ernten, was er gesät hatte.

»Soll ich vergessen, dass mir Pius Ehrlich meine Geschäfte gestohlen hat und die Nazis mir meine Würde und meinen Stolz genommen haben, nur weil ich, bis die olympische Fackel erlöscht, in der Günthersburgallee auf einer Bank sitzen und mir den Hintern abfrieren darf? Und soll ich Anna, der ich seit Monaten klarzumachen versuche, dass es gefährlich für sie werden kann, wenn sie länger bei uns wohnt, soll ich diesem Unschuldslamm sagen: ›Das ist alles nicht so gemeint gewesen, meine Tochter. Dein greiser Vater hat sich getäuscht. Hitler ist doch ein ganz netter Kerl. Er lässt sogar jüdische Sportler aus dem Ausland ins Land, wenn sie bei seiner Olympiade mitmachen wollen.‹ Sie müssen nur brav den Arm heben und Heil Hitler schreien, und du wirst sehen, das werden sie auch tun. Im Sommer sind mehr von unseren Leuten dabei als jetzt.«

»Mein Gott, Vater, ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet du derjenige sein würdest, mit dem ich in diesem verfluchten Land noch reden kann.«

»Nicht verflucht, Erwin, zum Untergang verdammt ist es. Aber das werde ich nicht mehr erleben. Und vielleicht noch nicht mal du.«

»Ich bewundere dich. Du hast es fertiggebracht, mit fünfundsiebzig Jahren alles über Bord zu werfen, an was du je geglaubt hast. Und jetzt erklär mir mal, warum du plötzlich Angst um unsere Anna hast.«

»Nicht plötzlich, Erwin. Von Anfang an und seit den Nürnberger Gesetzen erst recht. Von Anna weiß niemand, dass sie einen jüdischen Vater hat. Die Vaterschaft ist nirgends vermerkt worden. Doch sie lebt in einer rein jüdischen Familie, und das bedeutet heute Rassenschande. Wenn nicht mit mir, der ich altersmäßig nicht mehr infrage für Verführung und Vergewaltigung komme, dann vielleicht mit dir. Nach den Kriterien der Nazis dürstest du Tag für Tag nach unschuldigem, jungem Christenblut.«

»Mein Gott, das hab ich mir nie überlegt. Wie dumm kann ein Mensch sein? Dumm und blind.«

Anna kannte das Wort Rassenschande nicht. Auch als Erwin ihr die Bedeutung genau erklärte, weigerte sie sich, die Infamie auf sich zu beziehen. War es die Rebellion einer Widerspenstigen, war es Unschuld, oder war es die Loyalität zu der Familie, die sie aufgenommen hatte und die sie als die eigene empfand? »Ich würde mich schämen, jetzt hier wegzugehen, wo das Leben doch so anders geworden ist«, sagte sie, wann immer die Rede auf einen nicht mehr aufschiebbaren Umzug kam. »Ich käme mir vor wie eine Ratte auf einem sinkenden Schiff.«

Ihr Vater war ratlos, ihr Bruder außer sich. Clara keifte, Anna »sei dümmer als die Polizei erlaubt«. Betsy nannte Clara die hartherzigste »meiner egoistischen Töchter« und tröstete Anna. Selbst Alice mischte sich ein und riet ihr, »nicht aus Prinzip zu bocken«.

Erst ein Vorfall, der vor dem Frankfurter Schöffengericht verhandelt wurde und über den das »Frankfurter Volksblatt« ausführlich berichtete, veränderte Annas Blick auf die eigene Person und auf die Zeit, in der sie lebte. Ein jüdischer Mann, siebenundfünfzig Jahre alt, war wegen Körperverletzung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Laut Anklage war er nach einem Synagogenbesuch auf die Mädchen einer »zufällig« vorbeikommenden BDM-Kolonne gestoßen und hätte eine von ihnen geboxt. Der Richter hatte im Urteil »den Hochmut des jüdischen Volkes« gegeißelt, »das sich ja bekanntlich für auserwählt hält«.

Erwin, aufgebracht wie sonst nie, bleich und mit zornflammenden Augen, hatte Anna von der Posamenterie abgeholt, das »Volksblatt« in der Hand. Mit großen Schritten und schweigend hatte er die Friedberger Anlage angesteuert, Anna auf eine Bank gedrückt, die Zeitung auf ihrem Schoß ausgebreitet und befohlen: »Lies das, Madam. Wort für Wort. Am besten zweimal hintereinander, damit es in deinen verdammten Dickschädel reingeht.«

»Ist es das, was du Vater zugedacht hast?«, brüllte er. »Sechs Monate Haft. Wenn er Glück hat, heißt das, denn vielleicht haben sie die Gebühren für Rassenschande erhöht, bis er es ist, der vor Gericht steht. Die deutsche Justiz entwickelt sich ja weiter. Sie macht ständig Fortschritte.«

Anna war in Tränen ausgebrochen und hatte immer wieder »Das wusste ich nicht, dass es so ist« geschluchzt. Ihr robuster Körper hatte mit einem Mal zerbrechlich gewirkt– und zerbrochen. Erwin hatte die Zitternde nur mit Mühe beruhigen können und konnte sich dann nicht mehr entscheiden, ob er einen Sieg errungen oder eine Niederlage zu beklagen hatte. Auf alle Fälle machte er sich Vorwürfe, dass er seine geliebte Halbschwester für unbelehrbar, dumm und leichtsinnig gehalten hatte; er umschlang sie so fest, dass er ihren Atem riechen und ihr Herz schlagen hörte. Er wischte ihr die Tränen vom Gesicht, als wäre sie ein verzweifeltes Kind und er kein Jude, dem es untersagt war, auf einer öffentlichen Bank zu sitzen und eine nichtjüdische Frau in seinen Armen zu halten.

»Warum hast du so schöne Augen?«, fragte er.

»Damit ich dich besser sehen kann«, antwortete sie.

»Was sind wir doch für Glückskinder. Wir glauben noch an Märchen.«

Am Abendbrottisch verwechselte Anna das Salzfass mit dem Pfefferstreuer und ließ den silbernen Korb fallen, als sie nach einer Scheibe Brot griff. Sie hielt den Kopf gesenkt, hatte rote Flecken auf der Stirn und Tränen in den Augen. »Ich hab’s kapiert«, stammelte sie, »und ich werde mich mein Leben lang schämen, dass es so lange gedauert hat, bis ich so weit war. Aber ich war immer langsamer als die anderen. Das wisst ihr ja alle.«

»Ich verbiete dir das Schämen«, sagte Betsy. »Schämen werden sich eines Tages die Leute, die alles zerstören, was je gut an Deutschland war und wofür wir gelebt haben. Nur bis es so weit ist, dass sich die Verbrecher schämen, müssen die Klugen nachgeben.«

»Damit die Dummen endlich von der Welt Besitz ergreifen können«, erklärte Johann Isidor; er bohrte sein Messer in die Luft. »Das habe ich mir immer schon gedacht, wenn wir uns als Kinder stritten und meine Mutter gesagt hat, ›der Klügere gibt nach‹.«

Sein Körper war fünfundsiebzig Jahre alt, doch sein Kopf ließ sich nicht vom Kalender delegieren, und dieser Kopf erinnerte ihn Tag für Tag daran, dass Erfahrung, Weitsicht und Vorsicht die Waffen sind, die dem Alter auch dann noch bleiben, wenn die Beine straucheln. Am 1. April 1917 hatte Johann Isidor spontan begriffen, dass sein Gewissen ihm befahl, seine mutterlose achtjährige Tochter in seine Familie zu holen. Neunzehn Jahre danach erkannte er, dass es Zeit war, sich von seiner Anna zu trennen – zumindest räumlich.

»Heute beugen wir uns der Klugheit«, beschrieb Johann Isidor die Lage. »Wer weiß, ob es morgen nicht schon die Gewalt ist, die über uns bestimmt.«

Er brauchte zehn Tage, bis er eine Bleibe gefunden hatte, in der Anna eines Tages sicherer vor Verdächtigungen und Unterstellungen sein würde als in der Rothschildallee 9, denn dort wohnte Theo Berghammer, Claudettes gefürchteter Vater. Ottos bester Freund war der gewesen, vor dem Krieg ein überzeugter Sozialdemokrat mit einem roten Halstuch, einem rebellischen Kopf und einer berührenden Güte. Den Schwachen und Wehrlosen hatte Ritter Theo beigestanden. Nun war er ein Nazi im Ledermantel und sah aus wie ein Mann von der Gestapo. Bei den Sternbergs schürte er bereits Ängste, wenn er im Hof den Hausbriefkasten aufschloss. Theo Berghammer wusste zwar nicht, wer Annas Vater war, aber dass sie nicht in die Familie geboren wurde, in der sie lebte, das wusste er wohl. Die Sternbergs mochten sich nicht ausmalen, was dem furchterregenden Herrn Berghammer noch einfallen könnte, um seinen jüdischen Hausbesitzer zu treffen. Momentan beließ er es bei ständig anwachsenden Mietschulden, die Johann Isidor seit zwei Jahren nicht mehr anzumahnen wagte, und einem hämischen Gruß auf der Treppe.

Der Zufall, der bei der Wohnungssuche für Anna Regie führte, war ein Kobold der ganz spitzbübischen Gattung: Er setzte eine Pointe, wie sie sonst nur phantasiearmen Lustspieldichtern oder Satirikern einfällt. Das geräumige, bürgerlich möblierte Zimmer, in dem Anna künftig wohnen sollte, war in der Textorstraße in Sachsenhausen. In dieser Straße, südlich des Mains und in unmittelbarer Nähe des Südbahnhofs, hatte einst das anziehende Fräulein Haferkorn gewohnt, Annas fröhliche Mutter und Johann Isidors einziger, nie bedauerter Fehltritt, der seine Erinnerungen immer noch belebte. Kurz nach jener fliederduftenden Maiennacht war der Malermeister Anton Wallerstadt zur liebenswerten Fritzi gezogen. Nun vermietete seine verwitwete Schwiegertochter, die ja seinen Namen trug, der schlechten Zeiten wegen ein Zimmer in ebenjener Textorstraße. Johann Isidor erkannte den Namen Wallerstadt sofort; er fragte auch nach dem Malermeister und erfuhr, dass der seit vier Jahren in einem Altersheim in der Schifferstraße lebte, doch der Posamentier Sternberg war ebenso weise wie verschwiegen. Er erzählte keine Geschichten, die zu nichts führten. Pointen, die den Erzähler bloßstellten, waren ihm zuwider.

Er war nicht abergläubisch, dieser bescheidene Handelsmann, der sich auch an guten Tagen nicht einbildete, er sei Fortuna persönlich bekannt. Dass sein Weg ihn wieder in die Textorstraße geführt hatte, wertete er aber als ein gutes Omen. Der Gedanke sagte ihm zu, dass Anton Wallerstadt aus den Tiefen der Vergangenheit aufgetaucht war. Ohne diesen gutherzigen Mann hätte der empfindsame Ehebrecher Johann Isidor Sternberg nämlich nie rechtzeitig genug von Fritzi Haferkorns plötzlichem Tod erfahren, um ihr Kind vor dem städtischen Waisenhaus zu retten.

Sie verließen das Haus in der Rothschildallee am Montag, dem 9. März. Zwei Kirchenglocken läuteten die achte Morgenstunde ein. Federwolken tanzten am Himmel, schürten Illusionen und sorgten für falsche Zukunftsbilder. Im Vorgarten blühten die buttergelben Krokusse und die lila Stiefmütterchen, deren Urahnen die siebenjährige Victoria einst das Märchen vom Aschenputtel vorgelesen hatte. Betsy saß mit tränenvollen Augen im Wintergarten und beneidete ihre Kakteen, denn die hatten kein Herz, das brechen konnte. Sie flehte zu Gott, er möge das Herz ihres Mannes stark genug für die neue Prüfung machen, die ihm auferlegt wurde. »Es ist genug«, sagte sie.

Josepha stand hinter der Gardine im Salon und hörte sich atmen. Ihre Rechte war, wie in den Tagen der Jugend, wenn sie Unrecht witterte, zur Faust geballt. Ihr Kopf war heiß. Er weigerte sich zu begreifen, weshalb eine Tochter von Bornheim nach Sachsenhausen ziehen musste, um sich selbst und ihren Vater zu schützen. »Sie hat überhaupt nichts gegessen, unsere Anna«, erinnerte sich Josepha, »keinen Happen. Dabei hab’ ich extra die Erdbeermarmelade aufgemacht, die wir beide im letzten Sommer gekocht haben.«

Auf der Straße und in der Tram interessierte sich an diesem Montagmorgen keiner für den alten Mann und die junge Frau, von denen ein jeder einen mittelgroßen Koffer aus abgeschabtem dunkelbraunem Leder hütete. Deutschland feierte seine Unerschrockenheit und Tapferkeit. Vor dem Kölner Dom paradierten die Soldaten, in Düsseldorf marschierte die Artillerie ein. Das Dritte Reich hatte zwei Tage zuvor seinen zweiten großen außenpolitischen Erfolg errungen. Nach der Volksabstimmung zugunsten der Rückgliederung des Saargebiets »Heim ins Reich« im Januar 1935 waren nun Hitlers Kämpfer völkerrechtswidrig in die Rheinlande einmarschiert. Die waren aufgrund des Versailler Vertrags von 1919 und des Locarno-Pakts von 1925 entmilitarisiert worden. Die deutschen Soldaten, von den witzerprobten Männern aus dem Rheinland mit Jubel empfangen, von ihren fröhlichen Frauen mit Blumensträußen begrüßt, begannen umgehend mit dem Bau von Befestigungsanlagen entlang der deutschen Westgrenze.

»Das Ausland«, sagte Erwin zu Clara am Frühstückstisch, »runzelt missbilligend die Stirn. Wir können also guter Hoffnung sein, dass Hitler sich furchtbar erschrickt und die Welt wieder ins Lot kommt.«

In der Tram, mit der sie in die Innenstadt fuhren, sprachen Johann Isidor und Anna nur ein einziges Mal. Der Vater nieste, die Tochter sagte: »Gesundheit«, und drückte ihm ihr Taschentuch in die Hand. Beiden kam der gleiche Gedanke. Sie bewegten, als dies geschah, den Kopf so leicht, wie es Menschen tun, die einander zunicken und dabei nicht auffallen wollen; an der Konstablerwache stiegen sie aus der Straßenbahn. Sie würden nach Sachsenhausen laufen müssen – über die Alte Brücke. So war Anna an dem Aprilnachmittag gekommen, als ihr Vater sie in die Rothschildallee geholt hatte. Und so ging sie wieder. Die Szenerie hatte sich nur unwesentlich verändert. Es gab mehr Autos und Fahrräder auf der Straße als im Kriegsjahr 1917 und keine einbeinigen Männer in feldgrauer Uniform, die sich auf roh gezimmerte Krücken stützten und aus gestorbenen Augen in die sterbende Welt blickten. Nun sang eine Rotte Jungen in brauner Uniform die lauten Lieder der braunen Herren. Die Schwäne aber dümpelten auf dem Wasser, als sei nur ein einziger Tag und keine neunzehn Jahre vergangen, die Möwen kreischten auf den gleichen Pfählen, und auf einem mit Kohle beladenen Kahn wehte eine weiße Männerunterhose im Wind. Ein kleiner weißer Hund bellte. Wie damals. Erinnerte sich Anna an das kleine Mädchen, das sie gewesen war? An der Hand ihres Vaters war sie über den Main gelaufen – sie hatte ihn, wie von der Mutter bei seinen Besuchen im Haus immer wieder aufs Neue befohlen, »Onkel Johann« genannt. Er war jedes Mal zusammengezuckt, denn er hatte sich Betsys Gesicht vorgestellt, wenn Anna das nun in der Rothschildallee sagte.

Ein verängstigtes Geschöpf war die achtjährige Anna gewesen, die Beine zu kurz, um mit dem Leben Schritt zu halten. Sie hatte ein schwarzrot kariertes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen angehabt. Johann Isidor erinnerte sich so deutlich an diesen Tag des Beginns, als hätte er jede Szene fotografiert und jedes Wort, das sie gesprochen hatten, niedergeschrieben. Die Puppe im blauen Samtmantel fiel ihm ein. Er hatte sie für Anna in Paris gekauft, und die fremde Tochter hatte ihr alle Ängste ins Ohr geflüstert, die ein Kind beim Aufbruch in eine neue Umgebung hat. Die gleiche Puppe, auch mit blauem Samtmantel und blondem Feenhaar, hatte der Vater Victoria mitgebracht, denn sie und Anna waren ja gleichaltrig, und er hatte immer darauf geachtet, dass sein Herz keine der beiden Töchter bevorzugte. Auch wenn sie nichts voneinander wussten. An seinem Schicksalstag hatte er dann schon auf der Mainbrücke gewusst, dass seine Frau nicht mehr als einen Blick benötigen würde, um zu begreifen, dass ihr moralisch integrer Gatte, der kein Pardon kannte, wenn seine Kinder gegen Normen und Gebote verstießen, sie betrogen hatte, und das jahrelang. »Die gleiche Puppe«, murmelte er.

»Ja, die gleiche Puppe«, lachte Anna, »meine hieß Marie und wurde immer von Vickys Madeleine verhauen.«

»Und du hast Victoria nicht verhauen?«

»Wo denkst du hin? Sie war viel zu schön zum Hauen.«

»Schade, es hätte ihr gutgetan. Vielleicht hätte es Fritz heute leichter, wenn ihr jemand beizeiten den Hintern versohlt hätte.«

Sie liefen so langsam, wie es ihre Füße zuließen, denn sie fürchteten das Ziel und wollten lange unterwegs sein. Zu bewusst war ihnen, dass jede Ankunft eine Endgültigkeit ist und dass jeder Wandel ein Stück von uns sterben lässt. Endlich bogen sie in die Textorstraße ein. »Man spricht noch Deutsch hier«, versuchte Johann Isidor, den Schmerz mit dem alten Scherz zu lindern. »Sachsenhausen ist ja nicht aus der Welt, obgleich das die Leute auf der Frankfurter Seite immer behaupten. Übrigens ich früher auch. Ehe ich deine Mutter so oft besuchte. Wir gingen, wenn ich mich traute, auf der Forsthausstraße spazieren, im Frühling blühten die Bäume nur für uns.«

»Armer Vater. Hattest du niemand, dem du dich anvertrauen konntest?«

»Nein. Manche Ereignisse im Leben kann man auch nur mit sich selbst besprechen.«

Auf einer Litfaßsäule klebte in bunten, gefälligen Farben ein großes Bild. Es stellte die ideale deutsche Familie dar und warb für Kinderreichtum und Elternseligkeit. Am üppig gedeckten Küchentisch saßen Vater, Mutter, acht Kinder und ein fröhlicher Säugling. Die Mädchen waren alle semmelblond und hatten stramm gebundene Zöpfe, die Jungen trugen Lederhosen und schneeweiße Hemden. Auch mit dem Suppenlöffel in der Hand sahen sie wie kleine Helden aus. Ganz nach dem Herz ihres Führers – hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde. In dicker Frakturschrift stand das Bildmotto: »Wir wollen eine starke Volksgemeinschaft schaffen, die in einer starken deutschen Familie wurzelt.«

»Eine arische Familie«, ergänzte Johann Isidor, »das haben sie vergessen zu sagen. Mit vier rassenreinen arischen Großeltern und notariell beglaubigtem Stammbaum.« Er seufzte in sein Taschentuch. Nach einer Weile sagte er – sehr viel lauter, als er beabsichtigt hatte, und für Anna irritierend unvermittelt: »Ich bin heilfroh, dass du keinen Freund hast. Das würde alles noch viel komplizierter machen. Mit Männerbesuch ist es ja schwierig, wenn man zur Untermiete wohnen muss. Die Wirtinnen nehmen sich da ganz schön was raus. Das höre ich immer bei der Nazihexe im Parterre, wenn sie gegen die bedauernswerte graue Maus loskeift, die seit einem Jahr bei ihr wohnt. Mir wäre der Gedanke furchtbar, dass Frau Wallerstadt dich wegen einem fremden Mann schikanieren könnte.«

»Mir erst recht«, entgegnete Anna. »Ich habe nämlich einen Freund. So ganz fremd ist er allerdings nicht. Wenigstens nicht mir.« Es war das erste Mal, dass sie lächelte an diesem Tag, der trotz aller trostreichen Beteuerungen, man könne sich so oft sehen, wie man nur wolle, alle Wärme aus ihrem Körper presste. »Wir kennen uns schon eine ganze Weile.«

»Donnerwetter! Stilles Wasser. Warum hast du uns das nie erzählt? Sind Eltern heute nur noch Statisten, an die ja keiner das Wort richtet?«

»Ich wollte Erwin nicht die Freude verderben, mich Jungfer Anna zu nennen. Er sollte ruhig weiter darüber rätseln, ob Männer sich nichts aus mir machen oder ich mir nichts aus ihnen. Nein, das meine ich wahrhaftig nicht ernst. Kein bisschen. Ich wusste nur nicht, wie ich es euch beibringen sollte, dass ich meine freie Zeit mit einem gewissen Hans Dietz aus Offenbach verbringe, denn erstens ist er geschieden und zweitens nur ein einfacher Drucker. Im Übrigen wohnt er nicht zur Untermiete. Wir sind also nicht auf Frau Wallerstadts Entgegenkommen angewiesen. Oder dass sie das Haus verlässt, wenn wir nebeneinander auf dem Sofa sitzen wollen.«

»Für die Formulierung ›nur ein einfacher Drucker‹ verdienst du die erste Ohrfeige deines Lebens, meine Tochter. Dein Vater ist auch kein Akademiker und wahrhaftig nicht aus einer Familie, die man fein zu nennen pflegt. Mein Vater war, wie du weißt, Viehhändler in Oberhessen. Wenn es ihm gut geschmeckt hat, hat er sein Messer abgeleckt, und in seinem ganzen Leben hat er nur in einem einzigen Buch gelesen. In seinem Gebetbuch.«

»Ich hab es einfach nicht über mich gebracht, mit euch zu reden. Nach dem Desaster von damals. Du weißt schon, was ich meine.«

»Und was geschieden betrifft«, fuhr Johann Isidor fort, »ich dachte, du hättest in all den Jahren, die wir zusammen sein durften, doch irgendwann mitbekommen, dass wir nicht katholisch sind. Unser Gott sieht ein, dass der Mensch sich irren kann, besonders in der Ehe. Er verzeiht so manches, gelegentlich sogar die Seitensprünge ehrbarer Familienväter, und er gestattet Scheidungen, wenn er sie auch wahrscheinlich nicht gutheißt. Aber wirklich wichtig ist nur eins im Leben, Anna. Dass man denen vertraut, die man liebt.«

»Es tut mir leid. Ich bin ein selten dummes Ross. Ich hatte Angst, mit euch zu sprechen.«

»Nur dumm reicht. Die Pferde lassen wir im Stall. Und schon gar nicht wollen wir uns an der Tür streiten, die uns gleich trennen wird. Komm uns sobald besuchen, wie du kannst, Tochter. Aber komm erst, wenn es dunkel ist. Wir sollten beizeiten üben, uns dem Schutz der Nacht anzuvertrauen. Wer weiß, wann wir ihn tatsächlich brauchen. Und falls Herr Dietz sich nicht vor Juden ekelt, was ja heute für einen vaterlandstreuen Deutschen so selbstverständlich ist wie das Zähneputzen und der Segensspruch für den Führer, könnte er dich vielleicht begleiten.«

»Er ekelt sich vor ganz anderen Leuten, Vater. Er hat vierzehn Monate in Dachau gesessen. Sein Bruder Dieter ist immer noch dort. Hans und Dieter haben für eine Widerstandsbewegung die Pamphlete gegen die Nazis gedruckt und sind denunziert worden. Bei einer Hausdurchsuchung sind sie den Nazis ins Netz gegangen. Samt den Pamphleten.«

»Gott schütze dich. Und ihn. Auch wenn du alle Schlüssel behältst, schell drei Mal an der Haustür, wenn ihr davorsteht. Heutzutage sind es ja nicht immer nur Freunde, die gerade zu Besuch sind.«

»Wie meinst du das?«

»Frag deinen Hans. Er hat es ja leider erlebt.«

Bei Sternbergs wurde Annas Umzug in die Textorstraße eine die Zeit bestimmende Einheit. »Das Kirschkompott habe ich noch zusammen mit Anna gekocht«, sagte beispielsweise Josepha, oder: »Als Anna die grüne Tischdecke gestopft hat, haben wir das Usambaraveilchen von Frau Zuckermann bekommen.« Mit trauerndem Seufzer stellte auch Frau Betsy fest: »Das letzte Mal, als wir das Wohnzimmerfenster geputzt haben, war Anna noch zu Hause.« Selbst Erwin fiel eines Tages auf, dass er seine Sätze häufig mit »Als Anna noch bei uns war« begann.

Sehr bald wurde er jedoch zum Überbringer einer Nachricht, die die Familie Sternberg in allergrößte Anspannung versetzte.

Am Montag, dem 25. Mai, saß Erwin blass und nervös am Mittagstisch. Seiner Mutter fielen seine fahrigen Bewegungen auf und dass er Fragen nicht beantwortete und mit abwesendem Blick im Fischauflauf herumstocherte. Weil es ein kühler Maitag war und Erwin auch ein wenig verschnupft, brachte ihm Josepha einen Tee mit Rum, den er zu ihrer Enttäuschung aber weder lobte noch austrank.

»Wahrscheinlich«, sagte Betsy später zu ihrem Mann, »hat ihm endlich jemand reinen Wein eingeschenkt, und er hat erfahren, dass er und Clara nicht für ein Einwanderungsvisum nach Palästina infrage kommen. Na, warum wohl? Des Alters wegen, natürlich. Sie wollen dort nur ganz junge Leute haben. Und Erwin und Clara sind immerhin sechsunddreißig. Frau Süßkind hat mir schon vor Monaten gesagt, dass alle Mühe der Zwillinge vergebens sein wird, aber ich habe einfach nicht den Mut gehabt, mit Erwin darüber zu sprechen.«

Betsy täuschte sich, und Frau Süßkind, die in der Familie Sternberg den Ruf hatte, aufdringlich zu sein und zu jedem Missverständnis zu neigen, das auf Erden möglich war, irrte sich noch gründlicher als sonst. Am letzten Montag im Mai 1936 erfuhr Erwin im Hause der Zionistischen Vereinigung, dass er keineswegs die Hoffnung aufgeben musste, Nazideutschland zu entkommen. Am Tag zuvor hatte nämlich der britische Hochkommissar für Palästina für das erste Halbjahr 1936 viertausendfünfhundert Zertifikate für die Einwanderung von Juden bewilligt. Davon waren zwölfhundert Zertifikate für reichsdeutsche Juden bestimmt. Die Chancen, dass die Geschwister Erwin und Clara Sternberg und deren Tochter Claudette drei von diesen kostbaren Zertifikaten erhalten würden, standen nach Auskunft der umgehend befragten zuständigen Stelle »durchaus nicht schlecht«.

»Ich wage erst daran zu glauben, wenn es so weit ist«, sagte Clara. »Ich hab nicht genug Erfahrung mit Wundern.«

»Ist wohl auch besser, sich vor Enttäuschungen zu schützen. Aber ich habe mit einer ganzen Menge Leute gesprochen, Clara, und die haben mir im Großen und Ganzen doch Mut gemacht. Allerdings meine ich, wir sollten im dritten Stock nicht mehr als nötig davon reden. Das alles auszuhalten ist zu viel für die alten Leutchen.«

Claudette beschwor Gott jeden Abend, er möge an den Juden in Deutschland ein Wunder geschehen und die zehn biblischen Plagen über die Nazis kommen lassen. Als sie erfuhr, dass Claras und Erwins Traum von Palästina sich auch für sie bald realisieren könnte, war sie außer sich. »Ich kann mir nicht vorstellen, von zu Hause wegzugehen«, weinte sie. »Ich probiere es seit Ewigkeiten. Seitdem ich weiß, dass Alice zu ihrem Leon nach Südafrika will, um genau zu sein. Aber ich spüre nichts als Panik. Manchmal glaube ich, ich möchte eher sterben, als woanders leben müssen.«

Erwin nahm seine zitternde Nichte in die Arme. »Angst musst du haben, wenn du hierbleibst, Claudette«, erklärte er ihr. Seine Stimme war sanft. »Es geschieht nämlich in Deutschland viel mehr, als dass junge Mädchen nicht mehr zur Schule gehen können und dass sie mit Gott hadern, weil sie jüdisch und nicht katholisch sind. Schon deshalb wird es für deine Großeltern eine enorme Beruhigung sein, uns aus Deutschland abfahren zu sehen.«

»Und was wird aus Snipper? Wie soll ich einem armen unschuldigen kleinen Hund erklären, der noch keinen Tag ohne mich verbracht hat, dass ich ein hundsgemeines Biest bin und ihn schutzlos bei den Nazis zurücklasse?«

»Mein Gott, Mädchen, wir spielen hier nicht große Oper! Wir bemühen uns, den Kopf auf den Schultern zu behalten. Josepha wird bestimmt für Snipper sorgen. Sie hat dir in deinem ganzen Leben keinen Wunsch abgeschlagen. Wahrscheinlich sammelt sie jetzt schon Wurstzipfel und häkelt eine neue Hundedecke. Im Gegensatz zu dir hat Josepha nämlich Augen im Kopf, und aus dem, was sie sieht, zieht sie die richtigen Schlüsse.«

»Aber Josepha lebt doch nicht ewig.«

»Hunde auch nicht«, sagte Clara.

»Das«, befand ihr Bruder, »nenne ich eine Mutter mit einem goldenen Herzen. So was habe ich mir immer gewünscht. Du übrigens auch, Madame.«

»Wer ins Heilige Land will, kann es sich nicht leisten, auch noch eine Heilige zu sein. Claudette muss endlich erkennen, dass Auswandern eine Gnade für uns wäre und keine Strafe.«

Zwei Wochen später begriff die Achtzehnjährige ein für alle Mal, was ihre Mutter ihr seit einem Jahr hatte klarmachen wollen. Allerdings war es ein Bericht ihres Großvaters, der für Claudettes ultimative Aufklärung sorgte.

Morgens um halb vier schellte im dritten Stock das Telefon. Drei Mal im Abstand von zwei Minuten. Johann Isidor eilte umgehend in den Salon, doch er überwand erst beim dritten Mal seine Angst, den Hörer abzunehmen. Keinen Moment zweifelte er, dass er gleich eine schlechte Nachricht hören würde; er sah Erwin oder auch Fritz verhaftet und ins Gefängnis abtransportiert, und in Sekundenschnelle stellte er sich vor, sie wären zusammengeschlagen worden und würden um ihr Leben kämpfen. Mit pochendem Herzen überlegte Johann Isidor, der in seinem ersten, dem freien Leben bei Freunden und Rivalen dafür bekannt war, dass er nie einer Schwäche nachgab, welche von beiden Möglichkeiten die schlimmere wäre. Ängstigte er sich mehr um seinen Sohn oder um den Mann seiner Tochter? Panik und Scham nahmen ihm den Atem. Er fragte sich, ob der Gott, der nicht mit sich handeln ließ, die Ichbezogenheit der Kleingläubigen und Egoisten ahndete. Oder hatte der Gerechte Nachsicht mit den Entmutigten, den Schwachen und Gejagten? Anna fiel ihm ein. Um ihretwillen durfte er nicht aufgeben. Nie. Für Anna war die Welt jenseits von Deutschland verschlossen. Schon hörte der Vater ihre Stimme. Er hörte die Tochter klagen, man hätte ihren Hans, den mutigen Drucker, der sein Leben für die Freiheit des Wortes riskierte, abermals in ein Konzentrationslager gebracht.

»Nein«, flüsterte Johann Isidor. Er wiederholte das Wort, konnte kaum noch den Hörer in seiner Hand halten, konnte nicht mehr stehen, fühlte schon den Sturz. Sein geschwächtes Knie gab nach, der rechte Fuß war geschwollen. Er nannte seinen Namen, sagte auch noch »Posamentier und Handelsmann«, was er noch nie getan hatte, hörte das Rauschen in der Leitung, duckte sich, um der Bedrohung zu entgehen, doch sie wurde lauter, bedrängender, unausweichlicher. Die Kiefer schmerzten, er kaute Luft und konnte doch nicht sprechen, wollte die kleine Schreibtischlampe neben dem Telefon anknipsen, fand aber den Schalter nicht. Mit Augen, die in ihren Höhlen austrockneten, starrte er in die Dunkelheit und wartete auf den Moment, da ihn seine Angst erwürgen würde.

Da geschah das Unfassliche. Ein Felsbrocken, so gewaltig wie der, aus dem Moses Wasser geschlagen hatte, sprengte sich von seiner Brust. Die Stimme, die sein Ohr peitschte, hatte er als die von Frau Meyerbeer erkannt. Es brauchte Zeit, ehe er sich fasste. Die alte Frau atmete so mühsam, als hätte sie einen Herzanfall, aber jedes Wort brüllte sie donnerlaut ins Telefon. Um sie überhaupt zu verstehen, musste Johann Isidor den Hörer von seinem Ohr weghalten.

»Beruhigen Sie sich«, sagte er. Er wiederholte die drei Worte zweimal hintereinander, doch bei Frau Meyerbeer kam keines an. »Ich bin so schnell bei Ihnen, wie es nur geht. Wie ich nur kann. Heutzutage kann ein Mann in meinem Alter aber nicht einfach in stockdunkler Nacht losrennen. Das erregt Argwohn. Und wenn ich unterwegs aufgehalten werde, ist alle Mühe vergebens gewesen.« Er merkte, wie vorsichtig er seine Worte wählte, dass er Angst zu fragen hatte, nichts hören und nichts wissen wollte. Es hieß schon lange, sie würden die Telefone von Juden abhören, die Juden von Hausgenossen und ehemaligen Angestellten bespitzeln lassen. Wer waren die Lauscher, was wollten sie erfahren?

»Mein Mann ist immer sofort losgerannt, wenn Sie Ihr Zipperlein hatten«, erwiderte Frau Meyerbeer in einem unerwartet ruhigen Ton – dem gewohnt sarkastischen, immer ein wenig ablehnenden und hochfahrenden. »Vielleicht erinnern Sie sich noch, Herr Sternberg, wie prompt Ihr unermüdlicher Hausarzt Doktor Meyerbeer immer zu Ihnen gekommen ist. Zur ganzen Familie, um genau zu sein, egal ob Ihre Köchin Bauchschmerzen hatte oder ein Kind geboren wurde. Mein Mann hat nie überlegt, ob er gut in der Rothschildallee ankommen würde. Er hat nicht auf die Uhr geguckt und nicht nach dem Wetter. Ich hätte Sie bestimmt nicht angerufen, wenn ich jemand anderen gewusst hätte, der mir hilft. Das können Sie mir glauben.«

»Sie haben genau das Richtige getan, Frau Meyerbeer.« »Es ging alles so schnell. So schrecklich schnell. Einen alten Mann, der nicht mehr sicher auf den Beinen ist, aus seiner Wohnung zu zerren, dauert ja nicht lange. Das ist ein Kinderspiel für vier stramme Burschen in Uniform. Noch nicht einmal seine Straßenschuhe hat er sich anziehen dürfen und auch nicht sein Jackett. Nur die Pantoffeln und den Bademantel. Ausgerechnet einen gestreiften. Der sieht ja ohnehin wie Häftlingskleidung aus.«

»Nicht am Telefon«, raunte Johann Isidor. »Ich komme ja zu Ihnen. Sobald es hell wird.«

Er legte den Hörer zurück auf die Gabel. Seine Hand brannte, als hätte er ins Feuer gegriffen. Er torkelte auf die Toilette, klappte den Deckel herunter, ließ sich davor auf die Knie fallen und stützte seinen Kopf mit Händen ab, die weiterloderten. Zunächst merkte er nicht, dass der Schmerz in seine Schläfe kroch und dass er zu würgen begann, doch ausgerechnet in dem Moment, da allein sein Körper das Geschehen bestimmte, vermochte er wieder klar zu sehen, sich zu konzentrieren, sein Leben wie ein Mann zu analysieren, der ein Mensch wie jeder andere ist.

Johann Isidor Sternberg, der einst ein freier Frankfurter Bürger gewesen war, begriff ein für alle Mal, dass er den Kampf um seine Ehre, um sein Gewissen und seinen Stolz endgültig verloren hatte. In der Stunde, da ihm die Not der Juden in Deutschland so bewusst geworden war wie nie zuvor, hatte er versagt. Nur um sich und die Seinen war er besorgt gewesen, nicht um den lebenslangen Freund, dem er wie einem Bruder vertraute und der nun in Not war. Johann Isidor stand auf. Es gelang ihm gerade noch, rechtzeitig den Toilettendeckel hochzuheben. Dann würgte er den Ekel und die Scham, die betäubende Hilflosigkeit und die Panik, die er bei jedem Wort von Frau Meyerbeer empfunden hatte, aus sich heraus.

Er wankte ins Schlafzimmer zurück. Betsy war nicht wach geworden. Ein dünner Lichtstrahl erhellte ihr Gesicht, machte es weiß und jung und erzählte Geschichten, die nicht mehr stimmten. Johann Isidor hatte das Bedürfnis, sich über seine Frau zu beugen, ihre Atemzüge zu hören und ihre Haut zu riechen, doch er versagte es sich. Später beschäftigte ihn der Gedanke, dass der Mond und selbst die städtischen Laternen immer noch für Juden schienen; er versuchte zu lächeln, als ihm aufging, dass Zynismus der Balsam derer ohne Hoffnung war, aber seine Lippen klebten aufeinander. Eine Stunde saß er steif auf der Bettkante und wartete geduldig auf das erste Grau eines grausamen Morgens. Erst als er ein Auto hupen hörte, rührte er sich. Das Nachthemd war nass geschwitzt wie das eines Fieberkranken, die Haut verlangte nach Wasser. Er fand den Weg ins Badezimmer und stierte eine Weile, die ihm Ewigkeit war, in den Rasierspiegel am weiß lackierten Schrank. Er sah, dass er weinte.

Zurück im Schlafzimmer zog er sein geripptes Unterhemd an, dann die weiße Unterhose, die er vor dem Schlafengehen zu einem Quadrat gefaltet hatte. Die Socken rochen nach dem billigen Waschpulver, auf das Betsy seit Neuestem bestand, um die Haushaltskasse zu schonen. Im Dunkeln band er seine Schuhbändel zu. Die Hände zitterten. Mit tief gesenktem Kopf und Schläfen, in denen immer noch die Angst hämmerte, betete er, Gott möge ihm noch einmal Stärke und Mut geben, damit er seinen Kindern helfen könnte, den Weg aus der Hölle zu finden.

»Was in aller Welt machst du«, fragte Betsy, »und mit wem hast du geredet? Mitten in der Nacht. Und in diesem albernen Flüsterton.« Ihre Stimme war zu hoch, war unsicher.

»Mit dir, mit wem sonst? Ich habe dir nur gesagt, dass ich zu Frau Meyerbeer muss. In der Nacht haben sie Adolf abgeholt.«

»Doch nicht den alten Mann. An einem Greis in seinem Alter, der ohne Brille blind wie ein Maulwurf ist und der nach fünfzig Metern wie ein dreibeiniger Hund lahmt, kann man sich doch nicht vergreifen. Das muss eine von diesen absurden Verwechslungen sein, von denen man immerzu hört und die ich nie geglaubt habe.«

Doktor Meyerbeer kehrte um zwölf Uhr zehn nach zwei Wochen und drei Tagen in seine Wohnung zurück. Seine Frau bekam einen gewaltigen Schreck. Sie war gerade dabei, ihr Mittagessen zu kochen – Linsensuppe, die er nicht ausstehen konnte. Deswegen sagte sie zur Begrüßung: »Mein Gott, auch das noch!«, und ließ den Kochlöffel fallen.

»Ich hab gelernt, dass Linsensuppe eine Delikatesse ist und Jakob recht hatte«, sagte er freundlich. »Auch ich hätte mein Erstgeburtsrecht verkauft, wenn sich jemand für die Familienverhältnisse eines alten hungrigen Juden interessiert hätte.«

Auf den ersten Blick schien Meyerbeer gesund und ganz der Alte, wenn er auch in zwei Wochen drei Kilo an Gewicht verloren und einen sehr trockenen Husten hatte. Doch er war auffallend schreckhaft, schlief nachts höchstens drei Stunden und neigte häufig dazu, in seinen Berichten Vergangenheit und Gegenwart zu verwechseln. Am dritten Tag nach seiner Heimkehr fragte er nach einem kurzen Mittagsnickerchen seine Frau, ob Deutschland den Krieg gewonnen hätte und wie.

Die Umstände seiner Verhaftung und die Erlebnisse in der Haft schilderte er dann im größeren Kreis allerdings mit der Präzision, die sein Berufsleben bestimmt hatte. Anwesend waren an diesem Nachmittag, der in der Erinnerung aller unangenehm lebendig blieb, seine Frau und seine konsternierte Tochter mit ihrem schwerhörigen Mann, der naturgemäß seinen Ohren nicht traute und ständig um die Wiederholung der widerwärtigsten Details nachsuchte. Gekommen war auch Meyerbeers fünfunddreißigjähriger Enkelsohn, ein Kinderarzt, dem die Nazis schon 1933 die Approbation entzogen hatten und der nun mit aller Energie, die ihm geblieben war, die Auswanderung seiner Familie nach Australien betrieb. Seine Frau war kalkbleich und sagte den ganzen Nachmittag kaum ein Wort. Meyerbeers zehnjährige Urenkelin, Schülerin am Frankfurter Philanthropin und nach dem Dafürhalten ihrer Eltern an einer jüdischen Schule weitgehend von der Entwicklung in Nazideutschland geschützt, wurde ins Nebenzimmer delegiert, doch verweigerte sie kopfschüttelnd den elterlichen Befehl. »Ich weiß sowieso alles«, sagte das Kind. »Der Vater von meiner besten Freundin ist vor vier Wochen aus Dachau zurückgekommen. Und dem Vater vom Michael Rosenfeld haben sie vier Zähne ausgeschlagen.«

Sternbergs waren die einzigen Anwesenden, die nicht zur Familie gehörten. Johann Isidor hatte »für bessere Tage« eine Flasche roten Burgunder mitgebracht, außerdem Clara, die um die Einladung gebeten hatte. In einer sentimentalen Anwandlung und in Erinnerung an alte Zeiten, als ihre Freundinnen sie für eine literarische Kapazität gehalten hatten, brachte Frau Betsy eine auf dem Buchmarkt viel gefeierte Neuerscheinung als Gastgeschenk: »Die Sterne blicken herab« von Archibald Joseph Cronin. Der international erfolgreiche Roman gefiel der deutschen Leserschaft aus einem speziellen Grund. Weil er im walisischen Bergbaumilieu spielte, konnte man auf angenehmste Art den eigenen Problemen und gleichzeitig der gesamten Hakenkreuzwelt entkommen. »Außerdem«, hatte Frau Betsy zu Clara gesagt, »erregt das Buch keinen Anstoß bei Hausdurchsuchungen. So was muss man heutzutage bedenken.«

Im Widerspruch zu seiner gewohnten eher untertreibenden Art gebrauchte Doktor Meyerbeer bei der Schilderung seiner Erlebnisse sowohl Ausdrücke als auch Begriffe, die er bis zum Tag seiner Verhaftung als schockierend, brutal und vulgär abgelehnt hätte. »Die feine akademische Art eignet sich eben nur bedingt, um ein deutsches Gefängnis zu schildern«, entschuldigte er sich einmal.

Nach seinem schonungslosen Bericht im Familienkreis mochte er überhaupt nicht mehr über das ihm Widerfahrene reden. Über seine Haft und die verlorene Zuversicht, »dass wir aus diesem Schlamassel heil herauskommen«, redete er fortan ausschließlich mit Johann Isidor. Sie gewöhnten sich an, täglich spazieren zu gehen, Schulter an Schulter, im gleichen müden Schritt, aber doch zufrieden mit dem Gleichklang ihrer Seelen. »Wie ein Liebespaar«, spottete Meyerbeer.

»Eher wie Pantoffelhelden, die vor ihren Frauen flüchten«, befand Johann Isidor.

Partiell stimmte das. Man fürchtete nicht nur zufällige Lauscher und Denunzianten, die auf die Chance lauerten, Nachbarn anzuzeigen, mit denen sie vor Hitler in Frieden und gegenseitiger Achtung gelebt hatten. Wer wie Meyerbeer erlebt hatte, welche unglaublichen Windungen und absurden Zufälle einen unbescholtenen Bürger ins Verderben führten, redete auch im eigenen Wohnzimmer nicht viel. Frau Betsy war zwar ein wenig gekränkt, wenn ihr Mann jeden Nachmittag nach Stock und Hut griff, doch sie fragte ihn nie, weshalb er plötzlich so viel mit dem Freund zu bereden hätte. »Kommt Zeit, kommt Antwort«, sagte sie zu Clara.

Frau Meyerbeer war eine peniblere Beobachterin. Sie registrierte die kleinste Veränderung und war entsprechend besorgt. Ihr Mann, von dem sie ihr ganzes Eheleben streng und vergebens Häuslichkeit und Disziplin eingefordert hatte, stellte seit der Rückkehr beim Schlafengehen immer seine Straßenschuhe vor das Ehebett. Obwohl es Ende Juni und das Wetter entsprechend warm war, bestand er darauf, seinen Wintermantel über den Stuhl im Schlafzimmer zu hängen. Er zählte bei Tisch die Kartoffeln auf seinem Teller, versteckte Brotrinden im Bücherschrank und benutzte nur noch sonntags Zahnpasta.

Trotz seiner Begegnung mit deutscher Polizeigewalt und deutscher Justiz wurde Doktor Meyerbeer allerdings nicht so vorsichtig in seiner Wortwahl und Denkweise, wie es im Jahr 1936 für einen Juden und erst recht für einen soeben aus der Haft Entlassenen geboten war. »Ein alter Mann«, diagnostizierte er, »hat eben nicht nur Probleme beim Pinkeln. Manchmal hat er auch Durchfall im Gehirn. Da gehen ihm die Gäule durch.«

Weil ihm das Stehen schwerfiel und seine Hüften dabei schmerzten, hatte Meyerbeer ausgerechnet auf dem Postamt – das Hitlerbild an der Wand und die meisten Schalterbeamten mit dem Parteiabzeichen am Revers – gefährlich überdeutlich genörgelt: »Das war das Gute an der Hammelsgasse, man brauchte nie um Briefmarken anzustehen. So ein Schreibverbot ist vom medizinischen Standpunkt durchaus empfehlenswert.«

Das 1905 eröffnete Frankfurter Untersuchungsgefängnis in der Hammelsgasse 6–10 hatte Monarchie, Novemberrevolution und die Weimarer Republik erlebt. Nun stand das Haus im Dienste von Naziterror und Willkür. Der zweiundachtzigjährige Doktor Adolf Meyerbeer, praktischer Arzt und bei seinen nichtjüdischen Patienten so beliebt, dass etliche von ihnen ungefragt beteuerten, »auf unseren Doktor lass ich nichts kommen«, wusste von der Hammelsgasse lediglich, dass sich dort ein Gefängnis befand. Den Begriff »Untersuchen« hatte er bis dahin auf den Beruf des Mediziners bezogen. Das Wort Untersuchungshaft war ihm wissentlich noch nie begegnet. Bis zu seiner Entlassung aus dem Haus mit den vergitterten Fenstern und den schweren Gittertüren begriff er nicht, dass er ein Untersuchungshäftling war und dass sein Wohlergehen und seine Zukunft allein vom Untersuchungsrichter abhingen. Weil ihm bei seiner Einlieferung die Brille abgenommen worden war und er nicht lesen konnte, was ihm zu lesen befohlen wurde, wusste er nicht, was man ihm zur Last legte.

Vorgeworfen wurde dem Untersuchungshäftling Meyerbeer, er hätte Rassenschande mit seiner jungen Sprechstundenassistentin betrieben. Die Unterstellung war eine für die Zeit typische Verwechslung. Doktor Meyerbeers ehemalige Sprechstundenhilfe Dora Dingeldein war bei ihrer Einstellung ein altjüngferliches Fräulein mit Haarknoten und unreinem Teint gewesen. Das mangelnde Interesse ihres Chefs an ihrer Person hatte sie nie verwinden können. Ihre Anzeige vom Mai 1936 lautete allerdings nicht auf Rassenschande. Dora Dingeldein beschuldigte den Mediziner, er hätte trotz Ruhestands und des gegen jüdische Ärzte erlassenen Berufsverbots, »das sie im Übrigen sehr begrüße«, einen ehemaligen Patienten empfangen. Das entsprach sogar annähernd der Wahrheit. Der ehemalige Patient, ein Klempner mit vier Kindern, wohnte einen Stock unter Fräulein Dingeldein und hatte nachts Sturm bei Meyerbeers geschellt. Er erinnerte sich so gut an den Arzt, weil er ihn einmal um vier Uhr morgens zu seinem einjährigen Sohn geholt hatte, der sich in Fieberkrämpfen wand, und seine Frau damals den Arzt als »einen ganz feinen Mann« bezeichnet hatte. Meyerbeer hatte den linken Arm des Mannes kurz beim Schein der Straßenlaterne betrachtet und ihm geraten, sich wegen einer drohenden Blutvergiftung umgehend im Krankenhaus behandeln zu lassen. Nach seiner Rückkehr vom Bürgerhospital hatte der Klempner im Hausflur Fräulein Dingeldein die Geschichte seiner glücklichen Rettung erzählt.

Die Anklage wegen fortgesetzter Rassenschande, so stellte der Untersuchungsrichter binnen vierzehn Tagen fest, bezog sich auf einen ehemaligen Rechtsanwalt von hohem Ansehen und – bis zu Hitlers Machtergreifung – von untadeligem Ruf. Der Richter hatte den Mann immer um seinen Erfolg und noch mehr um dessen reiche Frau und die Maßanzüge aus englischem Tuch beneidet. Er überwies ihn ins Konzentrationslager Dachau. Der Untersuchungshäftling Meyerbeer wurde zwei Tage später entlassen, ohne dass die Anschuldigungen von Dora Dingeldein überhaupt untersucht wurden.

Er war nicht schlecht behandelt worden; das hob Meyerbeer in jedem Gespräch mit Johann Isidor hervor. Gleich zwei der Gefängniswärter waren ehemalige Patienten. Es war ihnen sichtlich unangenehm, den Häftling nicht als »Herr Doktor« anzureden. Beide waren sie ältere Männer mit grauem Haar, gebeugten Schultern und einem bekümmerten Blick. Sobald sich ein Gespräch unter vier Augen ergab, gestanden sie Meyerbeer, dass sie es nicht recht fanden, »was der Führer mit euch Juden macht«. Einer der Offenherzigen besorgte Meyerbeer eine Brille, allerdings mit der falschen Sehstärke, der andere verschaffte ihm einmal eine frische Unterhose und ein anderes Mal einen Nachschlag Graupensuppe.

Was Meyerbeer von seinem Leidensgenossen zu hören bekam, wie groß das menschliche Leid war, wie vernichtend die Angst vor Haft und Folter und wie utopisch jeder Hoffnungsstrahl auf ein ertragbares Ende, machte ihn im Zeitraum von vierzehn endlosen Tagen zum Sünder. Er bat Gott, ihm in seinem Leben nur noch eine Bitte zu erfüllen – seine Frau möge vor ihm sterben und ihm so die Möglichkeit geben, die Stunde seines Todes selbst zu bestimmen.

»Hier«, sagte er, als auf einer Bank am Mainufer die Rede auf diese Sünde kam, »ich hab’s versprochen. Es ist höchste Zeit, mein Versprechen einzulösen. Das hier schuld’ ich dir schon lange.« Die Freundeshand, federleicht und doch ein Trost, als sie den Arm berührte, steckte ein kleines, doppelt gefaltetes Kuvert in Johann Isidors Jackentasche. »Du weißt ja Bescheid«, sagte Meyerbeer. »Ich hab dir auch für Betsy genug reingelegt. Man kann nie wissen, wie man sich entscheidet, wenn es so weit ist.«

»Danke«, sagte Johann Isidor. »Wie einfach Sterben doch für den ist, der die richtigen Beziehungen hat.«

»Täusch dich da mal nicht, so was hat auch ein Arzt nicht in der Vorratskammer, und die Nachfrage wird immer größer.«

Das Schild »Für Juden verboten« war der Olympiade wegen noch nicht wieder an der Bank angebracht, die Schraublöcher waren deutlich in der Lehne zu sehen. Auf dem Rasen vor der Bank hatte ein Mädchen aus kleinen weißen Steinchen ein Hakenkreuz gelegt und seine rot-weiß karierte Schürze samt Plüschhund neben dem Kunstwerk liegen lassen. Ein Mann mit roter Mütze schwenkte in einem Ruderboot ein weißes Küchentuch. Hoch beladen fuhr ein Kohlenschiff Richtung Rhein. Johann Isidor dachte an seinen Schwiegersohn. Mit steifen Fingern massierte er den Schmerz aus seiner Brust. Fritz hatte endlich in Amsterdam eine Anstellung gefunden, in einer Import-Export-Firma, noch dazu mit einem jüdischen Inhaber, doch Victoria, die ewig Bockige, wollte mit den Kindern so lange in Frankfurt bleiben, bis ihr Mann »eine passende Wohnung« aufgetan hätte.

»Und ein Kindermädchen«, hatte Betsy weinend ihrer Tochter vorgeworfen. Auch Johann Isidor und die alte Frau Feuereisen, die Victoria noch im sechsten Jahr ihrer Bekanntschaft vergötterte, waren entsetzt. »Alle haben’s kapiert«, klagte Johann Isidor bei Meyerbeer, »nur die schöne Victoria nicht. Das kommt davon, wenn ein Mann seine Frau auf Händen trägt. Ich hab Fritz von Anfang an gewarnt. Er ist zu anständig. Victoria braucht eine feste Hand. Da lob ich mir meine Alice. Die erwartet keine passende Wohnung im afrikanischen Busch, ihr reicht der passende Mann. Sie ist fast schon bei ihm, unsere Jüngste.«

Aus dem dichten Schatten der Bäume tauchte eine junge Frau im grellen Sonnenlicht auf. Mit Charme und Chic, mit flammend roten Lippen und nachtschwarz nachgezogenen Augenbrauen trotzte sie dem Bild der idealen deutschen Frau. Für deutsche Frauen hatte nur des Führers Wort Gewicht, sie schminkten sich nicht und flochten ihr Blondhaar zum Kranz. Das nussbraune Haar der schönen Spaziergängerin aber wehte wie ein Banner im Wind. Sie hatte Hüften, die Frauen neidisch machten und bei alten Männern das Gedächtnis in eine Richtung belebten, die sie sehr genierte. Ihr eng geschnittener Rock bedeckte nicht einmal die Knie, die rosa Spitzenbluse spannte über der Brust. Auf Stöckelschuhen mit Fesselriemchen schob die junge Mutter einen hohen weißen Korbwagen. Neben einer Käthe-Kruse-Puppe mit grünem Jägerhut brabbelte ein fröhliches kleines Mädchen. Frau Mama sang den beiden arglosen Geschöpfen das traurige alte Kinderlied »Maikäfer flieg« vor. Ihr Busen wogte. Das Kind zeigte beim Lachen zwei Zähne.

»Der Vater ist im Krieg«, murmelte Johann Isidor. »Manchmal aber auch der Sohn.«

Er dachte an Otto, der im letzten Brief seines Lebens »Schickt mir ein Mittel gegen Durchfall und ein Bild von Euch« geschrieben hatte. Lange grübelte der Vater über das Paradoxon, dass ein früher Tod dem Menschen die Leiden des Lebens erspart. Ein paarmal steckte er seine rechte Hand in die Tasche. Wann immer er auf das Kuvert stieß, dankte er dem Himmel, dass er einen Freund wie Adolf Meyerbeer hatte.

Zu Hause fragte ihn Betsy mit dem weiblichen Instinkt, der ihn nach vierzig Jahren Ehe immer noch erschreckte, wie sein Spaziergang gewesen wäre.

»Wie immer«, erwiderte er. »Zwei alte Herren haben auf einer Bank am Main gesessen, einer jungen Frau nachgeschaut und festgestellt, dass sie nicht mehr die Jüngsten sind.«

»Aber Schmerzen an der Blase hattest du nicht?«, forschte Betsy.

»Schmerzen im Gemüt«, erwiderte Johann Isidor, »da helfen keine Kürbiskerne. Ich glaub, da ist Opium angesagt.«

Am nächsten Tag sagte er sowohl einen Zahnarzttermin ab als auch den Nachmittagsspaziergang mit Doktor Meyerbeer. In unruhiger Nacht hatte Johann Isidor, der verantwortungsvolle, immer noch resolute Patriarch, seine Entscheidung getroffen. Es ging nicht länger an, dass er auf die Habe, die ihm geblieben war, nicht jederzeit zurückgreifen konnte. Seine Kinder wollten – und mussten! – auswandern. Dafür brauchte der Vater Bargeld. Grundbesitz war eine Fessel geworden.

Erwin vertraute der Vater als Einzigem an, dass er bereits seit Längerem wegen seines Hauses in der Glauburgstraße verhandelte. »Und wenn ein gewisser Herr Schwabe nur halb so anständig ist, wie er tut, dann betrügt er mich nicht mehr, als sein Gott ihm gestattet. Und für den armen Jud bleibt auch noch was. Mir ist es nicht genug, wenn ich gerade noch die Reichsfluchtsteuer für meine Kinder aufbringen kann. Ich will sie nicht nackt in die Welt schicken. Bei Alice wird es bald so weit sein. Deine Mutter hat’s im Gefühl. Sie sucht schon die Koffer zusammen.«

»Ich wollt, ich könnt dir widersprechen«, sagte Erwin.

»Deine Ration an Widerspruch hast du als Zwölfjähriger fürs ganze Leben aufgebraucht, mein Sohn«, antwortete Johann Isidor. »Und ich wollt’, ich könnt jetzt lächeln.«

Am 20. Juli trennte sich Johann Isidor Sternberg von seinem Haus in der Glauburgstraße. Sein Favorit war das triste graue Gebäude mit den wuchtigen Balkons nie gewesen. Im geschäftigen Nordend jedoch war das kompakt gebaute Wohnhaus mit den geräumigen Wohnungen, dem hohen Mietaufkommen und einem immer wieder modernisierten Metzgerladen eine besonders gute Geldanlage gewesen. Der Eigentümerwechsel interessierte nur die unmittelbar Beteiligten. Käufer war der Metzger Karl Schwabe aus dem Parterre. Der hatte schon lange davon geträumt, das Haus zu besitzen, in dem seine Würste und Schnitzel so appetitlich im Schaufenster auslagen – der Olympiade wegen seit dem Frühjahr mit einem großen Führerbild an der Wand und fünf olympischen Ringen aus buntem Stickgarn darunter. Die dreizehnjährige Magda Schwabe hatte sie im Handarbeitsunterricht mit einer ganz feinen Nadel gehäkelt und war dafür lobend in der Zeitschrift »Wir Jungmädel« erwähnt worden. Metzger Schwabe hatte in den letzten Jahren gut verdient, er war sicher, es würde weiter aufwärtsgehen. Seit dem Einmarsch der Deutschen im Rheinland, dem Bruch mit dem Völkerbund und der Goebbels-Forderung »Waffen statt Butter« hielt er einen Krieg für durchaus möglich, und aus Erfahrung wusste er, dass Metzger in jedem Krieg zu den Siegern gehörten.

Zum Abschluss der Verhandlungen mit seinem ehemaligen Hauswirt und nachdem er den Kaufpreis längst nicht so rigoros heruntergehandelt hatte, wie es die herrschende Moral empfahl, sagte Schwabe etwas für die Zeit sehr Ungewöhnliches. »Wenn ich das Haus nicht gekauft hätte«, erklärte er, »hätte es doch ein anderer getan, und der hätte Ihre Lage noch mehr ausgenutzt als ich, Herr Sternberg. Das können Sie mir glauben. Sie haben wirklich Glück gehabt. Ich hab mich nämlich mit unserem Pfarrer beraten. Meine Frau wollte das so. Sie war früher bei Juden in Stellung, und sie hat immer gesagt, so gut wie bei denen hat sie es nirgends mehr gehabt.«

»Grüßen Sie Ihren Pfarrer«, sagte Johann Isidor beim Abschied. Er hatte Magenschmerzen und einen Kopf, der rebellierte, aber auch ein Paket mit Fleisch-, Blut- und Leberwurst, mit Presskopf und ganz frischer Kalbsleber. Die Leber hatte Frau Schwabe in letzter Minute dazugepackt und eigens darauf hingewiesen, dass sie sich mit den »Essgewohnheiten Ihrer Leut« auskenne.

Auf dem kurzen Nachhauseweg fiel Johann Isidor auf, dass überall die Fenster offen standen und dass in vielen Wohnungen die Radios auf volle Lautstärke gestellt waren. An einem Montag der Norm wäre das aufgefallen, doch an diesem speziellen wurde im griechischen Olympia auf der Peloponnes das olympische Feuer entzündet. Der erste Fackelläufer war schon unterwegs in Richtung Athen. Der Deutsche Rundfunk übertrug die Feierstunde direkt von dort. Der Sprecher sagte, dies wäre eine »Meisterleistung deutscher Technik«. Ein Filmteam unter Leitung der deutschen Regisseurin Leni Riefenstahl wollte den Übertragungswagen des Rundfunks von Olympia nach Berlin begleiten.

Josepha jubelte, als der Hausherr mit dem Päckchen von Metzger Schwabe nach Hause kam, denn Victoria war mit den Kindern überraschend zu Besuch gekommen. Es hätte, wie montags immer, Erbsensuppe geben sollen. Erbsensuppe am ersten Tag der Woche war ein Relikt aus sorgenfreier, wohlhabender Zeit. Da war montags die Waschfrau ins Haus Sternberg gekommen und hatte kräftige Kost gebraucht. »Gott«, freute sich Josepha, als sie den Kartoffelbrei für die Kalbsleber stampfte, »hilft doch immer in der Stunde der Not. Mir wäre es ganz schrecklich gewesen, den kleinen Salo mit Erbsensuppe zu füttern. Hülsenfrüchte für Kinder hat es in diesem Haus in vierzig Jahren nicht gegeben.«

Salos Großvater vertrug auch die Kalbsleber nicht. Erst im Bett und im Trost der gnädigen Dunkelheit erzählte er seiner Frau, dass ihm das Haus in der Glauburgstraße nicht mehr gehörte und höchstwahrscheinlich bald auch nicht mehr die Posamenterie in der Hasengasse. »Aber von der Rothschildallee«, beruhigte er Betsy, die in ihre Kissen weinte, »trenne ich mich nicht aus freien Stücken. Das verspreche ich dir. Ehrenwort. So junge Leute wie wir können ja schließlich nicht ins Altersheim ziehen.«