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Von meinem Haus aus dauerte die Fahrt normalerweise zwölf Minuten. An diesem Tag legte ich die Strecke in sechs zurück. Ein Meer von Fragen und Anklagen wirbelte in meinem Kopf umher.

Der Name meiner Mutter lautete Annie James, und sie war bei einem Brand gestorben, als ich noch ein Kind war – das hatte mir mein Vater jedenfalls erzählt.

Er trug mich damals aus unserem brennenden Haus und lief zurück, um zu versuchen, auch sie zu retten, aber es war zu spät. Bevor die Feuerwehr eintraf, stand das Haus schon lichterloh in Flammen. Deswegen gab es auch nie Fotos von meiner Mutter; keine Dokumente, keine greifbaren Erinnerungen an unser Leben als Familie. Mein Vater wurde nach seinem Einsatz als Held gefeiert, hatte sich aber mit Sicherheit nicht wie einer gefühlt.

Annie James hatte keine Familie gehabt, erzählte er mir später. Keine Großeltern, Tanten, Onkel oder Cousins. Von seiner Seite aus gab es gleichfalls keine noch lebenden Verwandten mehr, also waren wir allein auf der Welt – nur er und ich.

Sogar als Kind erkannte ich mit mehr als nur ein paar bohrenden Zweifeln schon, dass die Geschichte des Todes meiner Mutter ein wenig zu stimmig war, denn sie wies keine Widersprüche auf, bei denen ein kleines Mädchen mit Fragen hätte einhaken können. Wenn ich meinen Dad nach ihr fragte – »Wie war Mom so? Hatte sie dieselbe Haarfarbe wie ich?« –, konnte ich seinen Schmerz geradezu greifbar spüren.

»Stell bitte keine Fragen, Hallie. Grübele nicht andauernd über sie nach. Sie ist tot.«

Während ich rücksichtslos gelbe Ampeln überfuhr, verwandelten sich meine Fragen in eine Mischung aus Zorn und Trotz.

Im Laufe der Jahre hatte ich mir im Geist ein fest umrissenes Bild meiner Mutter geschaffen: brünett, braune Augen, mittelgroß, mit einer ähnlichen Ausstrahlung wie Jackie Kennedy. Sie liebte die bunten Hosenanzüge, die in den siebziger Jahren so modern gewesen waren, aber zu wichtigen Ereignissen kleideten wir uns gleich. Sie war freundlich, aber bestimmt, liebevoll und verspielt, anmutig und elegant. Wenn in diesem Brief die Wahrheit stand – was einfach nicht möglich war –, würde das mein Bild der einzigen Mutter auslöschen, die ich je gekannt hatte. Und ich würde nicht zulassen, dass eine Fremde sie mit Papier und Tinte noch einmal tötete.

Ganz zu schweigen davon, dass Madlyn Crane, wenn der Brief der Wahrheit entsprach, meinen Vater eines furchtbaren Verbrechens bezichtigte. Ich liebte meinen Dad mit dem ganzen ausgeprägten Beschützerinstinkt, der Kindern zu eigen ist, die mit nur einem Elternteil aufwachsen. Wie konnte diese Frau, diese Fremde, es wagen, einfach so in mein Leben zu treten und meinen Vater als Lügner zu bezeichnen? Sie beschuldigte ihn, unseren Tod vorgetäuscht und mich quer durch das Land verschleppt zu haben. Im Grunde genommen behauptete sie ja, ich wäre ein entführtes Kind, jemand, dessen Foto auf einem Fahndungsplakat hätte prangen können. Wie kam sie bloß dazu?!

Männer wie mein Dad waren doch keine Kidnapper und nahmen mal eben eine neue Identität an! Männer wie mein Vater, der Mathematiker war, suchten nach rationalen Lösungen für ihre Probleme. Die ganze Angelegenheit war absurd und empörend, und ich konnte mir nicht vorstellen, was diese Frau dazu bewogen hatte, so einen Haufen grausamer Lügen zu erfinden.

Aber war es nicht tatsächlich etwas seltsam, dass so gar keine Fotos von meiner Mutter mehr existierten? Keine Verwandten? Keine Freunde, die etwas über ihr Leben wussten? Was, wenn es gar kein Schmerz gewesen war, den ich damals in den Augen meines Vaters gelesen hatte, sondern Furcht? Was, wenn er dreißig Jahre lang in der Angst gelebt hatte, jeder Tag könnte der Tag sein, an dem seine Frau, meine Mutter, plötzlich vor unserer Tür stand? Das würde zumindest erklären, warum er sich immer so beharrlich geweigert hatte, von ihr zu sprechen.

Seltsamerweise erinnere ich mich noch ganz deutlich an den Brand. Ich kann heute noch die Flammen und den Rauch sehen, die Schreie und das Dröhnen der Motoren der Feuerwehrwagen hören, das Wasser aus den Schläuchen auf meiner Haut spüren. Jetzt fragte ich mich natürlich, ob dies nur der Schatten von etwas war, was sich nie wirklich ereignet hatte, eine Erinnerung, die sich nur durch eine Geschichte, die man mir jahrelang wieder und wieder erzählt hatte, in mein Gedächtnis einbrannte.

Janine, die Tagesschwester, blickte auf, als ich eintrat. Angesichts meines Gesichtsausdrucks erstarb ihr freundliches Lächeln. »Was ist passiert?«, fragte sie, doch ich schnitt ihr mit erhobener Hand das Wort ab. Dann ging ich am Schwesternzimmer vorbei in den Aufenthaltsraum, in dem ich erfahrungsgemäß meinen Vater vorfinden würde.

Er saß wieder an dem einen Platz am Fenster, wo er den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Dad liebte es, die Vögel am Futterhäuschen zu beobachten. Ihr munteres Geflatter faszinierte ihn – oder vielleicht schlugen ihn auch nur die durch die Luft schwirrenden Farbflecke in ihren Bann. Das ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Ich zog mir einen Stuhl heran und nahm seine Hände in die meinen.

»Dad«, sagte ich sanft. »Dad, ich bin es, Hallie.«

Er wandte behutsam den Kopf. Seine langsamen, bedächtigen Bewegungen erinnerten mich an einen Fötus im Mutterleib, der in seiner undurchlässigen Atmosphäre schwebt und dort den Zeitpunkt abwartet, an dem er in eine andere Welt gelangt. In seinen Augen lag ein unschuldiger und zugleich verwirrter Ausdruck, als er mich ansah.

»Bringen Sie mir mein Mittagessen?«

Meine widersprüchlichen Gefühle wichen dem Kummer, der mich immer überkam, wenn ich meinen Vater in der letzten Zeit besuchte. Dieser große Mann und Denker – auf eine leere Hülle reduziert. Unerträglich. Ich lächelte ihn traurig an. »Janine bringt dir bald dein Mittagessen, Dad.«

Was tat ich eigentlich hier? Ich wollte Antworten, die er mir eindeutig nicht zu geben imstande war. Seufzend drückte ich seine Hände. Liebe und ein überwältigendes Gefühl von Verlust schnürten mir gleichermaßen die Kehle zu.

»Hallie?«, riss mich die Stimme meines Vaters aus meinen trüben Gedanken. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht.

Also war es doch einer jener Tage, auf die ich gehofft hatte! Die meiste Zeit erkannte mein Vater mich nämlich nicht, seine Augen blickten ausdruckslos, seine Lebensfreude war erloschen. Mir kam es dann immer so vor, als hätte sich sein Geist tief in seinen Körper zurückgezogen, um eine darin verborgene Welt zu erforschen. Aber ebenso oft hatte er auch klare Momente, und seine Augen füllten sich mit Anteilnahme, wenn er begann, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen. Dann pflegte er mich zu erkennen und lächelnd zu sagen: »Na, kommst du deinen alten Vater auch mal wieder besuchen?« Und dann konnten wir ein Gespräch führen, wenn auch nur ein kurzes, bevor er sich wieder in sich selbst zurückzog. Die Ärzte hatten mir gesagt, ein solches Verhalten sei typisch für Alzheimerpatienten.

»Dad, heute bin ich gekommen, um dich nach Mom zu fragen.«

»Nach deiner Mutter?« Er runzelte verwirrt die Stirn.

Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb, also kam ich direkt zur Sache. »Hast du mich damals mit Absicht von ihr ferngehalten, Dad?« Ich konnte kaum glauben, dass diese Worte tatsächlich aus meinem Mund gekommen waren. Sie klangen lächerlich.

Er beugte sich vor und legte warnend einen Finger auf die Lippen. »Ich habe deine Mutter gestern gesehen«, gestand er, dabei schossen seine Augen hin und her, als befürchte er, jemand könne uns belauschen. »Ich habe aus meinem Schlafzimmerfenster geschaut, und da ging sie im Hof spazieren.«

Ich schwieg einen Moment lang. »Du hast Mom gesehen?«

Er nickte langsam. »Sie trug das lange violette Kleid, das sie immer so gemocht hat.« Dann lächelte er. »Ich glaube, diesmal kommt sie mich holen, Hallie.«

Seine Ernsthaftigkeit jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich hielt seine Hand fest und fuhr fort: »Heute habe ich einen Brief von einer Frau bekommen, die behauptet, meine Mutter zu sein.«

»Madlyn hat dir geschrieben?«

Ich sog zischend den Atem ein. Er hatte tatsächlich Madlyn gesagt. »Hast du das wirklich getan?«, stieß ich hervor. »Warum, Dad? Warum hast du mich von ihr getrennt?«

Mein Vater lächelte immer noch, aber jetzt schimmerten Tränen in seinen Augen, als er mir über die Wange strich. »Ich musste doch mein kleines Mädchen retten.«

»Mich retten? Wovor?«

Jetzt rollte die erste Träne über sein Gesicht. »Vor diesem Ort, Hallie. Er hätte dich vernichtet.«

Und das war es. Die Zeit war um, zumindest für heute. Er wandte sein Gesicht, aus dem jegliches Leben wieder gewichen war, abermals den Vögeln zu.

Ich presste meine Hand gegen seine Wange, als könnte ich so all die Zuneigung, die ich für ihn empfand, in seinen Körper leiten.

»Und ich dachte, er hätte heute mal wieder einen guten Morgen.« Das kam von der Schwester, die ihm sein Tablett mit dem Mittagessen brachte.

»Den hatte er auch, Janine, nur …« Meine Worte verklangen in einem langen Seufzen. Schweigend blickte ich zu ihr auf.

»Ich weiß, Herzchen! Es wird eben nicht leichter, nicht für uns und nicht für sie.«

Ich umarmte meinen Vater noch einmal fest, bevor ich aufstand, um zu gehen. »Ich liebe dich, Dad«, flüsterte ich in der Hoffnung, er würde mich hören, wo immer er sich auch gerade befand.

Am nächsten Morgen kam der Anruf.

»Hat er noch irgendetwas gesagt?«, krächzte ich mühsam. »Hat er nach mir gefragt?«

»Ich habe während meiner Zeit hier viele Todeskämpfe miterlebt, Herzchen«, antwortete Janine mitfühlend. »Doch wenn es zu Ende geht, schweigen die meisten. Sterben ist nicht leicht.«