10

Als ich die Augen öffnete, fiel helles Sonnenlicht durch das Fenster. Nach einem Blick auf die Uhr schoss ich mit einem Ruck hoch. Fast halb elf! Wie hatte ich nur so lange schlafen können?

Während ich duschte und mich dann auf den Weg nach unten machte, grübelte ich über meine missliche Lage nach. So wie ich es sah, hatte ich nur zwei Möglichkeiten: Ich konnte mich hier vor allen Leuten verkriechen, bis nächste Woche die Fähre kam, das Haus verkaufen und nie wieder auf die Insel zurückkehren. Oder ich konnte das tun, was mein Vater all die Jahre nicht getan hatte: bleiben und kämpfen.

Ich fand Mira in ihrem Büro, einem kleinen Raum neben der Küche. Ich steckte den Kopf hinein und wünschte ihr einen guten Morgen.

»Hallo, Dornröschen«, lächelte sie, »na, endlich aufgewacht?«

»Ich hatte gestern einen harten Tag. Und eine anstrengende Nacht«, seufzte ich.

Sie blickte von den vor ihr liegenden Papieren auf und ließ den Kugelschreiber in ihrer Hand sinken. »Hallie, ist alles in Ordnung?« Noch immer spielte ein freundliches Lächeln um ihre Lippen.

Ich fragte mich, ob es wohl ersterben würde, wenn ich ihr die Wahrheit über meine Person gestand. »Nun ja«, begann ich. »Ich habe gestern seltsame und auch ziemlich beunruhigende Neuigkeiten erfahren.«

Mira stand interessiert auf. »Wissen Sie was? Ich hole Ihnen Kaffee und einen Muffin, und dann erzählen Sie mir alles.«

Mein Herz hämmerte stürmisch in meinem Hals, und mein Magen begann zu schmerzen. Ich hoffte, nicht mit einer Wiederholung der vergangenen Nacht rechnen zu müssen.

Mira hatte eine Kaffeekanne, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose, ein paar Muffins und zwei Tassen auf ein Tablett gestellt. »Kommen Sie, wir gehen in den Wintergarten.« Dort ließ sie sich in einen Rattansessel sinken, während ich ihr gegenüber in einem Schaukelstuhl Platz nahm.

Als sie den Kaffee einschenkte und Milch hinzufügte, kam ich direkt zur Sache. »Madlyn Crane hat mir alles hinterlassen, was sie besaß.«

Mira verschluckte sich fast an dem Schluck, den sie gerade getrunken hatte. »Aber hatten Sie nicht gesagt, Sie würden sie überhaupt nicht kennen?«

»Ich habe sie auch nicht gekannt«, versetzte ich schlicht. »Aber sie kannte mich.«

Ein verwirrter Ausdruck trat auf Miras Gesicht. Da sie offensichtlich kein Wort verstand, fuhr ich fort: »Ich habe herausgefunden, dass ich ihre Tochter bin.«

Und nun starrte sie mich mit demselben verkniffenen Ausdruck an, mit dem sie mich bei unserer ersten Begegnung bedacht hatte. Ich sah ihr an, dass sie ihre Zweifel gegen meine unheimliche Ähnlichkeit mit meiner Mutter abwog.

»Madlyn hatte noch eine Tochter?«, fragte sie endlich. »Davon wusste ich nichts. Und ich glaube, das gilt für die meisten hier.«

Noch eine Tochter? Mira war scheinbar etwas begriffsstutzig. Dachte sie, Madlyn hätte zwei Töchter namens Hallie gehabt?

»Von einer anderen Tochter weiß ich nichts«, entgegnete ich langsam. »Mira, mein Name ist Hallie James. Aber die Insulaner kennen mich als Halcyon Crane.« Mein früherer, eigentlicher Name hallte wie eine Beschwörung in meinem Kopf wider.

Das Gesicht meiner Wirtin war rot angelaufen. »Aber Halcyon kam vor dreißig Jahren ums Leben!«

»Trotzdem sitze ich jetzt vor Ihnen. Glauben Sie mir, ich war genauso überrascht, wie Sie es jetzt sind.«

»Aber …« Sie suchte sichtlich nach Worten. »Der Unfall! Halcyon hat überlebt?« Ihre Gedanken überschlugen sich offenbar. »Wie ist das möglich? Ich war doch bei ihrer Beerdigung …«

Ich schüttelte den Kopf. »Es gab nie einen Unfall. Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Ich bin in Bellingham aufgewachsen, einer Kleinstadt nördlich von Seattle. Dort habe ich all die Jahre mit meinem Vater gewohnt. Und ich bin in dem Glauben aufgewachsen, meine Mutter wäre tot, ohne zu wissen, dass sie gesund und munter hier auf Grand Manitou lebte.«

»Bellingham.« Mira dachte fieberhaft nach. Allmählich dämmerte ihr, was geschehen sein musste. »Sie sind Halcyon. Madlyns und Noahs Tochter.«

Noah. Das eine Wort traf mich wie ein Schlag. Es war mir nie in den Sinn gekommen, Thomas James könne gar nicht Vaters richtiger Name sein, aber natürlich hatte er ihn nach unserer Flucht geändert. Das machte Sinn.

Ich nickte. »Das ist richtig.« Und dann erzählte ich ihr von Madlyns Brief, der meine ganze Welt über Nacht auf den Kopf gestellt hatte. »Ich habe es zuerst selbst nicht geglaubt. Aber sie hat Fotos mitgeschickt. Wie es aussieht, ist die Geschichte wahr.«

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Sie hat mir nie etwas gesagt«, murmelte Mira endlich und nippte an ihrem Kaffee. »Kein einziges Wort. Ich frage mich, wie um alles in der Welt sie Sie gefunden hat. Es war ja nicht so, dass sie all diese Jahre lang nach einem entführten Kind gesucht hat. Jeder hier hielt Sie für tot, Hallie.«

»Eine Freundin von ihr lebt in Seattle und hat in einer Lokalzeitung ein Bild von mir und meinem Vater gesehen«, erklärte ich. »Die Ähnlichkeit fiel ihr sofort auf und bewog sie, den Artikel an meine Mutter zu schicken.«

Mira nickte verstehend.

»Was am meisten an mir nagt, ist das Timing dieser ganzen traurigen Geschichte«, bekannte ich. »Ich habe mein Leben lang um meine Mutter getrauert, und sie war die ganze Zeit lang hier. Sie findet mich, und kurz darauf stirbt sie. Wir waren so kurz davor, uns wiederzusehen, und jetzt werde ich sie nie kennenlernen!«

Die Inhaberin des Manitou Inn griff nach meiner Hand. »Mir ist die Ähnlichkeit natürlich auch sofort aufgefallen, als ich Sie sah. Ich dachte, Sie wären eine Verwandte, eine Cousine vielleicht, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist also entkommen. Wir hielten ihn alle für tot. Was müssen Sie all diese Jahre in der Gewalt dieses Monsters erduldet haben! Es tut mir ja so leid, Hallie.«

Ich kam in Versuchung, die Mitleidskarte auszuspielen. Es bot sich an, an Miras Mitgefühl zu appellieren, aber ich brachte es dann doch nicht über mich, um meines eigenen Vorteils willen meinen Vater zu verraten. »Er war kein Monster, Mira. Ich habe ihn über alles geliebt! Ich weiß, dass Sie mir das nicht glauben werden, aber er war der perfekte Vater.«

Das Verständnis in Miras Augen wich Kälte. »Wie bitte? ›Der perfekte Vater‹? Eine seltsame Bezeichnung für einen Mörder, der Sie von Ihrer Mutter getrennt und dafür gesorgt hat, dass alle ihn für tot halten.«

»Mira, bitte! Sie wissen doch gar nichts von unserem Leben! Wir standen uns sehr nah, und er war ein guter Mensch. Das weiß ich.«

»Hallie, Sie haben keine Ahnung, was dieser Mann getan hat!«

»Ich weiß ganz genau, was er getan hat und was nicht!«, rief ich. »Gestern habe ich zum ersten Mal vom Tod dieses Mädchens erfahren. Und wenn jemand sie nicht ermordet hat, dann mein Vater!«

»Das können Sie nicht wissen! Die Polizei …«

Würde es mir in Zukunft mit jedem einzelnen Inselbewohner so ergehen? Würde ich ständig das Andenken meines Dads verteidigen müssen? »Es ist mir völlig egal, was die Polizei meint, herausgefunden zu haben! Der Mann, der mich großgezogen hat, hat niemanden getötet!«

Mira schnaubte. »Erzählen Sie das mal den Suttons.«

»Das habe ich auch vor!«, zischte ich ärgerlich. »Ich werde genau das den Suttons klarmachen. Lassen Sie es gut sein, Mira! Der Tod von Julie tut mir sehr leid. Aber mein Dad hat sie nicht ermordet. Ich war schließlich dabei. Es war ein Unfall.«

Miras Augen wurden groß. »Sie haben gesehen, was geschehen ist? Das haben wir damals alle vermutet. Und deswegen hat er Sie getötet – oder Ihren Tod vorgetäuscht!«

»Ich kann mich leider nicht daran erinnern.« Auf meine Hände hinabblickend versuchte ich meine Fassung zurückzugewinnen. »Aber ich wünschte, ich könnte es. Ich erinnere mich nicht an mein Leben hier auf dieser Insel, nicht an die geringste Kleinigkeit. Das Ganze sieht nicht gut aus für meinen Vater, das gebe ich zu. Er hat mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von hier fortgebracht. Er hat unsere Namen geändert. Ist mir alles bekannt. Das Einzige, dessen ich mir sicher bin, ist, dass er der beste Vater war, den eine Tochter hätte haben können.«

»Sie können sagen, was Sie wollen, an den Tatsachen ändert das rein gar nichts«, gab sie unbeeindruckt zurück. »Diese Sache ist Angelegenheit der Polizei, Hallie! Mord verjährt nicht. Wenn die erfahren, dass Noah all die Jahre, wo er für tot gehalten wurde, in Wahrheit am Leben war …«

Plötzlich ging mir ein Licht auf. Mira wusste ja noch gar nicht, dass mein Vater vor kurzem gestorben war.

»Die Polizei wird diesen Fall nicht wieder aufrollen, Mira«, klärte ich sie auf. »Mein Dad lebt nämlich leider nicht mehr. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen sagte, ich hätte zu Hause allerhand um die Ohren und eine schwere Zeit hinter mir? Das ist der Grund dafür. Er starb einen Tag, nachdem ich Madlyns Brief erhalten habe.«

»Noah ist tot?« Miras Augen schossen hin und her, als suche sie etwas, das sie nicht fand. »Also … das ist alles ein bisschen viel auf einmal! Ihr Vater war all die Jahre am Leben, und jetzt ist er gestorben? Und Sie haben Ihre Mutter die ganze Zeit für tot gehalten, während sie gesund und munter war. Das ist ja allerhand.«

»Ja, es war … ich war am Boden zerstört. Anders kann ich es nicht beschreiben.«

»Es tut mir so leid, Hallie! Ich wollte keine bösartigen Andeutungen machen oder das Andenken Ihres Vaters in den Schmutz ziehen. Was Sie in den letzten Wochen durchgemacht haben, wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Es ist nur so, dass wir die ganze Zeit geglaubt haben …«

»Danke, Mira. Aber ich weiß, was Sie geglaubt haben, und es ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein.«

»Wenn Sie meinen«, lenkte sie ein. »Aber wenn es wirklich nicht wahr sein sollte und er dieses arme Mädchen nicht getötet hat, warum ist er dann mit Ihnen geflohen?«

»Genau das muss ich herausfinden«, nickte ich bestätigend. »Wenn er den Mord nicht begangen hat und die Polizei ihn trotzdem verhaften wollte, weil alle Beweise gegen ihn sprachen, wäre das Grund genug zur Flucht gewesen. Aber vielleicht hingen seine Beweggründe ja gar nicht mit diesem Verbrechen zusammen!«

»Könnte eine andere Frau im Spiel gewesen sein?«, überlegte Mira.

»Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich«, erwiderte ich langsam. »Es gab nie irgendeine Frau in seinem Leben. Als ich auf der Highschool war, habe ich ihn immer dazu bringen wollen, mit den alleinstehenden Müttern meiner Freundinnen auszugehen, aber er hat stets abgelehnt. Er pflegte zu sagen, in seinem Leben hätte es eine einzige wahre Liebe für ihn gegeben, und das wäre genug für ihn.«

»Wenn das stimmt, warum hat er dann dieser ach so großen Liebe ihr Kind weggenommen?«, versetzte Mira eisig.

Ein Punkt für sie. Und plötzlich wusste ich ganz genau, was ich tun würde. »Nun, ich verfüge jetzt über die Zeit und die Mittel, das herauszufinden.« Entschlossen stand ich auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Mira, aber wären Sie so nett, anschließend gleich meine Rechnung fertig zu machen? Madlyns Haus gehört jetzt mir, und ich werde dort einziehen. Heute noch.«

Meine Wirtin zog die Brauen hoch, nickte aber. »Wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich nur an mich, Hallie. Ich möchte genauso dringend wie Sie wissen, was damals wirklich passiert ist.«

Ich umarmte sie fest. »Danke, Mira! Ich komme auf Ihr Angebot zurück, das verspreche ich.«

Sie nahm meine Hände und drückte sie. »Hören Sie zu, irgendjemand muss aber auch den Suttons diese Neuigkeit überbringen!«

Der Gedanke, den Eltern der toten Julie gegenübertreten zu müssen, löste in mir ein Schwindelgefühl aus. »Könnten Sie das nicht übernehmen, Mira? Ich meine, ich kenne diese Leute nicht einmal! Vielleicht sollten sie es besser von jemandem hören, der ihnen vertraut ist.«

Sie nickte ergeben. »Ich werde noch heute zu ihnen hinübergehen.«

Nachdem ich meine Rechnung bezahlt hatte, sorgte ich dafür, dass mein Gepäck zu Madlyns Haus gebracht wurde. Dann lief ich den Hügel zur Stadt hinunter, weil ich dringend etwas Bewegung brauchte. Nach dem gestrigen Regensturm war es ziemlich abgekühlt, aber das machte mir nichts aus. Die frische Luft auf meinem Gesicht fühlte sich gut an – wie ein feuchter Waschlappen auf einem nach einem Weinkrampf verquollenen Gesicht.

Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mir vorstellte, wie es auf Grand Manitou wohl im Sommer aussehen mochte, wenn es im Hafen von Fähren, Segelbooten und Jachten sicher nur so wimmelte, aber letztendlich konnte ich doch an nichts anderes denken, als an einen Vater und eine Tochter, die zusammen in ein neues Leben flohen, während die Eltern eines anderen Kindes unvorstellbares Leid ertragen mussten.

Die Stadt lag wie gestern schon vollkommen verlassen da. Sollte ich bei Will vorbeischauen? Oder in Jonahs Café? Oder doch zum Hafen vielleicht? Will setzte schließlich meinen Überlegungen ein Ende, indem er den Kopf aus der Tür seiner Kanzlei steckte.

»Hey!«, rief er mir zu. »Ich sah dich den Hügel hinunterkommen. Wie wäre es mit einem Kaffee?«

»Gern«, rief ich zurück, woraufhin er auf die Straße hinaustrat und die Tür hinter sich schloss.

»Wie hast du geschlafen?«, fragte er mich.

»Nicht gut.« Ich nahm meine Sonnenbrille ab, sodass er einen Blick auf die dunklen Schatten unter meinen Augen werfen konnte. »Ich habe einen fürchterlichen Morgen hinter mir. Ich habe Mira die Wahrheit gestanden und dafür einiges zu hören bekommen.«

»Das glaube ich dir gern.« Will bedachte mich mit einem breiten Grinsen, als er die Tür von Jonahs Café öffnete und wir ins Warme traten. »Du musst mir alles ganz genau erzählen. Aber sag mir erst, wie du deinen Caffè Latte trinkst.«

»Mit fettarmer Milch, einem Schuss Mandelsirup und ein wenig Kakaopulver«, meldete sich prompt Jonah zu Wort.

Ich blickte auf und sah ihn hinter der Theke stehen. »Ich mag Männer, die sich daran erinnern, wie ich meinen Kaffee trinke.«

Will sah erst den Cafébesitzer, dann mich an. »Verstehe ich das richtig? Ihr zwei kennt euch?«

»Ich war gestern schon mal hier«, erklärte ich rasch.

»Wie ist denn Ihre Besprechung mit diesem Clown verlaufen?« Jonah nickte in Wills Richtung, während er meinen Kaffee über die Theke schob.

»So gut, wie eine Besprechung mit einem Anwalt eben verlaufen kann«, grinste ich.

Jonah schmunzelte. »Einer der Typen, die gestern hier gesessen haben, hat euch beide zu Madlyn Cranes Haus fahren sehen.«

»Stimmt genau.« Ich holte tief Atem und fuhr fort: »Sie erfahren es ja sowieso: Das Haus gehört jetzt mir, Jonah. Madlyn hat es mir samt ihrem ganzen sonstigen Besitz in ihrem Testament vermacht.«

Jonah blinzelte mich einen Moment lang an. »Ich wusste es doch!«, entfuhr es ihm dann, wobei er mit der Hand auf die Theke schlug. »Ich habe die Ähnlichkeit sofort bemerkt, als Sie gestern zur Tür hereingekommen sind! Sie ist uns allen aufgefallen. Aber ich war mir nicht sicher …«

»Jetzt hör schon auf, die Dame so in die Mangel zu nehmen«, mischte sich Will ein. »Im Moment stürmt ohnehin zu viel auf sie ein, und noch ein Kreuzverhör übersteht sie heute Morgen nicht.«

Jonah sah ihn schief an. »Was soll das denn heißen, ›noch ein Kreuzverhör‹?«

»Sie wohnt im Manitou Inn«, lächelte Will, woraufhin ein verstehender Ausdruck über das Gesicht seines Gegenübers huschte. Scheinbar hatte Mira auf der ganzen Insel den Ruf, ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen.

»Gut, genug geschwatzt«, gab Jonah nach. »Dann will ich euch nicht länger aufhalten. Setzt euch und trinkt in Ruhe euren Kaffee.«

Wir ließen uns in zwei Lehnstühlen am Feuer nieder, und ich berichtete Will mit gedämpfter Stimme von meiner Auseinandersetzung mit Mira, meinem Entschluss, in das Haus meiner Mutter zu ziehen und meinem Drang, herauszufinden, was damals dort wirklich geschehen war.

»Dieser rätselhafte Mord … den kann ich nicht einfach so im Raum stehen lassen. Ich muss den Namen meines Vaters wieder reinwaschen!« Ich hielt inne. »Aber da ist noch etwas anderes, dem ich nachgehen will. Etwas, das sich wie ein roter Faden durch diese ganze seltsame Geschichte zieht.«

»Und zwar?«

»Ich weiß nicht das Geringste über meine Familie, meine Vorfahren. Mein Urgroßvater hat das Haus gebaut, das jetzt mir gehört, und ich habe keine Ahnung, wer er oder all die anderen Menschen waren, die im Laufe der Jahre dort gewohnt haben. Ich möchte mehr über sie erfahren. Ich möchte wissen, was für ein Blut da in meinen Adern fließt und was für ein Erbe ich antrete. Kurz gesagt, ich will alles ans Licht bringen – alles Gute, Schlechte und Hässliche.«

Will lächelte amüsiert. »Gut und schlecht lasse ich gelten, aber von hässlich kann man im Zusammenhang mit dir ganz bestimmt nicht sprechen.«

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. »Ich meine es ernst, Will.«

»Okay, ganz im Ernst: Ich glaube, du wirst auf ein bisschen von alledem stoßen.« Will lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. »Das ist fast immer so, wenn man in alten Familiengeschichten herumstöbert. Und ich denke, du wirst alles, wonach du suchst, in Madlyns Haus finden. Irgendwo stapeln sich bestimmt alte Fotoalben und Kartons mit Andenken und sonstiger Kram, der dir dabei nützlich sein könnte.«

Ich nickte. »Henry hat schon mein Gepäck hinübergebracht. Sobald ich mich dort eingerichtet habe, werde ich mich wahrscheinlich als Erstes mit Julie Suttons geheimnisvollem Tod beschäftigen. Meinst du, bei der Polizei gibt es noch Akten zu diesem Fall?« Nicht, dass ich die geringste Ahnung hatte, was ich mit diesen hätte anfangen sollen, falls ich überhaupt die Erlaubnis bekam, sie einzusehen. Die Chance, wirklich neue Informationen zutage zu fördern, war gleich null. Trotzdem. Es wäre ein Anfang.

»In irgendeinem staubigen Archiv werden sicher noch welche vor sich hin schimmeln.« Will leerte seine Kaffeetasse mit einem leisen Schlürfen. »Tut mir leid, Hallie, ich muss jetzt in die Kanzlei zurück. Gehen wir nun heute Abend zusammen essen?«

Einerseits reizte mich die Vorstellung, den ganzen Abend allein in Madlyns Haus zu verbringen, überhaupt nicht. Aber andererseits wollte ich auch nicht, dass Will auf falsche Gedanken kam.

Da ihm mein Zögern nicht entging, legte er nach: »Auf der anderen Seite der Insel gibt es wirklich ein fantastisches Restaurant …«

»Klingt gut«, gab ich nach. Was konnte bei einem gemeinsamen Essen schon groß passieren? Als ich nach meiner Tasche griff und mich zum Gehen wandte, hielt Jonah mich plötzlich zurück. »Habe ich eben richtig gehört? Sie wollen eine Weile bleiben?«

»Das habe ich vor.« Ich lächelte breit. »Ich ziehe heute in Madlyns Haus um.«

Jonah warf mir eine Tüte Kaffeebohnen zu. »Dann können Sie die hier gebrauchen! Madlyn Crane war nämlich Teetrinkerin.«

Ich fing die Tüte dankbar auf. »Vielleicht besuchen Sie mich ja bald mal und helfen mir, diesen Kaffee zu vernichten.«

»Wäre mir ein Vergnügen«, erwiderte er schlagfertig.

Will warf ihm einen nicht gerade freundlichen Blick zu, ehe wir auf die Straße hinaustraten. »Ich würde dich ja selbst zum Haus hochfahren, aber ich muss in ein paar Minuten einige wichtige Telefongespräche führen, und die können einige Zeit in Anspruch nehmen.« Er sah auf seine Uhr. »Ich rufe schnell Henry an, damit er dich hinbringt. Er fährt ohnehin um diese Zeit meist in die Stadt hinunter.«

Ich begleitete ihn zu seiner Kanzlei und wollte ihn gerade fragen, wann er mich abholen kommen würde, als ich auf einmal vertrautes Hufgeklapper vernahm.

»Henry! Du kommst ja wie gerufen!« Will winkte ihn zu uns herüber. Ich bemerkte, dass mein Gepäck oben auf der Kutsche festgezurrt war. »Die Dame möchte gern zum Crane-Haus.«

Henry zügelte sein Pferd und nickte stumm, und Will streckte mir eine Hand hin, um mir beim Einsteigen behilflich zu sein. »Ich komme um sechs bei dir vorbei. Ist dir das recht?«

»Prima.« Ich lächelte ihn an, und als ich in der Kutsche Platz genommen hatte, fuhr Henry los, machte aber ein paar Minuten später schon wieder Halt und sprang vom Bock. Dann steckte er den Kopf durch das Fenster. »Sie müssen doch sicherlich noch ein paar Lebensmittel einkaufen. Schauen Sie, in diesem Supermarkt bekommen Sie alles, was Sie brauchen. Ich warte hier auf Sie.«

Der Gedanke, mich mit Vorräten einzudecken, war mir überhaupt noch nicht gekommen. »Dankeschön! Es dauert auch bestimmt nicht lange, Henry«, versicherte ich dem Kutscher, bevor ich in dem kleinen Geschäft verschwand.

Was ich eigentlich brauchte, wusste ich selbst nicht so genau. Joghurt, Eier und etwas Obst. Erdnussbutter und Muffins. Milch. Dann begab ich mich in die Delikatessenabteilung und legte Truthahnbrustscheiben, Käse und Tortillas in meinen Einkaufswagen, gefolgt von einer Tüte Salat, Blauschimmelkäsedressing, ein paar Frikadellen für Hamburger, Brötchen und ein paar kalorienarmen Pizzen. Dazu Chips und Zwiebeldip. Was soll’s, beruhigte ich mein schlechtes Gewissen, schließlich stehe ich unter Stress. Endlich noch vier Flaschen Wein, und ich hatte erst mal das Notwendigste beisammen.

Eine Hand, die an meinem Ärmel zupfte, veranlasste mich, erschrocken herumzufahren. Eine Frau Anfang Siebzig mit lockigem grauem Haar und freundlichen braunen Augen stand vor mir.

»Stimmt das wirklich?«, fragte sie.

»Entschuldigung, ich weiß nicht genau, was Sie meinen«, erwiderte ich ruhig. »Aber falls Sie fragen, ob ich wirklich die Tochter von Noah und Madlyn Crane bin, dann lautet die Antwort ja. Ich heiße Hallie James.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. Die Freundlichkeit in ihren Augen wich schwelendem Zorn. »Ach ja? Sagen Sie doch mal Halcyon, wie ist denn Ihr Leben so während der letzten dreißig Jahre verlaufen?«

Der Verkäufer hinter der Wurst- und Käsetheke blickte auf. »Alles in Ordnung, Mrs. Sutton?«

Natürlich. Ich biss mir auf die Lippe und wappnete mich für das, was nun kommen würde. »Das tut mir alles sehr leid, Mrs. Sutton«, stammelte ich. »Aber …«

»Aber was?«, schnitt sie mir das Wort ab. »Was könnten ausgerechnet Sie mir wohl zu sagen haben?«

Ich hatte eigentlich vorgehabt, ihr klarzumachen, dass mein Vater ihre Tochter nicht umgebracht hatte. Aber angesichts dieser alten Frau, in deren Augen Tränen des Zorns und der Trauer um ihre lange verstorbene Tochter schimmerten, fand ich keine Worte.

»Hatte meine Tochter Angst, als Ihr Vater versuchte, sie zu erwürgen, was denken Sie? Hat sie nach mir geschrien, als er sie aus dem Fenster stieß?« Mit einer knochigen Hand umklammerte sie meinen Arm.

Ich blickte Hilfe suchend den Gang entlang, aber es war niemand zu sehen. »Mrs. Sutton, ich kann mich an rein gar nichts erinnern, was damals passiert ist«, entgegnete ich rasch, wobei ich vergeblich versuchte, mich aus ihrem Griff zu lösen. »Ich habe gestern zum ersten Mal überhaupt vom Tod Ihrer Tochter gehört! Und genau genommen habe ich erst vor einigen Wochen zum ersten Mal von dieser Insel und meinen Kindheitsjahren hier erfahren. Ich habe mein ganzes Leben lang geglaubt, meine Mutter wäre in Seattle gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Mehr weiß ich wirklich nicht.« All das stieß ich in einem Atemzug hervor, in der Hoffnung, sie würde begreifen, dass nicht ich für ihren Verlust verantwortlich war.

»Das ist mir doch egal!«, schleuderte sie mir entgegen. Ihre Stimme wurde schrill. »Ich weiß nur, dass meine Tochter nie in die Tanzstunde gegangen ist! Sie hatte nie einen Freund! Sie besuchte niemals einen Abschlussball in der Schule! Sie hat sich nie verliebt und nie geheiratet! Sie hatte nie Kinder! Und die ganze Zeit über waren Sie am Leben und wurden von dem Mann verhätschelt und verwöhnt, der meine Julie getötet hat!« Sie verstärkte den Griff um meinen Arm, und ein wildes Funkeln trat in ihre Augen.

Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Die Frau schäumte vor Wut, niemand konnte sagen, wozu sie in diesem Zustand fähig war. Endlich gelang es mir, mich mit einem Ruck von ihr loszureißen. Ich ließ meinen Einkaufswagen im Stich und rannte aus dem kleinen Supermarkt, hörte aber noch, wie sie mir hinterherkreischte: »Wie kannst du es bloß wagen, hierher zurückzukommen? Wie nur?!«

»Danke, dass Sie gewartet haben«, keuchte ich, als ich, nach dieser Begegnung am ganzen Leib zitternd, in die Kutsche zurückkletterte.

»Gern geschehen«, nickte Henry, schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd an. Er fragte nicht, wo meine Einkäufe waren, und stellte Gott sei Dank während der gesamten Fahrt auch sonst keine Fragen. Als wir vor dem Haus meiner Mutter hielten, lud er mein Gepäck ab und trug es zur Haustür.

»Sie war ein guter Mensch, unsere Madlyn. Ihr Vater und ich waren befreundet. Er war der hiesige Tierarzt, wussten Sie das?«

Ich lächelte zögernd in Henrys mitfühlendes Gesicht. »Nein. Ich fürchte, ich weiß überhaupt nicht viel über meine Familie.«

»Ich habe da so ein Gefühl, dass sich das bald ändern wird«, meinte Henry. »Es grenzt an ein Wunder, dass Sie wieder hier sind. Madlyn hat jeden Tag ihres Lebens um Sie getrauert. Es ist eine Schande, dass sie nicht mehr miterleben konnte, was für eine bezaubernde Frau Sie geworden sind.«

Bei diesen Worten stiegen mir die Tränen in die Augen, und ich musste verlegen zwinkernd den Kopf abwenden. Endlich schien sich mal jemand über meine Rückkehr zu freuen! »Danke«, murmelte ich leise, während ich nach den Schlüsseln suchte.

»Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich einfach an.« Henry tätschelte meinen Arm. »Ich wohne ganz in der Nähe.«

»Dieses Angebot werden Sie noch bereuen!«, neckte ich ihn.

»Ganz bestimmt nicht.«

Ich winkte ihm von der Veranda aus nach und ging dann, meine Taschen vor mir herschiebend, hinein. Zum Teufel mit den Suttons – ich war zu Hause.