15

Ich schreckte mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. Jemand hatte mein Gesicht berührt, daran gab es keinen Zweifel. Iris?, dachte ich benommen. Nein, das konnte nicht sein. Warum sollte Iris mitten in der Nacht in meinem Haus herumschleichen? Trotzdem blickte ich mich, nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nach allen Seiten um und erwartete fast, ihr aschfahles Gesicht neben meinem Bett schweben zu sehen.

Dann schielte ich zu meinem Wecker. Viertel nach drei. Ich schüttelte über mich selbst verärgert den Kopf. Natürlich lag Iris zu dieser nächtlichen Stunde fest schlafend in ihrem Bett!

Ich wollte gerade die Augen schließen und wieder eindösen, als mir einfiel, dass ich dasselbe behutsame Streicheln bereits einige Nächte zuvor im Manitou Inn zu spüren gemeint hatte. Befand sich dieselbe Person – oder dasselbe Wesen – jetzt hier bei mir im Zimmer?

Ich setzte mich im Bett auf, knipste die Nachttischlampe an und sah mich erneut um. Soweit ich es beurteilen konnte, war alles so wie immer. Da lag mein Pullover, den ich über den Stuhl geworfen hatte, dort das Buch, in dem ich vor dem Einschlafen gelesen hatte. Kein Monster lauerte unter dem Bett, kein Gespenst schwebte in den Ecken des Raumes. Trotzdem konnte es nichts schaden, meine Umgebung etwas genauer zu inspizieren. Ich schwang die Beine über die Bettkante, schlüpfte in meine Slipper und tappte in das Wohnzimmer hinüber. Dort knipste ich gleichfalls das Licht an und stellte fest, dass auch hier alles so war, wie ich es zurückgelassen hatte: Die Decke lag auf dem Sessel, mein Wasserglas stand auf dem Couchtisch.

Und im Bad? Ich warf einen Blick in die Wanne und steckte den Kopf in die Duschkabine, sah aber nur eine einsame Spinne auf den Abfluss zukrabbeln. Ich überlegte, ob ich die Schlafzimmertür öffnen und sicherheitshalber auch noch den Flur überprüfen sollte, entschied mich aber dagegen. Besser, ich blieb hier, in meiner sicheren Festung.

Endlich legte ich mich wieder auf mein Bett, mittlerweile überzeugt, alles nur geträumt zu haben. Doch gerade als ich die Augen schloss, setzte der Gesang ein.

Komm, liebe Freundin, spiel mit mir.

Meine Lider flogen auf. Hatte ich wirklich gehört, was ich da gerade zu hören gemeint hatte? Es war dasselbe Lied in derselben seltsamen Mollfassung, das vor ein paar Tagen auf der verlassenen Straße des Städtchens erklungen war. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Rippen, als ich all meinen Mut zusammennahm und mich noch einmal im Raum umsah und dabei inbrünstig hoffte, niemanden dieses Lied singend im Dunkeln zu entdecken. Aber zu meiner großen Erleichterung war ich allein. Ich schloss die Augen und stieß zischend den Atem aus.

Drei Puppen hast du stets bei dir.

O nein! Schluss mit diesem Gesinge! Ich konnte es nicht mehr hören! Dem Klang nach schien das Lied aus einiger Entfernung zu kommen – von draußen. Großer Gott, stand da etwa jemand vor meinem Fenster und sang? Mitten in der Nacht? Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis der Sänger, oder die Sängerin, einen Weg fand, ins Haus zu gelangen. Und ich fragte mich, wie viele Schritte ich bis zur Küche brauchen würde, wo ich mich wenigstens notdürftig mit einem Messer bewaffnen konnte.

Wir steigen in den Apfelbaum.

Einen Teufel werd ich tun, dachte ich ergrimmt. Ich schaltete die Nachttischlampe aus, fasste mir abermals ein Herz und trat zum Fenster. Der Mond warf einen hellen, silbrigen Schein über die Gärten und das Wasser. Hunderte von Sternen funkelten am Himmel, über den kleine, durchscheinende Wölkchen hinwegzogen. Die kahlen Bäume standen schwarz und bedrohlich auf der Klippe Wache.

Keine Menschenseele war zu sehen. Nur Bäume und Felsen und der See – so wie es sein sollte. Ich wollte gerade einen neuerlichen erleichterten Seufzer ausstoßen, als das Lied seinen Fortgang nahm.

Dort oben kann uns keiner schau’n.

Zunehmend nervös kniff ich die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und suchte das Gelände unter mir nach dem ungebetenen Störenfried ab.

Hinter einem knorrigen Ast sah ich dann etwas in der Luft schweben. Vom Wind getragen tanzte und drehte es sich im Dunkeln. Seine weiße Oberfläche schimmerte im Mondlicht. Es war ein einzelnes Satinband.

Im selben Moment, in dem ich es sah, schien die Luft aus meinen Lungen zu entweichen wie aus einem angestochenen Ballon. Ich ließ mich auf die Bank in der Fensternische sinken. Mein Herz begann erneut wild zu hämmern, während mir tausend wirre Gedanken zugleich durch den Kopf schossen.

Und dann trat eine Gestalt hinter dem Baum hervor. Ein kleines Mädchen mit langen, blonden Zöpfen. An einem von ihnen fehlte das Schleifenband. Die Kleine blickte direkt zu mir hoch und lächelte.

Ich wagte nicht, mich zu rühren; ich konnte nicht glauben, was ich da sah: Ein kleines Mädchen im meinem Garten, mitten in der Nacht! Den Blick fest auf ihr lächelndes Gesicht geheftet, beobachtete ich, wie sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegten sich, und ich hörte eine leise Stimme, die mir so deutlich ins Ohr flüsterte, als stünde die Sprecherin direkt neben mir.

Dann wissen alle, groß und klein,

wir werden immer Freunde sein!

Ich gab einen Laut von mir, der aus meinem tiefsten Inneren zu kommen schien, ein so schauerliches, Furcht einflößendes Geräusch, das jedem, der sich in Hörweite befunden hätte, das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen. Nachdem ich haltlos aufgekreischt hatte, sprang ich auf und wirbelte herum, um mich zu vergewissern, dass nicht auch noch eine Spukerscheinung hinter mir lauerte. Tief durchatmend redete ich mir unaufhörlich ein, dass mir meine Fantasie gerade nur einen Streich spielte. Dann rannte ich quer durch den Raum und knipste das Deckenlicht an.

Im nächsten Augenblick war es taghell im Zimmer. Ich schlich zu den Fenstern hinüber und schloss nacheinander sämtliche Läden. Wenn das unheimliche Geschöpf noch immer dort draußen war, konnte ich es wenigstens nicht mehr sehen – und es mich auch nicht.

Dann wusste ich nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Die Polizei anrufen? Aber was konnte ich den Beamten schon erzählen? Dass mich ein kleines, mit einem Zopfband spielendes Mädchen in Todesangst versetzt hatte? Dass ich einen Geist gesehen hatte? Ich würde doch wie eine Idiotin dastehen!

Ich erwog, Will, Jonah oder Mira anzurufen, vermutete aber, dass keiner der drei sonderlich begeistert davon gewesen wäre, um drei Uhr morgens ohne einen triftigen Grund aus dem Schlaf gerissen zu werden. Und ich wollte die zaghafte Freundschaft, die sich zwischen mir und den drei Inselbewohnern anzubahnen begonnen hatte, nicht durch einen hysterischen Anruf mitten in der Nacht gefährden. Ich hatte Mira ja bereits durch meinen einen nächtlichen Ausbruch in der Pension erschreckt und auch vor Jonah eine filmreife Vorstellung von Verfolgungswahn bezüglich des Mannes in der Kutsche neulich nachts hingelegt. Nicht mehr lange, und ich würde überall als die Verrückte gelten, die sich einbildete, jedermann wäre hinter ihr her. Trotz meiner Angst wollte ich derartigen Gerüchten weiß Gott nicht weiteren Nährstoff liefern. Was hieß, dass ich ganz allein auf mich gestellt war.

Am ganzen Körper zitternd kroch ich ins Bett zurück und griff nach der Fernbedienung des Fernsehers. Ich zappte mich durch die Kanäle, bis ich auf die Wiederholung einer alten Krimiserie stieß, von der ich früher keine Folge verpasst hatte. Sehr schön.

Als diese eine halbe Stunde später zu Ende war, schaltete ich erneut von Kanal zu Kanal und sah mir den nächstbesten Film an. Der gerade über den Bildschirm flimmernden Szene haftete etwas Vertrautes, Tröstliches an, weshalb ich hier wohl unbewusst hängengeblieben war: blauer Himmel, auf einer Leine flatternde Wäsche, ein Kind, das sich vergnügt im grünen Gras herumrollte.

Doch plötzlich krümmte sich die Kleine, als leide sie unter starken Schmerzen. »Aua!«, quiekte sie. »Hör auf damit!« Sie sprang auf und lief von der Wäscheleine fort. »Lass mich in Ruhe!« Mit einem Aufschrei stürzte sie rücklings ins Gras, als sei sie gestoßen worden. »Hör auf! Ich mag dich nicht!«

»Na, Mausezahn«, ertönte plötzlich eine Stimme, und ein Mann kam ins Bild. »Was hat mein Mädchen denn?« Er schwang das Kind auf seinen Arm und tröstete es. »Jetzt ist doch alles wieder gut! Jetzt bin ich ja da.«

Als die beiden davongingen, spähte das Mädchen noch einmal über die Schulter des Mannes und streckte die Zunge hinaus. Die Kamera schwenkte zum Objekt der Verachtung des Kindes. Ebenfalls ein kleines Mädchen, weiß gekleidet, mit langen, mit weißen Bändern gebundenen Zöpfen …

Mitten in meinem Aufschrei begriff ich, dass ich gerade aufwachte. Anscheinend war ich eingeschlafen und hatte von dem Mädchen geträumt, das ich vorhin vor meinem Fenster gesehen hatte.

Nachdem ich mir die Augen gerieben hatte, fiel mein Blick auf den Wecker. Fast halb neun. Die helle Morgensonne schien mir ins Gesicht.

Ich blieb noch einen Moment lang liegen und überlegte, ob ich aufstehen oder weiterschlafen sollte, doch dann ließ mich eine plötzlich aufflammende Erkenntnis kerzengerade im Bett hochschießen. Die Fenster! Gestern Abend hatte ich die Läden doch geschlossen, da war ich mir ganz sicher! Jetzt standen sie offen. Und sowohl der Fernseher als auch das Licht waren ausgeschaltet.

In meine Slipper schlüpfend sprang ich aus dem Bett, öffnete zögernd die Schlafzimmertür und spähte in den Flur hinaus, bevor ich das Zimmer verließ und die Hintertreppe zur Küche hinunterstieg. Zu meiner Verwunderung lief dort bereits die Kaffeemaschine. Auf der Theke stand ein Korb mit frischgebackenen Muffins, an meinem Platz am Küchentisch Joghurt und eine Schale mit Obst.

Iris natürlich. Hatte sie meine Fensterläden geöffnet und den Fernseher ausgeschaltet? Eine andere Erklärung gab es ja offensichtlich nicht. Da ich sie nirgendwo entdecken konnte, rief ich laut ihren Namen. So unheimlich sie auch manchmal wirkte, bot sie mir zumindest menschliche Gesellschaft, die ich nach dieser Nacht dringend gebrauchen konnte. Aber Iris antwortete nicht und ließ sich auch nicht blicken. Anscheinend hatte sie Kaffee und Frühstück gemacht und war dann wieder gegangen. Ich hoffe doch stark, dass sie das getan hatte und nicht jemand anders. Mit zitternden Händen goss ich mir etwas Kaffee ein und verfolgte dann die Morgennachrichten im Fernsehen. Dies war mein Haus, meine Küche, mein Kaffee. Kein Geist würde mich von hier vertreiben!

Mein Vater hatte mich gelehrt, rational und pragmatisch zu denken, aber mit Logik ließ sich die Anwesenheit eines kleinen Mädchens in einem weißen Kleid, das mitten in der Nacht vor meinem Fenster stand und mir ein seltsames Kinderlied ins Ohr sang, nicht erklären. Entweder trieb da jemand einen üblen Schabernack mit mir – aber wer? Und warum? – oder ich hatte es tatsächlich mit einem Geist zu tun. Iris war der einzige noch lebende Mensch, der mir sagen konnte, wie die Drillinge ausgesehen hatten, aber sie sollte erst Ende der Woche wiederkommen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie erreichen konnte. Andererseits war sie ja heute auch im Haus gewesen und hatte Frühstück gemacht. Vielleicht würde sie das morgen wieder tun?

Ich trank meinen Kaffee aus und ging ins Wohnzimmer hinüber. Irgendwo musste Madlyn doch Fotos von ihren Verwandten und Vorfahren aufbewahrt haben, schließlich lebten die Hills seit Generationen in diesem Haus. Also gab es mit Sicherheit auch ein paar alte Aufnahmen der Familie.

Ich suchte eine Weile herum und stieß dann tatsächlich auf ein paar Alben, die aber hauptsächlich Fotos jüngeren Datums enthielten. Madlyn und Freunde, Madlyn und Prominente, Madlyn und Politiker. Eine Weile blätterte ich diese durch, fasziniert davon, einen Einblick in die Welt meiner Mutter zu erhalten. Ich entdeckte sogar einen Schnappschuss von ihr, der sie Arm in Arm mit einem jungen Will zeigte. Seine hochaufgeschossene, schlaksige Gestalt wies ihn als ungefähr vierzehn aus. Will.

Tief in meinem Inneren krampfte sich etwas zusammen. Was mochte er wohl von mir denken, seitdem ich vor seinem Kuss wie in Panik zurückgescheut war? Ich wollte es mir auf keinen Fall mit ihm verderben; ich brauchte auf dieser Insel jeden Freund, den ich kriegen konnte, aber nachdem ich das, was er vermutlich für ein Date gehalten hatte, so abrupt beendet hatte, musste ich wohl den ersten Schritt tun, um die zwischen uns entstandene Kluft zu überbrücken. Vielleicht war er ja schon vom Festland zurück, und wir könnten heute zusammen zu Mittag essen? Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Kanzlei.

»Hallo, Ms. Crane«, meldete er sich zu meiner Überraschung. Offenbar hatte er einen digitalen Anschluss und meine Nummer, also eigentlich Madlyns, gespeichert.

»Hast du keine Sekretärin?«, lachte ich. Allein der Klang seiner Stimme stimmte mich geradezu lächerlich fröhlich. Es tat gut, nach dieser fürchterlichen Nacht mit jemandem sprechen zu können.

»Die Stelle ist noch frei, falls du Interesse hast«, gab er zurück. »Aber du bist ja neuerdings eine Dame mit viel Zeit zu ihrer Verfügung.«

»Darf ich dir mitteilen, dass ich heute Morgen auch schon hart gearbeitet habe?«, tadelte ich ihn gespielt gekränkt.

»Hast du das?«

»Allerdings! Interessiert es dich vielleicht auch, womit ich mich beschäftigt habe?«

»Ich sterbe vor Neugier.«

»Hast du Lust mit mir Mittagessen zu gehen?«

»Lass mich kurz einen Blick in meinen Kalender werfen.« Ich hörte Papiergeraschel und dann: »Du hast Glück. Durch einen unglaublichen Zufall habe ich heute noch nichts für die Mittagspause ausgemacht. Was übrigens auch die nächsten fünf Monate lang auf jeden einzelnen Tag zutrifft – mit Ausnahme eines Zahnarzttermins im Januar, den ich ohnehin abzusagen beabsichtige.«

»Na, da bin ich aber froh, dass du mich noch dazwischenquetschen kannst.«

»Wo möchtest du denn gerne essen? Wir haben nämlich genau zwei Möglichkeiten.«

»Eigentlich dachte ich, du könntest zu mir rüberkommen«, schlug ich vor. »An einem so schönen Tag bietet es sich doch an, irgendwo auf dem Anwesen ein Picknick zu machen.« Ich hatte noch kaltes Huhn, Salat, den Rest von Iris’ Brot, Käse, Obst und Wein da. Und den Picknickkorb von Mira.

»Gute Idee.« Will klang ehrlich erfreut. »Ich halte kurz am Supermarkt und besorge uns ein paar Kleinigkeiten. Und ich kenne auf eurem Grundstück einen idealen Platz für ein Picknick. Du kennst ihn auch, aber du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr daran.«

»Wo soll das denn sein?« Ich zermarterte mir den Kopf, aber vergebens. Es herrschte blanke Leere.

»Ich werde dein Gedächtnis schon auffrischen, wenn ich da bin. Gegen zwölf, in Ordnung?«

»Das passt gut.« Ich sah auf die Uhr. Es war schon fast elf. Hastig legte ich auf, stürmte die Treppe hoch und sprang unter die Dusche.

Danach wickelte ich mich und mein Haar in zwei große Handtücher, lief zum Schrank und überlegte, was ich anziehen sollte. Endlich entschied ich mich für Jeans und einen cremefarbenen Strickpullover. Ich fand auch ein langes, buntes Tuch, das ich mir um den Hals schlang. Nachdem ich mein Haar geföhnt und etwas Make-up aufgelegt hatte, warf ich einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich das leise Murmeln des Fernsehers im Hintergrund hörte. Ich steckte den Kopf aus dem Bad, und richtig, es lief gerade irgendeine morgendliche Talkshow im TV. Außerdem brannten sämtliche Lichter. Und die Fensterläden waren geschlossen. So wie letzte Nacht. Aber als ich heute Morgen aufgewacht war, waren sowohl der Fernseher als auch das Licht ausgeschaltet und die Läden geöffnet gewesen. Oder etwa nicht?

Ich stand einen Moment lang fassungslos da. Irgendjemand erlaubte sich da einen bösen Scherz mit mir! Das war doch ein typischer Kinderstreich! Mitten in der Nacht hätte ich sicher vor Angst geschlottert, aber jetzt, im hellen Tageslicht, stieg einfach nur Wut in mir auf.

»Sehr komisch, Mädchen!«, rief ich in das leere Zimmer. »Falls ihr mir Angst einjagen wollt, strengt ihr euch umsonst an! Ich werde nur allmählich böse.«

Ich marschierte aus dem Schlafzimmer, schloss die Tür mit einem vernehmlichen Knall hinter mir und wollte gerade den Korridor hinuntergehen, blieb dann aber wie angewurzelt stehen, als ich leises Gekicher hörte – das aus meinem gerade verlassenen Zimmer kam.

Mir stockte der Atem. Vielleicht war ich doch nicht so mutig, wie ich angenommen hatte? Ich rannte die Treppe hinunter und in die Küche, ohne auch nur einen Blick über meine Schulter zu riskieren. Rasch suchte ich alles Notwendige für das Picknick zusammen, dann lungerte ich in der Nähe der Tür herum, bis ich Will endlich die Auffahrt heraufkommen sah.

Kurze Zeit später saßen wir zusammen, ließen uns kalten Hühnersalat schmecken und tranken Weißwein, während er erzählte, wie er die letzten Tage damit verbracht hatte, sich um die Probleme eines extrem anspruchsvollen und schwerreichen Klienten zu kümmern.

»Da fällt mir etwas ein, das ich dich fragen wollte«, warf ich ein. »Wie bist du eigentlich zum Festland hinübergekommen? Ich dachte, die Fähre würde erst Freitag wiederkommen?«

Will nickte. »Das tut sie auch. Zu dieser Jahreszeit kann man abgesehen von der Fähre nur mit einem Privatboot zwischen Insel und Festland hin und her pendeln, und genau das habe ich getan. Mein Klient hat mir seines geschickt.«

Ich gähnte – nicht, weil mich das Gespräch langweilte, sondern weil ich normalerweise tagsüber keinen Wein trank – und sah mich noch einmal um. Will hatte mich zu einer Stelle des Anwesens geführt, die ich bisher noch nie wahrgenommen hatte. Seit meiner Ankunft hatte ich allerdings auch nicht besonders viel von meiner näheren Umgebung erkundet, denn ich war zu sehr mit dem Haus beschäftigt gewesen. Zwischen den Beeten und den Baumgruppen gab es jedenfalls eine Lichtung, hoch oben auf der Klippe mit Blick auf den See, zu der mich Will geführt hatte. Hier bot sich uns eine andere Aussicht auf das Wasser als vom Haus aus. Wir konnten meilenweit über die Küstenlinie hinausblicken.

Ich hatte zuerst eine Plastikplane auf dem Boden ausgebreitet, darüber eine dicke Decke gelegt und darüber schließlich das rotweiße Tischtuch, das Mira mir geschenkt hatte. Es war ein klarer Tag mit blauem Himmel, kühl genug, um eine Jacke anbehalten zu müssen, aber dennoch in der Sonne sehr angenehm. Die Hunde hatten sich neben uns auf der Klippe ausgestreckt und hielten ihre Nasen in die leichte Brise.

Nachdem Will von seinem Besuch auf dem Festland erzählt hatte, fragte er: »Und was hast du während der letzten Tage so getrieben?«

»Ehe ich dir das sage, habe ich meinerseits eine Frage«, begann ich, dabei grinste ich ihn über den Rand meines Weinglases ein wenig unsicher an. »Wie stehst du zum Thema Spuk?«

»Willst du wissen, ob ich an Gespenster glaube?«

»Nun … ja.«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.« Will nippte an seinem Wein. »Es gibt vieles zwischen Himmel und Erde, das sich mit Logik nicht erklären lässt. Ich will die Existenz von Geistern nicht von vorneherein ausschließen, aber ich selbst bin noch keinem begegnet, obwohl die Leute sagen, diese Insel würde nur so von ihnen wimmeln. Warum fragst du?«

Ich verwünschte mich schon jetzt dafür, das Thema überhaupt zur Sprache gebracht zu haben. Andererseits zerrten die gespenstischen Ereignisse, die sich in der letzten Zeit gehäuft hatten, zunehmend an meinen Nerven. Ich konnte sie einfach nicht länger als bloße Hirngespinste abtun, sondern musste mit irgendjemandem darüber reden.

»Seit ich auf diese Insel gekommen bin, stoßen mir seltsame Dinge zu«, begann ich zögernd. »Nein, eigentlich fing alles schon an, bevor ich herkam.«

Will setzte sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was denn für Dinge?«

Nachdem ich einen großen Schluck Wein getrunken hatte, erzählte ich ihm schließlich die ganze Geschichte. Ich berichtete ihm von den Vorfällen im Manitou Inn: von dem Ertrinkenden, den ich von meinem Fenster aus gesehen hatte, von dem Handabdruck an der Duschkabine und schließlich von der Vision des Mädchens, das sich über mich beugte, während ich gebadet hatte. Ich erzählte ihm von den Ohrringen, die an dem Abend, an dem wir das Restaurant auf der anderen Seite der Insel besucht hatten, verschwunden und wieder aufgetaucht waren. Und endlich kam ich auch auf das Mädchen vor meinem Fenster zu sprechen.

»Sie hat gesungen«, schloss ich. »Und willst du auch wissen, was?«

Er feixte. »I will always love you von Whitney Houston?«

Ich kann es nicht erklären. Vielleicht lag es an meiner Nervosität und meiner Scheu davor, Will von den unheimlichen Begebenheiten zu erzählen, vielleicht wollte ich die ganze Angelegenheit auch bewusst ins Lächerliche ziehen, aber die Vorstellung, dass das kleine Gespenstermädchen diese Schnulze geträllert haben könnte, erschien mir mit einem Mal so komisch, dass ich von einer jener nicht enden wollenden atemlosen Lachsalven geschüttelt wurde, bei denen man sich kaum beruhigen kann. Als ich endlich wieder nach Luft japsen konnte, stupste ich Will mit einem Fuß an. »Nein, das war es nicht

»Was denn dann?«

Ich setzte eine geheimnisvolle Miene auf und sang ihm leise die Mollmelodie ins Ohr: »Komm, liebe Freundin, spiel mit mir, drei Puppen hast du stets bei dir.«

»Uiuiui.« Will erschauerte. Auf seinen Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. »Das klingt ja wirklich gruselig. Aber bist du sicher, dass das Mädchen, das du gestern Nacht zu sehen geglaubt hast, wirklich da war? Kann es nicht sein, dass du geschlafen hast?«

»Ich bin mir fast hundertprozentig sicher«, gab ich zurück. »So, Herr Anwalt, und wie lautet nun Ihre sachliche Erklärung für all das, was mir in den letzten Tagen passiert ist?«

»Darauf kann ich dir leider keine Antwort geben.« Will seufzte. »Ich würde auch gern sagen, dass ich das kleine Mädchen kenne, das da letzte Nacht vor deinem Fenster sein Unwesen getrieben hat, oder dass die Kleine auf der ganzen Insel dafür bekannt ist, Unfug zu treiben und Neuankömmlinge zu erschrecken.«

»Aber das kannst du nicht, nicht wahr?«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Hallie, das kann ich nicht.«

»Ich weiß ja, es klingt verrückt, aber ich frage mich ständig, ob sie einer der toten Drillinge ist, von denen du mir erzählt hast! Ich habe inzwischen einiges über die Geschichte meiner Familie erfahren, und ich weiß, dass die Kinder hier, auf diesem Anwesen, in einem Schneesturm umkamen. Glaubst du …«

»Ich habe keine Ahnung, Hallie!«, unterbrach er mich. »Die einzige logische Erklärung, die mir einfällt, lautet, dass deine Fantasie mit dir durchgegangen ist. Wir haben auf der Fahrt zum Restaurant doch über die Drillinge gesprochen. Könnte das nicht der Auslöser gewesen sein? Vielleicht war alles nur ein Traum! Oder kannst du das mit absoluter Sicherheit verneinen?«

»Nun … nein«, gab ich langsam zu, doch dann fiel mir etwas ein. »Aber ich habe dasselbe Mädchen schon in der Pension gesehen. Bevor wir zu dem Restaurant gefahren sind und bevor ich überhaupt von den Drillingen wusste.«

Will nickte stumm.

»Und wie erklärst du dir, dass ich gestern Abend die Fensterläden geschlossen und das Licht und den Fernseher eingeschaltet habe, die Läden aber offen standen und Licht und Fernsehen aus waren, als ich heute Morgen aufgewacht bin?«

Er lächelte. »Das beweist doch erst recht, dass alles nur ein Traum war, oder?«

»Das könnte man meinen.« Meine Erregung wuchs. »Nur dass ich die Läden wieder geschlossen und Licht und Fernsehen eingeschaltet vorgefunden habe, als ich wenig später aus der Dusche kam!« Ich sah ihn erwartungsvoll an. Als er jedoch nichts darauf erwiderte, brach ich das Schweigen wieder. »Jetzt glaubst du sicher, ich hätte mir das Ganze eingebildet und überlegst, wie du dich möglichst unauffällig vor der Irren hier in Sicherheit bringen kannst, nicht wahr?«

Will lachte. »Nein, ganz und gar nicht! Ich überlege vielmehr, was zum Teufel da vor sich geht.«

»Es gibt doch nur eine Erklärung: Ich habe den Verstand verloren! Oder fällt dir eine andere ein?«

»Stimmt schon«, grinste er. »Ich schätze, deine lange unterdrückte Schizophrenie flackert gerade wieder auf. Hey, sind dir vielleicht deine Medikamente ausgegangen?«

Zur Strafe kniff ich ihn unsanft in den Arm. Wir mussten beide lachen, dann meinte er versöhnlich: »Okay, gehen wir einmal davon aus, dass ein echter Geist in deinem Haus herumspukt. Was willst du dann als Nächstes tun?«

»Das weiß ich auch nicht so genau«, bekannte ich. »Wenn es ein Film wäre, würde ich jetzt schreiend das Kino verlassen.«

Wir ließen uns beide auf den Rücken zurücksinken und blickten zum Himmel empor, der sich zunehmend grau verfärbte.

»Wie wird das alles weitergehen?«, fragte Will leise zu den Wolken hinauf.

Ich seufzte. »Wenn ich das nur wüsste.«