19

»Ich glaube, ich finde langsam heraus, weshalb mein Vater mich damals von hier fortgebracht hat«, sagte ich später an diesem Abend beim Essen zu Will.

Als er ein paar Stunden, nachdem Iris gegangen war, vor der Tür gestanden hatte, hatte ich mich sofort in seine Arme geworfen. Ich hatte den ganzen Nachmittag lang mit Angstzuständen kämpfen müssen, weil ich mutterseelenallein im Haus gewesen war. Die Geschichte von Hannah, Martine, den Drillingen und der armen Jane ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich kam mir vor, als wäre ich in einen irrealen Albtraum hineingezogen worden, unfähig, die Augen zu öffnen und aufzuwachen. Bis zu Wills Ankunft blieb ich in der Küche, da ich wenig Lust verspürte, irgendwo im Haus bösartigen kleinen Geistermädchen zu begegnen. Also beschäftigte ich mich damit, das Essen zuzubereiten. Die Hunde spürten meine innere Unruhe und hielten sich die ganze Zeit in meiner Nähe auf.

Und jetzt setzte ich Will eine Scheibe Fleischpastete vor und erzählte ihm alles, was ich heute gehört hatte – bis ins kleinste Detail.

»Eine unglaubliche Geschichte«, bemerkte Will kopfschüttelnd. »Ich frage mich nur, wie viel und ob überhaupt etwas davon der Wahrheit entspricht.«

Die Gabel, die ich gerade zum Mund führen wollte, verharrte mitten in der Luft in der Schwebe. »Glaubst du, Iris hat sich das alles ausgedacht? Warum hätte sie das tun sollen?«

»Ich behaupte ja nicht, sie hätte alles frei erfunden«, lenkte er ein. »Aber das alles ereignete sich doch vor sehr langer Zeit, als Iris selbst noch ein Kind war. Eine alte Hexe … Zaubersprüche … die Geister toter Kinder … Du musst doch zugeben, Hallie, dass das eher nach einer Spukgeschichte klingt. Dem Produkt der Fantasie eines Kindes.«

»Was ich nur zu gerne glauben würde, wenn ich die Mädchen nicht selbst gesehen hätte! Oder zumindest eines von ihnen.«

Will nickte. »Oder das, was du für eines der Mädchen gehalten hast.«

»Was ich für eines von ihnen ›gehalten habe‹?« Ich funkelte ihn wütend an. »Ich bin nicht übergeschnappt, Will, falls du das andeuten willst!«

»Das weiß ich ja«, räumte er ein. Dabei hob er die Hände, wie um meinen aufkeimenden Ärger abzuwehren. »Na schön, gehen wir einmal davon aus, dass alles, was Iris dir erzählt hat, die reine Wahrheit ist und sie nichts ausgeschmückt oder übertrieben hat. Und? Was bringt uns das?«

»Es könnte erklären, warum mein Vater mich damals von hier fortgebracht hat«, antwortete ich ihm. Will machte Anstalten, ungläubig den Kopf zu schütteln, doch ich schnitt ihm das Wort ab, ehe er seinen Einwänden verbal Ausdruck verleihen konnte. »Lass mich ausreden, Will! Was wäre denn, wenn mein Vater irgendwie von dieser Geschichte erfahren hat? Vielleicht hat er die drei ja selbst gesehen, so wie ich! Vielleicht …« Ich brach ab, hoffte, Will würde den Satz zu Ende führen. Er enttäuschte mich nicht.

»Also gut. Nehmen wir an, die Mädchen hätten dich bedroht«, spann er den Faden weiter. »Das wäre natürlich ein Grund für einen Vater, zu drastischen Maßnahmen zu greifen, um seine Tochter zu retten.«

»Allerdings.« Bei der Erwähnung meines Dads brannten Tränen in meinen Augen. Ich wünschte, er wäre jetzt hier, um mir eine logische Erklärung für seine Flucht vor so vielen Jahren zu liefern.

Will nahm meine Hand. »Hast du dich schon an irgendwelche Einzelheiten aus deiner Kindheit hier erinnert?«

Ich schüttelte den Kopf. »An gar nichts. Diese Zeit scheint wie ausgelöscht.«

»Genau das könnte etwas zu bedeuten haben«, mutmaßte er. »Ich erinnere mich nämlich noch gut an unsere Spiele als wir klein waren! Du nicht. Das deutet darauf hin, dass du vielleicht ein Trauma erlitten haben könntest. Dass du irgendetwas erlebt hast, das du unbedingt vergessen wolltest.«

Dieser Gedanke war mir auch schon gekommen, während ich vor Furcht schlotternd in der Küche auf Will gewartet hatte. Seltsamerweise war mir dieses Gefühl abgrundtiefer Angst aber vertraut vorgekommen, so als hätte es mich genau an diesem Ort schon einmal überkommen.

»An was erinnerst du dich denn noch? Was haben wir als Kinder so alles getrieben?«, fragte ich Will.

Mein Gegenüber lächelte, als er an unsere Kindheit zurückdachte. »Wir haben viel Spaß zusammen gehabt, haben auf dem Anwesen hier gespielt, Baumhäuser gebaut, sind schwimmen gegangen …«

»Hast du sie je gesehen? Die … die Mädchen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Soweit ich mich erinnere, verliefen unsere Kinderjahre ganz normal.«

Unser Gespräch war in einer Sackgasse angelangt. Weder ich noch Will wussten, was wir als Nächstes sagen sollten, also beschloss ich, das Thema zu wechseln.

»Ich war heute bei der Polizei«, teilte ich ihm mit.

Er kniff die Augen zusammen und musterte mich fragend. »Warum das denn?«

»Ich wollte einen Blick in die alten Akten über den Fall Sutton werfen.«

Will verspeiste das letzte Stück Pastete, dann schüttelte er den Kopf. »Lass mich raten: Du hast nichts erreicht.«

»Woher weißt du das?«

»Die Beamten würden dir doch niemals Einsicht in die Akten gewähren, Hallie! Das hätte ich dir gleich sagen können.«

Ich seufzte. »Aber welche Möglichkeit gibt es dann, mehr über das herauszufinden, was an jenem Tag geschehen ist? Ich bin der einzige noch lebende Mensch, der am Tatort war, und ich kann mich an nichts erinnern. Ich dachte, wenn ich diese Akten läse, würde sich meine Gedächtnisblockade vielleicht lösen.«

»Ich sagte ja auch, dir würden sie keine Einsicht gewähren.«

»Aber dir würden sie sie aushändigen?«

Will grinste wie ein verschmitzter Kobold. »Ich bin mir nicht sicher. Aber dies ist eine sehr kleine Stadt, und solche alten Akten werden hier sicher nicht gerade bewacht wie das Gold in Fort Knox. Ich werde mal sehen, was sich tun lässt …«