Ärzte und Krankenhäuser
Wenn Sie das Pech haben sollten, in den USA zu verunglücken oder zu erkranken, bleibt Ihnen als Trost wenigstens die große Wahrscheinlichkeit, in medizinisch hochqualifizierter Weise betreut zu werden. Zugegeben, wie anderswo in der Welt sind auch in Amerika die Spezialisten und die besten Krankenhäuser in den Großstädten, während die Ärzte in den ländlichen Gegenden dünn gesät sind. Mehr als anderswo wird dieser Nachteil in den Staaten aber durch die rasche Verfügbarkeit von Rettungsmitteln aller Art (Ambulanzen, Hubschrauber usw.) einigermaßen ausgeglichen.
Der typische amerikanische Arzt entspricht nicht dem (ohnedies längst im Aussterben begriffenen) europäischen Idealbild des selbstlosen, hochgebildeten Renaissancemenschen, dem nichts Menschliches fremd ist. Im allgemeinen handelt es sich eher um einen Pedanten, der dazu neigt, sich auf einem möglichst engen Gebiet möglichst vollkommen zu spezialisieren und der daher Breite des Wissens und Weite des geistigen Horizonts für oberflächlich und unseriös hält. Es versteht sich wohl von selbst, daß diese Bemerkungen unerhört – fast unerlaubt – verallgemeinern, aber es kann nicht geleugnet werden, daß die weltweite Tendenz zur Überspezialisierung in der Medizin und dem damit verbundenen Verlust des Menschlichen in den Vereinigten Staaten besonders ausgeprägt ist.
Aus Gründen der Fairneß soll daher gleich festgehalten werden, daß es in den USA bereits eine sehr starke Gegenströmung gegen diese Tendenz gibt, und daß viele medizinische Fakultäten bereits eine Spezialausbildung in Familienmedizin bieten (von der hier viel weiter verbreiteten Familienpsychotherapie ganz zu schweigen), die das Ideal des alten Hausarztes in moderner Form anstrebt. Und außerdem verdient Erwähnung, daß es den in Europa leider nicht ganz unbekannten Arzt, der seit dem Abschluß seines Studiums vor dreißig Jahren keine medizinische Fachzeitschrift mehr gelesen und keine medizinische Tagung mehr besucht hat, nicht gibt. In den meisten Staaten der USA muß der Arzt, wenn er um Erneuerung seiner Zulassung ansucht, den Nachweis erbringen, daß er sich einer bestimmten Form der ärztlichen Weiterausbildung unterzogen hat.
Allgemeine Krankenkassen im europäischen Sinne gibt es (noch) nicht, sondern nur Privatversicherungen. Für den Amerikareisenden bedeutet dies leider, daß er im Falle von Erkrankungen kaum auf öffentliche Hilfe hoffen kann und für seine Behandlungskosten selbst aufkommen muß. Natürlich läßt man auch einen zahlungsunfähigen Ausländer nicht verbluten oder sonstwie sterben; es sind für solche Fälle die County Hospitals (etwa Gemeindekrankenhäuser) zur Behandlung des Patienten verpflichtet – aber eine selbstverständliche, umfassende Behandlung wie etwa in Großbritannien darf man nicht erwarten. Wo Stadtverwaltungen ihren eigenen Polizeiambulanzdienst haben (wie z. B. in Philadelphia), empfiehlt es sich, sich von der Polizei einliefern zu lassen, da diese Patienten aufgenommen werden müssen.
Vergleiche mit europäischen Behandlungskosten sind natürlich von relativer Bedeutung. Ein Krankenbett in einem Zweibettzimmer kann derzeit (1998) über $ 700 täglich kosten, wozu dann noch die Kosten jeglicher eigentlicher Behandlungsleistung und das Arzthonorar kommen. Die Kosten eines Aufenthalts auf der Intensivstation belaufen sich je nach Schwere des Zustands auf $ 2500 und mehr pro Tag, viele Dienstleistungen selbst wiederum nicht inbegriffen. Kein Wunder, wenn selbst ein kleineres Malheur, wie etwa eine Blinddarmoperation, Tausende von Dollar kosten kann.
Die Höhe dieser Kosten ist zum Teil dadurch bedingt, daß es geradezu zu einem nationalen Sport geworden ist, bei Mißerfolg der Behandlung oder auch bei Unzufriedenheit astronomische Schadensersatzklagen mit Hilfe von eigens auf diese Art von Prozessen spezialisierten Rechtsanwälten (deren Honorar sich im Erfolgsfalle auf ein Drittel oder gar die Hälfte des zugesprochenen Schadens- und Schmerzensgelds beläuft) einzubringen. Ärzte wie Krankenhäuser versuchen, sich gegen diese dauernde Gefahr dadurch abzusichern, daß sie zur Vorsicht weit mehr Tests und Spezialuntersuchungen durchführen oder anordnen, als klinisch sinnvoll ist – womit sich die absurde Situation ergibt, daß diese Dienstleistungen nur dem Arzt und nicht dem Patienten von Vorteil sind und in letzterem nur noch den Eindruck verstärken, gewürzt worden zu sein. Die Prozesse gehen nicht selten ins Blitzblaue und erhöhen die Versicherungsprämien der Mediziner über jedes normale Maß hinaus. In Kalifornien zum Beispiel zahlt ein Chirurg oder ein Narkosearzt derzeit über $ 70000 im Jahr für seine sogenannte malpractice insurance.
Auch die Kosten der Zahnbehandlungen sind hoch, und es empfiehlt sich daher auf jeden Fall, von daheim aus krankenversichert die USA zu bereisen. Eine große Zahl von Medikamenten, die in Europa frei erhältlich sind, werden in den USA nur gegen Rezept abgegeben. Für Schlaf- und andere Beruhigungsmittel ist die Rezeptpflicht besonders streng. Die Apotheke (pharmacy) ist meist Teil eines drug store, jener schon erwähnten Kombination von Andenkenladen, Drogerie und Parfümerie, öffentlichem Telefon, Büffet, Fotogeschäft, Schreibwarenhandlung und noch so manchem anderen. Viele Medikamente existieren unter zweierlei Namen, dem sogenannten trade name (der Handelsbezeichnung, unter dem die Herstellerfirma das Medikament vertreibt) und dem generic name (dem der betreffenden chemischen Verbindung gegebenen wissenschaftlichen Namen), was zu enormen Preisunterschieden führen kann. Das Beruhigungsmittel Miltown (das europäische Equanil), zum Beispiel, kostet unter diesem trade name mehr als viermal soviel wie das chemisch identische, unter dem generic name Meprobamate erhältliche Präparat. Man spart sich also Geld, wenn man darauf besteht, daß einem der Arzt das Rezept auf den generic name und nicht auf die Handelsbezeichnung ausstellt, sofern das betreffende Medikament unter beiden Namen erhältlich ist.
Auch Brillen sind sozusagen rezeptpflichtig, d. h. der Optiker verlangt für die Anfertigung neuer Gläser oder auch nur für den Ersatz einer gebrochenen Linse eine vom Augenarzt oder einem sogenannten optometrist ausgestellte Verschreibung, doch werden auch im Ausland ausgestellte Brillenrezepte angenommen. Es ist daher empfehlenswert, eine die Brillenstärke ausweisende Verschreibung bei den Reisedokumenten zu haben.
Nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch beim Privatarzt erhält der Patient von der Ordinationsschwester, bevor er sich zur Untersuchung auszieht, einen knöchellangen, weißen, kurzärmeligen, rückwärts von oben bis unten offenen, schürzenartigen Kittel. Sein Zweck bleibt dem Ausländer zunächst unklar, bis es ihm schließlich dämmert, daß man damit seinem Schamgefühl entgegenkommen will. Die Wirkung dieses wohlgemeinten Brauchs ist aber interessanterweise – wenigstens für den Ausländer, der es gewohnt ist, dem Arzt nackt gegenüberzutreten – genau die umgekehrte, denn die Kutte macht das Selbstverständliche peinlich, statt absichtsgemäß Peinlichkeit zu vermeiden. Sobald ich sie nämlich trage, ist damit meine Nacktheit vor dem Arzt nicht mehr selbstverständlich: Ich weiß nun nicht mehr, wieviel ich von meinem Körper zeigen kann, ohne vom Arzt entweder für prüde oder für schamlos gehalten zu werden. Und in schwer zu erklärender Weise steht diese Kutte und ihre sich selbst widersprechende Wirkung symbolisch und stellvertretend für so manches in Amerika, dessen Zweck wohlgemeint, dessen Effekt aber gegenteilig ist.
Und damit sind wir beim unerschöpflichen Thema des Amerikaners selbst angelangt.