Die Städte

Als europäischer Kinobesucher nehmen Sie wahrscheinlich an, daß die in amerikanischen Filmen immer wieder zu sehende Hauptstraße entweder eine hundertmal verwendete Kulisse in Hollywood ist oder – wenn sie tatsächlich existieren sollte – sorgfältig in Hinblick auf maximale Schäbigkeit ausgewählt wurde.

Auf der Fahrt vom Flugplatz in die Stadt haben Sie nun aber ein Déjà- vu-Erlebnis nach dem anderen, denn irgendwie drängt sich Ihnen der Eindruck auf, das alles schon einmal gesehen zu haben. Der Grund ist schlicht der, daß die amerikanischen Städte tatsächlich von einer unerwarteten Einförmigkeit sind. Wie die römischen Legionäre ihre castra oder die spanischen conquistadores ihre lateinamerikanischen Siedlungen entwarfen auch die langsam nach Westen vordringenden Besiedler der Neuen Welt ihre Städte nach dem Muster, das dem praktischen Tatmenschen naheliegt: schachbrettartig, übersichtlich und den natürlichen Gegebenheiten nur dort geradezu feindselig Rechnung tragend, wo jene – wie ein Flußlauf oder eine Felswand – sich nicht dem Schachbrett unterwerfen lassen. Aber sogar dort, wo die Natur dies erzwingt, bleibt das Stadtbild selbst monoton das gleiche. Hierfür bietet das von den Amerikanern meist als Gegenbeweis verwendete San Francisco [7] ein gutes Beispiel: Die Stadt, hügelig wie Rom, liegt in zauberhafter Umarmung mit einer Bucht von romantischer Schönheit. Wäre es dieser Stadt vergönnt gewesen, sich wie eine ihrer mediterranen Schwestern langsam und spontan zu entwickeln, so würde sie tatsächlich zu den schönsten der Welt zählen. Doch selbst hier, fern von Prärie und Wüste, wurde das sture Quadratmuster über Hügel, Ufer und Wälder geworfen; unbekümmert um die Topographie laufen endlose, häßliche Straßen parallel und quer zueinander bergauf und bergab, manchmal so steil, daß man befürchtet, der Wagen werde die Steigung nicht schaffen oder sich auf der Talfahrt überschlagen.

Eine der wenigen Ausnahmen sind das Regierungsviertel von Washington, das sich an das städtebauliche Konzept des kaiserlichen Frankreichs anlehnt, oder das pulsierende, kreolische French Quarter (Vieux Carré) von New Orleans. Und Ausnahmen sind auch jene großzügigen (aber immer noch schachbrettartigen) Sanierungen ganzer Altstadtteile, das heißt ihre Ersetzung durch Stahlbetonpaläste und türme, wie sie heute zum internationalen Baustil gehören. Doch da diese Bauten meist von großen Parkplätzen umgeben sind, wirken sie merkwürdig zusammenhanglos. Die Regel aber sind die kilometerlangen, schnurgeraden Straßen, die sich in immer gleichen Abständen mit Nebenstraßen kreuzen und deren Hausnummern von Querstraße zu Querstraße jeweils um hundert zunehmen. Apropos Hausnummern: Wie meist auch in Europa sind die ungeraden Hausnummern, stadtauswärts gesehen, links und die geraden rechts. 1735 Broadway ist also ein Gebäude auf der linken Straßenseite des 17. Blocks vom Broadway. Das bedeutet aber nicht, daß es notwendigerweise von Nr. 1733 und Nr. 1737 flankiert ist; diese beiden Nummern gibt es unter Umständen überhaupt nicht, und es ist sogar möglich, daß auf dieser Broadway-Front nur drei Gebäude stehen, von denen das erste wahrscheinlich Nr. 1701 hat, das zweite eben unsere Nr. 1735 und das dritte zum Beispiel 1777. Ein andermal dagegen suchen Sie vielleicht nach der sonderbaren Adresse 6328 1/2 Pine Street. Es dürfte sich dabei um ein Hinterhaus handeln, das zwischen Nr. 6328 und Nr. 6330 hineingezwängt werden mußte. Im 63. Häuserblock einer Straße? – werden Sie fragen. Ja, und es gibt sogar viele Straßen, die über hundert Blocks weit reichen und daher viele Kilometer lang sind. Den Weltrekord scheint da allerdings Mexico City mit seiner Avenida de los Insurgentes zu halten, die die Stadt auf einer Länge von 28 Kilometern schnurgerade durchquert. Los Angeles dürfte in dieser Hinsicht Nummer zwei sein. Sie können dort Kilometer und Kilometer in derselben geraden Straße dahinfahren, begleitet von der bis zum Fluchtpunkt reichenden Prozession von Starkstro- mund Telefonmasten, die mehr als irgendein anderer Einzelfaktor zur Verschandelung des Stadtbilds beitragen, und flankiert zu beiden Seiten von einer nicht abreißenden Folge von Tankstellen, Hamburger- Buden, Reklameschildern, den Autoparks der Gebrauchtwagenhändler und ähnlichen Augenweiden. Zu diesen zählen auch die Folgen der selbst heute noch weitgehenden Stilfreiheit im Städtebau: Da gibt es Schuhgeschäfte in Form riesiger Stiefel, ein Fischrestaurant in Schiffsform, ein modernes Motel als Ritterburg mit Zinnen und Türmchen und dergleichen mehr, was der Amerikaner mit dem Ausdruck cute (etwa: originell) entschuldigt.

Und nun, wollen wir annehmen, taucht in der Ferne Ihr Hotel auf.