12. Kapitel

No the game never ends
When your whole world depends
On the turn of a friendly card

The turn of a friendly card,
The Alan Parsons Project

Back to business. Alles auf Anfang, alles ganz neu. Und doch alt. Ich wache um acht Uhr morgens auf und fühle mich so gut wie lange nicht mehr. Quatsch, wie noch nie! Mit einem mir völlig unbekannten Tatendrang – jedenfalls vor zehn oder elf Uhr abends – springe ich aus dem Bett. Um fünfzehn Uhr muß ich wieder zur Arbeit, und bis dahin habe ich noch eine ganze Menge vor. Innerhalb von zwanzig Minuten bin ich geduscht, gefönt und angezogen, laufe die Treppe hinunter zu meinem Fahrrad und düse los.

Keine zehn Minuten später stehe ich bei meinen Eltern vor der Tür. Ich gucke auf die Uhr, gerade mal halb neun. Aber ich klingele trotzdem, wie ich meine Mutter kenne, hat die samstags um diese Zeit schon den halben Haushalt fertig und nebenbei schon mal für die nächsten drei Wochen vorgekocht. Tatsächlich öffnet sie mir Sekunden nachdem ich geklingelt habe.

»Charlotta! Was willst du denn so früh hier?« Mit einem lauten »flatsch« zieht sie ihre gelben Gummihandschuhe aus und nimmt mich in den Arm. »Warum schläfst du am Wochenende nicht mal aus? Die Uni ist doch so anstrengend und …«

»Weil ich sonst immer ausschlafe«, schneide ich ihr das Wort ab, bevor sie mir wieder erzählt, wie schwer ich es sicher habe und mich damit möglicherweise von meinem Vorhaben abbringt. Gleichzeitig ärgere ich mich, daß ich jetzt so mit der Tür ins Haus falle, ich will ihr und meinem Vater das in aller Ruhe erklären.

»Wie bitte? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst …«

»Kann ich reinkommen?« frage ich, statt darauf einzugehen. »Ich muß mit dir und Papa reden.«

»Natürlich kannst du reinkommen.« Sie lacht. »Was für eine dumme Frage!« Mal sehen, wie lange sie gleich noch lacht.

Wir gehen durch den großen Flur ins Wohnzimmer, auf dem Weg ruft sie nach meinem Vater. Meine Mutter steuert auf die Sitzgruppe zu, aber ich lotse sie Richtung Eßtisch. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß es leichter für mich wird, wenn ich dabei auf einem Stuhl sitzen und den Rücken gerade machen kann. Ein paar Minuten später kommt mein Vater und gesellt sich zu uns.

»Morgen, Schatz«, begrüßt er mich und gibt mir ebenfalls einen Kuß. »Das ist eine seltene Überraschung, wir haben dich ja schon lange nicht …«

»Hört zu!« Lieber gleich anfangen, bevor ich es doch noch bleiben lasse und am Ende mit ein paar leckeren Lebensmitteln im Rucksack unverrichteter Dinge wieder abziehe. Meine Eltern sehen mich mit großen Augen an. So haben sie mich bisher noch nicht erlebt. Sie haben mich eigentlich überhaupt noch nie erlebt, denn so, wie ich eigentlich bin, kennen sie mich gar nicht. Ich höre mein Herz laut in den Ohren pochen und versuche, mich zu beruhigen. Du bist neunundzwanzig Jahre alt, Charly, da ist es wirklich egal, was deine Eltern von dir halten. Du bestimmst immer noch selbst, wie du über dich denkst. Leider bin ich nicht besonders gut darin, mich selbst zu überzeugen.

»Was hast du denn?« fragt meine Mutter vorsichtig. Sie scheint zu merken, daß ich kurz davor bin, einfach wieder aufzustehen und mit einem »Tschüß, war schön euch zu sehen!« die Flucht zu ergreifen.

»Ich muß euch was sagen.« So weit war ich eigentlich schon. Hätte gerade gut Verwendung für eine Souffleuse.

»Ja?« Meine Erzeuger sind ganz Ohr.

»Willst du einen Kaffee?« fragt meine Mutter. Ich will keinen Kaffee. Eher einen Cognac.

»Nein, danke«, lehne ich ab und versuche, mich wieder auf das zu konzentrieren, was ich sagen will.

»Könnt ihr euch noch an meine erste, große Jugendliebe erinnern?« Habe selbst keine Ahnung, in welche Richtung das hier gehen soll, der Satz war auf einmal einfach da in meinem Kopf und wollte raus. Mama und Papa nicken.

»Der Junge hieß Moritz, oder?« fragt mein Papa. Da bin ich platt. Hätte nicht gedacht, daß mein Vater sich so etwas gemerkt hat. Nicht einmal, daß er es überhaupt je gewußt hat. Als Tochter neigt man wohl dazu, den eigenen Vater zu unterschätzen, wenn es um die eigenen amourösen Verwicklungen geht.

»Genau.« Verdammt, ist das schwierig. »Jedenfalls ist mir etwas ganz Verrücktes passiert.«

»Kind!« Meine Mutter greift nach meiner Hand. »Wenn du schwanger bist, ist das überhaupt kein Problem, deswegen mußt du dir keine Sorgen machen.« Mein Vater nickt bekräftigend, obwohl es ihm sichtlich schwerfällt. Auch wenn er sich gut einen Namen merken kann – der Gedanke, daß seine Tochter mit irgendeinem dahergelaufenen Namen Sex haben könnte, paßt wahrscheinlich keinem Vater. Wahrscheinlich muß es nicht mal ein dahergelaufener Name sein, ein stinknormaler Name reicht schon.

»Ich bin nicht schwanger«, sage ich. Mein Vater atmet erleichtert auf. Meine Mutter guckt etwas enttäuscht. Ob sie im Geiste gerade schon niedliche kleine Kindersöckchen gestrickt hat? »Aber ob ihr’s glaubt oder nicht: Ich war verheiratet.«

»Was?«

»Nein, nicht so richtig«, füge ich schnell hinzu, »nur im Traum.« Papa fängt jetzt richtig an zu grinsen, Mama sieht noch enttäuschter aus. »Jetzt guck doch nicht so!« fahre ich sie an.

»Wie guck ich denn?«

»Enttäuscht.«

»Unsinn!« Meine Mutter macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich frage mich nur, was der ganze Zirkus hier soll.« Stimmt. Sie guckt gar nicht enttäuscht. Eher ungeduldig bis genervt. Aber wahrscheinlich erwarte ich bei meinen Eltern, daß sie enttäuscht sind. Gleich jedenfalls, und deswegen sehen sie für mich eben schon so aus, und …

»Der Zirkus«, unterbreche ich mein Kopfkarussell, »soll folgendes: In den letzten Tagen ist mir eine ganze Menge klargeworden.« Mama und Papa nicken, sonst sagen sie nichts. Also mache ich weiter. »Und zwar ist mir klargeworden … daß ich euch nicht länger anlügen will. Ihr wißt nämlich gar nicht, wer ich wirklich bin … Ich will aber, daß ihr das wißt.« Sie unterbrechen mich nicht, lassen mich einfach weiterreden. »Die Sache ist nämlich die: BWL studiere ich schon lange nicht mehr, hat mir irgendwie keinen Spaß gemacht, und da hab ich’s hingeschmissen.« Totenstille. Leben die noch? »Ich kellnere schon ein paar Jahre in einer netten Kneipe in Ottensen«, fahre ich fort. »Ich weiß ja, ist nix Dolles, aber mir macht es Spaß. Und davon leben kann ich auch ganz gut.« So, alles ist raus. Ich kann nicht mehr. Meine Eltern starren mich immer noch wortlos an. Aber egal, was jetzt kommt, ich bin froh, daß ich es gesagt habe. Das bin ich, und ich will mich nicht mehr verstecken, auch nicht vor meinen Eltern.

Ehe ich begreife, was überhaupt los ist, brechen meine Eltern in lautes Gelächter aus. Sie lachen und lachen, kriegen sich gar nicht mehr ein.

»Was ist denn los mit euch?« rufe ich, als sie sich nach ein paar Minuten immer noch nicht beruhigen wollen.

»Tut uns leid.« Langsam fängt meine Mutter sich wieder. »Aber es ist einfach zu süß, wie du da mit finsterer Miene vor uns sitzt und uns Dinge erzählst, die wir schon seit Jahren wissen.« Wie bitte? Was hat sie gerade gesagt?

»Ja, Schatz«, sagt mein Vater jetzt, »du mußt uns schon für ziemlich blöd halten, wenn du glaubst, wir wüßten nicht, was du so treibst. Wir sind doch deine Eltern.« Ich bin sprachlos. Komplett und total sprachlos. Volume off, sozusagen.

»Ihr wißt, daß ich nicht mehr studiere?« Beide nicken. »Und warum habt ihr dann nie was gesagt?«

»Weil wir wollten, daß du es uns selbst erzählst. Wenn du so weit bist.«

»Und ihr seid jetzt nicht enttäuscht von mir?« Mama schüttelt den Kopf, Papa wiegt ihn nur leicht hin und her.

»Klar hätten wir es gern gesehen, wenn du eine tolle Karriere hingelegt hättest«, fängt er an.

»Aber«, wird er von meiner Mutter unterbrochen, die ihm einen mahnenden Seitenblick zuwirft, »unterm Strich ist es doch so: Du bist wirklich alt genug, um dein eigenes Leben zu leben. Dein Leben. Und außer dir muß niemand dieses Leben leben.« Verdammt, da hat sie recht. Bis auf ein Wort vielleicht.

»Darf es leben«, sage ich und grinse. Dann tue ich etwas, was ich das letzte Mal mit zwölf oder dreizehn gemacht habe: Ich springe auf und nehme beide so fest in den Arm, wie ich nur kann. Und währenddessen frage ich mich, warum ich meine Eltern in all den Jahren so falsch eingeschätzt habe. Eigentlich hätte mir doch klar sein müssen, daß die beiden extrem lässig sind. Wie wären sie sonst an eine Tochter wie mich gekommen?

Nachdem ich meine große »Beichte« losgeworden bin, bringen sie mich zur Tür.

»Laß dich doch öfter mal blicken«, bittet meine Mutter. »Außerdem können wir dich dann ja endlich mal in deiner Kneipe besuchen kommen. Oder sind wir zu alt dafür?«

»Nein«, sage ich, »da sitzen ganz gern mal seltsame alte Leute rum.«

»He!« erwidert meine Mutter gespielt empört und lacht.

»Ich muß dann jetzt los.« Ich mache meine Jacke zu und lege meinen Rucksack an.

»Und du bist ganz sicher, daß du nicht schwanger bist?« Mein Vater sieht mich ernst an, so ganz glaubt er offensichtlich immer noch nicht, daß das schon alles war.

»Ganz sicher, Papi«, antworte ich und klopfe ihm beruhigend auf die Schulter.

»Und was ist jetzt mit diesem Moritz, mit dem du im Traum verheiratet warst?« Er spricht das Wort »Traum« so aus, als würde er davon ausgehen, daß es nicht wirklich ein Traum war. Womit er ja recht hat, aber bis ich den beiden das erklärt habe … Das lasse ich lieber.

»Den«, sage ich, »kannst du getrost von der Liste der Namen, die es sich zu merken lohnt, streichen.«

»Das war mir schon früher klar«, mischt sich jetzt meine Mutter ein. »So einer ist nichts für unsere Charlotta.« So einer. Lustig. Das habe ich sonst immer nur gehört, wenn jemand über mich gesprochen hat.

»Es gibt eben Männer«, erkläre ich, während ich die Treppen zu meinem Fahrrad runterhüpfe, »mit denen kann man Spaß haben. Die kann man dann wahrscheinlich auch heiraten. Und dann gibt es noch solche, mit denen keins von beiden geht.«

Als ich wieder losradele, ist mir klar, daß meine Eltern mir etwas verwirrt nachsehen. Aber das macht nichts, sie müssen das nicht verstehen. Hauptsache, ich verstehe es.

Um kurz vor zwölf klingele ich bei »so einem« an der Tür. Eins muß man sagen: Das Haus am Strand ist wirklich wunderschön, um das wird’s mir echt mehr als leid tun. Aber wer weiß: Eines Tages passiert vielleicht doch noch ein Wunder, und ich kann mir auch so eine kleine Villa leisten, ohne daß ich darin mit Moritz Lichtenberg oder einem anderen Idioten leben muß. Ich klingele noch einmal, aber niemand öffnet. Blöd. Jetzt bin ich völlig umsonst hierhergestrampelt. Ich will schon wieder zu meinem Rad zurückgehen, als ich Gelächter höre. Es kommt aus dem hinteren Garten. Leise pirsche ich mich ums Haus herum und luge vorsichtig um die Ecke.

Ein Bild der Eintracht und des Friedens: Moritz, Isa und ihre beiden Eltern sitzen am Frühstückstisch und lassen die Champagner-Gläser klirren.

»Auf eure Verlobung«, sagt Isas Vater in diesem Moment. Ich hole tief Luft, wappne mich für meinen Auftritt. Gleich werde ich um die Ecke preschen und Moritz vor versammelter Mannschaft klar und deutlich sagen, was ich von ihm halte. Daß er ein Mensch ohne Rückgrat ist. Und daß er es immer bleiben wird. Er und Isa haben sich echt verdient!

»Auch beruflich sind wir dann ja bald eine Familie«, stellt Isas Vater gerade fest und lacht dröhnend, während er den Arm väterlich um Moritz legt, der neben ihm fast klein und mickrig wirkt.

Ich beobachte die Szene und spüre – nichts. Es ist mir total egal. Ob die da in ihrem Garten sitzen und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen oder nicht, was kümmert mich das? Kopfschüttelnd gehe ich zu meinem Fahrrad zurück. Wozu hier noch eine Szene machen? Moritz Lichtenberg und Co. werden in meinem weiteren Leben keine Rolle mehr spielen. Sollen sie doch von mir aus glücklich werden.

Ein anderes Gespräch muß ich allerdings führen. Und davor habe ich richtig Muffe. Mein Gang nach Canossa. Wieder zu Hause klingele ich bei Julie. Pech: Sie ist da und öffnet mir, es gibt also keine Gnadenfrist für mich.

»Hallo, Julie«, sage ich und rechne eigentlich damit, daß sie mir sofort und ohne Umschweife die Tür vor der Nase zuknallt. Macht sie aber nicht.

»Was willst du?« fragt sie statt dessen. Zwar unfreundlich, aber immerhin.

»Mit dir reden.«

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich nichts mehr mit dir zu tun haben will.« Jetzt geht die Tür doch zu, todesmutig stelle ich meinen Fuß dazwischen.

»Bitte!« Ich drücke mit einer Hand sanft gegen die Tür, so daß sie wieder ein Stück aufgeht. Julie macht einen etwas überrumpelten Eindruck, offenbar hat sie nicht damit gerechnet, daß ich so hartnäckig sein würde. »Bitte«, sage ich noch einmal, »nur noch dieses eine Mal, und dann verspreche ich, daß ich dich nie wieder ansprechen werde.« Sie sieht mich einen Augenblick lang nachdenklich an. Dann öffnet sie die Tür ganz und läßt mich herein.

»Ich weiß nicht, warum ich das mache«, stellt sie fest, während sie die Tür hinter mir schließt. »Krieg wohl meine Tage oder so.« Hat sie da nicht fast einen Witz gemacht? Doch, das war ein typischer Julie-Witz, meine Chancen stehen vielleicht gar nicht so schlecht. Julie lehnt sich im Flur gegen die Wand und verschränkt ihre Arme vor der Brust. Andererseits, vielleicht doch nicht so gut, wenn sie mich nicht mal ins Wohnzimmer bittet, sondern mich lieber gleich im Flur abfertigt. »Also?«

»Es war völlig daneben«, platzt es aus mir heraus, weil ich doch ziemlich angespannt bin.

»Was meinst du?« Klar, sie will mich etwas quälen, das hab ich verdient.

»Es war völlig daneben, mit deinem Freund zu schlafen.« Julie zieht interessiert die Augenbraue hoch.

»Ach? Findest du?«

»Ja, natürlich finde ich das. Und es gibt dafür keine Entschuldigung, das weiß ich auch. Ganz egal, ob er angefangen hat oder wir betrunken waren oder David sowieso ein Idiot ist – ich bin deine Freundin, und das hätte ich niemals tun dürfen. Ich war eben eifersüchtig. Eifersüchtig und neidisch, weil du auf einmal jemanden hattest und mich ganz allein zurückgelassen hast. Jedenfalls habe ich das so empfunden, auch wenn das total kindisch und selbstsüchtig war. Es tut mir leid!« Julie sagt nichts, sondern kaut nur nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Will sie am Ende vielleicht noch, daß ich auf die Knie gehe und sie um Verzeihung bitte? Muß sie nur sagen, ich mache alles!

»Hm«, murmelt sie nach einer Pause, die mir endlos lange vorkommt, »scheint dir ja wirklich ernst zu sein.«

»Ja, ist es«, versichere ich, »ist es wirklich.«

»Tja.« Mehr sagt sie nicht. Sie öffnet die Tür zum Hausflur, sie will anscheinend, daß ich gehe. Mit hängenden Schultern trotte ich nach draußen. Fühle mich beschissener als damals, direkt nach dem Betrug. »Ich muß nachdenken, Charly«, sagt Julie, als ich draußen stehe. »Ich freue mich, daß du gekommen bist und die Schuld für das, was damals passiert ist, nicht mehr bei anderen suchst.« Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme verrät mir, daß sie nicht ganz so cool ist, wie sie tut. »Aber ich brauche Zeit. So etwas kann man nicht von heute auf morgen wegwischen und dann so tun, als wäre es nie passiert.«

»Nein«, gebe ich ihr recht, »das kann man nicht.« Dann gehe ich zurück in meine Wohnung. Zeit, sich für die Arbeit fertig zu machen.

»Ey, Schlampe!« ruft Tim, als ich ins Drinks & More komme.

»Falsch«, korrigiere ich Tim und strecke meine Brust raus, damit er den Schriftzug auf meinem T-Shirt besser lesen kann.

»Chlamydien? Was soll das nun wieder heißen?«

»Ist mein neues Gina-Wild-Solidaritäts-T-Shirt«, erkläre ich und hänge meine Jeansjacke an der Garderobe auf.

»Solidaritäts-T-Shirt?« Tim hat mehr Fragezeichen im Gesicht als Pippi Langstrumpf Sommersprossen.

»Ist kompliziert zu erklären«, meine ich.

»Aha.« Tim kratzt sich nachdenklich hinter seinem linken Segelohr. »Und was ist mit dem Schlampen-Shirt?« will er dann wissen. Ich zucke mit den Schultern.

»Schätze, das hat ausgedient. Fand ich irgendwie langweilig.« Mit diesen Worten eile ich an Tim vorbei auf die ersten Gäste zu, die mittlerweile reingekommen sind und sich an Tisch neun gesetzt haben. Als ich mich auf dem Weg dahin noch einmal kurz nach meinem Chef umdrehe, sehe ich, wie ein komisches Lächeln über sein Gesicht huscht.

»St. Pauli, St. Pauli!« Georg kommt singend hereingetanzt und schwenkt eine Zeitung. »We are the Champions«, intoniert er dann Queen, bevor er sich auf seinen Stammplatz lümmelt.

»Kaffee?« frage ich ihn und studiere im Vorübergehen seine Zeitung. Und bleibe verdutzt stehen. »Die ist ja von heute!« stelle ich fassungslos fest, als ich das Datum lese.

»Irgendwie war mir danach, mal wieder an der Gegenwart teilzunehmen.«

»Eine kluge Entscheidung«, ruft Tim uns vom Tresen aus zu.

»In der Tat! Stellt euch vor, ich hätte erst in vier Wochen erfahren, daß St. Pauli jetzt tatsächlich den Aufstieg in die erste Bundesliga geschafft hat. Nicht auszudenken!«

»Aufstieg? Ich denke, die sind abgestiegen?«

»Aber Schätzchen.« Georg amüsiert sich. »Das hat Köhler doch verhindert.« Stimmt, bin ja wieder im alten Leben. Wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich das Durcheinander in meinem Kopf wieder sortiert habe.

»Hallo?« ruft ein Quengler von Tisch neun. »Ich will ja nicht eure private Unterhaltung stören, aber wir hätten jetzt gern was zu trinken …«

»Moment«, ruft Georg aufbrausend. »Wir reden hier von St. Pauli, das ist keine Privatsache! Das ist eine Frage von nationaler Bedeutung!«

»Oh, ja, sorry.« Geht doch, sofort ist an Tisch neun wieder Ruhe. Trotzdem gehe ich zum Tresen und mache die Bestellung fertig, immerhin bin ich ja hier, um den Leuten Drinks & More zu servieren. Und um mich nebenbei mit meinen beiden Freunden zu unterhalten, die mir in meiner Zeit als Frau Lichtenberg mehr gefehlt haben, als ich je gedacht hätte. Komisch eigentlich. Bevor ich bei New Life war, hätte ich wahrscheinlich gesagt, daß die Arbeit im Drinks & More nur ein Job ist. Aber heute sehe ich das ganz anders.

In den nächsten Wochen pendelt sich wieder alles bei Normalnull ein. Bis auf einmal pro Woche gehe ich täglich arbeiten, und schon nach wenigen Tagen kommt es mir so vor, als hätte ich die Sache mit Moritz und der Hochzeit nur geträumt. Habe ich ja vielleicht auch, wer weiß das schon so genau. Meine Eltern kommen mich ein paarmal im Drinks & More besuchen, und einmal taucht sogar Heike auf, um mir zu sagen, wie gemein sie es fand, daß Moritz mich auf dem Klassentreffen so ausgenutzt hat. Wir haben uns dann für einen gemeinsamen Abend verabredet, zu dem ich ihr meinen Catsuit leihen werde. Ich habe mein Freundschafts-Versprechen nicht vergessen.

Eigentlich ist also alles wieder so, wie es sein soll. Sogar besser: Ein paar Tage nachdem ich bei Julie geklingelt habe, steht sie vor meiner Tür und fragt mich, ob ich Lust hätte, mit ihr einen Kaffee zu trinken. Zwar war es nur ein sehr kurzer Kaffee, aber ich glaube, wir befinden uns auf einem Weg, der uns irgendwann wieder zusammenführt.

Und doch. Und doch fehlt etwas, denke ich, als ich eines Samstags im Drinks & More die Tische abwische, bevor der große Ansturm kommt. Aber ich weiß nicht, was. Mich läßt das Gefühl nicht los, daß da irgend etwas in mir ist, eine Sehnsucht, ein … ich kann es nicht benennen, aber es ist anders als das Gefühl, das ich früher hatte. Konkreter.

»Was hast du denn?« Georg sitzt an seinem Tisch, legt seine Stirn in Falten und betrachtet mich besorgt. Tim ist gerade draußen und kämpft mit den übervollen Müllcontainern.

»Wie kommst du darauf, daß ich was habe?«

»Du wischst zeit zehn Minuten denselben Tisch ab.«

»Oh.« Ich halte in meiner Bewegung inne, zögere kurz und gehe dann zum nächsten Tisch weiter.

»Willst du es mir nicht sagen?« Wie soll ich es ihm denn sagen? Dazu müßte ich ihm die ganze Geschichte erzählen, und die ist ja mehr als verrückt. Selbst für jemanden wie Georg, dem ich zutraue, daß er schon so einiges gehört und gesehen hat. Ich schüttele den Kopf.

Georg zündet sich eine Zigarette an und hält die Schachtel dann mir hin. Dankbar nehme ich eine Kippe und setze mich zu ihm. Eine Weile sitzen wir beide nur so da, rauchen und blasen kleine Wölkchen in die Luft.

»Wie soll ich es beschreiben?« fange ich schließlich an. »Ich habe das Gefühl, mir fehlt etwas.« Georg nickt.

»Ich weiß.«

»Du weißt?« Georg lacht leise. Dann nimmt er meine Hand, hält sie ein paar Sekunden ganz fest und sieht mir dann unverwandt in die Augen.

»Manche Dinge liegen so direkt vor unserer Nase, daß wir sie nicht einmal erkennen, wenn wir über sie stolpern.« Er zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann drückt er sie im Aschenbecher aus und nimmt noch einen Schluck von seinem kalten Kaffee. Ich versuche derweil, mir einen Reim darauf zu machen, was Georg mit dieser kryptischen Bemerkung meinen könnte. Die Dinge, die direkt vor unserer Nase liegen?

Ich lasse meine Augen durchs Drinks & More wandern, vorbei an den alten Reklametafeln aus Emaille, der Jukebox, dem Flipperautomaten, der Garderobe, an der im Moment nur Georgs Cordjackett, meine Jacke und Tims komischer Mantel hängen, der Tresen mit seinem … Tims Mantel! Wie bescheuert kann man eigentlich sein?

»Danke, Georg!« Ich strahle ihn an, drücke noch einmal seine Hand, bevor ich aufspringe, meine Jacke von der Garderobe reiße und hinausstürme. Im Eingang knalle ich mit Tim zusammen, der gerade frustriert mit einem großen, blauen Müllsack wieder reinkommt.

»Paßt nicht mehr in den Scheiß-Container …«, sagt er, ehe er mit mir zusammenprallt, der Müllsack zu Boden geht und die Reste des Inhalts quer durch den ganzen Laden spuckt. »Paß doch auf, Charly!« motzt Tim mich an.

Ein »Entschuldigung« keuchend stürze ich zu meinem Rad, schließe es auf und rase davon.

»He!« brüllt Tim mir hinterher, »wo willst du denn hin? Du kannst doch nicht einfach abhauen!«

Klar kann ich, sieht er doch. Und das im Turbogang. Obwohl ich diesmal gar keine Musik dabeihabe – mein Rucksack liegt noch im Drinks & More –, bin ich schneller als Jan Ullrich. Mindestens. Aber ich habe einfach Angst, daß ich zu spät komme, daß der ganze Spuk schon vorbei ist. Daß mir das nicht früher klar gewesen ist! Wie hat denn überhaupt alles angefangen, wie bin ich zu New Life gekommen? Indem ich eine Visitenkarte gefunden habe. In Tims Mantel!

Es ist halb vier am Samstag, als ich bei New Life ankomme. Wahrscheinlich nicht gerade deren Geschäftszeiten. Ich klingele trotzdem, vielleicht macht irgendwer Überstunden. Wobei ich es nicht hoffen will. Nachdem ich weitere drei Mal geklingelt habe, bin ich mir ziemlich sicher, daß niemand da ist. Also drücke ich jetzt erst einmal auf eine andere Klingel, damit ich wenigstens schon einmal ins Haus komme. Der Summer erklingt, ich drücke die Tür auf und gehe hinein.

»Hallo? Wer ist da?« ruft eine Frau. Ich verstecke mich hinter dem Treppenabsatz und verhalte mich mucksmäuschenstill, bis mir das Klappern einer Tür sagt, daß die Frau wieder in ihre Wohnung gegangen ist. Auf Zehenspitzen tapse ich die Stufen zu New Life hoch. Mal sehen, ob die Sache mit der Kreditkarte, die Tim mir vorgemacht hat, tatsächlich so einfach ist.

Erst, als ich direkt bei New Life vor der Tür stehe, fällt mir ein, daß es da ein kleines Problem gibt: Ich besitze gar keine Kreditkarte! Nicht mal eine EC-Card, bin ja bei meiner Bank derzeit nicht mehr kreditwürdig. Wie ärgerlich, da bin ich doch glatt mit meinen beiden Leben durcheinandergekommen, »Charly from the block« ist ja leider nicht mehr.

Frustriert werfe ich mich mit dem Rücken gegen die Tür, so was kann aber auch nur mir passieren! Also gut, nachdenken, was habe ich sonst noch mit? Büroklammer? Sicherheitsnadel? Nagelfeile? Leider nein!

»Zu wem wollen Sie denn?« Ohne, daß ich es gemerkt habe, hat sich die Nachbarwohnung geöffnet. Lasziv im Türrahmen lehnt, mit einer langen Zigarettenspitze in der einen und einem Glas Martini in der anderen: Madame Charlotte!

»Was machen Sie denn hier?« entfährt es mir. Die Welt ist echt ein Dorf! Mein Blick fällt auf ihre Türklingel. Da steht allerdings nur M. Sabrina. Also, Charlotte gefällt mir doch wesentlich besser!

»Die Frage ist doch wohl eher: Was machen Sie hier?«

»Ich wollte etwas abholen.« Madame Charlottes oder Sabrinas Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen.

»Abholen?« wiederholt sie gedehnt. Ich entschließe mich, ihr mehr oder weniger die Wahrheit zu sagen. Madame macht auf mich den Eindruck, als könnte sie das ab.

»Hören Sie«, sage ich, »die Geschichte ist viel zu verrückt, um Sie Ihnen eben zwischen Tür und Angel zu erzählen. Wichtig ist nur: Ich muß da rein!« Ich deute auf die Tür von New Life. »Es geht um einen Mann«, füge ich dann hinzu und hoffe auf Frauensolidarität.

»Um einen Mann?«

Ich nicke nochmal heftig. Sofort breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Madame Charlotte ist eine Frau aus dem Leben, das war mir gleich klar.

»Sieht er gut aus?« Wieder nicke ich. Schönheit liegt halt im Auge des Betrachters. »Also gut, Schätzchen, du siehst mir nicht gerade wie ein Schwerverbrecher aus.« Was habe ich doch für ein Glück, daß ich heute nicht in diesem Overall stecke! »Warte kurz.« Sie verschwindet wieder in ihrer Wohnung, ich höre sie lautstark mit den Absätzen ihrer Plexiglasschläppchen klappern. Eine Minute später ist sie wieder zurück, in der Hand eine riesengroße Spritze.

»Was …?«

»Laß mich mal machen«, sagt sie, schiebt die Nadel ins Türschloß von New Life und hantiert damit herum. Oh, ich will mir gar nicht vorstellen, was mit der Nadel schon vorher …

»Et voilà!« Mit einem leisen »Klack« öffnet sich die Tür. Der Weg zu meiner Mission ist frei.

»Tausend Dank!« sage ich zur Frau mit der großen Spritze, bevor ich mich in die Dunkelheit des Büros vortaste.

»Für so ein hübsches Ding wie Sie – gern!« Sie mustert mich einigermaßen lasziv, hoffe, sie kommt jetzt nicht noch auf andere Ideen! »Sag mal, Schätzchen«, ich habe schon Angst, sie will mich später doch noch um ein Tänzchen mit ihrer achtschwänzigen Peitsche bitten, »wie heißt du eigentlich?«

»Charly.« Sie zieht fragend die Augenbrauen hoch. »Eigentlich Charlotta.«

»Charlotta«, wiederholt sie leise. »Das ist hübsch. Ich suche nämlich noch einen neuen Künstlernamen – was dagegen, wenn ich ihn mir leihe?«

»Überhaupt nicht«, versichere ich, »ich benutze ihn sowieso kaum.«

In den dunklen Büroräumen von New Life brauche ich eine ganze Weile, bis ich einen Lichtschalter finde. Als die Neonröhren über mir mit einem leisen Surren anspringen, halte ich kurz inne. Was will ich eigentlich hier, was glaube ich zu finden? Nur, weil ich so ein komisches Gefühl habe, steige ich hier einfach ein? Hör auf nachzudenken, und fang an zu suchen, sage ich zu mir selbst. Also gehe ich zielstrebig auf das Zimmer zu, wo Elisa und ich damals waren und wo Tim und ich alle Änderungen rückgängig gemacht haben.

Zu meiner großen Freude steht das Sideboard mit den archivierten CDs noch immer da. Mein Bauch sagt mir, daß ich hier die Antwort auf alle meine Fragen finden werde. Ich öffne die Schublade, auf der »K« steht. Alles gar nicht so schwierig, beinahe so, als wollte jemand, daß ich mich daran zu schaffen mache.

Mit Scannerblick suche ich die CDs ab – und finde sofort, was ich suche. Da ist sie. Tatsächlich. Hätte ich nicht gedacht. »Timothy Kramer« steht am Rand einer CD, die sachte in der Hängevorrichtung hin- und herbaumelt. Timothy? Egal, das ist er. Er war also tatsächlich auch bei Elisa und hat ein paar kleine Änderungen in seinem Leben vornehmen lassen. Ausgerechnet Tim, der doch immer so zufrieden wirkt, als würde er vollkommen in sich ruhen und sei mit sich und der Welt im Einklang. Was hat er wohl entfernen lassen? Gleich werde ich es wissen.

Ich lege die CD ein, nehme die Fernbedienung, lasse mich in einen der beiden großen Ledersessel sinken und warte gespannt darauf, was ich gleich auf der Leinwand sehen werde. Wie im Kino. Wo ist mein Popcorn?

Dreißig Sekunden später hat es mir allerdings den Appetit verschlagen. Genauer gesagt habe ich den Eindruck, jemand hätte mir seine Faust in die Magengrube gerammt. Vor mir auf der Leinwand spielt sich eine unglaubliche Szene ab!

Tim schließt die Tür zu meinem Wohnhaus auf und schiebt mich die Treppenstufen hoch. Ich stecke in meinem Barbarella-Anzug und schimpfe wie ein Rohrspatz.

»Diese Arschlöcher«, krakeele ich immer wieder. »Die können mich alle mal!«

»Ja, Charly, ich weiß«, antwortet Tim und klopft mir mit einer Hand beruhigend auf den Rücken.

Es ist der Abend meines Abitreffens. Das Stück, das mir fehlt. Mein Filmriß. Fein säuberlich gespeichert auf einer CD, die Tim hat anfertigen lassen. Aber warum nur? Wenn einer peinlich war an diesem Abend, dann war ich das. Allerdings nicht erst auf dem Weg nach Hause. Ich lehne mich zurück und warte atemlos ab, was noch alles kommt.

Tim schließt die Tür zu meiner Wohnung auf, bringt mich ins Schlafzimmer und hilft mir aufs Bett.

»Bin gleich zurück«, sagt er, »wenn du kannst, zieh dich doch schon mal um.« Dann geht er raus zur Küchenzeile, holt die Packung Aspirin plus C aus dem Regal und löst zwei Tabletten in einem Glas Wasser auf. Damit geht er wieder zu mir. Ich habe mittlerweile meinen Pyjama an, habe mich unter die Bettdecke gekuschelt und vergrabe den Kopf trotzig in meinen Händen. Mißmutig starre ich vor mich hin.

»Hier«, sagt Tim, setzt sich ans Fußende meines Bettes und reicht mir das Glas, »trink das.«

»Will nicht!« Ich schüttele den Kopf wie ein kleines Kind.

»Jetzt sei nicht albern«, meint Tim, »wenn du das hier trinkst, wird es dir gleich viel besser gehen.«

»Nein«, stelle ich immer noch bockig fest, nehme aber das Glas. »Mir wird es nie wieder besser gehen! Nie wieder!« Dann trinke ich es in einem Zug leer. So, wie ich aussehe, tut es mir wohl tatsächlich ganz gut.

»Unsinn!« Tim nimmt mir das Glas ab und stellt es auf den Nachttisch. Gleichzeitig stellt er den CD-Player ein, aus dem leise mein Lieblingshörspiel »Bernard und Bianca« von Disney erklingt. »Klar geht’s dir bald wieder besser. Du mußt jetzt einfach nur ein bißchen schlafen, dann wird das schon.« Mit diesen Worten steht er auf, aber ich halte ihn zurück.

»Warum bin ich so?« frage ich ihn.

»So was?« Er setzt sich wieder hin.

»Na, so, wie ich bin. Unmöglich. Peinlich.« Tim guckt mich überrascht an.

»Du bist doch nicht unmöglich oder peinlich!«

»Nein? Hast du meinen Auftritt in der Mood Lounge eben nicht gesehen? Das findest du nicht peinlich?«

Tim lacht. »Nö«, antwortet er. Dann überlegt er einen Moment. »Na ja, vielleicht ein ganz kleines bißchen peinlich. Aber eigentlich auch ganz lustig.«

»Lustig, ha!« Ich mache eine ausholende Handbewegung und fege dabei aus Versehen das leere Glas von meinem Nachttisch. Tim beugt sich schnell vor und fängt es auf, dann stellt er es außerhalb meiner Reichweite wieder ab. »Ja, das war lustig! Alle haben sich über mich lustig gemacht!« Ich schluchze auf, jetzt kommt das typische Besoffenen-Heulen. »Ausgelacht haben sie mich, weil ich so klein und mickrig und jämmerlich bin.« Tim rückt ein Stückchen näher und nimmt mich in den Arm, wie ein kleines Kind heule ich an seiner Schulter.

»Das stimmt doch gar nicht«, sagt er tröstend, »du bist alles andere als klein, mickrig und jämmerlich. Du bist großartig!« Ich rücke ein Stück von ihm ab, wische mir die Tränen aus den Augen und sehe ihn verwundert an.

»Großartig?«

»Ja«, wiederholt Tim, »ich finde dich großartig. Du bist witzig und schlagfertig und irgendwie so, so …« Er sucht nach den richtigen Worten. »So voller Leben bist du. Die komischen Pappnasen aus deinem Jahrgang, die wissen doch gar nicht, was das heißt: Leben. Die haben doch noch nichts riskiert, sind noch nie auch nur einen Millimeter zu weit rechts oder links vom Weg gegangen. Laß diese Idioten doch reden, was interessiert es dich?«

»Ach was«, wische ich seinen Vortrag trotzig aus der Luft. »Ich bin überhaupt nicht großartig. Eine Schlampe bin ich, mehr nicht. Eine nutzlose Schlampe.«

Tims Gesicht verfinstert sich. »Mann, Charly!« Er springt auf und tigert unruhig durchs Zimmer. »Hör endlich auf, über dich selbst so zu denken! Und du brauchst mir gegenüber auch nicht so rotzig zu tun. Ich weiß doch, daß du dich in Wirklichkeit schlecht fühlst, wenn du dein Schlampen-T-Shirt anziehst! Und daß du nur mit irgendwelchen komischen Typen ins Bett gehst, weil du glaubst, daß du dich dann besser fühlst.«

»So?« erwidere ich sarkastisch. »Das weißt du also?« Mit verschränkten Armen gucke ich ihn feindselig an. »Ist ja interessant.«

»Ich kenne dich besser, als du denkst. Ich weiß, warum du das alles machst! Nur weil dir mit sechzehn mal irgendein Idiot das Herz gebrochen hat und du glaubst, daß du nichts wert bist!« Er haut seine Faust gegen die Wand. »Und was machst du? Du vergißt den Typen nicht einfach und entsorgst ihn dahin, wohin er hingehört: in den Sondermüll nutzloser Erinnerungen. Nein, du gibst dir das Ganze noch mal, denkst, daß sich dann irgend etwas ändert. Aber versteh doch endlich mal: Nicht du bist das Problem! Solche Typen wie Moritz sind das Problem!«

Tim setzt sich wieder aufs Bett, direkt vor meine Nase. »Lern doch endlich mal, dich selbst zu mögen. Du mußt begreifen, daß du ein liebenswerter Mensch bist.« Bei diesen Worten sieht er mich lange an, fast habe ich den Eindruck, das Bild würde leicht flimmern. Wie in Zeitlupe beugt Tim sich zu mir vor, nimmt meinen Kopf in seine Hände und küßt mich. Schätze, ich bin in diesem Moment viel zu

a) überrascht,

b) betrunken und

c) angeschlagen,

um mich zu wehren. Als er aufhört, mich zu küssen, sich zurücklehnt und mich unsicher ansieht, scheint bei mir irgend etwas auszusetzen. Jedenfalls kommt es bei meinem Leinwand-Ich zu einer erstaunlichen Reaktion: Es fängt an zu lachen.

»Ich glaube es nicht!« amüsiert sich die Charly, für die ich in diesem Augenblick wirklich nichts kann. »Tim, was ist denn los mit dir? Du bist doch nicht etwa verknallt in mich?«

»Charly, ich …«

»Ach, laß mal«, schneide ich ihm das Wort ab, »das wäre doch eine tolle Kombination: Der Aussteiger und die Niete, da könnte man glatt Romane draus machen!« Ich fange wieder an, hysterisch zu lachen. Und während ich mir dabei zusehe, wie ich ein fröhliches Husarentänzchen auf Tims Gefühlen veranstalte, sinke ich immer tiefer in meinen Ledersessel. Was war da nur in mich gefahren? Ich muß ja mehr als besoffen gewesen sein! Oder waren es Tims Worte, die mich so sehr getroffen haben? Weil sie – so wahr sind?

Am liebsten würde ich den Film jetzt anhalten, stoppen, löschen, die CD wegwerfen, aber ich muß da wohl durch.

Tim sitzt immer noch regungslos auf dem Bett, als würden meine Worte noch in seinen Ohren nachhallen. Wencke Myhre singt ausgerechnet an dieser Stelle »Jemand wartet schon auf dich«, mal wieder alles mehr als passend. Als das Lied vorbei ist, steht Tim auf, nimmt seinen Mantel und zieht ihn an.

»Versteck dich ruhig hinter deinen Songs und deinen kindischen Träumereien«, sagt er, bevor er aus dem Zimmer geht. »Ein echtes Gefühl würdest du doch gar nicht aushalten.« Dann zieht er die Tür hinter sich ins Schloß, der Film ist vorbei. Im Kino würde ich jetzt applaudieren. Aber tragischerweise war das gerade eine Vorstellung aus meinem eigenen Leben. Wie blöd kann man eigentlich sein?

Ein großes Schamgefühl macht sich in mir breit. Aber zugleich spüre ich so etwas wie Freude. Freude darüber, daß Tim so viel für mich empfindet. So viel, daß er dieses Erlebnis hat löschen lassen. Kein Wunder, daß er am nächsten Tag so unfreundlich zu mir war, nachdem ich so auf ihm herumgetrampelt bin. Ich nehme die CD aus dem Abspielgerät. Da bleibt wohl nur noch eine Sache zu tun.

»Ich hab hier was für dich«, sage ich, als ich wieder ins Drinks & More komme, und werfe Tim die CD auf den Tresen. Er nimmt sie in die Hand, liest die Aufschrift und sieht mich verständnislos an.

»Woher hast du …?«

»Die Visitenkarte.«

Tim fummelt verlegen an der CD-Hülle rum.

»Charly, ich … das …« Er ringt mit den Worten. Ich nehme ihm die CD wieder ab.

»Du hast mir nie erzählt, daß du mit vollem Namen Timothy heißt.« Wortlos stehen wir uns gegenüber, und ich frage mich, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vorgeht. Vermutlich dasselbe wie in meinem: totales Chaos.

Für ihn liegen ja zwischen dem Moment, als ich mit seiner Visitenkarte aus dem Laden gerauscht, und dem, als ich wieder ganz normal zurückgekommen bin, nur zwei Tage, er hat keine Ahnung, was in meinem anderen Leben alles passiert ist, was wir gemeinsam erlebt haben. Und daß ich mich verändert habe. Daß ich endlich weiß, was ich will: ihn. Und mein Leben ganz genau so leben will, wie es mir gefällt. Aber wie soll ich das Tim erklären?

Ach, was soll auch das ganze Gerede? Wird eh zu viel gelabert auf der Welt! Ich nehme all meinen Mut zusammen und küsse ihn direkt auf den Mund, ganz schnell. Aber Tim hält mich einfach fest, legt seine Arme um mich und erwidert meinen Kuß. Mein Herz bubbert so laut, als wäre es der erste Kuß meines Leben. Und das ist er vielleicht auch, der erste, der wirklich zählt. Bis heute hat noch nie jemand wirklich Charly geküßt. Nach etwa zwei, drei Minuten wird es um uns herum ziemlich unruhig, hier und da hört man ein verhaltenes Kichern, ein paar Leute fangen an zu klatschen. Richtig, wir sind ja gar nicht allein, sondern stehen mitten im Drinks & More. Aber Tim scheint das ähnlich egal zu sein wie mir.

»Du hast mich auch nie nach meinem vollständigen Vornamen gefragt«, stellt er fest, nachdem ich mich wieder von ihm gelöst habe. Noch einen Moment stehen wir voreinander und lächeln uns unbeholfen an wie zwei Teenager. »First Time«, Robin Beck.

»Und jetzt hau mal einen Schlag rein«, bricht Tim schließlich das Schweigen. »Tisch sechs wartet schon ewig auf seine Bestellung, ich kann den Laden hier echt nicht allein schmeißen.« Gehorsam stelle ich mich hinter die Bar, um die Getränke vorzubereiten. Als ich kurz vom Zapfhahn aufblicke, sehe ich gerade noch, wie Georg sich heimlich, still und leise nach draußen stiehlt. In der Tür dreht er sich noch einmal um und zwinkert mir zu. Dann ist er auch schon verschwunden. Keine Ahnung, warum, aber auf einmal bin ich mir ganz sicher: Wir werden ihn nicht mehr wiedersehen.

»Charlotta Maybach«, ruft Tim, »wird’s denn heute noch was?« Ich strecke ihm die Zunge raus. Dann drehe ich mich zur Stereoanlage hinter mir im Regal um, nehme die CD heraus, die gerade läuft, und lege eine andere ein. »Don’t let me get me«, singt Pink, »I wanna be somebody else«. Und ich denke: Wie unrecht sie doch hat.

Ich schnappe mir das volle Tablett und befördere es rüber zu den nölenden Gästen an Tisch sechs. Timothy und Charlotta. Tim und Charly. Wenigstens heiße ich nicht Struppi.