7. Kapitel

Wir sind dekadent. Moritz und ich verprassen für unsere kleine, beschauliche Hochzeitsfeier das Bruttoinlandsprodukt der EU inklusive Beitrittskandidaten. Großartig! Wir feiern auf der Sonnenterasse unseres Segelclubs direkt an der Alster, nur ausgewählte Mitglieder dürfen überhaupt einen Fuß auf die heiligen Marmorplatten setzen. Die Eingangstür ist durch einen Zahlencode gesichert, den wir im Stille-Post-Verfahren unter der Hochzeitsgesellschaft verbreitet haben. Unten im Club ist noch ein öffentliches Café, das als Auffangbecken für Hörgeräteträger und Opfer von Zahlendrehern dient. Schade, daß David offensichtlich zu keiner der beiden Gruppen zählt. Als wir ankommen, ist er schon da, sitzt mit orangefarbener Sonnenbrille und selbstzufrieden lächelnd auf einer Liege, blickt auf die Alster und süffelt an einem Champagner-Cocktail.

»Wo hast du denn Julie gelassen?« will ich wissen. Noch schnell vom Kirchturm gestoßen? In der Alster versenkt? Gib ihm eine Chance, erinnere ich mich, er ist vielleicht gar nicht so, wie du denkst.

»Die sucht noch einen Parkplatz, ist ja tierisch was los da unten.« Er dreht sich halb Richtung Straße, als wolle er nach ihr sehen.

»Finde ich schön, daß ihr eine so emanzipierte Beziehung habt«, stelle ich bissig fest.

»Da liegst du falsch – ich habe nur keinen Führerschein.« Scheiße, hat der auch noch eine gute Ausrede. Egal. Ich werde ihn trotzdem hassen, Unvoreingenommenheit liegt mir nicht. Es ist meine Hochzeit, da darf ich auch bestimmen, welchen Gast ich mag und welchen nicht! Außerdem: Wann hat mich mein Gefühl schon jemals getrogen? In diesem Moment sehe ich zu Moritz hinüber, der zusammen mit seinem Vater die Geschenke auf einen großen Tisch räumt. Na gut, aber der Reinfall mit Moritz war in meinem alten Leben. In meinem neuen scheine ich allen Grund zu haben, ihn zu lieben.

Nachdem der Vereinsvorsitzende des SUYCA – Segel- und Yachtclub an der Alster – Moritz und mir vor versammelter Mannschaft ausgiebig gehuldigt hat und dabei ein paar schiefe Metaphern über das Segeln, den Ehehafen und den Lebensfluß losgeworden ist, sitzen wir eine halbe Stunde später am Kopfende einer großen Tafel und eröffnen die Spiele. Alles nur vom Feinsten, eilfertige Dienstboten reichen edle Getränke, im Hintergrund zupft dezent eine Jazzband, das Hochzeitsmenü liest sich wie die Untertitel eines französischen Experimentalfilms. Eigentlich müßte jeden Moment Pierce Brosnan mit einem Fallschirm gelandet kommen und eine Schachtel Rocher vorbeibringen, vielleicht kreist aber statt dessen auch gleich ein Wasserflugzeug über uns und bewirft uns mit Raffaelo.

Noch immer habe ich das irre Gefühl, überhaupt nicht hierher zu gehören, fühlt sich an wie Achterbahnfahren. Emotional gesehen geht es in mir im Nano-Sekundentakt auf und ab. Den einen Moment möchte ich am liebsten abhauen, im nächsten in einer großangelegten Massenhochzeit alle hier Anwesenden ehelichen. Außer David, versteht sich. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich denken, ich hätte etwas genommen.

Apropos, ich brauche dringend etwas, um meine Nerven zu beruhigen, sonst laufe ich doch noch Amok. Und das wäre ja nicht so schön. Da fällt mir ein: Ich rauche ja. Meine erste Kippe habe ich jedenfalls nicht löschen lassen. Das hatte ich vor lauter Schreck doch glatt vergessen, habe bestimmt schon seit ein paar Stunden keine Zigarette mehr in der Hand gehabt. Kein Wunder, daß ich im Kopf so duselig bin.

»Entschuldigung, hätten Sie wohl eine Zigarette für mich?« frage ich einen vorübereilenden Ober, der untertänig nickt. Wie praktisch, daß man hier alles bestellen kann. Eine Minute später kommt er zurück und stellt mir einen kleinen Teller mit einer geöffneten Zigarettenschachtel hin. Erleichtert greife ich danach und pule eine Kippe heraus, das wird aber auch langsam Zeit.

»Was machst du denn da?« will mein frisch Vermählter wissen. »Du rauchst doch gar nicht«, stellt er dann fest.

»Tue ich nicht?«

»Nein, Schatz, bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr.« Enttäuscht mache ich die Schachtel wieder zu. Ich rauche also nicht mehr. Auch das noch. Ist ja möglich, daß mein Körper nicht mehr abhängig ist, aber meine Seele schreit nach Nikotin! Aber gut, ich wollte ohnehin schon ewig aufhören, jetzt scheint ein guter Zeitpunkt dafür zu sein. Muß mir nur noch dieses Buch von Allen Carr besorgen, damit hat Julie auch aufgehört. Obwohl sie immer behauptet hat, daß sie trotz des Buches aufgehört hat – und nicht wegen.

»Nehmen Sie Rot- oder Weißwein?« will einer der Kellner wissen und hält uns fragend zwei Flaschen hin.

»Meine Frau trinkt nicht«, werde ich zum zweiten Mal innerhalb von dreißig Sekunden von Moritz entmündigt. »Aber mir können Sie einen Schluck von dem Weißen geben.«

»Und ich nehme ein Bier, vom Faß. Und ich kann außerdem sehr gut für mich selbst reden, auch wenn man mir das auf Anhieb gar nicht zutrauen würde«, zicke ich Moritz an. Der Kellner trollt sich grinsend, um das Gewünschte heranzutragen. Während er sich entfernt, höre ich ihn irgend etwas murmeln wie: »Kaum verheiratet, schon hat die Alte Haare auf den Zähnen.«

»Mußte das sein? Mich vor dem Kellner so anzufahren?« fragt Moritz und wirkt dabei richtig gekränkt.

»Klassendünkel?«

»Nein«, antwortet er, »verletzte männliche Eitelkeit.« Dann lächelt er wieder. »Kann ja verstehen, wenn du heute zur Feier des Tages mal eine Ausnahme machen willst.« Ausnahme? Im Geiste formuliere ich eine Liste meiner Vorlieben und Angewohnheiten, an die ich Moritz so schnell wie möglich gewöhnen muß. Die wird sekündlich länger, damit wird sich mein Angetrauter abfinden müssen. Das mit dem Rauchen geht ja noch in Ordnung. Aber soll ich in Zukunft allen Ernstes nur noch an Perrier mit Zitronenscheibe nuckeln?

Der Ober bringt mir mein Bier, was von den erstaunten Blicken meiner frischgebackenen Schwiegereltern verfolgt wird. Ich hebe mein Glas und proste ihnen lächelnd zu. Wenn die jetzt bei jedem Bier, das ich mir bestelle, zusammenzucken, werden wir sie über kurz oder lang wegen eines epileptischen Anfalls entfernen müssen.

»Meine Damen und Herren!« Mein Vater ist aufgestanden und klopft an sein Glas, augenblicklich verstummen sämtliche Gespräche. »Wir sind heute zusammengekommen, weil wir etwas Besonderes zu feiern haben.« Seine Stimme zittert, und er wischt sich nervös den Schweiß von der Stirn.

»Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder eine seiner Endlosreden«, flüstert Moritz mir ins Ohr. Ich ramme ihm meinen Ellenbogen in die Seite, so daß er erschrocken Luft holt und sich eine Hand an die Rippen hält.

»Red nicht so über meinen Vater!« gifte ich ihn an.

»Sorry«, stößt Moritz atemlos hervor, »war doch nicht ernst gemeint.«

»Heute, an diesem wunderschönen, sonnigen Tag heiratet mein kleines Mädchen. Meine Charlotta.« Meine Mutter bricht sofort wieder in Tränen aus, und auch ich spüre plötzlich einen Kloß im Hals. Komme mir vor wie in »Der Vater der Braut«, und genaugenommen ist das da vorne ja auch mein Vater. Und ich bin eine Braut. Moritz legt einen Arm um mich und streichelt mir sanft über die Schulter, eine Geste, die mich mit seiner blöden Bemerkung versöhnt.

»Als ihr beiden euch in noch sehr jungen Jahren gefunden habt, da dachten deine Mutter und ich, daß das eine Teenagerschwärmerei ist, die schnell vorbeigeht.« Er räuspert sich. »So unterschiedlich wart ihr damals, kaum vorstellbar, daß zwei wie ihr zueinander paßt. Nun, wir haben uns getäuscht: Die Jahre vergingen, und ihr seid immer mehr zusammengewachsen. Und ab heute wollt ihr nun also auch euren restlichen Lebensweg miteinander beschreiten.« Er räuspert sich noch einmal, mein alter Herr scheint richtig nervös zu sein. Süß! »Ich kann dir gar nicht sagen, Charlotta«, fährt er dann fort und kriegt allmählich etwas regelrecht Sentimentales in seiner Stimme, »wie stolz deine Mutter und ich auf dich sind und wie wir uns für dich freuen. Werde glücklich mit deinem Moritz.« Noch ein dramatisches Päuschen. »Und ich wünsche euch von ganzem Herzen, daß ihr euch so sehr liebt, wie deine Mutter und ich das immer getan haben und noch tun.« Bei diesen Worten blickt er zärtlich zu seiner Frau hinunter. »Ich erhebe mein Glas und trinke auf eure Zukunft!«

»Auf eure Zukunft!« rufen alle im Chor und stoßen miteinander an. Omi mittlerweile ganz ungeniert mit ihrem Flachmann, sie hat ihren Pegel offensichtlich erreicht. Ich muß vor lauter Rührung tatsächlich richtig heulen, springe auf, laufe zu meinem Vater hinüber und nehme ihn ganz, ganz fest in den Arm.

»Charly, meine Kleine«, sagt er, und es ist schön, daß er mich in diesem Moment so nennt. »Ich hoffe so sehr, daß du mit ihm glücklich wirst, wir freuen uns so für dich!« Dann umarme ich auch noch meine Mutter, und – wo ich gerade dabei bin – auch noch alle übrigen Leute am Tisch. Wir sind stolz auf dich. Immer wieder höre ich meinen Vater diesen Satz sagen. Und erst in diesem Moment wird mir klar, daß meine Eltern das vorher noch nie zu mir gesagt haben. Was möglicherweise daran liegen könnte, daß sie dazu bisher noch nie einen Grund hatten. Charly, du bist hängengeblieben, wir sind stolz auf dich! Charly, du hast das Studium nicht gepackt und uns das jahrelang verheimlicht, wir sind wahnsinnig stolz auf dich! Charly, statt dessen schlägst du dich mit einem Kellnerjob durchs Leben, was sind wir doch unheimlich stolz auf dich! Charly, bei dir geben sich zwielichtige Typen die Klinke in die Hand, wir sind ja so stolz darauf! Auch wenn mir noch immer etwas mulmig ist und ich sicher noch einige Wochen brauchen werde, um mich an die neue Situation zu gewöhnen – wie gut, daß ich zu New Life gegangen bin!

Als ich zu meinem Platz zurückkomme, steht da ein Teller mit einer grünlichen Masse. Moritz schmatzt dagegen bereits an seinem leckeren Lammcarrée mit Salzkruste herum.

»Warum kriege ich was anderes als du?«

»Weil du doch das vegetarische Gericht bestellt hattest.« Habe ich mir denn eigentlich alles abgewöhnt, was Spaß macht? Kein Wunder, daß ich so dünn bin, von was sollte ich auch zunehmen? Von Selleriestangen, Radieschen-Salat und Evian? Ich setze mich hin und stochere lustlos im Grünzeug herum, sieht unappetitlich gesund aus.

»Sag mal, Schatz«, ich schiebe den Teller von mir weg und beuge mich zu Moritz, »wann haben wir eigentlich das letzte Mal Sex gehabt?« Sex, Sex, Sex – das Wort wirbelt laut durch die Luft, prallt an den ungläubigen Ohren der Gäste ab und springt im Ping-Pong von links nach rechts, bis es mit einem lauten »Platsch« in der Alster landet. Sofort fangen die Fische an, es miteinander zu treiben. Schlechtes Timing, nenne ich das. Ausgerechnet in dem Moment, als ich das böse Wort ausspreche, hört die Band auf zu spielen, und das allgemeine Geplapper erstirbt für einen Augenblick. Moritz prustet vor Schreck den Schluck Wein, den er gerade genommen hat, auf seinen Teller und fängt an zu husten. Alle Gäste gucken mich an, ich höre eine Uhr ticken. Doch ich ignoriere, daß ich feuerrot anlaufe, und lächle, als wäre rein gar nichts.

»Ja, mein Mann und ich haben manchmal Sex«, stelle ich dann mit einer Selbstverständlichkeit fest, als würde ich die Tanzfläche für eröffnet erklären, »wir sind ja auch verheiratet.« Mein Opa lacht als erstes los, wobei man sich da nicht sicher sein kann, ob er überhaupt verstanden hat, was ich gesagt habe. Dann bricht die ganze Gesellschaft in grölendes Gelächter aus. Bis auf Herrn und Frau Lichtenberg, die so aussehen, als würden sie allein bei dem Wort schon allergische Reaktionen bekommen.

»Du bist eine unmögliche Nudel«, raunt Moritz mir ins Ohr und knabbert dann ein bißchen daran herum. »Ich liebe dich, und die Frage nach unserem letzten Sex wirst du schon bald ganz eindeutig beantworten können!«

»Da bin ich aber beruhigt«, stelle ich fest und schnappe mir seinen Teller. »Übrigens: Ich bin keine Vegetarierin mehr. Habe ich soeben beschlossen.« Moritz guckt einen Moment verwundert, dann winkt er den Kellner heran, um sich einen neuen Teller kommen zu lassen. Bitte, geht doch, und das mit dem Trinken bringe ich ihm sicher auch noch bei.

Als es draußen dunkel und kühl wird, gehen wir ins Clubhaus, um dort weiter zu feiern. Die lustigen Hochzeitsspiele bleiben uns nicht erspart. Moritz und ich müssen auf einem Overheadprojektor die Montagsmaler geben, Rücken an Rücken sitzend Fragen über unseren Partner mit »ja« oder »nein« beantworten (seltsamerweise gewinne ich gegen Moritz mit sieben zu drei, er hat anscheinend noch weniger Ahnung über uns als ich), Isabell und Dirk zeigen eine Dia-Show und erzählen dabei noch einmal die Geschichte von mir und Moritz nach, wobei ich zu meinem großen Erstaunen feststellen muß, daß ich ganz offensichtlich noch mit zwanzig Jahren Burlington-Pullover getragen habe. Nachdem ich mich von diesem Schock erholt habe, werfe ich um Mitternacht meinen Brautstrauß, um den sich Heike, Julie und Babette ein heftiges Gefecht liefern.

»Ist Heike den Mormonen beigetreten?« wundere ich mich über ihren sportlichen Einsatz.

»Wieso das?« fragt Moritz.

»Sie ist doch längst verheiratet.«

»Da weißt du mehr als ich.« Scheiße, wieder ein Fettnäpfchen, ich muß besser aufpassen. Bis morgen mittag werde ich mich so sehr in Widersprüche verwickelt haben, daß Moritz mich entweder einweisen läßt oder mich für meine totgesagte Zwillingsschwester hält. Und damit habe ich dann noch Glück gehabt. Am besten, ich tue in einem unbeobachteten Moment so, als hätte ich mir aus Versehen eine Weinflasche auf den Kopf gehauen und dadurch Gedächtnisverlust erlitten. Erspart mir eine Menge Arbeit und Ärger. Und das kann schließlich mal vorkommen, daß man sich selbst eine Pulle über die Rübe zieht.

»Äh, hatte den Eindruck, daß sich zwischen ihr und Dirk vielleicht was tut«, versuche ich mich herauszureden.

»Glaub ich nicht. Außerdem hätte Isabell sicher einiges dagegen.«

»Mag sie Dirk nicht?«

»Also wirklich«, mein Traummann seufzt genervt auf, »für dich gibt es kein Bier mehr, du bist ja schon total blau!« Moritz nimmt mir einfach mein Glas weg und stellt es einem vorübergehenden Kellner aufs Tablett. »Dirk und Isabell sind seit einem Jahr miteinander verheiratet. Wir waren doch sogar ihre Trauzeugen.«

Mein Gott, das kann man doch wohl mal vergessen, oder? Das erklärt aber auch, warum ausgerechnet diese beiden unsere Eheschließung bezeugen mußten. Und jetzt sind also nicht mehr Heike und Dirk verheiratet, sondern Isa und Dirk. Da soll noch einer durchsteigen, regelrechte Inzucht herrscht in meiner Clique. Aber so ist das eben in meiner Gesellschaftsschicht. Sieht man ja in der Boulevardpresse. Da vögelt doch auch jeder mit jedem quer durcheinander.

»Isa Neugebauer«, murmele ich vor mich hin. Klingt komisch.

»Nein«, werde ich von Moritz korrigiert. »Dirk von der Mark.« Mit diesen Worten nimmt er mir auch noch das Karameleis mit Nußlikör, das ich mir vom Dessertbüffett geholt habe, aus der Hand und lächelt nachsichtig. »Ist besser für dich.«

Um fünf Uhr morgens bin ich fix und fertig. Und nüchtern. Das habe ich um diese Uhrzeit schon lange nicht mehr erlebt. Für meinen Geschmack reicht es jetzt mit Hochzeiten, aber unsere Gäste sehen nicht so aus, als wären sie in den nächsten ein, zwei Stunden totzukriegen. Außer Omi, die selig in ihrem Stuhl schlummert, den leeren Flachmann vor sich auf dem Teller. Wenn wir beide gleichaltrig wären, hätten wir hier sicher eine Menge Spaß miteinander gehabt!

Vor allem, weil Julie leider schon um ein Uhr fahren mußte. Ihr fabelhafter David muß nämlich am nächsten Morgen früh raus. Will mit Kumpels einen Männerausflug irgendwo in die Pampa machen.

Vielleicht sollte ich doch mal mit ihr reden. Ich kann gar nicht fassen, daß meine fröhliche, toughe Julie sich von so einem Idioten kleinhalten läßt und sich bis zur Selbstaufgabe anpaßt. Das ist keine Liebe, das ist Dummheit. Wenn David mit Julie nicht klarkommt, wie sie ist, soll er sich doch am besten vom Acker machen. Ach was, auch dann! Aber soll ich ihr das wirklich sagen? Oder lieber die Klappe halten? Kennt man ja, die Geschichte von dem Boten, der erschossen wird, weil er eine schlechte Nachricht überbringt.

»Zeig mal deinen Ring!« Heike reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Sie hält mir auffordernd ihre Hand hin. Wo habe ich diesen Satz erst neulich gehört? Es fällt mir wieder ein: auf der Toilette der Mood Lounge. Allerdings unter etwas unschöneren Bedingungen. Ich reiche Heike meine Hand, sie setzt sich auf einen Stuhl neben mich und betrachtet ihn ehrfürchtig.

»Wie schön der ist! Hat bestimmt eine Menge Geld gekostet.« Ich lasse den kleinen, eingearbeiteten Diamanten im Kerzenlicht aufblitzen. Sieht in der Tat nicht billig aus. Wie alles hier. Billig war gestern. Heike seufzt.

»Du bist wirklich zu beneiden.« Aus ihrem Mund klingt das ganz anders als aus Isas. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, als würde sie mich am liebsten mit meinem Schleier erwürgen und mit der Hochzeitstorte ersticken. »Ob ich wohl auch mal heirate?« Sie spielt nachdenklich an ihrem Ringfinger herum.

»Sicher«, meine ich und sehe dabei zu Isa und Dirk rüber, die seit zwei geschlagenen Stunden miteinander tanzen. Heike folgt meinem Blick. Dann beugt sie sich leicht zu mir rüber und flüstert: »Ich war mal in ihn verliebt.«

»In Dirk?«

Heike reißt erschrocken die Augen auf, als hätte sie Angst, daß jemand meine Frage hören könnte. Dann macht sie ein ängstliches »Pssst« und nickt.

»Ja, das weiß bis heute keiner. Ich sollte es auch gar nicht erzählen, aber …«

»Erzähl es mir ruhig, ich behalte es für mich«, verspreche ich ihr.

»Wir haben uns vor zwei Jahren beim Juristenball wiedergetroffen«, fängt Heike an. Genau das hat sie mir beim Abitreffen doch auch erzählt, aber die Geschichte ist offenbar danach etwas anders weitergegangen. »Wir sind zwei, drei Mal miteinander ausgegangen«, erzählt sie weiter. »Mir war eigentlich sofort klar, daß es mich erwischt hat. Und ich dachte, Dirk würde es genauso gehen.« Hektisch dreht sie sich noch einmal nach den beiden um, ob sie uns auch wirklich nicht hören können. »Nach unserer dritten Verabredung haben wir uns lange geküßt, ich hatte Schmetterlinge im Bauch wie ein Teenager.« Sie lacht und sieht dabei so traurig aus, daß ich unwillkürlich ihre Hand nehme.

»Wie ist es weitergegangen?« will ich wissen. Heike zuckt mit den Schultern.

»Ich hab Dirk zu Isas Geburtstagsfeier mitgenommen. Du weißt schon, die Grillparty im vorletzten Jahr. Moritz und du, ihr wart ja auch da.« Ich nicke einfach mal – wenn Heike das sagt, werden wir wohl dagewesen sein. »Eigentlich war an dem Abend alles normal, er hat sich nur nett mit Isa unterhalten, mehr war da nicht.« Sie schluckt. »Aber danach hat er sich eine ganze Woche nicht bei mir gemeldet, und als ich ihn dann endlich an die Strippe bekommen habe, hat er mir gesagt, daß wir uns nicht mehr treffen können. Ich hab erst gar nicht verstanden, was los war. Aber als ich Isa und Dirk dann zwei Monate später Arm in Arm bei einer Ausstellungseröffnung getroffen habe, war es mir klar.« Trotzig wischt sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das hat mich so richtig fertiggemacht – da läßt er mich für Isabell stehen.«

»Glaub mir«, sage ich tröstend, »ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Ich könnte aufstehen und der Schlampe aufs Maul hauen. Hätte ich nie für möglich gehalten, daß ich mal in Versuchung geraten würde, mich für Heike Ludwig zu prügeln. Aber in diesem Moment ist sie mehr als das: Sie ist ein bißchen ich.

»Na ja«, meint Heike, »ich kann’s ja auch verstehen, Isa ist schon eine tolle Frau. Dagegen bin ich langweilig.«

»Jetzt hör mir mal zu!« Ich bin’s, Charly Wood, Rächerin der Entherzten. »An Isabell von der Mark ist überhaupt nichts toll! Die ist falsch und hinterhältig und sie interessiert sich nur dann für einen Mann, wenn er einer anderen gehört.« Jawoll, das mußte mal gesagt werden! Heike sitzt da und starrt mich mit offenem Mund an.

»Also, daß du so etwas über deine allerbeste Freundin sagst – das schockt mich doch ziemlich!« Allerbeste Freundin? Mit Verlaub, das schockt mich!

Doch bevor ich über mich selbst und die Auswahl meiner engsten Freunde ein vernichtendes Urteil fällen kann, legt die Jazzband einen Tusch hin, bei dem selbst Omi mit einem Schlag wieder strammsteht. Herr und Frau Lichtenberg bauen sich mit stolz geschwellter Brust mitten im Saal auf, Moritz’ Vater reißt das Mikrophon an sich.

»Liebe Freunde, liebe Gäste!« Noch eine Rede? Morgens um fünf? »Keine Angst, ich will hier keine Rede halten!« Erleichterung, wohin man blickt. »Meine Frau und ich wollen das Hochzeitspaar lediglich darum bitten, jetzt augenblicklich dieses Fest zu verlassen.« Ein Rauswurf von der eigenen Hochzeit, das hat man auch nicht alle Tage. Klingt aber ganz cool. Moritz neben mir grinst breit. Der weiß was.

»Was ist los?« will ich von ihm wissen.

»Wart’s ab.« Er grinst noch breiter, als hätte er gerade einen ganzen Schwarm Kanarienvögel verschluckt. Frau Lichtenberg zieht hinter den großen Lautsprecherboxen Stück für Stück eine ziemlich häßliche Gepäckkollektion von Louis Vuitton hervor. Um das Set perfekt zu machen, müßte da eigentlich noch ein Yorkshireterrier rausgucken. »Sieh mal, Schatz: unsere Koffer!« ruft Moritz. Ich hatte es befürchtet. »Na, klingelt es?«

»Und nachdem uns Charlottas Vater heute abend mit seinen Worten eine große Freude gemacht hat, haben wir neben dieser Feier«, er macht eine ausholende Handbewegung, die wohl »alles meins« bedeuten soll, »eine weitere Überraschung für euch: die Hochzeitsreise!« Während alle Gäste in frenetischen Applaus ausbrechen, sehen meine Eltern aus, als hätte Herr Lichtenberg ihnen soeben eine gezimmert. Was er ja auch hat. Was denkt dieser Idiot sich eigentlich?

»Ist dein Vater noch ganz dicht?« rege ich mich auf.

»Schatz, bitte nicht wieder diese Diskussion, die hatten wir jetzt oft genug«, erwidert Moritz. Da ich mich leider an keine einzige dieser Diskussionen erinnern kann, wird er sie mit mir jetzt wohl doch noch einmal führen müssen!

»Wie kommt er dazu, meine Eltern so zu beleidigen?«

»Bitte Schatz, du hast ja recht: Er ist ein Idiot. Aber wir werden ihn nicht mehr ändern, also lassen wir ihn.« Ich halte die Klappe, obwohl innerlich alles grummelt und ich Herrn Lichtenberg am liebsten mein Louis-Vuitton-Kosmetikköfferchen an den Kopf werfen würde.

Aber es passiert was viel Besseres: Mein Vater steht auf, stellt sich zu den beiden und spricht laut und deutlich ins Mikro: »Meine Frau und ich haben euren Flug bezahlt. Business-Class. Und in zwei Stunden geht’s los. Und die Jazzband, die ist übrigens auch von uns!« Ich finde es gut, daß er das nicht so auf sich sitzen läßt.

»Daß ihr zwei auf Reisen geht, wußtet ihr ja schon«, ereifert sich Frau Lichtenberg jetzt, »aber nun wollen wir euch endlich verraten, wohin: Wir haben euch eine Suite reserviert. Im Rei di Firenze.«

»In Florenz«, flüstert Moritz mir ins Ohr, als wüßte ich nicht, was Firenze bedeutet. Und während sein Vater und meiner sich am Mikro noch immer kindische Wer-hat-was-bezahlt-Gefechte über das Büfett, die Blumendeko, den Rolls Royce, der uns hergefahren hat, und die für den Abend eigens engagierte Klofrau liefern, versinke ich in einem langen, langen Kuß mit Moritz.

Als uns die sonore Stimme von Käptn Kirk verspricht, daß wir in zwei Stunden wohlbehalten auf dem Flughafen Peretola landen werden, kann ich es noch nicht fassen. Immerhin hatte ich in meinem alten Leben schon drei erfolglose Versuche unternommen, la Firenze persönlich kennenzulernen. Versuch Nummer eins endete mit Julie in Mailand. Dann war Schicht wegen »sciopero generale« (Generalstreik – eine große Leidenschaft dieses großen Kulturvolkes), und wir fanden uns nachts um eins auf dem zugigen Bahnhof wieder. Was eigentlich auch nicht schlimm war, schließlich hatten wir da schon die Bekanntschaft zweier mitreisender Transvestiten im Paillettenkleidchen gemacht, die uns kurzerhand in ihren »Club« in die Mailänder Altstadt mitnahmen. Was dann so alles passierte, habe ich aus guten Gründen löschen lassen – mitsamt meiner kurzen Interrail-Karriere.

Versuch Nummer zwei war genaugenommen meine Oberstufenfahrt in der zwölften Klasse. Beziehungsweise sie wäre es gewesen. Die Leistungskurse Kunst und Latein hatten sich für Bella Italia angemeldet, und unser Deutsch-LK hatte kurzerhand beschlossen mitzufahren. Schließlich, so unsere logische Erklärung für Florenz und gegen Frankfurt, sei ja schon Goethe auf Italienreise gegangen. Aber auch diesmal sollte ich es nur bis Bayern schaffen. Weil ich als einziges Mädchen darauf bestanden hatte, den Jungs beim Leeren ihrer Barcardiflasche beizustehen, fand ich mich irgendwann kopfüber in der Bustoilette wieder. Kurzerhand wurde ich auf dem Rastplatz Nürnberg-Feucht entsorgt, auf eigene Kosten in ein Taxi und anschließend in die Bahn gesetzt. Um meine Eltern nicht unnötig in Rage zu bringen, verbrachte ich die anschließende Woche einfach bei Julie. Und ich kann nicht sagen, daß ich da nicht auch jede Menge Erfahrungen gesammelt habe, die die Oberstufenfahrt wahrscheinlich nur schwerlich getoppt hätte.

Meinen dritten Florenz-Versuch startete ich spontan nach einer durchfeierten Nacht. Morgens um sieben stand ich mit einem Typen auf dem Fischmarkt, der – ein Stück Gemüse in der Hand – feststellte, die deutschen Tomaten seien im Vergleich zu den italienischen nur der vierte Aggregatszustand von Wasser, was ich zum willkommenen Anlaß nahm, ihn und sein Auto zu einem Trip Richtung Süden zu überreden. So düsten wir los und verstanden uns prima – mit fortschreitender Dealkoholisierung bekamen wir uns Kilometer für Kilometer aber immer mehr in die Haare, bis unsere junge Liebe kurz vor dem Brenner in Trümmern lag. Anschließend mußte ich gut tausend Kilometer zurücktrampen, während mein Aufriß vom Fischmarkt alleine weitergurkte ins Land, wo die Tomaten blühen.

Aber aller guten Dinge sind vier, und wie könnte der vierte Anlauf besser beginnen als jetzt – als frischgebackene Frau Lichtenberg? Ich sehe zu Moritz hinüber und frage mich, was er gerade denkt. Sieht er uns beide Hand in Hand durch die Florentiner Altstadt laufen? Fragt er sich, wie viele Kinder wir mal haben werden? Oder denkt er an die Hochzeitsnacht, die uns noch bevorsteht?

»Sag mal, Schatz? Wieso wußtest du eigentlich schon, daß unsere Eltern uns eine Reise nach Florenz schenken?«

»Weil es meine Idee war«, antwortet Moritz knapp und winkt die Stewardeß heran, um sie nach einer Zeitung zu fragen. Ich freue mich so lange ein bißchen. Weil Moritz also doch weiß, was ich mir wünsche. »Ich kenne den Direktor vom Rei di Firenze ganz gut, der hat meinen Eltern einen Sonderpreis gemacht.«

Kann der Idiot nicht einfach die Klappe halten? Pragmatismus ist eine schöne Sache, aber doch nicht auf meiner Hochzeitsreise!

»Warum guckst du denn so enttäuscht?«

»Och, nix.«

»Sag nicht nix, wenn es nicht stimmt. Du weißt, ich kann das nicht leiden!«

»Es ist halt nur …«

»Ja, was denn?« Bin ich kindisch, wenn ich anfange, auf Prinzipien herumzureiten? Immerhin geht es ja nach Florenz, ist doch egal, warum. Nein, ich bin nicht kindisch. Ich bin eine Frau!

»Ich hab halt gedacht, wir würden nach Florenz fliegen, weil du weißt, daß ich da immer schon mal hinwollte.« Schmoll.

»Schatz!« Moritz rollt die Zeitung, die ihm die Stewardeß gegeben hat, genervt zusammen und klopft damit auf die Innenfläche seiner linken Hand. »Hast du eigentlich vor, mich auf ganz subtile Art und Weise in den Wahnsinn zu treiben?«

»Wieso?«

»Weil wir schon zweimal zusammen in Florenz waren! 1994 und 1997. Außerdem hast du doch sogar deine Studienfahrt dahin gemacht.«

»Aber ich meine doch als Hochzeitsreise«, krächze ich eingeschüchtert. »Auf Hochzeitsreise wollte ich immer nach Florenz.«

»Dann freu dich, daß es da jetzt für drei Tage hingeht.« Er hat mich so weit: Mal wieder fange ich an zu flennen. Die Zeitungsstewardeß eilt herbei.

»Geht es ihnen nicht gut?« Ich flenne weiter. Das ist Moritz sichtlich peinlich. So etwas kommt in der Business-Class sicher nicht so oft vor, alle drehen sich nach mir um.

»Nein, nein, meine Frau ist nur … wir sind frisch verheiratet, das sind nur die Nerven.«

»Frisch verheiratet?« Die Stewardeß strahlt. »Wie schön! Dann bringe ich ihnen doch gleich mal zwei Gläser Champagner!«

»Nein, danke, wir …«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, unterbreche ich Moritz, nachdem ich mich blitzartig von meinem Weinkrampf erholt habe. Drei Tage! Dann will ich wenigstens jetzt einen Schampus haben!

Der Champagner kommt, ich bin mit mir und der Welt wieder einigermaßen im reinen. Einigermaßen.

»Drei Tage, das reicht ja gerade mal, um eine Pizza zu essen und wieder abzufliegen«, stelle ich fest und schlürfe an meinem Glas.

»Gar nicht wahr«, erwidert Moritz, hangelt sich den Reiseführer, der in der Tasche seines Vordersitzes steckt, und schlägt ihn auf. »Siehst du«, sagt er und zeigt auf die aufgeschlagene Seite, »Florenz in drei Tagen, da steht’s doch.« Super, wir werden mit einem Sightseeing-Bus herumgondeln und mit Glück noch irgendwo eine Heizdecke aufgabeln. Oder ein Kochset.

»Können wir denn nicht noch ein paar Tage verlängern?« versuche ich es auf meine charmanteste Art und Weise. Ist richtig ungewohnt, bin so selten zielgerichtet charmant. »Du kennst doch den Hotelmanager …« Aber Moritz, der Kaltherzige, schüttelt den Kopf.

»Wir haben das doch vorher schon x-mal besprochen, daß wir nur ein verlängertes Wochenende fahren«, erwidert er genervt. Aha, wieder eine Info, die mir fehlt. »Du weißt doch, daß ich dieses wichtige Projekt habe, und da …« Während Moritz mir wortreich die Gründe für unsere Kurz-Flitterwochen erläutert, wird meine Aufmerksamkeit bereits von etwas anderem gefangen genommen: ein früherer One-Night-Stand. Zwei Reihen links vor uns. Ich bin mir ganz sicher, den hätte ich nicht vergessen! Schon will ich mich ducken, weil ich nicht ausgerechnet auf meiner Hochzeitsreise von einem amourösen Abenteuer entdeckt werden will, als mir wieder einfällt: Ist ja gar nicht passiert. Hab ich doch alles löschen lassen. Also kann ich mich ruhigen Gewissens aufrecht und für jeden gut sichtbar hinsetzen. Der Typ hat keinen blassen Schimmer, wer ich bin. Ich kichere vor mich hin.

»Was lachst du denn jetzt so blöd?« Moritz sieht aus, als begreife er die Welt nicht mehr. Oder zumindest seine Frau.

»Ist schon gut«, beruhige ich ihn, »mach dir keine weiteren Gedanken.« Ein stummes »Weiber!« ausstoßend greift er nun wieder zu seiner Zeitung und beginnt zu lesen.

»Äh, läßt du mich bitte raus? Ich muß mal.« Es geht nicht anders, ich muß das jetzt einfach ausprobieren. Moritz schnallt sich ab und steht auf, so daß ich mich vor ihm durchquetschen kann. Hocherhobenen Hauptes stolziere ich an den Sitzreihen vorbei und bleibe auf Höhe meines One-Night-Stands stehen, um mir einen Schnürsenkel zuzubinden. Leider habe ich gar keine Schnürsenkel, also tue ich im letzten Moment so, als wäre mir was hinuntergefallen. Beim Herabbeugen nehme ich den Kerl ganz genau ins Visier.

Er ist es, gar kein Zweifel! Friedrich heißt er. Hab ich vor gut einem Jahr auf dem Kiez aufgetan. Er war in einem Laden mit Tischtelefonen, wo ich nur gelandet war, weil ich meine Tasche samt Handy verloren und irgendwen gefragt hatte, wo ich denn mal telefonieren könnte. Der Auskunftgeber war offenbar nicht mehr ganz zurechnungsfähig gewesen.

Jedenfalls stand ich auf einmal in diesem komischen Club der einsamen Herzen und wollte gerade wieder gehen, als auf dem Tisch vor mir das Telefon klingelte und ein Mann aus dem Hörer nuschelte. »Ich bin die Nummer 32 – guck mal!«

Also guckte ich und entdeckte Friedrich, und da ich sowieso keinen Haustürschlüssel mehr hatte, fand ich es ganz praktisch, die Nacht woanders zu verbringen. Und dabei blieb mir sogar der lästige Beischlaf erspart. Denn ebenso eindrucksvoll wie der Drache, den Friedrich sich rund um sein Gemächt hatte tätowieren lassen, war seine Erektionsstörung. Rien ne va plus. Ich überlegte, ob es wohl irgendeinen Zusammenhang gab. Aber die Höflichkeit verbot mir, Friedrich danach zu fragen. Ich wollte nicht schuld sein, wenn die restlichen Nervenstränge vor lauter Schreck am Ende auch noch den Geist aufgaben.

Friedrich. Und jetzt sitzt er also im gleichen Flieger wie ich auf dem Weg nach Florenz und erkennt mich nicht. Ich gehe weiter Richtung Toiletten und werfe ihm einen langen Blick zu. Nichts. Obwohl er gerade aufsieht und mir direkt ins Gesicht schaut. Gar nichts. Keine Reaktion. Wie wunderbar!

Auf der Toilette warte ich zwei Minuten, weil ich ja gar nicht muß, dann öffne ich die Tür wieder – und stoße unvermittelt mit dem Drachen ohne Feuer zusammen. Ich gucke ihn an. Er guckt mich an. Tentakelartig legt er einen Arm um meine Taille und drückt mich halb in die Kabine zurück.

»Ich bin schon da«, raunt er mir ins Ohr.

»Was?« Ich versuche, mich los zu machen.

»Hab schon geschnallt, was du willst.«

»Ich will, daß Sie mich loslassen!« protestiere ich.

»Brauchst gar nicht so zu tun, weiß doch, was du für eine bist.«

»Kennen Sie mich?« frage ich erschrocken. Es hat doch nicht geklappt, so ein Dreck! Aber Friedrich schüttelt den Kopf.

»Hab deinen Blick genau gesehen.« Er schiebt mich noch ein Stück weiter in die Kabine. »Also los, auf in den Mile-High-Club.«

»Können Sie mir bitte mal erklären, was Sie da mit meiner Frau veranstalten?« Moritz Indiana Jones hat sich mit einer Liane von seinem Sitz zu mir geschwungen, um mich aus den Klauen dieser Bestie zu befreien. Puh. »Hero of the day«, Metallica.

»Oh.« Friedrich macht sich ruckartig von mir los und streicht sich sein angeknittertes Hemd glatt. Ich für meinen Teil bin froh, mein Leben nicht im Würgegriff dieses Verrückten auf einer Flugzeugtoilette aushauchen zu müssen. Das wäre für eine Frau Lichtenberg kein würdiges Ende gewesen. Betreten ein paar Entschuldigungen murmelnd, tapst Friedrich zu seinem Platz zurück. Moritz und ich folgen ihm in angemessenem Sicherheitsabstand. Als wir an ihm vorbeigehen, kann ich nicht an mich halten.

»Mile-High-Club!« zische ich ihm zu. »Lächerlich! Du hättest doch eh nicht gekonnt, du Schlappschwanz!« Friedrich wird rot und versteckt sich hinter seinem Bordmagazin.

»Charlotta!« schimpft Moritz hinter mir und schubst mich schnell an ihm vorbei zu unseren Plätzen. Ist doch wahr!

Im Landeanflug auf Florenz hat Moritz sich immerhin schon wieder so weit beruhigt, daß er meine Hand hält.

»Ich verstehe überhaupt nicht, was mit dir in den letzten Tagen los ist«, sinniert er. »Erst verschwindest du am Morgen unserer Hochzeit spurlos, dann greife ich dich total verwirrt vor deiner alten Wohnung auf, du weißt nicht mehr, wer wer und wer mit wem verheiratet ist, und zum krönenden Abschluß läßt du dich von einem wildfremden Mann auf der Bordtoilette befummeln!« Eine steile Sorgenfalte zeichnet sich auf seiner Stirn ab.

»Vor der Bordtoilette«, korrigiere ich ihn, ernte aber sofort einen bösen Blick. »Es tut mir leid«, lenke ich ein. »Mich regt das alles so auf, ich bin in den letzten Tagen einfach furchtbar durcheinander.«

»Das habe ich schon gemerkt«, sagt Moritz und tätschelt meine Hand. »Nur gut, daß ich bei dir bin und auf dich aufpasse. Wer weiß, was sonst noch passieren würde.« Ich sage dazu nichts, soll er sich ruhig als Held fühlen.

Nachdem wir mit unseren peinlichen Louis-Vuitton-Köfferchen den Zoll passiert haben, wartet draußen bereits ein livrierter Fahrer, der ein Schild mit »Signor & Signora Lichtenberg« hochhält. Andächtig bleibe ich einen Moment stehen und betrachte die Tafel. Wie nett das aussieht, Signor & Signora! Dann werde ich von Moritz weitergedrängt, zwei Minuten später sitze ich in einer schwarzen Hotellimousine des Rei di Firenze.

Ich stecke meinen Kopf aus dem Fenster und genieße den warmen Fahrtwind, während ich die Dächer von Florenz immer schneller auf uns zukommen sehe. Draußen sind es bestimmt fünfundzwanzig Grad, links und rechts wird die Straße von Pinien gesäumt, dahinter wölben sich sanft die Olivenhaine. Ich kann’s gar nicht erwarten, bis wir endlich da sind! Ich will sofort am Arno entlangspazieren, auf dem Ponte Vecchio die kleinen Goldschmieden sehen, über die ich schon so viel gelesen habe, will in die Boboli-Gärten, in die Uffizien zu Botticellis Venus, will auf der Piazza della Signoria tanzen und Chianti aus einer Korbflasche trinken, will …

»Wenn wir da sind, hau ich mich erst mal hin«, unterbricht mein Mann hochromantisch meine Träumereien. »Ich bin vollkommen fertig.« Das wollen wir doch mal sehen, denke ich, ob du dich wirklich hinlegst. Charly kennt da das eine oder andere Mittel, das zu verhindern.

Im Hotel angelangt komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Rei di Firenze ist bombastisch! Mehr ein Palast als alles andere, in der Eingangshalle wird jeder unserer Schritte von dicken, kostbaren Teppichen verschluckt, die Wände sind mit Marmor verkleidet, überall stehen die teuersten Antiquitäten herum. Reichtum ist gar kein Ausdruck für das, was mir hier entgegenschlägt.

Während Moritz uns beide einträgt, studiere ich interessiert die Preisliste, die am Ende des Counters diskret ausliegt. 2609 Euro kostet unsere Suite. Pro Nacht! Mit bleibt die Luft weg, davon lebe ich sonst drei Monate. Stumm winke ich Moritz heran und zeige ihm meine Entdeckung. Er wirft einen kurzen Blick auf die Zahl, bleibt aber ansonsten gänzlich desinteressiert.

»2609 Euro«, flüstere ich – immer noch unter Schock stehend –, als wir allein in unserer Suite sind. Auch hier alles wie aus dem Museum, da traue ich mich ohne Zusatzversicherung gar nicht, irgend etwas anzufassen. »Für eine einzige Nacht!«

»Ja.« Moritz öffnet die großen Fenster, aus denen wir direkt auf den Arno blicken können. »Ist schon eine Stange Geld.«

»Eine Stange Geld nennst du das?« Ich bin immer noch fassungslos. »Bei drei Nächten, die wir bleiben, macht das zusammen … äh …«

»7827 Euro«, teilt Moritz mir mit und gibt mir einen Kuß auf die Stirn.

»Genau! 7827 Euro!« Auch, wenn es ein wirklich schöner Blick auf den Arno ist – für das Geld setze ich mich lieber mit einer Pulle Bier an die Elbe und mache mir ansonsten ein paar sorgen- und arbeitsfreie Monate. »Oder ist da etwa noch ein schicker Italiener mit inbegriffen?«

»Was für ein schicker Italiener?«

»Vergiß es.« Hatte vergessen, daß mein Mann sich mit anzüglichen Späßen nicht so auskennt.

»Ich habe dir doch gesagt, daß der Manager uns einen guten Preis gemacht hat«, erinnert Moritz mich.

»Selbst die Hälfte ist noch unanständig.«

»Es kostet auch nicht die Hälfte.«

»Ein Viertel?« Moritz schüttelt den Kopf. »Niente«, antwortet er dann.

»Niente? Wir wohnen hier für nichts?«

»So ist es.« Klack, klack, klack. Der Euro fällt bei mir centweise.

»Aber ich denke, deine Eltern zahlen das Hotel und meine den Flug.«

»Auch das ist richtig.« Moritz grinst breit. »Wir Lichtenbergs zahlen einfach mit unserem guten Namen.« Mit diesen Worten nimmt er mich in den Arm, führt mich zum Fenster und blickt mit mir hinaus auf den Fluß. »Und ab heute gehört dieser Name auch dir.« Er stellt das so feierlich fest, daß ich eigentlich auf das Einsetzen einer Fanfare warte. Aber nichts passiert.

Einen Augenblick überlege ich, ob ich mich mit ihm streiten soll. Ich beschließe, es nicht zu tun. Das hier sind immerhin meine Flitterwochen. Flittertage. Flitter-verlängertes-Wochenende. Die Familienfehde kann auch bis zu unserer Rückkehr warten. Und so lange werde ich mir Mühe geben, die Welt mit den Augen einer frischgebackenen Lichtenberg zu sehen.

»Laß uns mal die Suite inspizieren«, schlage ich nach einer Weile Arno-Gucken vor und nehme Moritz bei der Hand. Gemeinsam machen wir uns auf Wanderschaft. Angesichts der goldenen Armaturen im Bad und der teuren Gemälde, die in jedem Zimmer hängen, kommt selbst Moritz ins Staunen. Aber das Allerschönste ist das riesige Himmelbett im Schlafzimmer, das mit strahlendweißer Bettwäsche bezogen ist. Kichernd ziehe ich Moritz hinter mir her, und wir lassen uns auf die weichen Kissen fallen.

»So ist es schön«, seufzt Moritz, während er in meinem Arm liegt und ich ihm den Kopf kraule. »So könnte ich die nächsten drei Tage liegen bleiben.«

»Kommt nicht in Frage«, stelle ich fest und springe wieder auf, ich kann nicht still sitzen bleiben. In einer Ecke des Schlafzimmers stehen zwei Stühle und ein kleiner Bistrotisch, darauf ein Obstkorb und eine Flasche Champagner. Wahrscheinlich eine Aufmerksamkeit des Hauses. Ich nehme die Champagner-Flasche und entdecke daran eine Karte. »Sieh mal«, sage ich zu Moritz und halte die Karte hoch. Er steht auf und kommt zu mir.

»Was ist denn das?« fragt er, umarmt mich von hinten und fängt an, die Karte vorzulesen, die ich ihm unter die Nase halte.

»Liebe Charlotta, lieber Moritz! Wir wünschen euch einen prickelnden Start in euren Honeymoon. Eure Freunde Isa, Dirk, Heike, Babette, Julie und David.« Er legt die Karte zurück in den Korb. »Wie nett«, stellt er fest, »da haben sich unsere Freunde wohl zusammengetan.«

»Ja«, stelle ich fest und muß wieder daran denken, daß ich offensichtlich mit Isabell von der Mark in diesem Leben ganz dicke bin. Na, gibt Schlimmeres. Zum Beispiel … »Tim!« entfährt es mir. Ich habe Tim komplett vergessen! Da heirate ich und denke nicht eine einzige Sekunde an meinen allerbesten Freund!

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum du diesen Tim jetzt unbedingt von Florenz aus anrufen mußt. In drei Tagen sind wir doch schon wieder zu Hause!« Moritz beobachtet verständnislos, wie ich auf der Tastatur unseres Zimmertelefons herumhacke.

»Pronto? Pronto?« brülle ich der italienischen Signora, die sich am anderen Ende der Leitung meldet, entgegen. »Tim war noch nicht einmal auf unserer Hochzeit«, erkläre ich ihm zwischen meinen einzelnen Prontos. »Vielleicht weiß er gar nicht, daß ich geheiratet habe, ich muß ihm doch wenigstens Bescheid sagen, und …«

»Wenn er so ein guter Freund ist, wird er ja wohl mitbekommen haben, daß du heiratest.«

»Du verstehst das nicht.« Und ich habe auch keine Ahnung, wie ich es ihm erklären soll.

»Ich verstehe in der Tat nicht, warum meine Frau auf der Hochzeitsreise panisch versucht, einen anderen Mann anzurufen.« Gut, da hätte so manch anderer vielleicht auch Erklärungsbedarf. Ich kapituliere und lasse den Telefonhörer sinken.

»Du hast recht«, sage ich und setze mein schönstes frischvermähltes Lächeln auf. »Wir sind ja bald wieder zu Hause, bis dahin kann es warten. Und jetzt laß uns raus, die Stadt erkunden.« Ich nehme ihn bei der Hand und will ihn hinter mir herziehen. Aber Moritz hält mich zurück. Er hat schon wieder dieses Kanarienvogel-Grinsen drauf.

»Zuerst begeben wir uns auf eine andere Erkundigungstour.« Mal sehen, was das alte Himmelbett so aushält!