10. Kapitel

Frau Lichtenberg ist doch ganz glücklich. Als ich nach diesem, sagen wir, erkenntnisreichen Tag nach Hause komme, empfängt mein Mann mich mit einem riesigen Strauß roter Rosen, Kerzen und einer guten Flasche Rotwein.

»Was ist denn hier los?« will ich wissen.

»Ich habe mich auf dich gefreut«, sagt Moritz und gibt mir einen langen Begrüßungskuß. Ich bin, gelinde gesagt, verwirrt. Steht denn jetzt alles kopf? Heute morgen ist er noch stinksauer auf mich, jetzt läßt er rote Rosen regen? Trotzdem schön, das kann ich nach diesem Horrortag gebrauchen. »Tut mir leid, daß ich gestern abend und heute früh so grantig war. Ich steh so unter Druck wegen dieses Auftrags.« Und mir geht’s erst rosig, denke ich. Aber das Schlimmste habe ich ja erst mal zurechtgebogen: Als ich vorhin noch einmal kurz im Hotel war, hatte Georg bereits gebadet und schlummerte friedlich wie ein Baby in seinem Bett. Ein wesentlich schönerer Anblick als die zugige Nische am Bahnhof.

»Schon in Ordnung«, sage ich deshalb gnädig, »war vielleicht wirklich nicht so glanzvoll, mein Auftritt gestern abend.«

»Ich liebe dich!« flüstert Moritz mir ins Ohr und nimmt mich ganz, ganz fest in den Arm. Kaum zu glauben, wie gut sich das in diesem Moment anfühlt, ich bin eben mit der Situation total überfordert. Besser gesagt mit meinem Leben. Aber das kann ich Moritz natürlich nicht erklären. Ich bin einfach nur froh, daß er da ist und mir das Gefühl gibt, daß alles, alles wieder gut wird. Bis vor ein paar Minuten hätte ich mir noch gewünscht, meine Löschaktion bei New Life wieder rückgängig machen zu können. Aber jetzt weiß ich: Das kriege ich auch so wieder hin.

»Ich habe noch was für dich«, verkündet Moritz und läuft zum Sofa, auf dem ein großes Paket liegt.

»Noch was? Wir haben doch nicht schon etwa Hochzeitstag?« Wie hat er nur gewußt, daß ich gerade heute ein bißchen Zuwendung brauche? Wir sind eben doch füreinander geschaffen.

»So ähnlich«, meint Moritz und küßt mich noch einmal. »Genauer gesagt ist heute unser siebter. Oder vom Standesamt gerechnet der zehnte, kannst du dir aussuchen.«

»Dann nehme ich beide!« Gespannt reiße ich das Papier auf, zum Vorschein kommt ein Karton von genau der Boutique, in der ich vorgestern war. »Was ist das?« will ich wissen.

»Mach’s doch einfach auf!«

Fast zittern mir die Hände, als ich den Deckel hochhebe und das gelbe, zarte Seidenpapier aufklappe. Ich kann es kaum fassen: das grüne Kleid! Was ich nicht kaufen wollte, weil es so teuer war. Ich nehme es heraus und halte es fassungslos vor mich.

»Woher hast du gewußt …« Moritz grinst stolz, als er sieht, wie sehr ich mich darüber freue.

»Ich war heute nachmittag in deinem Lieblingsladen«, erklärt er. »Und da hat mir die Verkäuferin erzählt, daß du vorgestern eine halbe Stunde um dieses Kleid geschlichen bist. Dachte mir, damit mache ich dir eine Freude.«

»Eine Freude?« Ich muß ihn noch einmal umarmen, meinen wundervollen Ehemann. »Aber das Teil ist doch wahnsinnig teuer gewesen!«

»Weißt du denn nicht«, sagt Moritz und fängt ganz langsam an, meine Bluse aufzuknöpfen, »daß du mir alles wert bist?« Nein. Das wußte ich bisher noch nicht. Daß ich jemandem alles wert sein könnte. Wo ich mir selbst doch oft genug nichts wert gewesen bin. Ich lasse mich von Moritz zum Sofa rüberziehen, schmiege mich an ihn, küsse ihn an allen erdenklichen Stellen, treibe mit ihm fort. Auf Stufe fünfzehn meiner Skala und darüber hinaus.

Als wir schließlich erschöpft einschlafen, habe ich nur noch einen Gedanken: Ja, es hat sich gelohnt. Für dieses Gefühl, von ihm so sehr geliebt und gewollt zu werden, hat sich alles gelohnt. Auch, wenn’s mir für St. Pauli wirklich leid tut.

Am nächsten Morgen werde ich von dem Duft nach frischem Kaffee geweckt. Als ich die Augen aufschlage, entdecke ich auf dem Couchtisch neben mir ein Tablett mit frischem Orangensaft, Croissants, Marmelade … Alles da für ein gemütliches Frühstück am Samstagmorgen. Alles – bis auf Moritz. Ich liege allein auf dem Sofa, zugedeckt von dem grünen Kleid. Im Aufstehen hangele ich nach einem Croissant, ziehe mir Moritz’ Hemd über und mache mich auf die Suche.

»Moritz?« Ich laufe durchs ganze Haus, kann ihn aber nirgends finden. Wo steckt er nur? Die Uhr zeigt elf, wo kann er hin sein? Schnell steige ich in meine Jeans und sehe in der Garage nach. Sein Wagen ist da, also kann er nicht weit sein. Immer noch habe ich dieses wohlige Gefühl von letzter Nacht im Bauch, am liebsten würde ich durchs Haus tanzen und singen. Warum eigentlich nicht? Kann doch machen, was ich will!

Vor dem CD-Regal muß ich nicht lange suchen, natürlich lege ich Grönemeyer ein. Während »Demo« läuft, suche ich weiter. Erst nach dem dritten Gang durchs Haus sehe ich, daß die Tür zum Vorgarten offensteht. Bin wohl blind. Blind vor Liebe, denke ich kichernd.

Da entdecke ich meinen Mann, wie er am Strand entlang aufs Haus zugejoggt kommt. Fast packt mich das schlechte Gewissen. Laufe ich sonst morgens mit ihm? Hoffentlich nicht, bei meinem Fitneßstand ist es unwahrscheinlich, daß ich bei dem muskulösen Mann mithalten kann, der da draußen gerade Kniebeugen macht. Oder ist mein neuer Körper doch ganz fit? Ich beobachte Moritz weiter, drehe die Musik noch lauter. Wahrscheinlich kann er sie trotzdem nicht hören, dabei würde ich sie jetzt gern mit ihm teilen.

Mir kommt eine Idee. Schnell krame ich meinen Discman aus der Tasche im Flur, lege die Grönemeyer-CD rein und ab an den Strand. Moritz hat mir den Rücken zugedreht. So leise es geht, pirsche ich mich an ihn heran. Tatsächlich hört er mich nicht, bis ich ganz dicht hinter ihm stehe. Dann nehme ich die Kopfhörer und setze sie ihm auf.

Du bist mein siebter Sinn!

Ruckartig dreht Moritz sich um und sieht mich entsetzt an.

»Was soll das denn?« blökt er mich an und reißt sich die Kopfhörer herunter. Nicht ganz die Reaktion, die ich erwartet hatte.

»Ich wollte dich überraschen«, sage ich enttäuscht.

»Das ist dir gelungen! Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen.«

»Tut mir leid, aber hör doch mal!« Ich nehme ihm die Kopfhörer aus der Hand und setze sie ihm wieder auf. Moritz lauscht ein, zwei Sekunden, dann nimmt er sie wieder ab.

»Was ist das?«

»Grönemeyer«, erwidere ich kleinlaut. Moritz verzieht das Gesicht.

»Den kann ich nicht leiden.«

»Ja, aber es geht doch um … hör doch mal auf den Text!« Menno! Mach doch mal!

»Komm, Charlotta«, sagt er, nimmt mich bei der Hand und zerrt mich Richtung Haus. »Laß uns frühstücken.« Na gut. Ich habe ihn halt überrumpelt. Habe gedacht, er wüßte, was mir das bedeutet. Dann fällt mir ein: Er kann es gar nicht wissen, habe die Halt-Mich-Episode ja löschen lassen. Hätte er sonst anders reagiert? Als wir ins Haus kommen, fällt mein Blick wieder auf das grüne Kleid. Bestimmt hätte er das!

Nach dem Frühstück teilt Moritz mir mit, daß er noch mal ganz schnell ins Büro muß. Zuerst will ich mich darüber ärgern, lasse es aber und frage ihn statt dessen, ob er mich bei der Arbeit absetzen kann.

»Was willst du denn am Samstag im Büro?« fragt er erstaunt.

»Na, und selber?«

Er lacht.

»Gut, da hast du recht. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn du so fleißig bist. Irgend jemand muß ja das Geld dafür verdienen«, sagt er grinsend und zeigt auf mein Kleid.

»Sehr witzig! Dafür müßte ich wohl ziemlich lange arbeiten.« Wobei mir einfällt, daß ich keine Ahnung habe, wie viel ich bei Arts & Tainment wohl verdiene. Wäre nicht uninteressant!

»Du, Charlotta?« Irgend etwas hat Moritz auf dem Herzen, als wir vor meinem Büro halten. Jedenfalls fange ich immer so an, wenn ich was auf dem Herzen habe. Meistens nichts Gutes.

»Ja?«

»Es geht um heute abend.«

»Ja?« Noch mehr rote Rosen? Abendessen im Le Canard? Kurztrip zur Mailänder Scala?

»Also, es ist so«, stottert Moritz herum, »wir haben doch seit drei Monaten diesen neuen Chef in der Firma.« Aha, was Berufliches. Da soll er ruhig rumdrucksen.

»Ja?« frage ich unschuldig.

»Ja, dieser neue Chef … Also, der hat natürlich mitbekommen, daß ich geheiratet habe.«

»Natürlich.«

»Und zu unserer Hochzeit konnte er doch nicht kommen, weil seine Frau und er da gerade im Urlaub waren.«

»Hm?«

»Und gestern hat er mich gefragt, wie es denn so war, und ich habe ihm von dem Urlaub vorgeschwärmt … und von dir natürlich …«

»Komm auf den Punkt!«

»Na ja, und ich habe ihm gesagt, er und seine Frau sollen doch einfach mal zu uns zum Essen kommen.«

»Wie schön!«

»Genau. Und das machen sie auch. Nämlich heute abend.«

»Heute abend?« Ich bin wie vom Donner gerührt, und mein Kopf schwirrt: Gestern, die Rosen, das Kleid – war das alles nur Strategie, um mich für heute abend wieder in gute Stimmung zu bringen? »Das ist ja wohl nicht dein Ernst!« fahre ich ihn an. »Du hast das alles nur gemacht …«

»Gar nicht wahr!« entfährt es Moritz, und er klingt dabei wie ein kleiner bockiger Junge. »Ich wollte dir eine Freude machen.«

»Schon klar! Damit ich dir eine Freude mache und heute abend die liebliche Ehefrau im lieblichen Kleid mime!« Mit einem Ruck reiße ich die Tür auf und springe aus dem Wagen. »Eins muß man dir lassen«, brülle ich, bevor ich die Tür zuknalle, »ein guter Stratege bist du ja, deine Firma wird sich freuen!« Dann gehe ich, ohne mich noch ein Mal zu ihm umzudrehen, Richtung Büro. Zwei Sekunden später höre ich den Wagen wegfahren. Sobald er außer Sichtweite ist, mache ich auf dem Absatz kehrt. Auch ich bin keine schlechte Strategin!

Als ich im Hotel ankomme, ist Georg noch brav auf seinem Zimmer und schläft. Ein Glück, ich hatte schon befürchtet, er könnte einfach abgehauen sein. Die Frau an der Rezeption begrüßt mich schon wesentlich freundlicher als bei meinem ersten Auftauchen, wahrscheinlich habe ich dem Laden hier die Jahresbilanz gerettet.

Im Zimmer setze ich mich auf einen Stuhl und warte fast eine halbe Stunde, bis Georg aufwacht. Als er die Augen öffnet, wirkt er zunächst verstört und sieht sich hektisch um, wo er hier ist.

»Alles gut«, rede ich beruhigend auf ihn ein, »du bist in einem Hotelzimmer.« Benommen schüttelt er den Kopf und versucht, sich langsam aufzusetzen.

»Brauch was zu trinken«, bringt er mühsam hervor. In der Minibar finde ich eine kleine Flasche Schnaps und reiche sie ihm. Gierig nimmt er einen Schluck und schnappt dann nach Luft und hustet, weil er sich verschluckt hat. Ich springe auf und klopfe ihm auf den Rücken. Georg nickt dankbar. »Huh«, stöhnt er, »bin auch keinen guten Tropfen mehr gewohnt.« Ich werfe einen Blick auf die Preisliste, die auf dem Nachttisch liegt. Fünfzehn Euro für das kleine Fläschchen – das ist ein guter Tropfen. Oder der Hotelbesitzer ein guter Kalkulator.

»Ich weiß, Sie kennen mich wahrscheinlich nicht«, fange ich an und belasse es nach meinem vorschnellen Du erst einmal beim Sie. Er schüttelt den Kopf. »Ich heiße Charly.«

»Georg«, sagt er daraufhin. »Und ich kenne Sie wirklich nicht. Aber Sie müssen ja wohl so was wie ein Engel sein.« Ich lächele verschämt, doch eher das Gegenteil.

»Ich wollte Ihnen nur helfen«, erkläre ich.

»Das habe ich auch schon gemerkt. Aber warum?« Er sieht mich fragend an. Was soll ich darauf antworten? Dann fängt er an zu lachen. »Wenn Sie mich um die Ecke bringen und meine Einzelteile verschachern wollen, muß ich Sie enttäuschen. Meine Nieren sind nicht mehr zu gebrauchen, und meine Leber …« Wieder schüttelt ihn ein Hustenkrampf. »Na ja«, bringt er zwischen zwei Atemzügen hervor, »sehen Sie ja selbst.«

»Das wird schon wieder«, sage ich zuversichtlich, »Sie müssen sich erst einmal etwas ausruhen und wieder auf den Damm kommen.«

»Vertun Sie sich mal nicht: Ich nutze Ihre Freundlichkeit so lange aus, wie’s geht.« Ich greife nach seiner Hand und drücke sie.

»Machen Sie das ruhig!« Mal sehen, wie lange die goldene Amex das hergibt, denke ich. Aber soweit ich weiß, hat die ein ziemlich hohes Limit. »Ich wollte Sie was fragen: Kennen Sie noch das Drinks & More?« Georg denkt einen Moment lang nach, dann nickt er ganz langsam.

»Ja«, antwortet er, »war mal eine Kneipe, gar nicht weit von hier. Soll ein netter Laden gewesen sein.« Meine Hoffnung sinkt, klingt nicht so, als wäre er da ein und aus gegangen.

»Waren Sie denn nie da?« frage ich trotzdem. Er schüttelt den Kopf. »Und einen Tim Kramer kennen Sie auch nicht?« Wieder denkt er nach und nimmt den restlichen Schluck aus der Flasche.

»Nein«, sagt er dann, »kenne ich nicht.« Das wundert mich nicht. Niemals hätte Tim zugelassen, daß es Georg einmal so schlecht gehen würde, wenn er ihn gekannt hätte.

»Passen Sie auf«, sage ich und stehe dabei auf. »Sie können hier so lange bleiben, wie Sie wollen, die Hotelrechnung ist bezahlt. Inklusive Vollpension.«

»Aber ich …«, setzt Georg an.

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, unterbreche ich ihn. »Sie verdanken das einem guten Freund.«

»Ach ja? Ich habe einen so guten Freund?«

»Ja, das haben Sie.« Dann gehe ich zur Tür. »Ich komme hin und wieder mal vorbei und sehe nach Ihnen. Und wenn etwas ist«, ich krame ein Stück Papier aus meiner Tasche und kritzele noch schnell meine Handynummer darauf, »können Sie mich hier jederzeit erreichen.«

»Danke.« Mehr sagt er nicht. Er nimmt den Zettel und sinkt erschöpft zurück aufs Bett. Bevor ich die Tür hinter mir zuziehe, ruft er mich noch einmal: »Charly?« Ich gehe zurück. »Wer ist denn dieser gute Freund?«

»Das muß ich Ihnen ein anderes Mal erklären. Aber glauben Sie mir, es ist ein sehr guter Freund.« Dann gehe ich hinaus.

Draußen auf der Straße setze ich meinen Kopfhörer auf, drehe die Musik so laut es geht und wandere ziellos durch die Straßen. Ich muß erst einmal einen klaren Kopf bekommen, damit ich weiß, was ich als nächstes tue. Und da hilft nun mal nichts so gut wie Nummer vier von »Matrix«.

Als ich um halb sieben nach Hause komme, ist Moritz schon in heller Aufregung. In der Küche wuselt eine angeheuerte Servicekraft herum und klappert mit allen möglichen Töpfen und Pfannen. Alles perfekt vorbereitet, wie mir scheint. Perfekt. Bis auf mich. Bin halt nicht perfekt. Nicht so, wie Moritz es will.

»Da bist du ja!« Er wirkt eher erleichtert als verärgert. »Hör zu«, redet er auf mich ein, ehe ich etwas sagen kann, »du hast recht, ich bin ein riesiger Idiot! Aber ich wollte dich bestimmt nicht verletzen, ich dachte doch nur …«

»Schon gut«, würge ich seine hilflosen Erklärungsversuche ab. »Ich versteh dich ja auch. Aber ich glaube, ich bin einfach ganz anders als du.« Er sieht mich lange an, ehe er etwas sagt.

»Früher warst du das nie«, stellt er dann fest. Ich muß fast lachen, weil er keine Ahnung hat, wie sehr er damit ins Schwarze trifft.

»Schon möglich«, sage ich und gehe zur Treppe. »Ich werd mich dann mal umziehen.« Dann will ich hochgehen, aber Moritz hält mich an der Hand fest.

»Danke, Schatz«, sagt er und lächelt etwas verunglückt. »Du weißt ja, wie wichtig das für mich …« Er unterbricht sich. »… für uns ist.«

»Ich weiß.« Ich habe dieses Leben gewollt. Jetzt ist es an mir, auch für mich das Beste daraus zu machen. Und als ich beim Hochgehen noch einmal einen Blick in unsere schöne Halle werfe, denke ich, es könnte einen ja nun wirklich schlimmer treffen.

Nachdem ich mich geduscht, gefönt und geschminkt habe, ziehe ich das grüne Kleid an. Es sitzt wie angegossen. Wenn man mal von dem kleinen Bäuchlein, das letzte Woche noch nicht da war, absieht. Ich gehe in die Kleiderkammer und suche nach einer Bauch-Weg-Strumpfhose. Vergebens. Das hat Frau Lichtenberg bisher anscheinend nie gebraucht. Dann müssen wir jetzt halt alle mit meinem Bäuchlein leben. Ich und Moritz und sein Chef und dessen Frau. Ein bißchen schlecht wird mir schon, wenn ich an den bevorstehenden Abend denke. Endlos lange Gespräche über die Firma, belangloser Smalltalk mit der Gattin des Chefs. Wird mein Leben nun eine endlose Aneinanderreihung solcher Veranstaltungen sein? »Ich hasse das«, Fettes Brot. Da werde ich vorher die Notbremse ziehen müssen!

In meinem Schmuckkästchen finde ich ein paar Ohrringe mit Steinen aus grüner Jade. Dazu noch eine schlichte, goldene Kette, aus dem Schrank hole ich ein paar hohe Riemchensandaletten. Als ich mich vor dem Spiegel betrachte, bin ich selbst ganz baff. Ich sehe schon toll aus. So gar nicht wie ich, aber gut. Bis auf das Bäuchlein, das bin schon ich. Unten höre ich die Türklingel, also ist unser Besuch eingetroffen.

»Guten Abend«, höre ich Moritz unsere Gäste begrüßen. Fünf Minuten warte ich noch, dann müßten sie im Wohnzimmer Platz genommen haben, und ich kann – ganz elegante Gastgeberin – hereinschweben. Langsam zähle ich die Sekunden rückwärts. Am allerliebsten würde ich einfach hier oben bleiben. Sollen sie mich doch holen kommen. Aber irgendwie denke ich auch, daß ich es Moritz schuldig bin. Er kann ja nichts dafür, wenn er auf einmal eine ganz andere Frau bekommt als die, die er heiraten wollte.

Aus dem Wohnzimmer erklingt Gelächter, als ich die große Flügeltür öffne. Moritz und eine Frau stehen neben dem Eßtisch, beide ein Sherryglas in der Hand. Die dritte Person wird von Moritz verdeckt.

»Charlotta!« Moritz dreht sich lächelnd zu mir um und gibt dabei den Blick auf unseren Ehrengast frei. »Darf ich vorstellen, das sind Herr und Frau …«

»Tim!« Ohne weiter nachzudenken, stürze ich auf ihn zu und falle ihm um den Hals. Es ist wirklich Tim, mein Tim, der bei uns im Wohnzimmer steht. Sein Sherryglas geht bei meiner stürmischen Umarmung geräuschvoll zu Boden. »Du weißt nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen!« Ich strahle ihn an – und bemerke erst jetzt, daß er meine Freude nicht gerade teilt. Peinlich berührt mache ich mich von ihm los. Er lacht verlegen auf, seine Frau bückt sich nach dem heruntergefallenen Glas, und Moritz sieht aus, als würde er mir gleich eine scheuern.

»Ich … äh …«, bringt Tim hervor und lacht verlegen. »Die Freude ist ganz meinerseits.«

»Die Zahnlücke!« rufe ich als nächstes aus, als hätte ich sie nicht mehr alle. Hab ich wohl auch nicht, aber ich habe mich gerade nicht so ganz im Griff. »Deine Zahnlücke ist weg!« Tatsächlich entblößt er beim Lächeln eine Reihe ebenmäßiger, gerader Zähne. Alfred E. Neumann, mit Hollywoodgebiß.

»Könnte mir mal jemand erklären, was hier los ist?« schaltet sich Tims Frau jetzt ein. »Kennt ihr beiden euch?« Tim guckt vollkommen perplex erst zu ihr, dann zu mir.

»Nicht, daß ich wüßte«, sagt er dann.

»Es tut mir leid.« Nun löst sich auch Moritz aus seiner Schreckstarre. »Meine Frau ist in letzter Zeit ein bißchen … ein bißchen …«

»Ich … es tut mir leid«, stottere ich und streiche verlegen mein Kleid glatt. »Irgendwie dachte ich, ich kenne Sie.«

»Den Eindruck, daß Sie den Eindruck hatten, habe ich auch«, stellt Tim fest und grinst dabei spitzbübisch. Er ist es, daran besteht kein Zweifel, auch ohne die Zahnlücke.

»Zumindest kennen Sie den Vornamen meines Mannes«, mischt Tims Frau sich wieder ein.

»Vermutlich habe ich den Namen mal erwähnt«, erklärt Moritz. Doch die Frau seines Chefs sieht nicht so aus, als würde sie das schlucken. Tut sie auch nicht.

»Und seine kieferorthopädischen Befunde sind Ihnen offensichtlich auch bekannt.«

»Stimmt«, stellt Tim fest, »wir sind uns offensichtlich doch schon einmal begegnet.«

»Ja, ich …« Es ist nicht der richtige Rahmen, um Tim die ganze Geschichte zu erzählen. Gar nicht der richtige Rahmen. »Ich glaube, ich habe vor Jahren mal ein Foto von Ihnen gesehen.« Tim, seine Frau und Moritz blicken mich abwartend an. »Im Manager Magazin?« Kopfschütteln. »Spiegel?« Nein. »Forbes?«

»Ist ja auch egal«, unterbricht Tim galant meine hilflose Stammelei, »jetzt kennen wir uns auf jeden Fall.« Er reicht mir seine Hand. »Angenehm, Rademacher.« Rademacher? Ach, egal! Dankbar ergreife ich seine Hand. »Und das ist meine Frau Andrea.« Auch ihre Hand schüttele ich brav, obwohl sie im Moment eher so aussieht, als würde sie sie mir am liebsten abbeißen.

»Tja«, Moritz lacht angespannt, »nachdem wir uns nun alle miteinander bekannt gemacht haben, können wir uns ja zu Tisch begeben, nicht wahr?« Während wir zur Tafel schreiten, wirft er mir noch einen warnenden Blick zu.

Bei der Hauptspeise haben wir uns alle so weit von meinem kleinen Auftritt erholt, daß wir eine Art normales Gespräch führen können. Soweit es unter diesen Umständen überhaupt möglich ist. Andrea Rademacher guckt immer noch etwas pikiert, und mir ist das alles so peinlich, daß ich mich am liebsten zusammen mit der Servicekraft in der Küche verstecken würde. Tim scheint der einzige zu sein, der sich hier amüsiert. Paßt zu ihm, der war ja schon immer ein Sonnenschein.

»Erzählen Sie doch mal«, fordere ich ihn irgendwann auf, als ich mich außer Lebensgefahr wähne, »wie Sie in die Firma meines Mannes gekommen sind.«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortet er.

»Wir haben ja Zeit«, kommt Moritz mir unabsichtlich zur Hilfe. Er ahnt nicht, daß ich hoffe, mehr über Tims Vergangenheit zu erfahren.

»Tja, wo soll ich anfangen?« will Tim wissen. Am besten dort, wo sich dein ganzes Leben geändert hat, würde ich am liebsten sagen. Als du beschlossen hast, das Drinks & More aufzugeben, wieder einen auf Unternehmensberater zu machen und diese komische Tante namens Andrea zu heiraten. Sorry, vielleicht ist sie ja ganz nett.

»Am Anfang«, sage ich statt dessen brav, während ich allen noch einmal Wein nachschenke.

»Eigentlich teilt sich mein Leben in zwei, nein, in drei Abschnitte.«

»Aha? Interessant.« Moritz ist ein großartiger Schmeichler, das muß ich zugeben.

»Zuerst ging bei mir alles ziemlich nahtlos: Jurastudium, Promotion, dann mein erster Job bei einer Unternehmensberatung, in der ich ziemlich schnell aufstieg.«

»Kann ich mir vorstellen«, wirft Moritz ein. Gleich bleibt er vor lauter Schleimerei an seinem Stuhl kleben!

»Und eines Tages passierte etwas Komisches: Ich hatte keine Lust mehr. Ich warf alles hin und machte eine kleine Kneipe auf. Eine Art Studentencafé in Ottensen.« Das Drinks & More, würde ich gern einwerfen, aber ich lasse es. Besser, ich verhalte mich so unauffällig wie möglich. »Weil der Laden relativ schnell gut lief und ich es allein nicht mehr schaffte, suchte ich eine Aushilfe. Und auf den Zettel, den ich im Fenster ausgehängt hatte, meldete sich meine heutige Frau Andrea.« An dieser Stelle nimmt er ihre Hand und küßt sie.

»Für mich war das damals nur ein Nebenjob, um mir das Studium zu finanzieren«, wirft sie ein.

»Wann war denn das?« möchte ich wissen.

Tim denkt einen Moment nach. »Das müßte im Sommer vor gut sieben Jahren gewesen sein.« Bingo! Vor genau sieben Jahren hab ich im Drinks & More angefangen. In meinem alten Leben. Im neuen hab ich offensichtlich mein Studium durchgezogen, und deshalb hat sich statt dessen Andrea auf den Aushang gemeldet.

»Ich habe damals gleich gedacht: Warum vergeudet Tim sein Talent und seine Ausbildung als Kneipier, aber gut …« Andrea verdreht in gespieltem Unverständnis die Augen.

»Aber dann haben wir uns irgendwann ineinander verliebt. Und vor drei Jahren hat Andrea mich dann überzeugt, daß ich meinem alten Beruf noch einmal eine Chance geben sollte.« Überzeugt? Überredet ja wohl eher! Klappe halten, Charly!

»Letztes Jahr haben wir geheiratet«, erzählt Andrea die Geschichte zu Ende. »Tim hat dabei sogar meinen Namen angenommen.«

»Kramer ist ja nun wirklich nichts, woran man besonders hängt.« Doch. Ich habe daran gehangen. An Tim Kramer. Mit Zahnlücke und seinem Drinks & More. Aber wenigstens erklärt das, warum ich ihn nicht habe finden können. Er hat seinen Nachnamen geändert. Was ist eigentlich mit den Männern los, nehmen die jetzt alle den Nachnamen ihrer Frauen an? Alle, bis auf Moritz.

Tim handelt noch die Stationen bis zum heutigen Stand der Dinge ab, aber ich höre schon gar nicht mehr richtig zu. Ich bin auf einmal traurig. Traurig darüber, daß mein Tim mich nicht mehr kennt. Daß er jetzt verheiratet ist und ein Leben lebt, das er doch nie gewollt hat. Und er weiß es nicht einmal. Er weiß nicht mal, wieviel Spaß wir miteinander hatten. Alfred E. Neumann und die Schlampe. Ich schenke mir noch ein Glas Wein ein.

»Charlotta«, zischt Moritz kaum hörbar. Der kann mich mal. Ich habe hier gerade meine private Tragödie zu bewältigen.

Gegen Mitternacht machen sich die Rademachers zum Aufbruch bereit. Den ganzen Abend über habe ich versucht, Tim mal kurz allein zu sprechen, aber es war einfach nicht zu machen. Als sie sich im Flur von uns verabschieden, merke ich, wie langsam Panik in mir aufsteigt. Ich kann ihn so nicht gehen lassen, ich muß noch mal mit ihm reden! Zu groß ist meine Angst, daß er morgen einfach wieder verschwunden ist, in meinem verrückten Leben halte ich mittlerweile alles für möglich! Aber was soll ich tun? Ihn hier vor versammelter Mannschaft zur Rede stellen? Wohl kaum. Vorher werde ich wahrscheinlich von Moritz mit einem gezielten Handkantenschlag zu Boden gestreckt.

Als die beiden schon fast an der Tür sind, fällt mein Blick auf die Blumenvase, die auf dem kleinen Beistelltisch im Flur steht. Meine einzige Chance, denke ich, komme ins Stolpern und falle so gegen die Vase, daß ihr schon leicht bräunlicher Inhalt sich über Tims Mantel ergießt.

»Oh«, rufe ich aus, »das tut mir so leid, ich …« Mit diesen Worten habe ich Tim schon in die Gästetoilette gezerrt und die Tür hinter uns zugeknallt. Drinnen rubbele ich mit einem Handtuch an seinem feinen Kaschmirmantel herum.

»Lassen Sie doch«, wehrt er sich gegen meine Übereifrigkeit, »das ist doch nicht so tragisch.«

»Hören Sie zu«, sage ich energisch, während ich weiterrubbele, »das klingt jetzt alles bestimmt sehr komisch für Sie, und ich habe auch nicht die Zeit, es Ihnen zu erklären. Aber ich muß Sie wiedersehen und mit Ihnen reden. Bitte!« Tim starrt mich sprachlos an. Dann rede ich eben weiter. »Ich bin morgen nachmittag um drei an der Strandperle und warte so lange, bis Sie kommen.« Bevor er antworten kann, reißt Moritz die Tür auf und betrachtet wütend die Szene.

»Was soll denn das, Charlotta?« Er reißt mir das Handtuch weg, an dem wahrscheinlich schon der halbe Kaschmirmantel klebt.

»Ich wollte nur helfen«, erwidere ich entschuldigend.

»Danke«, sagt Tim und zwängt sich an mir vorbei in den Flur. Dann haben er und seine Frau es auf einmal sehr eilig. Ein schneller Gruß, schon sind sie draußen bei ihrem Wagen. Ich sehe ihnen nachdenklich hinterher. Ob er kommen wird? Die gemietete Kellnerin sammelt im Flur die Scherben der Vase auf und kichert vor sich hin.

Kaum haben wir die Wohnungstür geschlossen, geht Moritz auf mich los.

»Willst du mir eigentlich meine Karriere ruinieren, oder was sollte das?«

»Nein, natürlich nicht, ich …«

»Du bist aber auf dem besten Weg!« Dann stapft er die Treppe in den ersten Stock hinauf. Ich selbst ziehe es vor, heute auf dem Sofa zu nächtigen. Habe Angst, daß Moritz mich sonst im Schlaf erwürgt.

Am nächsten Tag bin ich schon um zwei Uhr bei der Strandperle. Zu groß ist meine Angst, daß ich Tim verpassen könnte. Moritz ist schon in aller Herrgottsfrühe zum Segeln aufgebrochen. Ist mir ganz recht so, habe ohnehin keine Lust, mir den ganzen Tag sein vorwurfsvolles Gesicht anzusehen. Aber ich kann schon verstehen, daß jemandem, der keine Ahnung hat, was los ist, mein Verhalten etwas merkwürdig vorkommen muß.

Es sind jede Menge Leute an der Elbe, und ich denke schon, daß es vielleicht kein so schlauer Treffpunkt war. Wäre kein Wunder, wenn ich Tim bei den Menschenmassen glatt übersehe.

»Hallo, Charly!« Oh nein, Heike! Die hätte mich ja nun wirklich übersehen können. Aber nein, sie kommt freudestrahlend auf mich zu. »Was für ein Zufall, daß ich dich hier treffe.« Ja. Und was für ein schlechter Zufall. »Ist Moritz auch da?«

»Nein«, antworte ich, »der ist Segeln.«

»Habt ihr Ärger?« Sofort setzt Heike ein mitfühlendes Gesicht auf. Wie kommt sie darauf? »Isa hat so was erwähnt.« Aha, daher weht der Wind.

»Nichts Besonderes.«

»Dann ist ja gut.« Darauf weiß ich nichts zu erwidern. »Du, ich wollte dir noch mal sagen, wie lustig ich den Abend neulich fand, war einfach saukomisch, was du da erzählt hast.«

»Moritz fand es wohl nicht so saukomisch«, antworte ich leicht sarkastisch.

»Ach«, sagt Heike leichthin, »dem tut es mal ganz gut, nicht immer so bierernst an seine Karriere zu denken. Ich fand’s jedenfalls klasse!«

»Danke, beim nächsten Mal gehen wir beide besser allein aus.«

»Gern«, freut Heike sich. Klingt ja fast wie ein Kompliment. Ganz so blöd kann Charly Lichtenberg wohl doch nicht sein. »Ich muß jetzt weiter, Isa wartet auf mich.«

»Wieso triffst du dich eigentlich noch mit der?«

»Wie meinst du das?«

»Na, sie hat dir doch deinen Typen ausgespannt und so …«

»Ach, Quatsch, dafür kann sie doch nichts.« Heike nimmt mich noch einmal in den Arm und spaziert davon. Da wäre ich mir an ihrer Stelle nicht so sicher. Dabei frage ich mich, was Isa und Moritz sich eigentlich so alles erzählen, wenn ich nicht dabei bin. Und wie oft ich nicht dabei bin.

Ab kurz vor drei bin ich so aufgeregt, daß ich es kaum mehr aushalte. Wird er kommen? Oder hält er mich nur für eine komplett Verrückte? Bitte, bitte, bete ich still, er muß einfach kommen! Meine Gebete werden erhört, in nicht allzu weiter Ferne sehe ich ihn durch den Sand auf mich zustapfen. Jetzt liegt es nur bei mir. Ich muß ihm alles erzählen. Und wenn er mich bis jetzt noch nicht für verrückt hält, dann spätestens dann. Aber ich werde es trotzdem tun.

»Frau Lichtenberg«, begrüßt er mich lächelnd.

»Hallo, Herr Rademacher.« Klingt mehr als bescheuert, dieses Rumgesieze. »Schön, daß Sie gekommen sind.«

»Sie haben mich ja auch wirklich mehr als neugierig gemacht.« Richtig. Tim und seine Neugierde. Mir hätte klar sein müssen, daß er auf jeden Fall kommt, bei seiner Neugierde konnte man ihn schließlich schon immer packen!

»Kommen Sie, gehen wir ein Stück.« Bloß weg von dem Rummel hier, bei dem, was jetzt kommt, kann ich keine Zeugen gebrauchen. Nachdem wir etwa fünf Minuten Richtung Teufelsbrück spaziert sind, bricht Tim das Schweigen.

»Und? Verraten Sie mir jetzt endlich, warum Sie mich so dringend sprechen wollten?« Er kramt eine Zigarettenschachtel aus seiner Jacke und zündet sich eine an.

»Die Sache ist nicht ganz einfach.«

»Das hatte ich auch nicht erwartet.« Wieder lacht er. Das macht es mir etwas leichter. Aber leider nur etwas.

»Also gut.« Einfach geradeheraus, das wird das beste sein. »Sie und ich – wir kennen uns schon ziemlich lange.« Tim bleibt abrupt stehen.

»Wie? Lange?«

»Sieben Jahre?«

»Was?«

»Ich weiß, das klingt seltsam. Aber es ist so.«

»Aha. Ich bin ganz Ohr.«

»Wir haben uns in einem … anderen Leben kennengelernt.« Ich warte, wie Tim reagiert. Er sieht völlig verwirrt aus.

»Wie? Sie als die Königin von Saba und ich als Ihr treuer Lakai?« Schon wieder grinst er breit.

»Machen Sie keine Witze, dafür ist es viel zu ernst!«

»Oh, Verzeihung!« Er hebt in gespielter Abwehr beide Hände.

»Wir waren …« Ich verbessere mich. »Wir sind sehr gute Freunde.«

»Das hat meine Frau gestern auch noch die ganze Nacht gemutmaßt. Sie glaubt, wir hätten eine Affäre.«

»Verdammt noch mal, Tim!« fahre ich ihn jetzt an. Mir ist alles egal, es muß einfach raus. Raus aus mir, ich kann nicht mehr! »Du und ich, wir haben sieben Jahre lang das Drinks & More zusammen geschmissen. Und dann habe ich eines Tages in deinem komischen Armeemantel die Visitenkarte von einer blöden Personalberatung gefunden und gedacht, du wolltest den Laden aufgeben … Und dann bin ich selbst hingegangen, und da haben sie mir angeboten, mein ganzes Leben zu ändern und alles zu löschen, was mir nicht mehr gefällt und …« Tim starrt mich ungläubig an. »Und das habe ich dann gemacht. Auf einmal bin ich mit Moritz verheiratet, das Drinks & More gibt es nicht mehr, und Georg – ach, den kennst du ja gar nicht mehr. Na ja, und du bist jetzt auf einmal wieder Unternehmensberater und verheiratet und der Chef meines Mannes. Aber das ist alles erst seit letzter Woche so!« Mir ist ganz schwindlig, so schnell habe ich geredet, aber es ging einfach nicht anders.

Tim steht immer noch schweigend neben mir und blickt mich aus großen Augen an.

»Jetzt sag doch auch mal was!« Er schluckt. Einmal. Zweimal.

»Ich besitze keinen Armeemantel«, sagt er dann.

»Nein, natürlich nicht, nicht in diesem Leben. Aber vorher hattest du einen.« Diese Scheißlogik, wie soll ich ihm das nur begreiflich machen? Ich verstehe es ja selbst immer noch nicht so ganz.

»Was Sie da erzählen, ist doch kompletter Unsinn!«

»Bitte, Tim!« flehe ich ihn an. »Du mußt mir das einfach glauben. Ich weiß ja selbst, daß es verrückt klingt.«

»Das tut es in der Tat.« Tim stellt sich wirklich als hartnäckiger Fall heraus. Was kann ich denn nur sagen, damit er mir glaubt? Ich selbst würde es ja auch nicht glauben, wenn mir ein wildfremder Mann erzählen würde, daß wir eigentlich seit Jahren dicke Freunde sind, er nur mal eben schwuppdiwupp sein Leben geändert und mich damit aus selbigem eliminiert hat. Tim sieht mich abwartend an. Immerhin, er geht nicht sofort, irgend etwas hält ihn. Wenn mir doch bloß etwas Überzeugendes einfallen würde!

Dann kommt mir ein Gedanke: »Woher hätte ich denn sonst das mit der Zahnlücke wissen sollen?«

»Sie sagten doch, daß Sie mal ein Foto von mir gesehen haben.« Herrgott noch mal, der Mann macht mich fertig!

»Das habe ich doch nur gesagt, weil ich es in der Situation nicht anders erklären konnte! Bei Moritz und Ihrer Frau wäre das doch wohl etwas komisch angekommen.«

»Nicht nur bei denen.«

»Bitte! Bitte glaub mir doch!«

»Na gut.« Tim zieht hektisch an seiner Kippe. »Dann nehmen wir jetzt von mir aus an, daß es wahr ist: Dann leben Sie jetzt Ihr Leben und ich meins, und alles ist wunderbar. Was wollen Sie da noch von mir?« Was soll ich denn darauf antworten?

»Ich vermisse dich«, bringe ich schließlich stockend hervor und sehe zu Boden, »als Freund. Du fehlst mir, ich habe niemanden, mit dem ich richtig reden kann.« Als ich wieder aufblicke, betrachtet Tim mich spöttisch.

»Ach«, gibt er dann schmunzelnd von sich, »das ist jetzt aber schon ganz rührend.«

»Mach dich nicht lustig über mich.«

»Das tue ich nicht. Ganz im Gegenteil, so lustig finde ich das hier nicht.«

»Was kann ich denn noch sagen, damit du mir glaubst?« Ich bin noch nicht bereit aufzugeben. Auch, wenn er jetzt so abweisend tut, irgendwo da drin steckt der Tim, der mich versteht und der mir glauben wird.

»War’s das jetzt?« Sein Lächeln ist mittlerweile in offene Zurückweisung umgeschlagen. Er macht einfach dicht, ich komme nicht an ihn ran. Gleich wird er mich einfach stehen lassen.

»Warte!« Beeil dich, Charly, dir muß was einfallen! Aber was nur?

»Worauf?« Tim wirkt genervt. Was nur, was nur, was? Ich hab’s!

»Heute!« platzt es aus mir heraus.

»Heute?« Tim sieht mich verständnislos an. Ich nicke aufgeregt und versuche, meine wirren Gedanken zu ordnen. Hoffentlich kriege ich das noch zusammen.

»Du hast mal gesagt: Nur das Heute ist wichtig. Nicht das Gestern und nicht das Morgen, alles, was zählt, ist das Heute.« So ungefähr jedenfalls war das. Tim wirkt nachdenklich, und ich bete, daß ich ihn damit überzeugt habe.

»Klingt gut«, sagt er nach einer Weile, und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. »Ist aber leider nicht von mir.«

»Doch!« widerspreche ich ihm. »Natürlich ist das von dir! Du hast es selbst mal zu mir gesagt.« Tim seufzt und schüttelt den Kopf.

»Ich kenne Sie nicht«, wiederholt er. »Und ich habe das auch nie zu Ihnen gesagt! Ich glaube, Sie sollten sich professionelle Hilfe suchen, ich kann jedenfalls nichts für Sie tun.« Er läßt seine Zigarette auf den Boden fallen und tritt sie energisch aus. Fühlt sich an, als würde er gerade auf mir herumtrampeln. Aber er hat ja recht. Natürlich hat er das nie zu mir gesagt. Jedenfalls nicht in seinem jetzigen Leben, da kennen wir uns ja gar nicht. Und weil wir uns nicht kennen, haben wir uns auch nie über das Glück und das Heute und all die Dinge, die mir so wichtig sind, unterhalten. Ich merke, wie mir die Tränen hochsteigen.

»Es tut mir leid«, sage ich leise. Ich schäme mich ein bißchen, weil mir klar ist, daß Tim mich für nicht ganz zurechnungsfähig halten muß.

»Mir tut es auch leid«, erwidert er, und ich glaube sogar, daß er es ernst meint. Auch wenn er wahrscheinlich gar nicht weiß, warum. »Na dann.« Tim zuckt etwas unbeholfen mit den Schultern und wendet sich zum Gehen. Ich kann nichts weiter tun, als ihm nachsehen, wie er wieder aus meinem Leben verschwindet. Langsam stapft er durch den Sand zurück Richtung Straße. Jetzt fließen mir tatsächlich ein paar dicke Tränen übers Gesicht. Trotzig wische ich sie weg, ich will nicht heulen!

Wie habe ich es nur so weit kommen lassen können? Warum bin ich zu New Life gegangen und habe alles kaputtgemacht? Jetzt ist keiner mehr glücklich. Ich nicht. Und Tim auch nicht. Ich bin schuld daran, daß er wieder das Leben führen muß, das er nicht mehr wollte. Ich bin – auf einmal weiß ich es! Warum ist mir das nicht früher eingefallen?

»Moment!« rufe ich Tim nach und laufe hinter ihm her. Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um.

»Was denn noch?«

»Du bist nicht glücklich«, behaupte ich kurzerhand und sehe ihn herausfordernd an.

»Wie bitte?«

»Egal, was du sagst«, insistiere ich, »du bist nicht glücklich! Ich weiß es.«

Tim lacht spöttisch und will weitergehen. Aber ich werde ihn nicht lassen. Ich erinnere mich daran, was Tim mir mal erzählt hat. An etwas, das passiert ist, als er mich noch nicht kannte.

»What can I say? He’s walking away from what we’ve seen.« Ich singe. Singe das Lied von Tim Hardin. Ich kann überhaupt nicht singen, aber das ist mir in diesem Moment egal.

Tim bleibt stehen, dreht sich wieder zu mir um. Richtig fassungslos sieht er aus, da habe ich wohl tatsächlich ins Schwarze getroffen. Obwohl mir das Herz bis zum Hals schlägt, singe ich tapfer weiter. Wie in einem amerikanischen Scheiß-Kitschfilm. Fehlt nur noch, daß Ben Affleck gleich den Fluten der Elbe entsteigt und in mein Gejaule einstimmt:

What can I do?

Still loving you

It’s all a dream

How can we hang on to a dream?

How can it really be the way it seems?

Die letzten Zeilen kommen nur noch als ein rauhes Kratzen heraus, die Nervosität schnürt mir die Kehle zu. Entweder Tim glaubt mir jetzt endlich, oder ich kann es vergessen. Jahrelange Sekunden sieht er mich an. Dann greift er in seine Jackentasche, holt seine Zigaretten heraus, zündet sich noch eine an – und geht ohne ein weiteres Wort davon.

Ich bleibe allein zurück, setze mich auf einen Betonpoller und starre aufs Wasser. Hätte Ben Affleck vielleicht etwas ändern können, wenn er tatsächlich aufgetaucht wäre?