1. Kapitel

Musik ist das Schlimmste. Musik verspricht Dinge, die das Leben nicht hält. »Konzert in d-moll für 2 Violinen« von Johann Sebastian Bach. »Through the barricades« von Spandau Ballet. »O, mio babbino caro« von Giacomo Puccini. Nummer 6 auf dem Soundtrack zu »Meet Joe Black«. Echter Schrottfilm war das – aber Nummer 6 ist der Wahnsinn! Überhaupt sind Filme das beste Beispiel dafür, daß die Musik das macht. Eben Dinge versprechen: Glück. Liebe. Erfüllung. Fünftausend Euro Sofortrente. Ohne Musik würde das alles nicht funktionieren. Kein Mensch hätte in »Pearl Harbour« auch nur eine einzige Träne um Ben Affleck vergossen, wenn Faith Hill zu seinem heldenmäßigen Abgang nicht »There you’ll be« geschmettert hätte. Kaum setzt eine rührselige Ballade ein, schon werden überall die Taschentücher gezückt.

Oder nehmen wir den Typ, der gerade in meinem Bett liegt. Gestern nacht, als wir uns zu »Feel« von Robbie Williams übereinander hergemacht haben, da war er aufregend, sinnlich, sexy, der fleischgewordene Traum meiner einsamen Stunden. Aber jetzt, bei Tageslicht betrachtet und ohne jegliche musikalische Untermalung, ist er einfach nur noch irgendein Kerl. Weit und breit keine Spur mehr von dem Mann, mit dem ich gestern noch ausgewandert wäre, von mir aus sogar nach Bad Pyrmont. So ist das eben mit der Musik – sobald sie aufhört, kommt es einem vor, als hätte jemand den Weichzeichner von der Linse genommen. Wortlos werfe ich meinem One-Night-Stand seine ausgebeulte Jeans hin und hoffe, daß er den Wink versteht. Das tut er, zieht sich an und verläßt grußlos meine Wohnung. Als die Tür hinter ihm ins Schloß fällt, schwöre ich mir zum hundertsten Mal, keine wildfremden Typen mehr abzuschleppen. Oder sie wenigstens rauszuschmeißen, solange der CD-Player noch läuft.

Wenn das meine Mutter wüßte, denke ich auf dem Weg ins Bad, das Herz im Leib tät ihr zerspringen. Ist nicht von mir. Das sagt die schöne Prinzessin aus dem Märchen »Fallada« immer. Aber auf mich paßt es irgendwie auch. Und auf meine Mutter erst recht. An eine Prinzessin erinnert die Gestalt, die mich aus dem Badezimmerspiegel angrimmt, allerdings nicht gerade. Eher an Pumuckl auf Speed oder so. Die roten Haare sehen aus, als würde was drin nisten, meine Augen sind so grün und glasig, daß ich Commander Data vom Raumschiff Enterprise Konkurrenz machen könnte, und in meinem XXL-T-Shirt komme ich so unglaublich erotisch daher, daß es mir ein totales Rätsel ist, warum sich mein Gespiele vor seinem Entschwinden nicht noch einmal auf mich gestürzt hat.

Dabei klingt mein Name ziemlich nach Prinzessin: Charlotta. Erinnert an Spitzenkragen, Lackschühchen und rosa Samtschleife im Haar. Was haben meine Grundschullehrerinnen mich für diesen Namen geliebt! »Charlotta! Wie hübsch!« riefen sie immer verzückt aus, wenn sie zum Schuljahresbeginn die Anwesenheitsliste ihrer neuen Schützlinge studierten. Am Ende des Schuljahres sprachen sie meinen Namen dann allerdings meistens mit einem anderen Unterton aus. Irgendwie gereizter. Eines Tages in der 4. Klasse stellte eine meiner Lehrerinnen fest: »Ich glaube, wir sollten dich Charly nennen. Charly paßt viel besser zu dir.« Und dabei ist es bis heute geblieben, außer meinen Eltern sagt niemand mehr Charlotta zu mir. Das heißt, wenn ich mich recht erinnere, hat der Kerl von letzter Nacht mich sogar Charlotta genannt. Woher er das nur gewußt hat? Mehr als fünf Minuten haben wir auf keinen Fall miteinander gesprochen, bevor wir bei mir gelandet sind. Egal, wer will darüber jetzt noch nachdenken? Hauptsache, ich bin ihn los und kann zur Tagesordnung übergehen.

»Wenn das meine Mutter wüßte«, seufze ich wieder, stelle das Radio an und mich selbst unter die Dusche. Sie wäre von meinem Lotterleben wahrlich angetan, nahezu begeistert. Glücklicherweise wissen meine Eltern nicht das geringste, in ihrer Welt stehe ich kurz vor dem BWL-Diplom. Tatsächlich aber studiere ich rein gar nichts, vom Leben jetzt mal abgesehen. Dafür wird’s am Ende kaum eine gerahmte Urkunde geben, jedenfalls nicht von der Uni Hamburg oder irgendeiner anderen wissenschaftlichen Einrichtung. Dabei habe ich es ernsthaft versucht. Fünf Semester lang bin ich brav ein- bis zweimal pro Woche zu einer Vorlesung gegangen. Aber nach einem fulminanten Grundstudium – sieben von acht diplomrelevanten Klausuren versemmelt – habe ich es dann schließlich eingesehen: Wir passen nicht zueinander, die akademische Laufbahn und ich.

Wesentlich besser mache ich mich da schon im Drinks & More. So heißt die Kneipe, in der ich seit sieben Jahren kellnere. Ursprünglich war das nur als Nebenjob gedacht, aber mittlerweile gehöre ich quasi zum Inventar. An einem Samstagnachmittag hatte ich im Fenster den Aushang entdeckt, daß sie eine Aushilfe suchen, und mich bei Tim, dem Besitzer und mittlerweile meinem besten Freund, vorgestellt. Anfangs arbeitete ich dienstags, dann irgendwann auch freitags – tja, und jetzt serviere ich täglich von drei bis zum frühen Morgen drinks & more. Wobei »more« ein relativ dehnbarer Begriff ist, kommt ganz auf Tims Lust und Laune an: Mal ist das eine Hühnersuppe aus der Dose, dann wieder stellt er sich in die Küche und entwickelt die wildesten Eigenkreationen.

»The way I am« dröhnt Eminem aus dem Radio, während ich von der Dusche aus Richtung Kleiderschrank rappe. Wie bin ich denn heute? Wild und gefährlich? Jung und dynamisch? Sexy und verführerisch? Bei dem Gedanken an die vergangene Nacht entscheide ich mich für sexy und zerre ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Schlampe« aus dem Schrank. Ich weiß, lacht heute kein Mensch mehr drüber, aber als ich es vor drei Jahren an einem türkischen Grabbelstand entdeckte, war ich damit eine echte Sensation. Alle anderen hatten zu der Zeit Shirts mit »Zicke« oder »Hexe«, wie langweilig. Schlampe, das hat doch Gesicht! Dazu noch meine Lieblingsjeans, Sneakers, fertig. Ich gucke auf die Uhr, halb drei, ich sollte einen Zacken zulegen. In der Küche – eigentlich mehr eine Kochgelegenheit zwischen Wohnzimmer und Flur – haue ich mir schnell noch ein paar Fischstäbchen in die Pfanne. Fischstäbchen sind nämlich gut für die Seele.

Um sieben Minuten vor drei greife ich Tasche, Jacke, Discman und stürze aus der Tür. Im Treppenhaus falle ich fast über meine Nachbarin Julie, die gerade zwei riesige Aldi-Tüten hochwuchtet.

»Hallo Julie«, rufe ich im Vorbeilaufen. Wie immer antwortet sie mir nicht und guckt angestrengt auf den Boden, aber das ist eine andere Geschichte für einen späteren Zeitpunkt. Draußen schließe ich mein Mountainbike auf, schwinge mich auf den Sattel und trete zu »Clubbed to death« in die Pedale. Der vierte Song auf dem Soundtrack zu »The Matrix«. Matrix härtet ab für den Tag. Und das kann ich nach der letzten Nacht ziemlich gut gebrauchen.

»Ey, Schlampe!« Tim balanciert gerade drei übereinander gestapelte Kartons mit Biergläsern zum Tresen, als ich ins Drinks & More komme. Er freut sich, wenn ich dieses T-Shirt trage. Weil er bis zu seinem 32. Geburtstag so viele Windsor-Kostüme gesehen hat, daß es für den Rest seines Lebens reicht. Und noch für die nächsten drei. Behauptet Tim jedenfalls. Vor seiner Kneipiers-Karriere war er bei einer Unternehmensberatung (er spricht immer von Schnick-Schnack-Consulting), und das ziemlich erfolgreich. Jet Set, Überholspur, Champagner auf Eis und so, kenne ich persönlich nur aus Hollywood-Filmen. Und da wirkt es nur deshalb erstrebenswert, weil so hübsche Musik drüber liegt, aber ich will mich nicht andauernd wiederholen. Tim hat von heute auf morgen alles hingeschmissen und das Drinks & More eröffnet. Kollegen, Freundeskreis, Familie, Lebensgefährtin – alle waren komplett entsetzt. Tims Bezugsgruppe löste sich schneller in Nichts auf, als ich ein frisches Pils zapfen kann. Und ich bin echt schnell. Das ist schon fast acht Jahre her, und laut eigenem Bekunden hat Tim seine Entscheidung keinen einzigen Tag bereut. Im Gegenteil: Er meint, seit er das Drinks & More hat, schläft er zwar nachts nicht mehr, dafür aber um so besser.

»Na? Gestern nach Dienstschluß mal wieder rumgetrieben und versackt?« will Tim beiläufig wissen, während er die Gläser ins Regal über der Zapfanlage einsortiert.

»Wie kommst du darauf?« entgegne ich so unverfänglich wie möglich, denn schließlich habe ich ja wohl ein Recht auf meine Privatsphäre.

»Charly, Charly!« Mein Chef schüttelt den Kopf und wirft mir einen Blick zu, der irgendwo zwischen amüsiert und besorgt einzuordnen ist. »Glaubst du ernsthaft, ich hätte noch nicht mitbekommen, wann du das Schlampen-T-Shirt anziehst? Demonstrative Offensive nenne ich das!«

»Ach«, maule ich und fühle mich ertappt. Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen? Ich versuche, mich an die letzten Male zu erinnern, als ich das Shirt getragen habe – und muß feststellen, daß Tim recht hat.

Bevor er mich weiter ärgern kann, taucht Georg auf. Georg ist im Drinks & More eine feste Einrichtung, seit zwei Jahren ist er jeden Tag hier. Schwer zu sagen, wie alt er ist, auf alle Fälle über sechzig. Meistens hockt er hier von nachmittags bis spät nachts und trinkt einen Kaffee nach dem nächsten. Bezahlt hat er allerdings noch nie, Tim läßt ihn nicht. Jedes Mal, wenn Georg den Versuch startet, Geld auf den Tisch zu legen, drückt Tim es ihm wieder in die Hand.

Ich habe Georg nie gefragt, aber ich glaube, er hat kein Zuhause. Dabei wirkt er nicht wie ein Penner, obwohl er immer die gleichen Sachen trägt: einen braunen Cordanzug mit passender Weste, darunter ein hellblaues Leinenhemd und eine akkurat sitzende gelbe Krawatte. Sehr gepflegt und sauber ist er, sein Bart und seine Haare sind immer ordentlich frisiert, und auch seine Schuhe sehen nicht so aus, als wären sie sein einziges Paar. Georg erinnert mich an einen altmodischen Professor für Literatur, Papyriologie oder so. Vor allem, wenn er einen über den Rand seiner Brille hinweg ansieht: ein weiser Blick. Wenn die letzten Gäste fort sind, sitze ich gern mit ihm bis in den frühen Morgen da und philosophiere über dies und das. Schon komisch, nicht zu wissen, woher er kommt, wohin er geht und was er macht, wenn er nicht bei uns ist. Fast habe ich Angst, er könnte eines Tages nicht mehr auftauchen. Sich einfach in Luft auflösen, wie ein Geist. Ich nehme mir vor, ihm irgendwann mal nachzugehen, wenn er sich auf den Heimweg macht. Nur, um zu gucken, wo er wohnt. Das wäre gut zu wissen.

»Hallo, Fräulein Charlotta.« Stimmt, es gibt außer meinen Eltern noch jemanden, der mich manchmal Charlotta nennt, hätte ich fast vergessen. Aber Georg meint das glücklicherweise nicht ernst.

»Pssst«, raune ich ihm zu und lege mit verschwörerischer Miene einen Finger an meine Lippen. »Ich hab hier einen Ruf zu verlieren!«

»Ach ja?« Georg zieht interessiert eine Augenbraue hoch. Dann dreht er sich zu Tim um. »Sie trägt wieder das T-Shirt!«

Tim nickt bedeutungsschwanger.

»Ihr geht mir auf den Sender. Alle beide«, fauche ich meine Herren an und verschwinde in der Küche, um Georgs große Spezialtasse zu holen. Heute würde ich sie ihm am liebsten auf den Kopf hauen, ich neige manchmal zu Überreaktionen.

Als ich den Becher eineinhalb Minuten später bis zum Rand gefüllt vor ihn hinstelle, wirft Georg mir einen versöhnlichen Blick zu.

»Seien Sie bitte nicht ungnädig mit einem alten Herrn, der sich auch mal einen Spaß erlauben will«, bettelt er. Dazu sage ich jetzt einfach mal nichts. Statt dessen gehe ich zurück zur Bar und greife aus dem Regal unter der Musikanlage eine vier Wochen alte taz, die ich Georg mit einigem Schmackes auf den Tisch werfe.

»Ach, ist sie nicht ganz bezaubernd, unser Fräulein Charlotta?« fragt Georg, was Tim mit einem zustimmenden Brummen beantwortet. Fräulein Charlotta macht einen Hofknicks und rafft ihren imaginären Prinzessinnen-Rock zusammen. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck beginnt Georg seine Lektüre. Er liest immer alte Zeitungen. Weil man dann nichts so heiß ißt, wie es gekocht wird, sagt er. Wenn er sich über irgend etwas aufregt, ist es zu dem Zeitpunkt, wenn er es liest, mit dieser Methode meistens schon so lange her, daß es gar keine Rolle mehr spielt.

Kopfschüttelnd mache ich mich daran, auf den restlichen Tischen die Kerzen anzuzünden und kleine Schälchen mit Erdnüssen und Salzbrezeln zu verteilen. Tim legt nämlich großen Wert auf »Gemütlichkeit«. Jeder soll sich gleich wie zu Hause fühlen, sobald er das Drinks & More betritt – und wie zu Hause sieht es auch aus: Die Einrichtung plüscht extrem, das Gegenteil des derzeit angesagten schnörkellosen Retro-Styles. Anstelle von Stühlen gibt es alte, ausgemusterte Sofas, an den Wänden hängen vergilbte Schwarz-Weiß-Fotografien, Emaille-Werbetafeln und was Tim sonst noch bei seinen regelmäßigen Flohmarktstreifzügen ergattert hat. In einer Ecke steht ein antiker gußeiserner Ofen, der im Winter gemütlich vor sich hin bollert. Im Sommer stellt Tim einfach ein paar Stiefmütterchen in die offene Luke, seiner Meinung gibt das dem Laden ein gewisses Landhaus-Flair.

Neben dem Gang zu den Toiletten steht ein alter Flipper-Automat, auf dem man »Flash-Gordon« spielen kann. Jedes Mal, wenn die aktuelle High-Score geknackt wird, ertönt scheppernd und quäkend Freddie Mercury. Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber glücklicherweise passiert das nicht so oft, weil der obere rechte Flipperfinger nicht mehr funktionstüchtig ist. Selbst für echte Cracks ist der Kasten damit eine Herausforderung. Außerdem muß man noch Ein- und Zweimarkstücke einwerfen, die man sich am Tresen besorgen kann. Wenn Tim das Gebimmel auf die Nerven geht, behauptet er einfach, er habe keine mehr zum Wechseln. Der Musikbox direkt daneben hat er schon vor einiger Zeit den Saft abgedreht, weil ihn der schlechte Geschmack der meisten Leute wahnsinnig macht. »Die bringen es fertig und drücken im Anschluß an einen Beatles-Song irgend etwas von Sarah Connor. Nicht zu fassen!« Tim ist manchmal ein kleiner, elitärer Snob. Aber nur manchmal.

Klein ist er allerdings immer, denke ich, während ich hinterm Tresen nach der harten Arbeit erst mal eine rauche und ihn dabei beobachte, wie er sich reckt, um mit Kreide auf die Tafel über der Jukebox das »More des Tages« zu schreiben. (Heute Königinpastetchen mit Ragout Fin, die Fischstäbchen hätte ich mir sparen können.) Höchstens einen Meter fünfundsiebzig ist er, obwohl er sich – ganz eitler Ex-Unternehmensberatungsfuzzi – gern als »knapp einsachtzig« bezeichnet. Der blonde Lockenkopf verleiht ihm etwas Jungenhaftes, und wenn er dann noch lächelt und die große Lücke zwischen seinen Schneidezähnen aufblitzen läßt, fällt es schwer, in ihm einem erwachsenen, vierzigjährigen Mann zu sehen. Tim erinnert mich sehr an Alfred E. Neumann aus den »Mad«-Heften, vor allem, weil er riesiggroße Sommersprossen auf der Nase und eine leichte Tendenz zu Segelohren hat. Niedlich. Allerdings glaube ich nicht, daß er über diesen Vergleich besonders glücklich wäre. Welcher Mann möchte schon aussehen wie Alfred E. Neumann? Wobei Tim voll und ganz zu seiner Zahnlücke steht. Als ihm sein Chef bei Schnick-Schnack-Consulting riet, zum Kieferorthopäden zu gehen und sich ein »seriöseres« Gebiß verpassen zu lassen, hat Tim ihm vorgeschlagen, ihm mal ganz unseriös in den Arsch zu beißen. Ich muß lachen, zu gern wäre ich in diesem Moment dabeigewesen!

»Kannst du mir mal sagen, warum du mich seit fünf Minuten anstarrst, blöde kicherst und außerdem versuchst, den Filter deiner Zigarette zu rauchen?« Tim steht direkt vor mir und nimmt mir die runtergebrannte Kippe aus dem Mund. Dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Muß ja ein Wahnsinnskerl gewesen sein letzte Nacht.«

»Neidisch?« Ich gucke ihm direkt in die Augen und gebe mir Mühe, mit keiner Wimper zu zucken. Ich kann das ganz gut. Tim allerdings auch.

»Keineswegs«, behauptet Tim, steckt mir eine neue Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. »Solange du deine tragende Rolle hier nicht vernachlässigst, darfst du von mir aus jede Nacht unter die Räder kommen!« Mit diesen Worten drückt er mir ein leeres Tablett in die Hand und trollt sich zuckersüß lächelnd Richtung Küche. Wahrscheinlich, um Ragout-Fin-Dosen zu öffnen.

Ich widerstehe der Versuchung, ihm das Tablett wie eine Diskusscheibe in den Nacken zu schleudern und beschränke mich auf ein »Lieber hin und wieder unter die Räder kommen, als immer nur dem Zug hinterher sehen, der längst abgefahren ist!«

Tim bleibt kurz vor der Küchentür stehen, dreht sich zu mir um und guckt mich böse an. Oha, ich habe es übertrieben. Aber dann macht er mit seiner rechten Hand ein »thumbs up« und nickt anerkennend. »Eins zu null für die Schlampe – nicht schlecht für halb vier am Mittwochnachmittag.« Schwups, ist er schon durch die Schwingtür in die Küche verschwunden. Georg lacht laut und blickt von seiner Zeitung auf.

»Deshalb komme ich so gern hierher«, stellt er fest. »Ihr beiden seid besser als Fernsehen. Viel besser!« Na, wenigstens einer, dem das Unterhaltungsprogramm zusagt!

Eine halbe Stunde später ist der Laden proppenvoll. Die meisten Gäste sind Studenten, einige kenne ich sogar noch von der Uni. Obwohl es zugegebenermaßen immer weniger werden, denn langsam, aber sicher schließen selbst die langsamsten meiner Ex-Kommilitonen ihr Studium ab und verbringen ihre Freizeit in etwas repräsentativeren Etablissements. Zwischen vier und sechs laufen Tee und Kaffee am besten. Und Latte Macchiato, dieser Trend hat auch vor dem Drinks & More nicht halt gemacht. Keine Ahnung, wie man den in Wirklichkeit zubereitet, mit so einem Schicki-Micki-Kram kenne ich mich nicht aus. Ich nehme einfach einen starken Kaffee, kippe ihn in ein großes Wasserglas und schütte etwas heiße, aufgeschäumte Milch drauf. An guten Tagen gibt’s sogar noch Kakaopulver als Verzierung drüber. Das Ganze kostet dann einen Euro mehr. Den Leuten schmeckt’s jedenfalls.

Zwischen sechs und acht haben wir dann Happy-Hour, in der Cocktails besonders gut gehen. Dabei haben wir genaugenommen nur Caipi, aber der wird mit Begeisterung bestellt. Für die Cocktails ist Tim zuständig, und der mixt die Dinger nach dem Motto »Mehr ist mehr«. Ich habe schon ganze Kerle nach dem Genuß von nur einem einzigen Tim-Caipi bewußtlos zu Boden gehen sehen.

»Sag mal, wohnst du jetzt hier?« Tim kommt zu mir hinter die Bar und hält mir einen Brief unter die Nase. »Den hab ich eben aus dem Kasten gezogen.« Ich nehme ihm den Umschlag aus der Hand. Charly Maybach, ℅ Drinks & More, Bahrenfelder Stieg 193, Hamburg steht da. Ich zucke mit den Schultern, wieso schickt mir einer Post hierher?

»Vielleicht ein Verehrer?« mutmaße ich und merke, daß mir allein die Vorstellung gefällt. Frauen sind so simpel gestrickt!

»Wenn der erst großartig Briefe schreibt, statt dich hier einfach anzuquatschen, kannst du den gleich vergessen«, stellt Tim lapidar fest.

»Och, ich weiß nicht, ist doch ganz romantisch.«

»Möglich. Aber du bist nicht romantisch.«

»Bin ich wohl!«

»Ist mir noch nicht aufgefallen.«

»Du kennst eben nicht alle meine Seiten«, orakele ich.

»Ich kenne mehr als genug!«

»Vielen Dank auch!«

»Bitte, gern geschehen!« Tim bleibt wie festgetackert neben mir stehen und wartet offensichtlich darauf, daß ich den Brief öffne. Den Gefallen werde ich ihm nicht tun.

»Ist noch was?« frage ich.

»Klar, du sollst den Brief aufmachen«, antwortet er ganz unverblümt.

»Schon mal was von Postgeheimnis gehört?«

»Flüchtig. Immerhin ist der Brief hierher geschickt worden, damit ist er quasi auch an mich gerichtet.«

»Ich glaube, du hast einen an der Marmel!« Insgeheim freue ich mich. Tim ist nämlich der neugierigste Mensch, den ich kenne. Und es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, daß ich die Situation nicht genieße. Tim platzt fast, weil er unbedingt wissen will, was in dem Umschlag ist. Gut so, soll er! Mit betont langsamen Bewegungen stecke ich den Brief in meine hintere Hosentasche. Tim beobachtet es mit wachsendem Entsetzen.

»Was machst du denn da? Bist du nicht gespannt, was in dem Umschlag ist?«

»Ach, nö«, antworte ich gedehnt und mache mich daran, die Getränke für die nächste Bestellung vorzubereiten. »Ich mach den lieber in Ruhe zu Hause auf.«

»Und wenn es etwas ganz wahnsinnig Wichtiges ist?« versucht Tim es weiter.

»Leute, die was wahnsinnig Wichtiges zu sagen haben, rufen an – und schreiben keine Briefe!« Ich muß mir ein Kichern verkneifen. Es ist so schön, Tim zu ärgern! Und vor allem so einfach!

»Ich hätte den Umschlag ja auch aus Versehen selbst öffnen können«, theoretisiert Tim. »Kann ich ja schließlich nicht ahnen, daß dir jemand hierher schreibt.«

»Richtig. Aber du hast ihn nicht geöffnet. Und ich will meine Post eben erst später lesen.« Tim gibt auf und marschiert rüber zu einem Tisch, an dem die Leute gerade mit ihrem Essen fertig sind. Na gut, mache ich das Kuvert eben gleich auf, ich hatte ja meinen Spaß. Doch bevor ich Tim zurückpfeifen kann, schreit Georg plötzlich entsetzt auf.

»Oh mein Gott! Das ist ja furchtbar!« Mit einem Schlag wird es still im Drinks & More, nur leise schwirrt ein Blur-Song umher. Georg sitzt stocksteif an seinem Tisch, leichenblaß, die Hände an die Brust gepreßt. Besorgt stürzen Tim und ich auf ihn zu, die übrigen Gäste beobachten die Szene neugierig.

»Was ist denn los?«

Georg deutet mit einer Hand auf die Zeitung vor ihm. Der Sportteil ist aufgeschlagen.

»Eine Katastrophe«, röchelt Georg, »Der FC St. Pauli ist pleite!« Schlagartig bricht der Tumult los, zwei Studenten am Nebentisch springen auf und entreißen Georg die Zeitung, ringsum heftige Diskussionen.

»Wie, jetzt doch?« höre ich eine Frau fragen, und ein Mann antwortet: »Hab ich dir gleich gesagt.« Die beiden Studenten blättern hektisch und suchen nach genaueren Infos, Georg hat mittlerweile seinen Kopf in den Händen vergraben und ist auf seinem Stuhl zusammengesackt.

»So ein Quatsch!« entfährt es Tim. Mit einer energischen Bewegung nimmt er den beiden Studenten die Zeitung weg, faltet sie zusammen und stopft sie dann demonstrativ in den großen Ascheimer neben der Bar.

»Das kommt davon, wenn du immer nur uralte Zeitungen liest«, stellt er fest. »Das Thema ist doch längst vom Tisch, vor zwei Wochen hat sich ein Mäzen gefunden.«

»Ja?« fragt Georg ängstlich.

»Ja«, bestätigt Tim, »ein Typ vom Kiez mit Privatbrauerei. Köhler oder so heißt der. So ein verrückter Fan, weiß wohl nicht, wohin mit seinem Geld.«

»He!« Ein entrüsteter Aufschrei geht durch die Menge, etwa dreißig Augenpaare mustern Tim argwöhnisch.

»Ich meine natürlich: Was Sinnvolleres kann man mit seinem Geld nicht anfangen, als den besten Fußballclub der Welt zu unterstützen«, fügt Tim beschwichtigend hinzu. Überall zufriedene Gesichter und zustimmendes Nicken, da wäre Tim doch fast mit einem Schlag fünfundneunzig Prozent seines Stammpublikums losgeworden. Georgs Gesichtsfarbe liegt mittlerweile wieder im normalen Bereich, er atmet erleichtert auf.

»Da bin ich aber froh.« Er schüttelt sich. »Was für ein Adrenalinkick!«

»Hier«, sage ich und lege Georg das Abendblatt von heute hin, »versuch’s doch mal damit.«

»Bist du verrückt?« Georg gibt mir die Zeitung zurück. »Um nichts auf der Welt würde ich diese kleinen, aufregenden Momente missen wollen!« In der Tat habe ich mich schon mehr als einmal gefragt, ob Georg vielleicht nicht ganz richtig tickt. Bisher bin ich da allerdings zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Bisher.

Um halb vier morgens haben wir endlich den letzten Gast vor die Tür gesetzt und die Abrechnung gemacht. Gar nicht schlecht für einen Mittwoch, trinkgeldtechnisch gesehen ist das Schlampen-Shirt einfach unübertroffen. Fast soviel wie sonst nur samstags, ich sollte mir noch ein paar von den Dingern anfertigen lassen!

Georg sitzt bei Kaffee Nummer siebenundvierzig, als Tim und ich uns müde auf die beiden Stühle an seinem Tisch sacken lassen, um gemeinsam eine letzte Zigarette zu rauchen.

»Was wäre eigentlich«, fragt Georg, sobald wir uns niedergelassen haben, »wenn sich für St. Pauli kein Finanzier mehr gefunden hätte?« Tim zuckt mit den Schultern.

»Vermutlich würden sie demnächst in der Regionalliga kicken. Zwangsabstieg nennt man das wohl.«

»Das meine ich nicht.« Georg legt seine Stirn in Falten, er scheint über irgend etwas schwer nachzugrübeln. »Was ich damit sagen wollte ist, wie viel doch von einer einzigen Entscheidung einer einzigen Person abhängt.«

»Hä?« Ich kann nicht mehr ganz folgen, aber es ist ja auch schon ziemlich spät. Ich gehe rüber zur Theke und zapfe Tim und mir noch ein Bier. Klingt fast so, als würde das hier etwas länger dauern.

»Es ist doch so«, fährt Georg fort, als ich zurückkomme, »daß da eine ganze Menge Leute mit dranhängen. Wenn der Club kein Geld hat, spielt er nicht mehr in der Bundesliga. Das bedeutet für die Mannschaft automatisch weniger Werbeeinnahmen, also weniger Geld, und zu den Spielen kommen natürlich auch weniger Zuschauer. Was machen dann aber die Fans, die früher immer zu St. Pauli gegangen sind, statt dessen? Und was hat das wiederum für Auswirkungen?« Jetzt guckt Tim ähnlich schlau wie ich aus der Wäsche. Aber dann findet er doch zu seiner gewohnten Schlagfertigkeit zurück.

»Gott behüte!« entfährt es ihm, und er reißt entsetzt die Augen auf. »Am Ende gehen die dann alle zum HSVHSV- und St.-Pauli-Fans mögen sich ungefähr so gern wie Klausjürgen und Yvonne Wussow. Georg quittiert Tims Ausruf mit einem beleidigten Grunzen.

»Ich sehe schon, ihr versteht mich nicht.«

»Nö«, gebe ich ihm recht, »aber das Schöne daran ist ja: Das macht überhaupt nichts, wir lieben dich trotzdem!«

»Ts, ts, ts, kein Respekt mehr vor dem Alter!« stellt Georg fest und schlürft aus seiner Kaffeetasse. »Dann sage ich eben gar nichts mehr.«

»Jetzt mal was ganz anderes«, wechselt Tim unbeeindruckt das Thema, »was ist denn eigentlich mit dem Brief?« Erwartungsvoll guckt er mich an, und auch Georg fällt es nicht leicht, seine betont desinteressierte Miene beizubehalten.

»Was für ein Brief?« Ungelogen, im ersten Moment habe ich tatsächlich nicht die geringste Ahnung, wovon Tim spricht.

»Na, das Dokument, das du an deinem Hintern trägst.« Tim deutet mit einer Hand auf den Umschlag, der halb aus meiner Gesäßtasche guckt.

»Ach so, den meinst du!« Ich bin zu müde fürs Tim-Ärgern, also nehme ich den Brief und schlitze ihn mit Georgs Kaffeelöffel auf. Zum Vorschein kommen mehrere DIN A 4-Blätter.

»Sieh mal einer an«, ruft Tim aus und liegt im selben Moment schon halb auf meinem Brief, »unsere Charly hat Jubiläum!«

»Wie, Jubiläum?« Wüßte nicht, was sich bei mir jubiliert. Ich schiebe Tim ein Stück zur Seite, um endlich lesen zu können, was in meinem Brief steht.

»Kaum zu glauben, aber wahr«, steht in großen, geschwungenen Buchstaben auf dem obersten Blatt, »unser Abi geht ins zehnte Jahr!« Eiderdaus, zehn Jahre Abi. Schnell überfliege ich den Brief, in schauderhaften Klapperversen geht es weiter:

Zu einer Feier, liebe Leut / Kommt also her von nah und weit / Am siebten Mai soll es geschehen / In der »Mood Lounge« seid ihr alle gern gesehen!

Darunter steht noch ein kleines »um 19.00 Uhr« gekritzelt, das hat der Dichter offensichtlich nicht mehr in seine wunderbaren Verse hineingebastelt bekommen.

»Wie hübsch!« Genau dreieinhalb Minuten hat Georg sein Schweigegelübde gehalten.

»Wußte gar nicht, daß du so talentierte Leute kennst«, fügt Tim hinzu.

»Ich auch nicht, bin selbst ganz platt.« Ich drehe den Brief um, hinten steht noch etwas Handschriftliches drauf:

Liebe Charly, weil ich deine aktuelle Adresse nicht hatte und deine Eltern umgezogen sind, hoffe ich, daß du diese Einladung trotzdem bekommst. Jemand meinte, du würdest im Drinks & More kellnern, deswegen habe ich sie da hingeschickt. Sehen wir uns am siebten? Anbei auch für dich eine aktuelle Liste der Leute aus unserer Stufe, mit kurzer Bio und Adresse. Gruß, Heike.

Heike? Wer ist das bloß? Ratlosigkeit macht sich breit, meine Schulzeit habe ich wirklich mehr als erfolgreich verdrängt. Waren ja auch nicht gerade die schönsten dreizehn Jahre meines Lebens, besser gesagt vierzehn. Meine Eltern hatten mich auf eine Art Elite-Schule verfrachtet, weil sie der Ansicht waren, daß ich dort am meisten für meine Zukunft lernen würde. Grausam war das, um mich herum nur Arzt- und Anwaltskinder, da soll sich ein Teenager normal entwickeln! Meine Eltern waren zwar auch nicht gerade arm, aber trotzdem paßte ich einfach nicht zu den anderen, ich war immer … Charly.

»Das wird bestimmt spannend!« unterbricht Tim meinen Gedankengang. »In zehn Jahren passiert ja eine Menge.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich da hingehe?« entfährt es mir entgeistert.

»Warum nicht?«

»Weil ich meine Mitschüler schon früher gehaßt habe. Das sind alles Langweiler, Spießer und Arschlöcher.« Ich trinke mein Bier in einem Zug aus und knalle zur Untermauerung meiner Feststellung das Glas auf den Tisch. »Nee, danke, einen beschissenen Abend kann ich mir auch leichter machen, dafür muß ich nicht in die schicke Mood Lounge eiern.« Ich weiß gar nicht, warum ich plötzlich so heftig reagiere, aber komischerweise regt mich diese Einladung richtig auf.

»Bist du denn nicht neugierig, was aus deinen Klassenkameraden geworden ist?« fragt Georg.

»Ich kann euch sagen, was aus denen geworden ist: Die meisten von denen hocken in einer schicken Altbauwohnung in Eppendorf oder in der geerbten Villa in Poppenbüttel, besitzen Sportwagen, Segelboot und Golfausrüstung. Sie haben die Praxis oder Kanzlei von Papi übernommen und demnächst wird dann das erste Kind – Anna-Lena oder Julian-Claudius – geboren.« Tim und Georg gucken mich groß an, ich habe mich anscheinend etwas in Rage geredet. »Seht euch das an!« Ich schlage die erste Seite der Adressenliste auf: Es wimmelt nur so vor Doktortiteln, dabei sind die meisten von denen noch nicht mal 30!

»Simone Battenburg«, liest Georg laut vor, »1993 bis 98 Jura-Studium in München, London und Paris, 1999 Promotion, seit 2000 Partner bei Schrader & Schrader … ganz beeindruckend. Oder hier: Marius von Herresthal, Oberarzt im Universitätsklinikum Eppendorf … Sebastian Konradi, CEO bei …«

»Schon gut«, unterbreche ich ihn und schlage die Liste wieder zu. Mir persönlich reicht das.

»Und was steht hinter Charlys Namen?« Ich habe geahnt, daß Tim mit dieser Frage kommen würde. Und ehrlich gesagt habe ich Angst davor nachzugucken.

»Wahrscheinlich gar nichts«, erwidere ich, falte die Blätter zusammen und will sie wieder in den Umschlag stecken.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, widerspricht Tim. »Hier hat sich offenbar jemand sehr viel Mühe gegeben, alles auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen, da wird man dich kaum ausgelassen haben.« Schon hat er die Liste an sich gerissen und faltet sie auseinander.

»He!« protestiere ich. Von mir aus bin ich jetzt spießig, aber ich finde, das geht Tim nichts an.

»Kriegst sie ja gleich wieder«, meint Tim lachend. »Da ist es: Charlotta Maybach.« Tim, Georg und ich betrachten beinahe andächtig die knappen Zeilen, die unter meinem Namen stehen:

Aktuelle Adresse unbekannt (wer sie hat, bitte Heike geben!); BWL-Studium?; jobbt angeblich im Drinks & More in Ottensen

Mir sollte das eigentlich total egal sein, aber plötzlich fühlt es sich so an, als hätte mir jemand eine verpaßt. Vielen Dank, liebe Heike – oder wer auch immer diese liebreizende Liste aufgesetzt hat. Tatsächlich spüre ich, wie mir die Tränen in die Augen schießen.

»Kurz und knackig, so kennen wir unsere Charly«, stellt Tim augenzwinkernd fest.

»Laß mal gut sein.« Georg nimmt Tim die Liste weg, faltet sie zusammen und stopft sie wieder in den Briefumschlag, den er mir reicht. Er scheint zu ahnen, was gerade in mir vorgeht. Dabei ist es doch wirklich so, daß mir meine früheren Mitschüler mehr als egal sind. Und von mir aus können die alle Karriere machen, ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe. Aber warum nagt jetzt trotzdem so ein blödes Gefühl an mir?

Tim hat mittlerweile auch gemerkt, was los ist.

»Ach, glücklich sind die doch bestimmt alle nicht«, macht er einen unbeholfenen Versuch, die etwas gedrückte Stimmung zu verscheuchen. »Da nützt auch ein Ferrari in der Garage nichts.«

»Was ist schon Glück?« seufze ich. Schweigen. Was soll man darauf auch antworten?

Als ich zehn Minuten später nach Hause radele, lasse ich den Discman ausgeschaltet. Ich weiß keine Musik, die jetzt passen würde. Während ich in die Pedale trete, überschlagen sich meine Gedanken. Wieso habe ich keinen Traum, kein Ziel, keine Pläne? Ich lebe nur in den Tag hinein und fühle mich oft so, als hinge ich in der kosmischen Warteschleife. Als würde ich in den Startlöchern stehen und hoffen, daß das richtige Leben beginnt. Solange ich denken kann, warte ich darauf, daß sich alles mal so anfühlt wie eines meiner Lieblingslieder. Daß mein Leben perfekt und richtig und echt ist, daß ich weiß: Genau das ist es. Und in Momenten wie jetzt habe ich Angst, daß ich irgendwann einmal aufwache und feststelle: Der Augenblick ist nie gekommen! Du hast vergeblich gewartet und dabei das Leben an dir vorbeiziehen lassen.

Energisch drücke ich nun doch die Play-Taste an meinem Discman, Sekunden später wird mein Kopf wieder in »The Matrix« getaucht. Ich werde mich doch von solchen unsinnigen Gedanken nicht runterziehen lassen, eigentlich ist doch alles bestens: Ich bin jung, habe einen netten Job mit netten Leuten und kann ansonsten tun und lassen, was ich will. Wer kann das schon von sich behaupten?

Zu Hause mache ich ebenfalls sofort Musik an. »Canned Heat« von Jamiroquai, Gute-Laune-Dance-Musik. Ich will diesen kleinen, häßlichen Selbstzweifelchen erst gar keine Chance geben, sich wieder über mich herzumachen. Erledigt lasse ich mich auf mein Bett fallen.

»Was für ein Tag«, sage ich zu meinem Spiegelbild, das mich vom Fußende der Matratze aus ansieht. Dann krame ich noch einmal die Einladung zum Abitreffen aus meiner Hosentasche und streiche die leicht zerknitterten Blätter glatt. Drei kleine, erbärmliche Zeilen über mein Leben. Ein paar Sekunden lang gucke ich meinem Spiegelbild tief in die Augen und versuche herauszufinden, was mein Gegenüber denkt.

»Ach, Scheiße, was soll’s«, sagt es laut und deutlich. Ich rappel mich vom Bett hoch, ziehe Jacke und Schuhe wieder an. Schlampe muß noch mal los. Jetzt kann ich sowieso nicht schlafen – und wer weiß, was die Nacht noch für mich bereithält? Als ich die Tür hinter mir ins Schloß ziehe, nehme ich mir fest vor, diese Abi-Einladung einfach zu vergessen. So, als hätte ich sie nie bekommen.