Russen grüßen am Döner-Paradies

Die Erzengel schauten uns schweigend an, sie grüßten nicht, wir grüßten nicht zurück. Eine Pause breitete sich aus.

»Seid ihr Russen?«, brach ein schnurrbärtiger Erzengel das müßige Schweigen.

Ich habe keine Ahnung, wie er uns so schnell entlarven konnte. Mein Onkel und ich, wir waren nicht in traditioneller russischer Tracht, sondern beide korrekt westlich bekleidet. Wir hatten, wenn überhaupt, unterwegs sehr leise miteinander gesprochen, nicht mit Wodkaflaschen gewunken und weder Matroschkas noch Balalaikas in den Händen. Trotzdem hatten die Erzengel uns sofort als Russen identifiziert. Vielleicht ist es diese eingeborene Grimmigkeit, die Unwilligkeit, Fremde fröhlich als Erster zu begrüßen?

Von allen Klischees, die auf der Welt über Russen verbreitet werden, hält sich die angebliche russische Grimmigkeit am hartnäckigsten. Ständig muss ich mir von Bekannten und Unbekannten, die gerade zum ersten Mal Russland besucht haben, anhören, wie hölzern die Umgangsformen dort sind. Angeblich grüßen Russen nie. Ich kann das nicht bestätigen. Russen grüßen sehr wohl. Früher haben sie etwas dezent aus dem Hinterhalt gegrüßt. Inzwischen erobert die übertriebene westliche Höflichkeit die russischen Gemüter. Als ich neulich in Moskau war, konnte ich mich vor grüßenden Russen kaum retten. Unbekannte grüßten mich in Geschäften, in Hotels, manchmal sogar auf der Straße. Selbst die Polizisten, die mich stets völlig grundlos anhielten, um ihrem unstillbaren Hang zur Korruption nachzugeben, grüßten plötzlich ausgiebig und wünschten mir einen guten Tag, bevor sie Geld und Ausweis verlangten. Die jungen Frauen hinter den Verkaufstresen schauten nicht mehr wie früher zu Boden oder zur Decke, sondern dem Kunden direkt ins Gesicht und lächelten dabei so fröhlich, als hätten sie darin etwas ganz Tolles erblickt.

Das hat zweifellos damit zu tun, dass eine bestimmte Art von Literatur, nämlich Sachbücher aus Amerika, die Glück und Erfolg versprechen, in Russland großen Absatz finden. Genau wie Amerikaner neigen Russen zu einfachen Lösungen für komplexe Probleme und können auch die notwendige Naivität aufbringen, die sie im Glauben lässt, alles auf der Welt sei nur eine Frage der inneren Einstellung. Bücher mit Titeln wie Die Formel des Erfolgs, Richtig atmen – länger leben und vor allem der Bestseller Das Geheimnis meines Aufstiegs von einem Kerl namens Carnegie versichern dem Leser, all seine Probleme seien mit einem Dauergrinsen zu lösen.

Ich persönlich glaube, dass die meisten amerikanischen Autoren, die in Russland gelesen werden, nur auf dem Papier existieren. Ein Großteil der ausländischen Literatur wird in Russland grundsätzlich von Studenten und freischaffenden Journalisten geschrieben. Diese Werke knüpfen an den alten Aberglauben an, alles Ausländische sei Qualitätsware und auf jeden Fall besser als die einheimischen Produkte. Dieser Aberglaube hält sich noch immer hartnäckig, trotz McDonalds und anderer Enttäuschungen, die die kapitalistische Warenwelt bisher mit sich gebracht haben. Also wird in Russland eine umfangreiche ausländische Literatur produziert, wodurch man die einheimischen Arbeitskräfte wieder einbindet, statt das Geld für den sinnlosen Erwerb von Lizenzen und Nebenrechten zu verpulvern. Die Produktion wird marktgerecht verteilt. Frankreich steht für Liebesromane, England für Krimis, Amerika für Sachbücher über den Erfolg.

Auch vor bekannten Namen machen die Verleger in Russland nicht halt, was zur Folge hat, dass in russischer Sprache deutlich mehr Krimis von Agatha Christie existieren, als sie auf Englisch geschrieben hat, und der Herr der Ringe statt drei sieben Teile besitzt. Außerdem darf sich nach russischem Recht jeder Schriftsteller den Namen eines anderen Schriftstellers als Künstlernamen zulegen und kann sich Dostojewski-Tolstoi oder Goethe-Faust nennen. Solche und andere Tricks gelten auf dem neuen kapitalistischen Buchmarkt als legitim. Es geht darum, die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen – wie, ist egal. Viele bekannte Autoren veröffentlichen in Russland Jahr für Jahr das gleiche Buch, bloß unter anderem Titel und mit einem anderen Bild auf dem Umschlag.

Trotz dieser miesen Tricks bleiben die Russen dem Lesen treu, sie glauben an das gedruckte Wort. Schriftliches hat in Russland Autorität, nur Gedrucktes ist wahr. So, wie man früher an die sozialistischen Schriften geglaubt hat, hält man nun die kapitalistischen Strategien des Erfolgs für wahr und lächelt, wie es in den Sachbüchern verlangt wird, wobei es vielen augenscheinlich nicht leichtfällt.

»Mir hat Carnegie sehr gut geholfen, ich lache und bin froh. Alle sagen, ich bin ein ganz anderer Mensch geworden!«, schwärmte einmal eine Blondine im Eiscafé gegenüber ihrer grimmigen Freundin.

»Und mir hat der verfickte Scheiß-Carnegie gar nicht geholfen, so ein Mist«, erwiderte diese und schlug mit der Handkante auf den Tisch.

Aber trotz solcher Momente des Widerstands nimmt der Kapitalismus in Russland seinen Lauf. Die Menschen schimpfen und spucken, grüßen aber freundlich. Wenn es so weitergeht, werden sie bald wie die Österreicher sein. Die Österreicher grüßen einen nämlich wie verrückt. Mein Lieblingswitz darüber geht so:

Ein attraktiver Österreicher fragt einen hässlichen, wie er es schafft, so viele Frauen herumzukriegen, wo er doch so hässlich ist und der Attraktive nicht einmal eine Freundin hat. »Grüßen musst du sie«, sagt der Hässliche. »So lange grüßen, bis sie bei dir im Bett landen.«

Der Hässliche hat Recht: Die, die nicht grüßen, sterben aus. Insofern ist es doch ein Glück, dass die Russen grüßen.

Wir grüßten die Erzengel vorbildlich, bestätigten unsere russische Herkunft und fragten vorsichtig nach ihrer. Mein Onkel war überzeugt, dass es sich bei unseren neuen Bekannten um Kurden handelte. Angeblich hatte er früher in Odessa mit Kurden Kontakt gehabt und konnte sie aus der Ferne erkennen. Ich dagegen tippte auf eine türkische Herkunft der Erzengel. Wir lagen jedoch beide mit unseren Vermutungen völlig falsch. Zwei der Erzengel waren Syrer, ihr dritter Freund, der Taxifahrer, stammte aus dem ehemaligen Jugoslawien.

»Tolle Jacke!«, sagte einer der Syrer, der direkt vor dem Imbisseingang stand, und zeigte auf meine dunkelgelbe Lederjacke. Ich nickte.

»Ich habe euch Russen sofort bemerkt!«, gab der Syrer an. »Alle Russen tragen Lederjacken, Russen stehen Lederjacken gut«, setzte er philosophisch fort. »Ich komme aus Syrien, mir stehen Lederjacken überhaupt nicht. Meine Frau sagt immer: ›Zieh die sofort aus, du bist zu groß für eine Lederjacke. Kauf dir lieber ein Sakko.‹«

Ich musterte mein Gegenüber. Er war tatsächlich groß, aber bei weitem nicht so groß, dass er in keine Lederjacke passen würde. Er hatte eine zärtliche Art zu gestikulieren, einige goldene Zähne im Mund und etwas Weibliches in der Figur. Seine Haut hatte die Farbe von Pergament, sie war dunkelgelb, genau wie meine Lederjacke.

»Russen tragen auch gerne Sportanzüge«, bemerkte der andere Syrer und zwinkerte mir zu. »Es sind sportliche Leute, solche Anzüge stehen ihnen gut«, entwickelte er seine nationalistischen Modeideen weiter. »Ich komme aus Syrien und meine Frau auch. Wir wohnen in Wedding. Sehr viele Russen aus Kasachstan sind unsere Nachbarn. Großartige Leute, alle sehr sportlich. Eine Frau, sie heißt Valentina, kommt fast jeden Tag meine Frau besuchen. Sie trinken zusammen Tee und sprechen über das Leben, und eines Tages sagte meine Frau zu mir: ›Du, diese Russen, die sind genau wie wir.‹«

»Logisch«, bestätigte ich, »Syrien und Kasachstan sind beides exotische Länder, die weit weg liegen. Sie müssen mehr Gemeinsamkeiten miteinander als mit Deutschland haben.«

»Lass uns darauf einen trinken, wir geben einen aus!«, rief der Syrer und zeigte einladend auf die geöffnete Tür des Döner-Paradieses.

Eine solche große Geste im Sinne der Völkerverständigung durfte nicht abgelehnt werden. Ich erklärte dem Onkel die Situation, wir mussten mit den Syrern ein Bier trinken.

Im »Paradies« war es angenehm warm und hell. Der eine Syrer nahm hinter dem Tresen Platz, sein Freund und der exjugoslawische Taxifahrer holten die Bierflaschen aus dem Kühlschrank. Man merkte allen dreien an, dass sie sich schon lange kannten und viel Zeit im »Paradies« verbrachten. Wir stießen an.

»Es gibt aber auch Russen, die keine Sportanzüge und keine Lederjacken tragen«, versuchte ich die Klischees der Syrer aufzuweichen. »Es gibt solche, die sehr feine Anzüge bevorzugen.«

»Wir wissen, was du meinst!«, freuten sich die Syrer. »Du meinst diese Russen im Niemandsland?«

Ich verschluckte mich beinahe an meinem Bier.

»Die Russen im Niemandsland – wer soll das denn sein?«, fragte ich verwundert.

»Wir unternehmen oft große Reisen«, erklärte mir einer der Syrer. »Im letzten Sommer sind wir mit dem Auto von Berlin bis nach Syrien gefahren. Sechs Tage hin und fünf zurück. Man muss schon gut Auto fahren können, um sich solche Strecken zuzutrauen. Wir kamen durch viele Länder: Serbien, Bulgarien, Griechenland, die Türkei. Zwischen den Landesgrenzen sind da fast immer ein paar Kilometer Niemandsland, besonders zwischen den Ländern, die Probleme miteinander haben. Es sind Pufferzonen, die diese Länder auf Abstand zueinander halten. Und überall in diesen Pufferzonen steckten Russen wie Sand im Getriebe. Wir haben viele gesehen, lauter Russen in Anzügen! Sie haben Probleme mit ihren Papieren und kommen nicht vorwärts und nicht zurück. Zwischen Syrien und der Türkei steckte zum Beispiel ein Syrer mit einer russischen Frau, die er ohne Papiere geheiratet hatte. Zwischen der Türkei und Bulgarien steckte umgekehrt ein russischer Mann mit einer Frau aus Montenegro. Überall haben sie da unterschiedliche Gesetze, und die Grenzer sind nicht immer freundlich.

Außerdem haben sie überall unterschiedliches Benzin. In manchen Ländern ist das Benzin sehr billig, aber es zieht nicht. Ich konnte bis zum Anschlag Gas geben, es passierte gar nichts. In Syrien wollte ich sogar mein Auto verkaufen, so frustriert war ich wegen des schlechten Benzins dort. Sie haben dort kein Superblei, überhaupt gibt es nur eine Sorte für alle Fahrzeuge, dabei lebt das Land vom Erdölverkauf. Mein Auto war in Syrien kaum zu gebrauchen. Mit einem Kamel wäre ich schneller vorwärtsgekommen. Aber zurück fuhren wir durch die Schweiz, dort war das Benzin zwar teuer, aber es zog richtig. Das Auto flog wie eine Rakete.«

Ich übersetzte meinem Onkel die syrische Geschichte. Russen im Niemandsland, was für ein rührendes Bild! Ich hätte beinahe schwören können, diese Menschen selbst gesehen zu haben. Sie steckten zwischen den europäischen Grenzen hinter frisch gestrichenen Schlagbäumen in der Sackgasse des Niemandslandes fest. Unrasiert und verschwiegen warteten sie auf Erlösung und trugen alle perfekt sitzende Anzüge.

Schade, dass Russen heute so einen merkwürdigen, sportlichen Eindruck hinterlassen. Früher machten sie einen mehr oder weniger geistreichen Eindruck. Der ganze Sinn des russischen Sozialismus war doch, den Geist der Menschen zu heben, ihn vor einer verpfuschten Karriere als Sklave des Kapitals zu retten und ihn in einen stolzen, gebildeten Retter der Menschheit umzuwandeln, von allen Macken und Minderwertigkeitskomplexen eines Unterdrückten befreit. Es schien gar nicht so unrealistisch. Aber der Mensch ist letzten Endes nur das, was er selbst aus sich macht. Und so haben die Russen sich nie groß um sich selbst gekümmert, sondern nur um die anderen. Die Selbstverwirklichung des sowjetischen Menschen, sein politisches Engagement und sein Befreiungskampf fanden ausschließlich jenseits der eigenen Heimat statt. Die eigene Lage wurde in der Regel nicht in Frage gestellt. Russen engagierten sich im Ausland und bekämpften die Ungerechtigkeiten überall auf der Welt, nur nicht bei sich zu Hause. Sie mischten sich ständig in fremde Konflikte ein, um die Freiheit ihnen völlig unbekannter Menschen und ganzer Völker zu schützen oder um irgendwo Gerechtigkeit für andere zu fordern, in Spanien, auf Kuba, in Äthiopien, in der arabischen Wüste, in Syrien, in Schwarzafrika, in Südamerika, in Vietnam usw. Nur in Sibirien nicht, wo die Hälfte der Bevölkerung in Lagern saß und die andere Hälfte sie bewachte. Dazu schwiegen sie. Wenn es aber darum ging, für die Freiheit von Angela Davis die Stimme zu erheben, für Luis Corvalán oder Fidel Castro, da waren sich alle einig. Das ganze Land stand wie ein Mann auf und forderte Freiheit für diese Menschen. Mit welcher Hingabe verteidigten die Menschen in der Sowjetunion damals die arme Jamila Buhreid, die sich auf die Gleise gelegt hatte, um Züge mit Soldaten zu stoppen, die nach Algerien geschickt wurden, um den dortigen Widerstand gegen die französische Besatzung zu ersticken. Unser eigener Widerstand blieb aus, unsere Freiheit war es, Freiheit für die anderen zu fordern. »Komm zu uns, Genosse Robeson, wenn du wie ein freier Mensch leben willst!«, sang ein bekannter sowjetischer Sänger, der zehn Jahre Lagerhaft hinter sich hatte. Er wandte sich damit an den linken schwarzen US-Sänger Paul Robeson, der sich im rassistischen Amerika sogar in der eigenen Villa noch unterdrückt fühlte.

Ein Leben für die anderen zu leben ist letztlich aber doch ein Zeichen von Intelligenz. In der neuen Weltordnung nun konnten sich viele Russen nicht mehr derart engagieren, weil sie nicht nur überintelligent, sondern für den Westen auch noch überqualifiziert waren. Sie hatten die beste kostenlose Ausbildung der Welt genossen, und die meisten brachten eine Doktorarbeit im Koffer mit. Mein Freund, der Friseur Valerij aus Kasachstan, kam als Deutschlehrer nach Deutschland, der Titel seiner Doktorarbeit lautete: »Die mentalen und kulturellen Unterschiede beim Erlernen der deutschen und kasachischen Sprache«. In seiner Heimatstadt Jambul lernte er sicherheitshalber auch noch Haare schneiden, bevor er nach Deutschland abreiste, für den Fall, dass er nicht als Lehrer arbeiten durfte. Das war eine richtige Entscheidung gewesen, denn als Lehrer war er für die deutschen Verhältnisse hoffnungslos überqualifiziert. Es hat dafür nicht lange gedauert, bis er zu einem begehrten Haarschneider aufstieg. Mein anderer Freund Sergej aus Weißrussland schrieb eine Doktorarbeit zum Thema »Die unvermeidlichen Fehler bei der Standortsuche deutscher und russischer Geschäftsleute unter besonderer Berücksichtigung der Standorttheorie von Alain Prate«. In Deutschland arbeitete er dann als Putzkraft auf einer großen Hühnerfarm.

Die beiden Syrer, die wir kennenlernten, waren übrigens auch keine ausgebildeten Dönerverkäufer. Der eine war Jurist, und der andere hatte in seiner Heimat Medizin studiert, nur wurden ihre Diplome in Deutschland nicht anerkannt. Der jugoslawische Taxifahrer, ein Montenegriner, hatte sogar eine diplomatische Karriere hinter sich. Er hatte acht Jahre lang den jugoslawischen Konsul chauffiert. Dann begann der Krieg in Jugoslawien, und alle Teile des Landes zerstritten sich. Seine Mutter sagte am Telefon zu ihm, er solle bloß nicht nach Hause kommen, sie würden möglicherweise bombardiert werden. Also blieb er in Deutschland und fuhr seitdem Taxi. Auch der Konsul sei inzwischen Taxifahrer geworden, erzählte er uns lachend.

»Und der Botschafter?«, hakte ich nach. »Fährt der Botschafter auch Taxi?«

»Nein, der Botschafter hat ein Bauunternehmen in Westdeutschland«, erwiderte er. »Doch in Chicago, dort fährt der ehemalige jugoslawische Botschafter tatsächlich Taxi.« Das sei aber ein alter Hut und wäre bereits mehrmals in allen Zeitungen im ehemaligen Jugoslawien gestanden.

»Was ist daran verkehrt? Er war kein guter Diplomat, vielleicht ist er in Chicago ein guter Taxifahrer geworden«, sagte der Jugoslawe achselzuckend.

Als ich ihn fragte, ob er uns nach Hause fahren könne, bekam der Taxifahrer sofort schlechte Laune. Warum hätte ich ihm nicht früher gesagt, dass ich fahren möchte?

Er hatte bestimmt gedacht, wir wären bloß ein bisschen mit dem Koffer spazieren gewesen und auf ein Bierchen ins Paradies eingekehrt. Jetzt hatte er schon drei Biere getrunken und konnte nicht mehr fahren. Das heißt, privat würde er schon fahren, aber nicht dienstlich, das Risiko sei zu groß, die Konzession zu verlieren. Doch um fünf komme sein Schichtwechsel ins »Paradies«:

»Er fährt euch gerne, wohin du willst«, versicherte der Jugoslawe. »Wo willst du überhaupt hin?«

Ich erklärte ihm, dass ich am Mauerpark wohne, genau an der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West.

»Ich verstehe euch Russen nicht«, schüttelte der Taxifahrer den Kopf. »Warum wollt ihr immer Taxi fahren. Das ist eine solche Geldverschwendung. Dein Mauerpark ist doch nur zwanzig Minuten Fußweg von hier entfernt!«

Eigentlich hatte er Recht, es lohnte sich wirklich nicht zu fahren. Selbst wenn wir langsam wie zwei Schildkröten auf der Invalidenstraße weitergehen würden, wären wir spätestens in einer Dreiviertelstunde zu Hause. Gleichzeitig konnte ich dem Onkel ein Stück Berlin zeigen – vielleicht nicht das hübscheste Stück, aber trotzdem schön. Wir berieten uns kurz und beschlossen, weiter zu Fuß zu gehen. Vorher aber äußerte mein Onkel den Wunsch, sich etwas zu stärken, und wir bestellten bei den Syrern ein orientalisches Huhn. Ich hatte keinen Hunger.

Während der Onkel aß, betrachtete ich den Flipperautomaten an der Wand. Man sieht kaum noch solche alten Modelle, die nicht bloß Zahlen drehen und Geld schlucken oder ausspucken, sondern tatsächlich mit einem spielen, Schnelligkeit und Reaktion erfordern. Ein großes Lob den Syrern, dass sie sich für einen Flipper entschieden hatten. Gut, heute gehören Abenteuerspiele in den Computer zu Hause, nicht in einen Imbiss. Dort lernt die heranwachsende Generation am Monitor das bittere Gefühl des Scheiterns und die Wonnen des Sieges kennen. Die meisten Spiele sind mir jedoch zu düster. Ich kenne sie bloß vom Computer meines Sohnes. Dort laufen die Helden fast immer durch irgendwelche Ruinen, verlassene Fabriketagen, zerbombte Städte und dunkle Sackgassen voller blutrünstiger Zombies. Sebastian braucht in der Regel zwei bis drei Wochen, um die Umgebung in einem solchen Spiel abzusichern und sich einigermaßen in den Ruinen zurechtzufinden. Dann legt er eine Erweiterungs-CD ein. Sein Held bekommt durch die Erweiterung einige neue Eigenschaften, kann vielleicht durch Wände gehen oder Zombies mit bloßem Blick töten. Mit jeder Erweiterung werden auch einige zusätzliche Fabriketagen oder dunkle Gassen eingerichtet und frische unverbrauchte Zombies heruntergeladen. Dann geht Sebastian wieder auf Mission. Wenn ich an seinem Zimmer vorbeigehe, höre ich, wie die Zombies schreien.

In solchen Augenblicken denke ich nostalgisch zurück an die Spiele meiner Jugend: Sie liefen auf drei große Automaten, die im Vorraum des Filmtheaters »Brest« neben der Männertoilette standen. Ein Spiel kostete 15 Kopeken, fast so viel wie eine Kinokarte. Diese riesigen Geräte, die Vorboten der Computerspiele, hatten alle die gleiche Form und Farbe, nur dass bei einem ein Lenkrad herausragte, beim zweiten ein Gewehr und beim dritten ein Periskop. Mit dem Lenkrad konnte der Spieler einen Rennwagen steuern, der aber so langsam fuhr, dass man während der Fahrt Zeitung lesen konnte. Das Gewehr gehörte zum Schießstandautomaten, wo aber nicht auf Zombies, sondern auf Häschen und Eichhörnchen geschossen wurde.

Mein Lieblingsautomat war der mit dem Periskop – hier spielte man Seeschlacht. Der Spieler schaute wie aus einem U-Boot über das Meer. Eine romantische liebliche Landschaft öffnete sich vor seinen Augen. Man sah ein ruhiges, aus grobem Karton ausgeschnittenes Meer mit kleinen Wellen bis an den Horizont. Am linken und rechten Rand ragten Kliffs empor. Am hellblauen Himmel klebte eine schnuckelige Sonne. Sie spiegelte sich sogar im Wasser. Ich konnte Stunden durch diese Röhre kucken. Das herrliche Bild verzauberte mich regelrecht, es war wunderschön und völlig umsonst. Wenn der Spieler aber eine 15-Kopeken-Münze in den Schlitz warf, piepte der Automat angestrengt und spuckte ein kleines Segelschiffchen aus. Das Schiffchen segelte zu pathetischer Musik ziemlich schnell von links nach rechts über das Meer. Um es zu versenken, hatte man drei Torpedos und dementsprechend drei Chancen. Die Torpedos erschienen auf dem Bild als rote blinkende Punkte, die sich langsam vom Spieler entfernten und am Horizont mit dumpfem Geräusch explodierten. Ob man das Schiff traf oder nicht, das Spiel war nach weniger als einer Minute zu Ende und das Geld weg. Deswegen zog ich es vor, nicht zu schießen, sondern nur das friedliche Panorama zu überwachen. Jedes Mal schaute ich im Kino vor und nach dem Film in die Periskopröhre, um zu prüfen, ob auch alles in Ordnung war. Ich wollte mich vergewissern, dass die Sonne noch da war und das ausgeschnittene Meer aus Karton und dass die Klippen immer noch an den richtigen Seiten standen. Ich fühlte mich für das Arrangement im Seeschlachtautomaten irgendwie verantwortlich.

Aus heutiger Sicht ist diese Haltung lächerlich und äußerst unsportlich. Mein Sohn würde über eine solch sinnlose Spielzeitverschwendung wahrscheinlich nur lachen. Die Zeiten haben sich geändert. Ohne ein paar hundert abgeschossene Zombies geht man heute nicht mehr ins Bett. Ich habe den Syrern von dem sowjetischen Seeschlachtautomaten erzählt, und sieh an, auch sie konnten sich an dieses Modell erinnern, nur musste man bei ihnen noch die guten Schiffe von den bösen unterscheiden. Die guten hatten einen sowjetischen, die schlechten einen amerikanischen Stern, später war es umgekehrt.

Langsam erhellte sich der Himmel. Wir saßen entspannt im Döner-Paradies und hatten keine große Lust mehr, irgendwohin zu gehen. Die Pappel draußen vor dem Imbiss streckte die ersten grünen Blätter der Sonne entgegen. Mir unbekannte Stadtvögel fingen an zu singen, der jugoslawische Taxifahrer rauchte nachdenklich vor sich hin, die Syrer flipperten.

»Genau so stelle ich mir das Paradies vor«, sagte mein Onkel und machte sich ein neues Bier auf.

»Aber ich bitte dich«, widersprach ich ihm, »was ist das für ein armseliges Paradies, in dem es außer Huhn, Döner, Bier und Flipper nichts gibt?«

Tatsächlich sah die Speisekarte vom Döner-Paradies nicht besonders vielfältig aus.

»Wir hätten doch gleich am ersten Tag alle Döner runtergemetzelt und wären schnell verhungert«, sagte ich.

»Du siehst die Sache durch eine schwarze Brille«, meinte mein Onkel. »Erst einmal hätten wir noch immer einen Kühlschrank voll mit Bier. Und zweitens muss man im Paradies nicht ständig essen. Du verwechselst das Paradies mit einem Restaurant. Es wurde nicht zum Essen erschaffen, sondern um darin seine Seelenruhe zu finden.«

»Ich kann aber keine Seelenruhe finden, wenn ich längere Zeit nichts zu essen bekomme«, entgegnete ich.

Der Onkel überlegte. Ja, sagte er, dieses Gefühl sei auch ihm nicht fremd. Er wisse genau, was ich meine. Auch er hätte oft Hunger, meistens am frühen Morgen, so wie jetzt, dann könne er alles aufessen. Und abends überkomme es ihn noch einmal, aber nie tagsüber. Doch im Paradies, also nicht im Döner-, sondern im richtigen Paradies, so glaube er, werden wir, sollten wir überhaupt jemals dorthin gelangen, niemals mehr Hunger bekommen. Außerdem wissen wir längst, wohin es führt, das Essen im Paradies.

»Es ist schon einmal schiefgegangen, ich würde es nicht noch einmal darauf ankommen lassen«, sagte mein Onkel mit so ernster Stimme, dass ich auflachte. Mein Onkel, der nichts, kein einziges Abenteuer in seinem Leben ausgelassen hatte, warnte vor dem Essen im Paradies!

»Was ist eigentlich mit dem Baum passiert, nachdem die Menschen aus dem Paradies vertrieben waren?«, fragte er mich. »Ist der eigentlich im Paradies stehengeblieben, oder hat der Schöpfer ihn im Zorn in einen Pfahl verwandelt?«

Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich wusste nicht genau, was mit dem Baum passiert war. Einmal hatte ich gelesen, die unerlaubte Frucht, der sogenannte Döner der Erkenntnis, würde noch immer im Menschen stecken, und nur wenn alle ihren Bissen gleichzeitig und zusammen erbrechen würden, hätten die Menschen eine Chance, ins Paradies zurückzukehren. In einem anderen Buch stand, die Bäume wären ebenso wie die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden, sie würden aber besser als die Menschen zusammenhalten und stramm gen Himmel wachsen. Ihre Kronen würden sich wie Wurzeln nach allen Seiten ausdehnen, um sich am Himmel festzumachen. Die unteren Wurzeln hielten sich in der Erde fest. Bäume sind die einzige Brücke zwischen Erde und Himmel. Aber auch die höchsten von ihnen schaffen es nicht, bis ins Paradies zu wachsen, weil ihr Schicksal für immer mit dem des Menschen verbunden ist. Und Menschen graben sich lieber ein, als dass sie hochklettern. Sie schauen lieber nach unten als nach oben.

Es war Pech für die Menschen, dass sie damals ausgerechnet diese verfluchte Erkenntnisfrucht vom Baum naschten. Laut Legende wuchsen auf dem Baum nämlich ganz verschiedene Früchte: die Frucht der Geburt, die Frucht der Suche und des Zweifels, die Frucht des Verstehens und die Frucht des auf-die-Nase-Fallens. All diese Früchte sollte der Mensch als Metapher für seinen Lebensweg nach und nach zu sich nehmen, um später dann, am Ende des Weges, die süßeste, die Frucht der Erkenntnis zu genießen. Doch ungeduldig wie ein Kleinkind griff der erste Mensch gleich nach der Abschlussfrucht. Er wollte Antworten haben, ohne überhaupt die Fragen zu kennen.

Gut, ich gebe zu, es war vielleicht doch alles von Anfang an etwas zu dramatisch konstruiert, etwas zu kompliziert aufgebaut. Der Schöpfer hätte sicher eine einfachere Welt schaffen können, mit nur einer Raupe und einem Schmetterling, nur einer Frage und einer Antwort, ohne den ganzen Schnickschnack drum herum. Aber er wollte es eben so kompliziert. Diese Welt war gedacht als eine der Fragen, in der alle Zeichen und Sinneseindrücke ihre Bedeutung je nach Situation ändern, eine Welt, in der es nicht darum ging, zu gewinnen oder geradeaus zu gehen. Die Antworten auf manche von diesen Fragen änderten sich mit der Zeit. Auf manche andere konnte und kann es gar keine Antworten geben. Die Menschen suchen aber nach wie vor nur nach Antworten, statt nach den Fragen zu fragen. Auch ihre alten Bücher lesen sie, als wären es von fremder Hand gelöste Kreuzworträtsel, in die alle Wörter eingetragen sind, aber ihre Bedeutung unklar ist, weil die Seite mit den Fragen herausgerissen wurde. Wir können diese Antworten nicht verstehen, nur auswendig lernen: wann, wohin und was ist es wert. Wir lernen, dass es gut für die Gesundheit ist, kalt zu duschen, viel zu schlafen und lange Spaziergänge an der frischen Luft zu unternehmen. Und keine ungewaschenen Früchte von unbekannten Bäumen zu naschen, weil solche Früchte schwer im Magen liegen.

Mein Onkel und ich grüßten unsere Gastgeber noch einmal laut und herzlich und machten uns zu Fuß auf den Weg.